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Krye

Magirian Wonder TaleKrye

Prolog
Krye war im Jahre 948 nach der Grün­dung der Stadt Kreos ein kleines Land; dort, wo der Uthr entsprang und die zer­klüfteten Felsen des Saxnoth zum Himmel ragten, am Rande der Eisregion.

In den Sommermonden erblühten die weiten Tundren in mannigfaltiger Pracht, und die Frauen von Krye bestellten das Land, doch wenn der Winter seine dicke Schneedecke über Berge und Täler aus­breitete, zogen sich die Bewohner von Krye in ihre roten Burgen zurück.


Die Männer des Kriegerordens bereite­ten dann sich und ihre Waffen auf das kommende Frühjahr vor, wenn sie wieder ausziehen würden zu neuen Kämpfen.

Dunkelrot versank die Sonne hinter den schwarzen Bergen, die das Tal umgaben. Mit ihren letzten Strahlen beschien sie ein trauriges Bild. Der See schien von dunkelfarbenen Wasseradern durchsetzt. Aber es war nicht allein die versinkende Sonne, die den See verfärbt hatte, son­dern es war das Blut der Toten.

Hier im Tal von Moreto waren die Krieger von Krye und die Fir Dannanin unter König Maithach aufeinandergesto­ßen.

Dunkelheit hatte nach dem Land Krye gegriffen. Rasch wie die schwarzen Schwingen des Todesvogels war Mai­thachs Macht nach Süden gelangt und hatte an die Tore der roten Burgen ge­klopft.

Doch diese waren verschlossen geblieben. Niemals würden sich die Baro­ne von Krye dem dunklen Lord von Gwallcaer ergeben. Lieber würden sie kämpfen, sich mit den Dannanin messen im Klirren der Schwerter und Äxte, um ihr Land zu verteidigen und den Platz an der rechten Seite Mols zu erobern.

Und so hatten sie sich zum Kampf ge­stellt gegen eine gewaltige Übermacht. Selten sah die Welt einen solchen Kampf. Und obwohl jeder Kryer mindestens zwei Feinde mit in den Tod nahm, waren sie in Stücke genauen, ihre zerschundenen Leiber in den See getrieben worden, der ihnen das Blut aussaugte und den letzten Rest des Lebens nahm.

Keiner von ihnen muß allein den Weg nach Tyvelghast gehen, in langen Reihen werden sie gemeinsam dorthin wandern. Kein König hätte sich auf seinem letzten Weg ein größeres Geleit wünschen kön­nen.

Als die Dunkelheit ihr Leichentuch über das Schlachtfeld breitete, vernahm man ein leises Stöhnen. Der Wind wehte es hinweg, und die Geier, die bereits ihr grausiges Mahl begonnen hatten, schien es nicht zu stören. Von irgendwoher war das Klagen und Heulen von Tieren zu vernehmen, die nur den Beginn der Nacht abwarteten, um ungestört ihren Hunger stillen zu können. Wie Irrlichtern gleich, die aus den Mooren aufsteigen, umtanz­ten ihre leuchtenden Augen das Schlacht­feld und hielten schaurige Wacht.

Nicht weit entfernt von der Stelle, wo die Leichen von Dannanin einen kleinen Hügel bildeten, war eine Bewegung zu er kennen.

Schwankend erhob sich ein Mann. Seiner Kleidung nach war er ein einfa­cher Krieger von Krye. Mit einer bedäch­tigen Bewegung nahm er sich den Helm vom Kopf und wischte mit dem Ärmel das Blut von der Stirn. Er hatte als letzter an der Seite von König Merik gekämpft. Kurz bevor er selbst überwältigt wurde, sah er noch, wie der König durch einen mächtigen Schwertstreich fiel. Dann umfing ihn das Dunkel des Zwielichtes zwischen Leben und Tod, aus dem er eben erwacht war.

Angor schüttelte die dumpfen Gedan­ken ab. Am Hügel auf der anderen Seite des Tales war ein Lichtschein aufge­flammt. Seine Scheide hing zerfetzt vom Waf­fengurt und war nicht mehr geeignet, sein Breitschwert aufzunehmen. Also nahm er es zur Hand und stapfte mit schwankenden Schritten auf den Hügel zu.

Doch plötzlich stockte sein Schritt. 'Der König', durchfuhr ihn ein jäher Ge­danke. 'Er soll kein Fraß für die Geier werden!'

Es dunkelte bereits sehr, und von der Umgebung war nicht mehr viel wahrzu­nehmen. Dennoch sah er den König dort liegen, wo er ihn zuletzt hatte k“mpfen sehen, bevor er selbst überwältigt wor­den war.

Vorsichtig über die Toten hinwegstei­gend, trat Angor näher. Noch im Tode hatte König Merik sein Schwert fest um­krampft. Er war gestorben, wie es sich für einen König von Krye zu sterben ziehmte. Angor wand dem Toten das Schwert aus der Hand und steckte es in die Scheide. Dann nahm er den toten Herrscher auf die Arme und trug ihn vom Schlachtfeld. Mehr stolpernd als ge­hend nahm er dabei die Richtung zum Lichtschein, den er vorhin wahrgenommen hatte.

Er wußte später nicht mehr zu sagen, wie lange er so gegangen war, als er im spärlichen Licht der Sterne endlich vor einer kleinen Holzhütte stand. Sanft ließ er den König zu Boden gleiten. Seine Hände zitterten vor Schwäche. Er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Kraftlos klopfte seine Faust an die Tür, die plötzlich nach innen aufschwang. überrascht wich er zurück. Mühsam hob sein Arm das Schwert und ging in Ab­wehrstellung. Zögernd stieß er mit der blutverkrusteten Spitze in das Dunkel des Raumes hinein.

Abwartend stand Angor da und wußte nicht so recht, was er tun sollte. Die Hütte mochte eine Falle sein, um auch den letzten Krieger von Krye auszulö­schen. Doch dann schalt er sich einen Narren. Wer sollte ihm eine Falle stellen? Niemand wußte, daß noch ein Kryer lebte und selbst wenn; auch ein unerfahrener Krieger, der stark genug ist, ein Schwert zu führen, könnte ihn jetzt besiegen.

Plötzlich bewegte sich etwas im Raum, und beim Nähertreten sah Angor einen alten Mann sitzen, der ihn nun ansprach: „Krieger, ich habe dich erwartet und für den toten König bereits das Grab be­reitet". Mit diesen Worten stand der Alte auf und trat auf Angor zu.

Dieser trat rasch einige Schritte zu­rück und hob abwehrend seinen Arm. „Woher wußtest du, daß ich kommen wür­de?“

Der alte Mann antwortete: „Mein Sohn, man nennt mich den blinden Bogar. Ich wußte, daß du kommen würdest, mit dem toten König auf den Armen. Aber nun komm, der König hat eine weite Reise vor sich. Wir wollen ihn begraben.“

Bogar ging auf die Türe zu und bedeu­tete ihm zu folgen. Angor trat hinter dem Blinden aus der Hütte, der sich er­staunlich sicher bewegte. Er nahm also König Merik wieder auf seine Arme und marschierte um die Hütte, während der Seher neben ihm herschlurfte und ihm mit erhobener Hand den Weg wies.

Im fahlen Licht des Mondes sah er ein frisch ausgehobenes Grab. Er legte den König hinein, nestelte dessen Schwert samt Scheide vom Waffengurt und legte es dem König in die Hand.

Zufrieden trat er dann zurück und nahm Abschied von seinem Herrscher, dem er vor vielen Jah­ren Gefolgschaft geschworen hatte.

„Hilf mir, das Grab zu füllen“, forder­te ihn nach einer Weile Bogar auf. Ge­meinsam schütteten sie die Erde wieder hinein und legten dann eine Steinplatte obenauf, die der Alte auch besorgt zu haben schien.

„Er ist gestorben wie ein König“, mur­melte Bogar und drehte sich um. Angor blieb noch eine Weile stehen. Dann nahm er sein Schwert und streckte seinen Arm nach Norden, und noch einmal ertönte der Schlachtruf der Krieger von Krye.

„Komm“, sagte der alte Seher und legte seine Hand auf den Schwertarm Angors. „Stecke dein Schwert weg, du hast es lange genug in der Hand gehabt. In der Hütte kannst du deine Wunden waschen und verbinden. Du wirst auch hungrig und durstig sein. Du hast deine Pflicht erfüllt und kannst deinem König nicht mehr helfen.“

Angor nickte, und Bogar folgte ihm in die Hütte.

„Wie heißt du?“ fragte ihn der Alte, nachdem er Angors Wunden betastet hat­te. „Ich habe keinen Namen mehr. Mein König ist tot, und Krye ist auch nicht mehr.“

„Krye wird eines Tages wieder sein. Es liegt an dir!“ Mit diesen Worten näherte sich der Seher dem offenen Kamin, zog eine schwarze Kugel unter seinem falti­gen Wams hervor und warf sie in die glosenden Flammen.

„Schau ins Feuer“, forderte ihn Bogar auf. Aus diesem Feuer stieg weißer Ne­bel, der sich rasch im ganzen Raum ver­teilte. Dann erschien ein schwarzer Fleck, der sich verdichtete und schließ­lich eine Fläche bildete und in eine an­dere Welt zu führen schien.

Darin sah man jetzt einen langen Zug schwarzer Gestalten, der sich auf ein Gebilde in weiter Ferne zu bewegte. Langsam zerflossen die Bilder wieder, und der weiße Nebel verschwand im Feuer, aus dem er gekommen war.

Angor zitterte vor Zorn. „Wenn du al­les siehst und weißt, warum hast du die Krieger von Krye nicht gewarnt?“ fragte er mit heiserer Stimme den alten Seher.

Bogar lächelte geheimnisvoll. „Gewiß, obwohl ich blind bin, sehe ich diese Bil­der auch. Zwar anders als du, aber im­merhin, ich sehe sie und vermag sie auch zu deuten. Aber glaubst du, daß ich es deswegen ändern könnte; oh nein! Wenn ich den M“nnern von Krye gesagt hätte, was sie erwartete, wären sie deswegen auch nicht mehr am Leben. Sie wären auf jeden Fall von den Dannanin besiegt worden. So sind sie in die Schlacht ge­zogen, haben gekämpft und sind frohen Herzens gestorben. Ändern kann man die Zukunft nicht, denn wenn sie nicht fest­stehen würde, bis ans

Ende der Zeit, könnte ich sie nicht sehen. Was ich sehe, muß geschehen, weil es bereits geschehen ist“, erklärte der blinde Seher mit leiser Stimme.

Angor beruhigte sich wieder. „Kannst du auch meine Zukunft sehen?“ fragte er den alten Mann.

Dieser erhob warnend seinen Finger und sagte mit mahnender Stimme: „Oh! Ihr wollt alle sehen, was die Zukunft euch bringt. Warte, und du wirst sie er­leben. Ist das nicht besser? Ist es oft nicht besser, zu ahnen, als zu wissen?“ Doch als Angor schwieg, fuhr er fort: „Nun gut, ein Blick in deine Zukunft soll dir gewährt werden.“

Mit diesen Worten erhob er sich und warf wieder eine Kugel in Richtung des Feuers. Wieder erhob sich der weiße Rauch und verdichtete sich zu Bildern. Angor sah einen Reiter durch ein ihm unbekanntes Land reiten. Als das Bild klarer wurde, erkannte er darin sich selbst. Schlieren tauchten auf und ver­deckten die Sicht, Bilder und Symbole kamen zum Vorschein, deren Bedeutung er nicht verstand. Dann vernahm er von der Stelle, wo der blinde

Seher stehen mußte, ein dumpfes Poltern. Erschreckt sah er auf.

Durch den zerfließenden Ne­bel hindurch sah er Bogar am Boden lie­gen. Rasch eilte er auf ihn zu und hob ihn hoch. Vorsichtig  führte er den Alten zu einem Stuhl.

„Danke“, murmelte der Greis. „Ich kann deine Zukunft nicht sehen! Nur die er­sten Bilder waren klar, dann gabeln sich die Wege. Du bist ein Auserwählter oder ein Verfluchter oder sogar beides. Deine Zukunft liegt in deiner Hand. Aber freue dich nicht darüber, du wirst vielleicht den Tag noch verfluchen, an dem du ge­boren wurdest. Nur eines kann ich dir sagen: Reite nach Osten! Reite nach Osten!“

Bogar machte eine Handbewegung. „Vor der Tür steht dein Pferd. Reite nach Osten. Reite und kämpfe und verflu­che mich nicht eines Tages für den Blick, den ich dir in die Zukunft ge­währt habe. Und jetzt geh!“

Die Worte des Sehers klangen wie ein Befehl. Angor zögerte nur einen Augen­blick, dann drehte er sich wortlos um und verließ die Hütte des alten Mannes.

Vor der Hütte stand ein Pferd und be­grüßte ihn mit einem freudigen Schnau­ben. Trotzig warf es den Kopf in den Nacken, daß die schwarzen Mähnenhaare es wie ein Windspiel umflirrten.

Erregt scharrte es mit den Hufen am Boden. An­gor hatte seinen Rappen selten so aufge­regt gesehen. Er konnte es selbst kaum fassen, Crox, sein Kampfpferd vor sich zu sehen. Er hatte es für tot geglaubt, in der Schlacht durch einen Lanzenstoß getötet, und nun stand es unversehrt vor ihm.

Kopfschüttelnd drehte er sich um und erstaunte abermals. Die Hütte war ver­schwunden.

Was ging hier vor?

Doch bevor er sich näher damit befas­sen konnte, bemerkte er, daß die Morgen­dämmerung längst angebrochen war, daß jeden Augenblick die Sonne aufgehen mußte. Angors Nackenhaare sträubten sich. Hatte er wirklich die gesamte Nacht in der Hütte verbracht? Was war gesche­hen? In diesem Moment blitzte es über den Bergen auf. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages tasteten sich über die Tallandschaft.

Schon dieses spärliche Licht genügte, um Angor erkennen zu lassen, daß hier nie eine Hütte gestanden haben konnte; die Grasnarbe war unversehrt, sie zeigte keinerlei Eindruck. Nicht die geringste Spur war zu bemerken.

Mit schnellen Schritten eilte er zu der Stelle, wo er das Grab vermutete. Doch auch dieses war verschwunden. Die letzte Ruhestätte seines Königs schien sich ge­nau wie die Hütte Bogars in Nichts auf­gelöst zu haben.

Kopfschüttelnd ging er zu seinem Pferd zurück. Die wärmenden

Strahlen der Morgensonne taten seinem Körper wohl und ließen ihn

an den nächtlichen Erlebnissen zweifeln.

Unschlüssig blieb er stehen. Wohin sollte er sich wenden?

Sein Blick wan­derte die Berge des Symir hoch, die das Tal umgaben. Die Gipfel und Grate gleiß­ten und funkelten im Licht der Sonne, wie eine blanke Klinge, wenn sie zu Mols Gruß erhoben wird.

„Reite nach Osten!“ flüsterte eine in­nere Stimme. „Reite nach

Osten!“  „Wa­rum eigentlich nicht?“ dachte er. Krye ist erobert. Der König ist tot, seine Freunde ebenfalls. Auf mich wartet nur der Tod.“

Angor gab sich einen Ruck, und die Sache war beschlossen. Er schwang sich auf das Pferd und warf anreitend einen letzten Blick auf die Weite des Tales, wo bereits die Geier über den Leichen der Gefallenen kreisten.

„Ich werde mich rächen!“ rief er. Dann ritt er der Sonne entgegen.

                                                ***

Grauen Fingern gleich kroch der Frühne­bel vom Uthr aus die Anhöhe hinauf. Die Tautropfen glitzerten wie kleine Sterne in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Mit einem heiseren Krächzen löste sich ein Rabe von einem nahen Baum und flog aufwärts dem purpurfarbenen Mor­genrot entgegen, das den Osthimmel färbte.

Fröstelnd erwachte der Mann neben den immer noch rauchenden

Resten eines Lagerfeuers. Mit einer einzigen, ge­schmeidigen Bewegung erhob er sich und reckte seine mächtige Gestalt der Sonne entgegen. Mit einer wilden Geste warf er sein langes, schwarzes Haar zurück. Dann griff er in die Strähnen seines Bartes und glättete sie.

Ein gellender Pfiff kam von seinen Lippen, und ein wenig später trabte ein riesiges Pferd herbei, dessen Fell in hel­lem Rot glänzte. Tautropfen blitzen auf seiner Mähne. Mit einem lauten Wiehern begrüßte es seinen Herrn.

Angor bückte sich und ergriff sein mächtiges Breitschwert, das im feuchten Gras lag. Die Sonne spiegelte sich auf der blanken Klinge. Nachdenklich be­trachtete er seine Waffe.

„Drei Wochen reite ich nun schon gen Osten und habe nichts Besonderes ent­deckt. Der Hymir ist nicht mehr weit. Wohin soll ich mich wenden? Nach Hel­gard oder hinauf zum Yggrfjord?“

Er schüttelte unwillig den Kopf. „Wa­rum habe ich als einziger die Schlacht überlebt. Warum nur? So fliehe ich jetzt vor meinen Feinden. Ich, der letzte Krie­ger der Krye. Gegen wen soll ich noch kämpfen, ich, der ich kein Ziel mehr ha­be, für das zu streiten sich lohnt? Viel­leicht ist auch der rechte Platz an Mols Seite schon besetzt“, dachte er voller Bitterkeit.

All diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während seine

Hand den Schwertgriff umspannte.

„Mol erhalte mit trotzdem die Kraft meines Schwertarmes“, murmelte er und stieß dann mit einer raschen Bewegung das Schwert in die Luft. Einen Augen­blick lang stand er so da, scheinbar er­starrt wie das Standbild eines Kriegers. Dann senkte er den Arm und hakte das Schwert am Gürtel fest.

„Der blinde Bogar kann sich nicht geirrt haben. Er darf sich nicht geirrt haben!“ rief er. Es klang sehr trotzköp­fig, so, als wenn er selbst nicht recht dran glauben, die Wahrheit aber auch nicht wahr haben wollte.

Damit wandte er sich endgültig vom Schauplatz ab und ging zu seinem Pferd. Mit einem mächtigen Satz, der die ganze geballte Kraft verriet, die in ihm steck­te, schwang er sich auf und sprengte da­von. Die Richtung war den Hgel hinun­ter, dem Fluß entgegen. Nach wenigen Augenblicken hatte ihn der Nebel versch­lungen.

Inzwischen war die Sonne zur Gänze über den Horizont gestiegen. Unter den warmen Strahlen begannen sich die grau­weißen Schwaden langsam aufzulösen. Die hellen Finger der Sonne griffen in die wabernden Schleier und schufen bizarre Formen, die im Nebel hin und her wogten und die gleißenden Bahnen wie im wir­belnden Spiel umtanzten, feengleich, un­wirklich und märchenhaft, wie Wesen aus einer anderen Welt. Vorgegauckelte Trugbilder der überreizten Sinne.

                                      ***

Doch nur kurz war dieses Schauspiel; plötzlich lag die Landschaft frei, und man konnte bis zum Flußufer sehen.

Dort waren inzwischen Roß und Reiter angekommen. Angor blickte sinnend auf das Wasser nieder. Eigentlich wollte er ein Bad nehmen, doch der Tag war noch zu jung, als daß ihm nicht schon beim Gedanken an die vermutliche Kälte des Flusses die Zähne klapperten.

Schließlich beschloß er jedoch, abzu­steigen und doch einen Versuch zu wa­gen. Also stieg er ab und begann seinen Gurt zu lösen. In diesem Augenblick hör­te er eine mächtige Stimme, die ihn rief: „Mann von Krye!“

Rasch wie der Sprung eines Eiswolfes warf er sich herum. Das

mächtige Breit­schwert blitzte in seiner Faust und kün­dete von der Wehrbereitschaft seines Be­sitzers.

Vor ihm stand ein Greis. Das Alter stand jedoch nur in seinem Gesicht ge­schrieben. Der Gestalt hätte sich auch ein jüngerer Mann nicht zu schämen brauchen. Das Haar war noch lang und voll und kaum ergraut. Ein mächtiger Bart umrahmte sein Antlitz, das Wind und Wetter gegerbt hatten. Er trug eine Art Überwurf, der bis zu den Knien hinab­reichte und durch einen Gürtel zusam­mengehalten wurde. Dieser war aus Leder und mit silbernen

Beschlägen durchsetzt.

Das Auftreten und das ganze Gebahren des Mannes wirkte Achtung heischend und flößte Ehrfurcht ein. Angor konnte sich eines leisen Schauers nicht erweh­ren, als er dem Alten ins Gesicht blick­te.

Die Augen strahlten die Faszination einer Persönlichkeit aus, der sich Angor nicht entziehen konnte. Dieser Mann mußte einst ein gewaltiger Krieger gewesen sein, und wahrscheinlich hatte er auch heute noch die Kraft, ein Breit­schwert zu führen.

„Bei Mol und den Männern, die für einen Platz an seiner Rechten sterben, wer bist du?“

Ein Anflug von Lächeln glitt über das Gesicht des Fremden, als er antwortete: „Ich bin der, von dem du sprichst!“

Angor prallte beinahe zurück, als er diese Worte hörte. Und seltsam, er zwei­felte keinen Augenblick an deren Wahr­heit. Hatte er sich Mol eigentlich nicht immer schon so vorgestellt? Als er zu dieser Erkenntnis gekommen war, stieg Bitterkeit in seinem Inneren auf. Warum erschauerte er eigentlich so sehr beim Angesicht seines Gottes? Er hatte ja überhaupt keinen Grund dazu. Hatte nicht Mol sein Volk schmählich verraten, als er sie von den Dannanin hinmetzeln ließ?

Wut übermannte Angor, als er aus rief: „Warum lauerst du mir hier auf? Geh nach Westen und hilf deinem Volk. Rette noch, was zu retten ist. Schütze die Frauen und Kinder vor den Klingen der Dannan­in!“

Das Gesicht des alten Mannes verzog sich leicht. „Sieh mich an. Ich bin ein alter Krieger. Auch Götter spüren die Bürde der Jahre. Nicht körperlich zwar, aber innerlich. Du aber bist noch jung und ausersehen. Reite weiter nach Osten dem Yggrfjord zu. Wenn du jenseits des Fjordes zum ersten Mal die eisbedeckten Gipfel Fjäles aufleuchten siehst, bist du am Ziel. Suche dann das Grab Thofals. Bei seinen Gebeinen liegt Rhe, mein altes Schwert. Nimm es, es sei dein. Reite und kämpfe, der Platz an meiner rechten Sei­te wartet auf dich.“

Nach diesen Worten begann die Gestalt des Alten zu flimmern; seine Umrisse verdichteten sich. Die Arme formten sich zu mächtigen Schwingen, und mit weitem Flügelschlag erhob sich plötzlich ein ge­waltiger Adler in die Lüfte.

Er schüttelte die Starre ab, die ihn bei den letzten Worten Mols überkommen hatte. Er kannte ja die uralten Sagen, die an den Lagerfeuern geflüstert wur­den. Ja, geflüstert, denn niemand getrau­te sich, die furchtbare Wahrheit laut zu sagen.

Aye, wenig schön klangen die Worte des Grauens in den Ohren von Menschen, die das Leben liebten.

Ein blutiges Mal hatte damals am Him­mel gestanden, so berichten die Mären aus alter Zeit. Das Tor zum Zwischen­reich hatte man dieses rotfarbene Zei­chen genannt. Die Wesen des Fantnaf wa­ren dadurch übergewechselt. Eine große Furcht befiel die Menschen. Noch ältere Sagen wurden lebendig und tauchten aus der Erinnerung auf. Schon einmal, vor noch längerer Zeit, hatten die Menschen einen Kampf um ihr Überleben geführt, als die Höllenbrut Magira beinahe unter­jocht hatte. Die Rettung gelang in letz­ter Sekunde. Hatten vielleicht jetzt die Krieger der Krye unter den Schwertern der Dannanin ein besseres Los gefunden, um zumindest vom Grauen verschont zu bleiben?

Aus dem Osten waren damals die Ge­schöpfe des Abscheus erschienen, Men­schen, die sich bei Vollmond in Wölfe verwandeln konnten.

Doch damit war des Unheils nicht ge­nug. Ihre Gefallenen, egal ob mit mensch­lichem oder wölfischem Aussehen, konnten wieder erweckt werden und wa­ren dann als untote Krieger die graus­igsten und grausamten Kämpfer, die Ma­gira je gesehen hatte.

Geheimnisvolles Gerät hatten sie mit sich geführt, geschmiedet aus Metallen des Zwischenreiches und gefüllt mit Es­senzen ihrer finsteren Kunst. Damit hat­ten sie die Gefallenen wieder zu noch furchtbarerem Leben erweckt.

Mol hatte damals mit Hilfe der drei­zehn Stämme der Kryer den Wesen des Fantnaf eine vernichtende Schlacht ge­liefert. Er selbst war mit Rhe dem Heer vorangeschritten und hatte durch die Phalanx der Untoten eine blutige Bahn gemäht, um für die Krieger der Kryer den Weg frei zu machen.

Die Sage berichtet weiter, die Ent­scheidung sei am Fluß der Ewigkeit ge­fallen, der als Ende der von Menschen bewohnten Welt angesehen wurde. Jen­seits dieses Flusses sollen immer noch Nachfahren der Unheimlichen leben und in Vollmondnächten mit blutigen Riten ihren dunklen Göttern huldigen. Ob sie noch Verbindung zum Zwischenreich hat­ten, war ungewiß. Vielleicht hing es auch davon ab, welche Macht die Götter der Finternis

gerade besaßen.

Doch, wo war der Fluß der Ewigkeit? Sollte damit der Yggrfjord gemeint sein? Viele waren dieser Meinung. Doch Angor neigte nicht dazu. Diese Lösung wäre zu einfach. Nein, die Wahrheit mußte woan­ders liegen.

In alten Schriften über das Geschehen ist noch hie und da zu lesen, Thofal wä­re Mols leiblicher Sohn gewesen, der ab­trünnig wurde, weil er selber den Platz zur Rechten Mols begehrte und nicht erhielt. Deshalb soll er sich mit den Lords des Zwischenreiches verbunden haben, um Mol zu stürzen und selber seinen Platz einzunehmen.

Wie er an Rhe, Mols Klinge, gekommen war, wußte niemand. Doch man wußte um die schrecklichen Flüche, die Mol ge­sprochen hatte, um die Macht der Waffe zu brechen. Sollte dieser Fluch jetzt von Rhe genommen werden?

Angeblich hatte ein Sterblicher mit diesem Schwert Gewalt über Dämonen und Untote und sogar über Götter. Die Klinge soll so scharf sein, daß ein Mann damit mit einem einzigen Streich einen Fels­block spalten könne.

Doch dieses Schwert lag seit undenk­lichen Zeiten bei den Gebeinen Thofals in seiner Grabkammer, deren genaue Lage niemand kannte. Schon viele waren auf­gebrochen, um das Schwert zu erringen. Doch keiner war jemals wiedergekehrt. Unbekannt und vergessen waren sie auf dem Weg dorthin dem Fluch zum Opfer gefallen.

Auch die toten Krieger, gefallen da­mals in der alles entscheidenden Schlacht, waren bei Thofal bestattet worden. Und diese Gruft soll von Wäch­tern gesichert sein, die seit der Bestat­tung ihren Dienst versahen.

Aye, viele Sagen ranken sich um Tho­fal und seinen angeblichen Verrat. War er vielleicht nur ein Opfer der Herr­scher des Zwischenreiches geworden, oder war er wirklich den Verlockungen des Fantnaf erlegen? Niemand hatte es je zu ergründen vermocht, und auch Angor hatte eigentlich keine Absicht, an dieses Geheimnis zu rühren.

Doch je länger er über Mols Worte nachdachte und sich über die Folgerun­gen klar wurde, desto mehr begann etwas in ihm zu keinen, wurde größer und mächtiger und erfüllte ihn schließlich ganz.

Der Gedanke, daß nach so vielen Äo­nen von Schlachten und Tod der Platz an Mols rechter Seite endlich besetzt wer­den sollte und daß Mol ihm diesen Platz angeboten, ja sogar verheißen hatte, erfüllte ihn mit unbändigem Stolz. War er wirklich ausersehen, der größte Krieger von Krye zu werden?

Die Verheißung dieses Angebotes nahm von ihm Besitz und ließ ihn nicht mehr los.

„Bei Mol und den Kriegern, die bereits für diesen Platz starben; ich werde Rhe finden, und der rechte Platz wird mein. Ich werde die Voltos durch alle Höllen jagen.“

Unwillkürlich hatte er diese Worte laut gesprochen. Und der Klang der eige­nen Stimme weckte ihn aus seinen Träu­men.

Angor wischte sich mit der Hand über die Stirn. Seine alte Entschlossenheit war zurückgekehrt. Doch eines war ihm noch unklar. Warum nur hatte Mol Thofal und Rhe erwähnt? Sollte er wirklich ge­gen die Voltos kämpfen, oder hatte er es sich nur eingeredet?

Und wie sollte er die Grabkammer fin­den? Doch dann sagte er sich, wenn ihn schon der Gott mit dieser Mission beauf­tragte, würde er zur rechten Zeit wohl Zeichen erkennen, die ihm den Weg wei­sen würden.

Er wandte seinen Blick nach Osten, wo die Sonne inzwischen schon voll am Him­mel stand. Sie schien ihn höhnisch anzu­funkeln, als wollte sie sagen: 'Schon vie­le gingen diesen Weg, und keiner kam zurück!'

                                      ***

Seit der Begegnung mit Mol waren inzwi­schen viele Tage vergangen. Der Mond hatte sich sich halb gerundet, und noch immer ritt er nach Osten.

Kein menschliches Wesen hatte er ge­sehen in dieser Zeit, auch kein Getier. Seine Vorräte waren aufgebraucht, er hatte sie nicht erneuern können. Die Ge­gend schien von Göttern und Menschen verlassen zu sein. Er zweifelte zwar nicht an der Richtigkeit seines Weges und an seinem Ziel, aber trotzdem zer­mürbte ihn die Einsamkeit und das War­ten auf die auf ihn

zukommenden Erei­gnisse.

Wenn er nicht bald eine Wasserstelle erreichte und ihm ein Wild über den Weg lief, mußte er seinen Weg zu Fuß fortset­zen.

Die Kräfte seines Pferdes waren er­lahmt. Schon oft war er abgestiegen und hatte es am Halfter neben sich geführt, um ihm Erholung zu gönnen.

Das vorher hügelige, von kleineren Bächen zerschnittene und von einigen Wäldchen bewachsene Land hatte sich in den vergangenen Tagen in eine weite Ebene verwandelt. Die karge Grasnarbe bot kaum Nahrung.

Angors Augen waren entzündet, seine Lippen aufgerissen und spröde.

Manchmal konnte er nicht mehr unterscheiden ob das, was er um sich wahrnahm real war oder ihm die flirrende Sonnenglast nur vorspiegelte.

Einmal kam es ihm sogar vor, als wäre er im stehen eingeschlafen und träume nur alles. Und dann spürte er einen Schmerz, den er sich nicht erklären konnte.

Die Nü­stern seines Pferdes blähten sich vor Aufregung, die Lefzen hingen ihm aus dem Maul, und manchmal überlief ein Zucken das jetzt beinahe stumpf wir­kende rostrote Fell des Rappen.

Mit großen Augen sah er seinen Herrn an und flehte um einen Tropfen Wasser. Doch dieser hatte selbst keines. Der Wasserschlauch war längst leer. Das Ende schien nahe.

Angors Blick verlor sich im dunstigen Horizont. Er erwartete jeden Tag, auf den Fluß der Ewigkeit zu stoßen. Doch diese Hoffnung erwies sich als trüge­risch.

Am dritten Tag in der Wüste mußte er sein Pferd mit dem Schwert von den Qua­len des Verdursten erlösen. Vom den dicken Blut des Tieres gestärkt, schlepp­te er sich zwei weitere Tage in der Son­nenglut dahin. Dann entfloh auch seine gequälte Seele dem Körper.

Und so ist der Platz an Mols rechter Seite bis heute unbesetzt.


Weitere Fortsetzungen waren geplant, aber da sie nie geschrieben wurden, sind die letzten 7 Zeilen ein vorläufiger Abschluß.

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