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Alessan 4 - Die Flucht

Magirian Wonder TaleAlessan
Kapitel 4
Die Flucht

Was bisher geschah ...
In Laurínarmardi, dem Wald der Elben auf Tol Uninor, wird der junge Elb Kalwe von einem jungen Menschen mittels Pfeil und Bogen erschossen

Die Herrin des Waldes, Laurealka, ruft Harantor herbei und gemeinsam jagen sie den jungen Mann namens Alessan.

Sie stellen den Jungen und Laurealka, mittlerweile von Mitleid getrieben, schlägt Harantor nieder, denn sie befürchtet ihr Gefährte würden den Jungen töten.

Doch der junge Mann missversteht ihre Absicht und läuft in die Klinge Laurealkas.

Harantor und Laurealka nehmen den verletzten Alessan mit, um ihn zur Siedlung der Elben zu bringen. Dort wird er von den verzweifelt trauernden Eltern empfangen und Angaimaite, der Vater Klawes, will Blut sehen.

Harantor stellt sich widerwillig vor den verletzten Alessan und verkündete den Willen Laurealkas, Alessan möge der Prozeß gemacht werden.

Harantor bricht auf, um Elrod, den Ringmeister zu holen. Doch der erteilt Harantor eine Lektion und gibt ihm einen der Großen Drei Ringe, den Eiseren der Kraft, und ernennt Harantor zum Richter über Alessan ...

Laurealka

Alessan 4Es war Nacht. Neben mir flackerte die Flamme der Lampe in der leichten Brise. Irgendwo sang eine Nachtigall und der Míremiste begleitete ihr Lied mit seinem sanften Rauschen.

 

Ich saß auf dem zweituntersten Flett Aldamars, auf dem ein Wirtschaftsraum und drei Gästezimmer untergebracht waren. Es war der nordöstliche Raum, der erste, den die Strahlen der Sonne des Morgens begrüßen, den sie in der Mittagshitze jedoch nicht mehr erreichen können. Über sein Geländer hinweg blinkte durch die Blätterdächer die Wasserfläche des Lindalailins herüber und der wie Juwelen funkelnde Schleier des Míremistes.

 

Hier hatten wir den Verletzten untergebracht, nachdem Harantor und ich ihn nach Laurínamardi zurückgebracht hatten. Der Rückweg war kurz gewesen und wurde nur durch wenige Worte unterbrochen. Harantor blockte jedes Gespräch, das sich um das Schicksal des Menschen drehte, im Keim ab. Dazu kam, daß wir uns eilen mußten, denn dem Verletzten ging es zunehmend schlechter.

 

Ich selbst hatte jedoch meine Entscheidung schon damals gefällt, auch wenn ich sie Harantor nicht begreiflich machen konnte. Wir würden über den Menschen zu Gericht sitzen, und Elrod würde unser Richter sein. Zu soviel Ehrenhaftigkeit waren wir als Elben verpflichtet. Egal, was die Anderen in Laurínamardi dazu sagen würden, ich würde meine Entscheidung durchsetzen, koste es, was es wolle.

 

Als wir ankamen, erwarteten uns einige der Bewohner Laurínamardis schon. Ich sehe noch jetzt ihre abweisenden Gesichter. Selbst Kanyahón hatte mich entsetzt angesehen, als ich Earel anwies, eines der Gästezimmer für den Menschen herzurichten, und Taurion nach Aldamir, unserer Heilerin, schickte.

 

Ich hatte Vorhaltungen erwartet, Aufregung, aber nicht dieses eiskalte, entsetzte Schweigen. Mir schauderte immer noch, wenn ich daran dachte. Bis dann Angaimaite aufgetaucht und fast der Tumult über uns hereingebrochen war, den ich befürchtet hatte, und ich stand hilflos daneben, zu geschwächt, um Einhalt zu gebieten.

 

Nur Harantors Autorität zwang den Streit nieder und verhinderte das Schlimmste. Mochte er zwar auch den Tod des Menschen fordern, so fühlte er sich anscheinend dennoch verpflichtet, mir zu helfen. Kanyahón zerstreute rasch die wenigen Verbliebenen mit einigen sanften Worten, während zwei der Männer den Menschen auf das Flett trugen. Nachdem ich seine Kopfwunde frisch verbunden hatte, konnte ich Harantor auch endlich davon überzeugen, daß einzig Elrod für das Richteramt geeignet war.

 

Er nippte noch an seinem Wein, als Aldamir in der Tür erschien. Groß und gerade wie immer stand sie dort, ihr ganzes Wesen drückte Mißbilligung aus.

 

„Du hast mich rufen lassen“, stellte sie fest.

 

„Oh Aldamir“, seufzte ich und eilte ihr erleichtert entgegen, hatte ich doch schon befürchtet, sie würde nicht kommen. Abweisend sah sie mich an.

 

„Du willst also tatsächlich, daß ich diesem Mörder helfe!“ Ihre Worte klangen mehr wie eine Anklage denn wie eine Frage. „Hast du nie an Lómelinde und Angaimaite gedacht, bei all dem was du getan hast? Was hast du dir dabei gedacht, ihn hierher zu bringen?“

 

Ich fühlte, wie die Tränen meine Kehle zuschnürten. Und plötzlich übermannte mich der Zorn. Dachten sie denn alle, ich sei gefühllos? Glaubten sie denn alle, der Tod Kalwes und der Schmerz Lómelindes und Angaimaites berührten mich nicht?

 

„Aldamir, kein Wort mehr! Überall lese ich nur den Gedanken Rache. Könnt ihr denn alle an nichts anderes mehr denken? Hat euch der Schmerz die Sinne vernebelt? Sind wir denn Barbaren, daß wir einen Menschen erst einmal töten, bevor wir wissen, ob er schuldig ist?“

 

Ihr Gesicht verhärtete sich.

 

„Aldamir“, fuhr ich fort. „Du bist Heilerin. Du hast dich damit verpflichtet, den Leidenden zu helfen. Auch ihm!“ Bei diesen Worten zeigte ich auf den Verletzten.

 

Aldamir atmete heftig aus. Dann sah sie mich aus unergründlichen graugrünen Augen an.

 

„So sei es, Laurealka“, beschied sie mir. „Aber er“, dabei zeigte sie mit einem knappen Kopfnicken auf Harantor, „geht.“

 

Ihre Worte erlaubten keinen Widerspruch, so verzog sich Harantor in eines der angrenzenden Zimmer, um dort zu ruhen.

 

Danach kümmerten Aldamir und ich uns um den Verwundeten. Die Striemen, die wir dabei auf seinem Rücken entdeckten, ließen mich schaudern. Wer war so grausam, einem Mitmenschen so etwas anzutun? Selbst Aldamir blieb von dem Anblick nicht unberührt. Behutsam strich sie über die verharschten Wunden und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.

 

Es grenzte fast an ein Wunder, was sie mit Hilfe ihrer Magie leistete, und es brachte sie an den Rand der Erschöpfung. Sie stillte die Blutungen, fügte Gewebe zusammen und richtete die Rippen, die Harantor dem jungen Mann gebrochen hatte, wenn sie auch den Widerwillen, den sie gegen den Menschen empfand, dabei nicht verhüllte.

 

„Warum tust du das?“ fragte sie mich, als sie ihre blutigen Hände abschließend in einer mit Wasser gefüllten Schüssel wusch.

 

„Ich weiß es nicht genau“, gab ich zurück. „Vielleicht sind wir es uns schuldig. - Ich meine, wir sind Eldar. Alle von uns tragen das Licht Valimars in uns. Müssen wir da nicht anderen, auch Menschen, eine Chance geben, sich zu bessern? Sich wenigstens zu rechtfertigen für das, was sie Schlechtes getan haben? So wie er hier.“

 

Aber Aldamir gab mir keine Antwort. Wir wuschen das Blut und den Schmutz von seinem mageren, nackten Körper und hüllten ihn in warme Decken. Schweigend saßen wir den Rest der Nacht und den ganzen Tag neben seinem Lager und lauschten auf seine Atemzüge. Sein Schlaf war unruhig. Er stöhnte im Fieber und wälzte sich schweißüberströmt auf seinem Lager. Der Gedanke, daß er sterben könnte, quälte mich. Schließlich war ich diejenige, die ihn dem Tod so nahe gebracht hatte.

 

Earel brachte uns mehrmals einige Kleinigkeiten zu essen, ansonsten störte niemand unsere Wache. Bis dann bei Anbruch dieser Nacht der Schlaf des Mannes ruhiger wurde, und Aldamir mich verließ.

 

Nun saß ich alleine bei ihm und wachte. Er würde leben.

 

Wozu?

 

Ich wischte den Schweiß mit einem nassen Tuch aus seinem noch immer fieberheißem Gesicht und betrachtete ihn. Die Schwellung am linken Auge, wo Harantor ihn getroffen hatte, war schon zurückgegangen. Nur eine kleine, kaum wahrnehmbare Narbe würde bleiben. Nichts würde sein hübsches, von langen, schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht entstellen, das so jung und verletzlich wirkte, jetzt da er schlief.

 

Ich wunderte mich. Wie konnte er ein Kind töten? Die Frage folterte mich. Doch niemand außer ihm konnte sie mir beantworten. So war ich dazu verdammt zu warten, bis er erwachte und bis Harantor mit Elrod zurückkam, um über ihn zu richten.

 


Alessan

Sie jagten mich. Dämonen! Groß wie Riesen waren sie. Ihr Haar blitzte hell in der Sonne und in ihren glitzernden Augen sah ich den Tod. Meinen Tod.

Ich rannte. Mein Atem rasselte. Schneller und schneller ging mein Schritt, doch sie waren vor mir. Zauber? Ich hörte ihr grollendes Lachen, als sie mir den Weg abschnitten und mich stellten.

Viele waren sie, zu viele. Für jeden, den ich tötete, erstanden zwei neue. Und sie lachten mich aus und höhnten mich. Sie bedeckten mich mit vielen kleinen, blutenden Wunden, doch einen würdigen Tod wollten sie mir nicht schenken.

Bis sie kam. „Geh!“ sagte sie und ihr Schwert durchbohrte mich. Schmerzen explodierten in mir. Dann - Dunkelheit. Tod?

Aber da war eine Hand, die mich hielt und ans Licht führte. Vögel sangen hier und die Sonne schien golden durch ein Blätterdach. Und sie saß neben mir, schön wie ein Wunder. Ihre Haare glänzten wie pures Gold. Sie lächelte, wenn sie sich zu mir herabbeugte.

Doch dann war er wieder da und die erbarmungslose Jagd begann von neuem. Immer wieder...

Ich wußte nicht, schlief ich oder wachte ich? Oder war ich tot? Aber sie war allgegenwärtig. Sie war mir Todesbringerin und Öffnerin des Paradieses. Ihr Gesicht verfolgte mich, ließ mich nicht los. Es versüßte mir den Schmerz und schenkte mir Frieden. Durch es erschien mir die Dunkelheit verheißungsvoll, wollte ich dem schweren Fieberschlaf gar nicht entrinnen.

Ich wußte nicht, wie lange ich so lag. Es war der Schmerz, der mich irgendwann ins Bewußtsein zurückholte. Klar wie Quellwasser war er, nicht dumpf und diffus wie der Schmerz im Traum. Er pochte in meiner linken Seite und zwang mich dazu, die Augen zu öffnen, doch er war erträglich.

Licht blendete meine Augen. Ich sah eine verschwommene Bewegung über meinem Kopf. Eine helles Stück Stoff wurde in mein Gesichtsfeld gezogen und verdeckte die gleißende Lichtquelle. Dann sah ich sie. Sie war mein Traumbild!

Ihr liebliches Gesicht schwebte über dem meinen. Fast hielt ich den Atem an, aus Angst sie könnte wieder verschwinden, bis sie sich wieder zurückbeugte. Ich folgte ihrer Bewegung mit meinem Blick.

Sie saß neben mir auf dem Fußboden und erschien mir noch schöner als im Traum. Sie war in ein eisblaues, weites Kleid gewandet, und ihr langes, goldblondes Haar floß in weichen Wellen über ihre Schultern. Ihre taubenblauen Augen blickten besorgt. Ich starrte sie an wie gebannt.

Sie lächelte sanft und griff nach einem zierlichen Becher, der auf einem niedrigen Tischchen neben meinem Lager stand.

„Trink“, forderte sie mich auf und hielt mir mit ihrer Linken den Becher an die Lippen. Mit der anderen Hand griff sie unter meinen Kopf und stützte mich.

Erst beim Trinken merkte ich, wie durstig ich wirklich war. Ich trank in gierigen Zügen, daß die Flüssigkeit an meinen Mundwinkeln herabrann. Der Trunk schmeckte süß, nach Kräutern und Sonne. Er hinterließ ein warmes, wohltuendes Gefühl in meinem Mund.

Ich hatte den Becher erst zur Hälfte geleert, da fühlte ich mich schon zu erschöpft, um den Rest zu trinken. Schwere machte sich in meinem Kopf breit und zog ihn zurück ins Kissen. Die Dunkelheit griff wieder nach mir. Sanft ließ sie mich zurückgleiten, strich mir wie zum Abschied die Haare aus der Stirn und ließ ihre Hand dort verweilen. Ihr Gesicht begleitete mich bis in den Schlaf.

Als ich das nächste Mal erwachte, saß sie wieder neben mir, an genau der gleichen Stelle wie zuvor. Viele Male dämmerte ich so zwischen Halbschlaf und Wachen hin und her, und immer saß sie da. Sie gab mir zu essen und zu trinken. Jeden Wunsch schien sie mir von den Augen abzulesen. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte mich jemand so umsorgt. Selbst als ich als Kind an einem Fieber fast gestorben wäre, hatte sich niemand um mich gekümmert, nicht einmal Mutter. Fast hatte sie mir noch Vorwürfe gemacht, daß ich erkrankt war.

Aber sie war anders. Keinen Augenschlag lang schien sie sich zu entfernen, keine Handbreit fortzubewegen. Ihre Züge waren immer gleich sanft und ihre Bewegungen gleich anmutig. Ihre Augen schienen jeden meiner Atemzüge zu beobachten und langsam kamen auch die Erinnerungen zurück.

Sie war es gewesen, die mich fast getötet hätte. Doch ich hatte auch den unbestimmten Eindruck, daß sie mich retten wollte - damals.

Mehr noch...

Da war etwas in meinen Träumen gewesen - die Hand, die mich hielt, aus dem Dunkel herauszog. Es war ihre Hand gewesen. Ich wußte es mit absoluter Klarheit, wenn ich auch nicht wußte, was dieses Bild zu bedeuten hatte.

 

Laurealka

Die Nacht war schon wieder hereingebrochen. Die Lampe auf dem Tischchen verströmte ihr sanftes Licht. Es war Zeit, daß ich mich von Earel ablösen ließ. Wahrscheinlich würde Harantor bald mit Lord Elrod zurück sein, und es gab noch genügend Dinge, die ich zuvor erledigen mußte. Ich hatte die Wache länger hinausgezogen, als notwendig war. Vielleicht weil ich hoffte, mit dem jungen Mann noch ins Gespräch zu kommen.

Ich fühlte, wie er mich beobachtete, seit er erwacht war. Ich las Neugierde in seinem Blick, aber auch Unsicherheit. Er schien mit sich um einen Entschluß zu kämpfen. Ich schickte mich gerade an aufzustehen, da sah ich, wie er entschlossen die Lippen aufeinanderpreßte und versuchte den Kopf zu heben.

„Nicht“, widersprach ich kopfschüttelnd und drückte ihn vorsichtig zurück ins Kissen. Er starrte mich aus weiten Augen an.

„Wer bist du?“ fragte er. Seine Stime klang noch zittrig und schwach.

„Nenn mich Laurealka“, erwiderte ich ihm.

„Was... „, setzte er an, aber ich unterbrach ihn, bevor er zu Ende reden konnte. Was er fragen wollte, stand überdeutlich in sein Gesicht geschrieben.

„Ich bin die Herrin dieses Ortes hier.“ Bei diesen Worten wies ich auf die Bäume ringsum, umarmte in Gedanken das ganze Tal.

„Wir leben schon geraume Zeit hier, ohne daß ihr Menschen etwas von uns wißt“, fuhr ich fort. Und wie zur Erklärung setzte ich hinzu: „Wir sind Elben.“

Er schwieg und starrte an mir vorbei ins Dunkel.

„Und wie soll ich dich nennen?“ fragte ich nach einer Weile.

Er sah mich an, als müsse er über die richtige Antwort nachdenken. Dann schleuderte er mir seinen Namen entgegen.

„Alessan.“ Die Lippen aufeinandergepreßt fügte er hinzu: „Einen Vaternamen habe ich nicht!“ Es klang wie eine Herausforderung. Er fixierte mich mit leuchtenden, blauen Augen.

Wartete er auf eine bestimmte Reaktion von mir? Anscheinend war es eine Schande für ihn, keinen ´Vaternamen´ zu besitzen, aus welchen Gründen auch immer. Ich überlegte kurz, was ich antworten sollte.

„Keiner wird sich hier daran stören“ sagte ich schließlich. Es schien nicht die Antwort zu sein, die er erwartet hatte, denn die Angespanntheit in seinem Gesicht wich einer gewissen Unsicherheit.

Ich beobachtete ihn. Die Schwäche war noch immer nicht von ihm gewichen, und schon las ich wieder den unbändigen Stolz und die Herausforderung in ihm. War er nur uns gegenüber so angriffslustig? Vielleicht weil er uns für seine Feinde hielt? Oder verhielt er sich jedem gegenüber auf diese Weise?

Dieser letzte Gedanke beunruhigte mich. Wahrscheinlich würde ich seine Handlungsweise vor Gericht verteidigen müssen, also war es an der Zeit, mehr über ihn herauszufinden. Ich verwarf den Gedanken, mich von Earel ablösen zu lassen, und setzte mich zurecht in Erwartung auf ein längeres Gespräch. Wir waren alleine, und er war noch schwach. Das war vielleicht die beste Gelegenheit, ihn etwas näher kennenzulernen.

Und, fügte ich hinzu, um den Grund für den Mord zu erfahren. Ich räusperte mich.

„Warum hast du es getan?“ fragte ich schlicht.

„Was?“ kam es frech zurück. Ruckartig warf er den Kopf in meine Richtung und starrte mich lauernd an.

„Du weißt wovon ich rede. - Du hast zwei unserer Freunde getötet. Das Mendil Singollo und Kalwe, eines unserer Kinder. Und ich frage dich, warum du das getan hast.“

Ich sah ihm fest in die Augen. Er zuckte abschätzig mit den Schultern.

„Pff! Ein Hirsch. Na und? Jagt ihr kein Wild?“ Bei diesen Worten richtete er sich mühsam etwas auf, den linken Ellbogen als Stütze verwendend. Die rechte Hand preßte er dabei fest gegen seine linke Seite. In seinen Augen blitzte der Widerspruch.

„Auch ein Mendil oder Hirsch, wie ihr es nennt, ist ein Lebewesen, das fühlt und atmet“, belehrte ich ihn. Ich hatte befürchtet, daß er das nicht verstehen würde. Selbst Harantor hatte das nie begriffen.

„Nun, vielleicht verstehst du das nicht. Aber dann sag mir, warum hast du Kalwe getötet?“

„Was geht das dich an?“ kam es geringschätzig zurück.

„Sehr viel. Immerhin bin ich die Herrin dieses Ortes und trage damit die Verantwortung für die, die hier leben“, entgegnete ich ihm. In Gedanken aber fügte ich den schmerzhaften Satz hinzu: Und ich bin damit auch verantwortlich für den Tod dieser Beiden.

„Na und? Das interessiert mich nicht. Ich sehe keinen Grund, warum ich mit dir darüber reden sollte“, war seine Antwort.

„Aber versteh doch! Ich will dir doch nur helfen...“, versuchte ich zu erklären, aber er unterbrach mich.

„Ich weiß, wie eure Hilfe aussieht. Und ich kann darauf verzichten. Bemüh dich nicht!“ versetzte er heftig. Zorn glomm in seinen Augen auf.

„Nun hör doch zu! Wir werden über dich zu Gericht sitzen. Bald schon. Und wenn ich dich verteidigen will, dann muß ich wissen warum.“

„Blödes Geschwätz! Gericht, pah! Ihr sucht nur einen Vorwand, damit ihr mich ohne schlechtes Gewissen töten könnt.“ In seinen blauen Augen leuchtete die Wut. „Damit ihr mich vorher noch etwas quälen könnt! Ihr Dämonenbrut!“ Er keuchte vor Anstrengung.

„Wir wollen Gerechtigkeit...“, begann ich, doch er unterbrach mich zornig.

„Gerechtigkeit! Ich habe eure Gerechtigkeit gespürt. Die von dir und diesem..., diesem Dämon. Sie war verdammt spitz. Meinst du nicht? Ich spüre sie jetzt noch.“ Seine Rechte krampfte sich vor Anstrengung und Schmerz in die Decke, an der Stelle, wo sich seine Wunde befand. Er holte Atem, zitternd vor Wut. In seinen Augen glitzerte es verräterisch.

„Ich pfeife auf eure Gerechtigkeit. Nicht einmal einen würdigen Tod hat mir dieser Höllenbastard gegönnt. Und jetzt habt ihr mich noch einmal gesundgepflegt, damit ihr noch etwas länger euren Spaß an mir haben könnt. Das ist eure Gerechtigkeit!“ Er spuckte aus.

„Ich spucke auf euch!“ Mit diesen Worten sank er schwer atmend zurück aufs Kissen.

Seine Worte trafen mich zutiefst. Dachte er wirklich so schlecht über uns? Oder war es nur die Angst, die aus ihm sprach?

Wenn ich ihn doch nur verstehen könnte! Wenn ich ihn nur dazu bringen könnte, mir soweit zu vertrauen, daß er mit mir redete!

Aber es schien, daß dies unmöglich war.

 

Alessan

Ich sah wie sie zusammenzuckte. Eigentlich hätte ich darüber Genugtuung empfinden sollen, aber ich fühlte nur eine große Leere in mir. Ihre Augen blickten traurig. Fast tat es mir leid, was ich zu ihr gesagt hatte.

Aber meinte sie wirklich, ich würde ihr das mit dem Gericht glauben? Weshalb sollte sich jemand soviel Mühe wegen eines dahergelaufenen Fremden machen, der dazu noch eines ihrer Kinder getötet hatte? Niemand hatte sich jemals groß um mich gekümmert. Weshalb sollten gerade sie es tun?

Sicher es tat mir leid, was passiert war, aber wer interessierte sich schon dafür? Bestimmt nicht diese Elben. Und vor allen Dingen: Das machte den Jungen auch nicht wieder lebendig. Weshalb also sollten sie deshalb nachsichtig mit mir sein? Er war tot, und ich hatte ihn getötet.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie auf einmal. Sie hob ihre Hand, als wolle sie mich berühren, zog sie aber auf halbem Wege wieder zurück. Sie wirkte ehrlich bekümmert.

„Ich wollte dir nicht weh tun. Es war ein dummer Unfall. Ich wollte dir eigentlich helfen zu fliehen. Damit Harantor dich nicht töten kann.“

Sie sah mich bei diesen Worten so fest an, daß ich fast versucht war, ihr zu glauben. Vielleicht sprach sie ja wirklich die Wahrheit, und nur dieser Riese namens Harantor wollte meinen Kopf?

„Beweis es! Hilf mir noch einmal zu fliehen“, erwiderte ich daher frech. Sie schüttelte bedauernd den Kopf, so schien es.

„Harantor wird bald mit Elrod Cormatur zurück sein, damit er über dich richten kann. Ich kann dich nicht gehen lassen, so gerne ich das vielleicht auch möchte. Aber ich bin es den Meinigen schuldig, daß ein Urteil gesprochen wird.“

Natürlich, nichts als Ausreden! Das hatte ich geahnt. Aber mein nächster Schuß würde sie schon treffen!

„Hast du keine Angst, daß jemand über dich deswegen richten könnte. Ich hätte tot sein können“, warf ich ihr vor.

Sie zuckte sichtlich zusammen. Ein schmerzhafter Blick aus traurigen Augen traf mich.

„Ich habe alles gegeben, was ich hatte, um dich zu retten. Was kann ich mehr tun?“ fragte sie leise.

Verdammt, ich glaubte es ihr sogar. Die Hand im Traum, die mich aus der Dunkelheit gezogen hatte, war ihre Hand gewesen. Ich hatte es geahnt. Dennoch, warum hielt sie mich dann fest und lieferte mich diesem Ungeheuer Harantor aus, damit dieser mich töten konnte? Ich begriff es nicht.

„Das kann jeder sagen“, behauptete ich daher so barsch wie möglich. Sie durfte nicht bemerken, wie sehr sie mich schon um den Finger gewickelt hatte, dieses Aas!

„Würdest du jemanden zum Tode verurteilen, wenn er jemanden aus Notwehr oder aus Versehen getötet hat?“ fragte sie unschuldig. Die Frage raubte mir den Atem. Konnte sie wissen, was passiert war?

„Was würdest du tun?“ gab ich die Frage an sie zurück.

„Bedarf diese Frage einer Antwort?“ antwortete sie und sah mich fragend an.

Bei allen Göttern! Sollte das wirklich heißen, sie würde mir vergeben, wenn sie wußte, daß der Schuß ein Versehen war? Unsinn, warum sollte sie mir glauben? Ich hatte keinen Beweis.

Narr, sie würde dir glauben! hallte es in mir wieder.

Hah! Ja, ich war ein Narr! Was nützte es, wenn sie mir glaubte und dieser Harantor mir dann den Kopf abschlug? Er war auf dem Weg hierher, das hatte sie selbst gesagt. Sollte ich warten, bis er hier war und kurzen Prozeß mit mir machte?

Glaubte sie, daß sie mich mit ihrem süßen Gerede so einlullen konnte, daß ich geduldig wie ein Lamm wartete, bis man mich auf die Schlachtbank führte? Nicht mir mir! So blöd war ich nicht!

„Laurealka!“ Eine leise Stimme störte meine Gedanken. Es war die nette, kleine Dunkelhaarige, die Laurealka geholfen hatte, mich zu pflegen.

Laurealka stand auf und ging zur Tür hinaus. Ich hörte sie kurz mit der anderen in einer fremden Sprache reden, dann kam sie zurück. Sie ging neben meinem Lager in die Hocke und sah mich an.

„Ich muß jetzt gehen. Earel wird sich um dich kümmern, wenn du etwas brauchst.“

Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach.

„Vertrau mir! Ich will dir helfen! Ich weiß nicht, wie ich dich davon überzeugen kann. Aber... „ Ich wollte sie gerade mit einer passenden Bemerkung unterbrechen, doch sie hob die Hand und legte sie sanft auf meinen Arm.

„Nein. Bitte! Sag jetzt nichts!“ Der süße Blick aus ihren taubenblauen Augen lähmte mich. Ich war ihr Opfer. Sie strich zart über meinen nackten Oberarm.

„Denk darüber nach, was ich gesagt habe. Um mehr bitte ich dich nicht“, flüsterte sie. Und bevor ich noch etwas sagen konnte, war sie davongeweht wie ein Blatt im Wind.

Ich starrte auf die Schiebetür, durch die sie verschwunden war. Wie gerne würde ich ihren Worten glauben! Aber wenn ich das tat, wenn ich tat, was sie von mir verlangte, lieferte ich mich ihr aus - auf Gedeih und Verderb.

Nein! Niemals! Egal wer es war, niemandem würde ich je soweit vertrauen. Auch ihr nicht, mochte sie auch noch so sanft und lieblich sein.

Es gab nur einen Ausweg. Ich mußte fliehen! Und das möglichst schnell, bevor dieses Ungeheuer von Harantor kam, um mich zu töten!

 

Harantor

Laurínamardi lag vor mir. Ich war in der Nacht geritten, um am frühen Morgen hier zu sein.

Ich hatte die Wachen, die nun viel aufmerksamer waren, bemerkt. Und obwohl sie mir freundlich gesonnen waren, hatte ich ein unbehagliches Ziehen zwischen den Schulterblättern gespürt, wußte ich doch, daß sie mit Pfeil und Bogen in den Bäumen saßen. Dergleichen hatte mich schon immer sehr nervös gemacht.

Bereits um diese Zeit, die Sonne war am Horizont mehr zu ahnen, denn zu sehen gewesen, als ich nach Laurínamardi hineinritt, war die Schwüle zurückgekehrt, und ein neues Gewitter würde am Abend die Luft von diesem lästigen Druck reinigen.

Während des Ritts nach Laurínamardi hatte ich lange darüber nachgedacht, wie ich zu handeln hatte.

Ich wußte, wenn ich erst in Laurínamardi war, würde ich dazu keine Gelegenheit mehr haben, denn von da tanzte ich auf einem Vulkan.

Ich mußte über den Menschen richten, und ich hatte es so zu tun, daß das Urteil als gerecht empfunden wurde. Ich war gezwungen, einen Ankläger zu bennen, aber auch jemanden, der dem Menschen zur Seite stand.

Kaum erschien ich auf der Lichtung zu Füßen Aldamars, Laurealkas Schloß in den Bäumen, war das Alleinsein zu Ende. Sie kamen, um Elrod zu sehen. Deutlich las ich in ihren Gesichtern die Frage, warum ich allein gekommen war.

Ich hatte unter den Eldar einen sonderbaren Ruf. Die meisten von uns hatten ihre Erinnerungen schärfer bewahrt als ich. Ich selbst galt als Barbar, und es war nicht ungewöhnlich, mir mit Argwohn zu begegnen. Mein Auftreten war oft polternd, und ich schwang keine schönen Reden, liebte Poesie nur in Trinkliedern, und ich unterschied mich in vielem von den anderen Eldar.

Elrod deutete an, daß ich schon immer etwas anders gewesen war, daß ich auch auf Mittelerde als Sonderling galt. Aber er überließ es mir, die Erinnerung daran wiederzugewinnen.

Ich lebte mit Menschen auf meinem Hof, und wenn all das nicht genügt hätte, war da die Menschenjagd, um meinen Ruf zu festigen. Hier in Laurínamardi war ich ein Außenseiter. Lediglich Kalwe hatte mich ohne wenn und aber gemocht.

Konnte ich diesem Menschen überhaupt Gerechtigkeit widerfahren lassen? Es mußte gelingen.

Allein Elrods Vertrauen, hatte mir eine gewisse Anerkennung gesichert, und nun trug ich als erster einen der Drei.

Ich blickte in die Gesichter. Etwa ein Dutzend unseres Volkes mußten inzwischen gekommen sein. Kein Wort fiel, sie sahen mich nur durchdringend an, als suchten sie die Antwort in meinen Augen.

Ich erwiderte den Blick, dabei wußte ich zum Glück, daß sie nicht Elrod waren; der Ringmeister, der in die Tiefe der Herzen schauen konnte, der in seiner Weisheit sein Volk nach Tol Uinor rief. Nun würde man sehen, ob seine Weisheit in mir ihre Grenzen gefunden hatte, oder ob er mit seiner Wahl im Recht war.

Aber ich durfte nicht versagen, nicht noch einmal, denn wenn ich versagte, dann würde ich meine Heimat verlassen, die Wanderschaft wieder aufnehmen und damit alles aufgeben. Das wußte ich nur zu genau.

Mein Blick fiel auf Kanyahón, Earel, Taurion und noch einige andere, deren Namen ich nicht kannte oder an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Auch Angaimaite und Lómelinde waren unter denen, die vor mir standen.

Ich nickte allen grüßend zu. Zögernd nur erwiderten sie den Gruß. Ich hatte es nicht anders erwartet.

“Taurion, hol alle zusammen, die in Laurínamardi sind. Earel, hol deine Herrin. Es gibt Kunde von Elrod, die für alle Ohren bestimmt ist. Und bitte beeilt euch!”

Sowohl Taurion als auch Earel verschwanden wortlos. Das Schweigen lastete mehr noch als die Schwüle des Morgens auf allen. Ich gedachte nicht zu sprechen, ehe alle beisammen waren. Auch wagte es keiner mich anzusprechen. Sie hielten lediglich ihre Blicke auf mich gerichtet.

Gedämpft hörte man in der Entfernung Taurion, wie er die übrigen Eldar des Ortes auf die Lichtung vor Aldamar rief.

Ich drehte mir in aller Ruhe eine Yulepse und entzündete diese, bevor ich absaß. Die Zügel übergab ich einem Halbwüchsigen, der in der Nähe stand. Er wich ein paar Schritte zurück, weil ich Taurion beim letzten Mal in meiner Ungeduld geohrfeigt hatte. Viel war seither geschehen.

Nach und nach kamen die Eldar zusammen. Nur Earel und Laurealka waren noch nicht zurück.

Bei allen Valar, wird es denn mein Schicksal, auf Laurealka zu warten, schoß es mir durch den Kopf.

Ich warf meine Yulepse auf den Boden und trat den Stummel in den Waldboden. In diesem Moment erschien Laurealka, und ich steckte den Beutel mit dem Pfeifenkraut weg, denn nun kam meine erste Bewährungsprobe.

 

Alessan

Sie war fort und in meinem Kopf hallten ihre Worte wieder: „Vertrau mir! Ich will dir helfen!“ Wieder sah ich vor meinen Augen ihren traurigen, aber doch so festen Blick. Aber bei den Göttern, ich durfte mich von ihren falschen Versprechungen nicht einlullen lassen! Ich wußte nur eines: Ich mußte fliehen.

Fast war ich geneigt, ihren Worten zu glauben, aber ich konnte mir solche Gefühlsduseleien nicht leisten. Und schließlich, so war es doch immer gewesen! Wer war denn je ehrlich zu mir? Wer hatte mich denn je fair behandelt?

So lange ich denken konnte, war mein Leben nur eine Kette aus Demütigungen und Enttäuschungen gewesen. Es gab niemanden, den ich ausnehmen konnte; nicht einmal meine Eltern. Mein Vater? Pah! Mit welchem Recht sollte er diesen Namen beanspruchen? Er, der mich mein Leben lang verleugnet hatte. Und doch war er derjenige gewesen, der sich über meine Mutter hergemacht hatte wie ein brünstiger Hirsch, ohne Gefühl und Verstand.

So erzählte man sich die Geschichte jedenfalls hinter vorgehaltener Hand, und allein der Gedanke daran machte mich wieder so wütend, daß sich wie von alleine meine Hände zu Fäuste ballten.

Gut, man konnte ihn verstehen. Denn sie war schön gewesen meine Mutter. Neidlos hatten alle vom Gut ihr das zugestanden. Mit ihrer zarten, schlanken Figur, den anmutigen Bewegungen und dem schönen, ebenmäßig geschnittenem Gesicht war sie wie eine Göttin unter diesen Bauerntölpeln erschienen. Aber sie war hier eine Fremde gewesen, und sie hatten sie es fühlen lassen.

„Du bist wie deine Mutter! Meinst auch, du wärst etwas besseres!“ Wie oft hatte ich diese Worte gehört, gehässig, zornig, in allen Tonlagen. Wie ich sie haßte, haßte! Sie zu denken, reichte aus, um die ohnmächtige Wut zu einem würgenden Knoten in meinem Magen zu verdichten.

Daß sie es nicht begriffen! Ich wollte nichts besseres sein. Ich wollte nur nicht einsehen, daß sie, die Söhne des Gutsbesitzers, „meines Vaters“ andere Söhne, mehr Rechte haben sollten wie ich. „Weshalb?“ fragte ich mich immer wieder und die Ungerechtigkeit ergab für mich keinen Sinn. „Weshalb?“ schrie ich diesen anderen ‘Söhnen’ hilflos ins Gesicht, und als Antwort dachten sie sich nur eine neue Quälerei für mich aus.

Oh, wie ich sie dafür haßte! So sehr wie sie wahrscheinlich mich haßten. Allein die Erinnerung an sie verursachte mir körperliche Qual. Ich fühlte, wie ich mich zur Abwehr zusammenkrümmte, als warte mein Körper nur darauf, wieder von ihnen mißhandelt zu werden.

Nie hatten sie mich verstanden, so wenig wie meine Mutter. Auch sie wollte nichts besseres sein, sie wollte nur alleine sein, allein mit ihrem Kummer. So denke ich zumindest darüber. Denn sie war es, die unter der Tat meines „Vaters“ zu leiden hatte, die den Schmähungen der anderen Gutsarbeiter ausgesetzt war mit ihrem vaterlosen Balg, wie sie mich nannten. So sehr, bis sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte und einfach starb.

Abgründe taten sich vor mir auf. Nie wieder hatte ich den Jammer spüren wollen, der mit diesen Erinnerungen verbunden war. Und doch brachen sie sich jetzt mit aller Macht Bahn, so daß die eben noch so hilflose Wut sich in ebenso hilflosen Schmerz verwandelte.

Ich war noch ein Kind. „Ein Unfall“, sagten einige. „Sie hat sich umgebracht“, flüsterte mir Garvinus, der älteste Sohn des Gutsbesitzers, ins Ohr. Er wußte, daß er mich damit treffen konnte. Und er hatte Recht, irgendwie hatte er recht. Denn tief in meinem Innern hatte ich, auch wenn ich damals noch ein Kind war, gefühlt, daß sie dieses Leben haßte. Ob sie sich nun das Leben nahm, oder es ihr durch einen Unfall genommen wurde, es blieb sich gleich, denn ihr war es egal. Sie wollte es so. Sie hätte sich nicht dagegen gewehrt.

Und so blieb ich allein zurück. Ließ mich auch meine Mutter im Stich. Ja, im Stich! Der Gedanke schmerzte immer noch.

Nicht daß es einen Unterschied gemacht hätte. Sie hatte sich nie groß um mich gekümmert, eher kam es mir vor, als hasse sie mich. So wie man ein Geschwür haßt oder ein verkrüppeltes Bein. Man haßt es, obwohl es nicht schuld an dem Unglück ist, aber man haßt es, weil es da ist, und man schließlich irgendetwas hassen muß, da es einen sonst zerreißt. Und so hatte sie mich, das verhaßte Geschwür in ihrem Leben, zurückgelassen. Allein gelassen. Den Wölfen zum Fraß vorgeworfen.

Verrat war es gewesen! Schlimmer als der Verrat meines „Vaters“. Und ich war allein gewesen. Immer allein...

Ich fühlte, wie der Knoten in meiner Brust nach oben drängte. Seltsam, daß ich ausgerechnet hier auf diesem Lager an meine Mutter dachte. So tief hatte ich sie und die mit ihrem Andenken verbundenen Erinnerungen in meinem Kopf vergraben, wollte nichts mehr davon wissen, daß ich geglaubt hatte, nie wieder damit konfrontiert zu werden.

Warum kam jetzt alles zu mir zurück? Ich fühlte, wie meine Augen brannten. Warum?

„Vertraue mir!“ hatte sie gesagt.

Vertrauen? Das Wort schmeckte bitter. Hatte ich jemals jemandem vertraut? Warum dann ihr, dieser unbekannten Elbin? Was würde es mir schon bringen außer neuen Enttäuschungen? Hatte sie mich schon so weit eingelullt, daß ich begann, ihren hohlen Worten Glauben zu schenken?

Ein entfernter Tumult am Boden der Bäume schreckte mich aus meinen unliebsamen Gedanken hoch, ließ mich aufhorchen. Ich setzte mich auf, mühsam. Jede Bewegung tat entsetzlich weh. Aber auch diese Gedanken schmerzten, mehr als jede Wunde. Schnell wischte ich sie beiseite. Alles hätte ich jetzt als Ablenkung akzeptiert.

Ich horchte - und eine dunkle Ahnung durchfuhr mich, preßte mir die Luft aus den Lungen, zwang mich aufzustehen. Die Stimme, sie kam mir bekannt vor! Harantor? Der Dämon?

Ich lauschte intensiver. Getrieben von einer unerklärlichen Angst wälzte ich mich auf den Bauch und versuchte die Füße unter mich zu ziehen. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Schmerz, heller Schmerz pochte durch meinen Körper. Ein Griff nach dem Geländer des Fensters neben meinem Lager. Ich zog. Der Schmerz raubte mir fast die Besinnung, doch ich stand. Dunkle Wirbel drehten sich vor meinen Augen.

Als mein Blick sich endlich klärte, sah ich die Versammlung der Elben, wenige Schritte vom Fuß dieses Baumes entfernt. Und in ihrer Mitte stand - der Dämon!

Fast hätte ich ihn nicht erkannt, so anders sah er jetzt aus, doch er war es, daran gab es keinen Zweifel. Auf seiner Brust blitzte eine Kette. Er hob seine rechte Faust und seine Stimme, gewaltig wie ein Donnergrollen, drang auch herauf zu mir.

“Hört! Elrod Cormatur hat mir den Carnya genommen und den Angya gegeben, auf daß ich Richter der Eldar bin. Ich werde im Namen Elrods über den Menschen richten!”

Klar und deutlich hörte ich seine Worte. Und ebenso klar und deutlich wußte ich im gleichen Augenblick, daß sie mich töten würden. Er - der Dämon - würde dafür sorgen! Es war zu spät, ich hatte zu lange gezögert.

Der Schreck fuhr siedendheiß durch meine Brust, jagte heißkalte Schauer durch meinen Körper, und dennoch stand ich weiter dort an der Brüstung, unfähig mich zu bewegen, in meinem Innern nur pochende Leere.

Langsam wendete ich mich von der Versammlung ab. Vor meinen Augen wanden sich graue Nebelfetzen.

Tot ... Sie werden mich töten! Der Gedanke stand vor mir mit aller Macht, lähmte mich.

„Vertrau mir“, hatte sie gesagt, „ich will dir helfen.“ Wie blanker Hohn schlugen mir die Worte jetzt entgegen.

Helfen - schöne Hilfe! Ich pfeife darauf! Verraten hatte sie mich, die „edle“ Elbin“! Ausgeliefert. Von wegen „faire“ Gerichtsverhandlung - mit Harantor als Richter. Ich konnte mir schon vorstellen, wie die enden würde!

Oh, daß ich so dumm sein konnte! Fast habe ich ihr geglaubt. Zum Narren habe ich mich machen lassen von dieser Elbin! Ich leichtgläubiger Idiot. Wie ein Trottel habe ich mich benommen!

Ein wütender ohnmächtiger Schrei hing in meiner Kehle, würgte mir fast den Atem ab. Wie hatte ich so blöd sein können, ihr zu glauben? Diesem - diesem Weib! Diesem verschlagenem Weib! Keinen Deut besser war sie als die Leute vom Gut!

Wie ich sie alle haßte, haßte! Verlogene Bande ...

Voller Wut krallten sich meine Fingernägel in das Holz der Brüstung, als wäre es ihr Hals, den ich umklammerte, zusammendrückte, bis... Bis mich der Schmerz wieder zur Besinnung brachte.

„Sie werden mich töten!“ rief ich mir ins Bewußtsein. Mein Herz pochte wild.

Ich mußte fort, so schnell wie möglich. Am besten sofort, solange dieser Dämon die wütende Menge da unten noch beschäftigte. Wenn er fertig war, würde er kommen, um mir mein Ende zu bereiten. Dessen war ich sicher.

Aber glaubt ja nicht, ich werde es euch einfach machen. Glaubt ja nicht, ich würde hier warten und euer Opferlamm spielen! Nicht mit mir!

Wasserklar waren jetzt meine Gedanken. Schritt für Schritt zog ich mich am Geländer entlang auf die Tür zu. Jeder Schritt eine Qual, aber ich schaffte es. Fast schon an der Tür, bemerkte ich, daß ich nackt war bis auf die Binden, die meine Wunden bedeckten. Ich sah das Tuch vor mir auf dem Boden liegen, mit dem sie mich zugedeckt hatte. Aber ich wagte nicht mich zu bücken, aus Angst, ich könnte nicht noch einmal die Kraft aufbringen, mich hochzuquälen. Noch einen Augenblick zögerte ich, dann trieb mich die Angst vorwärts.

Ich mußte es schaffen!

Vorsichtig öffnete ich die Schiebetür. Ein nach zwei Seiten offener Raum bot sich mir dar. An einer Seite erkannte ich eine Art Treppe oder Strickleiter, die nach oben führte und anscheinend auch eine Verlängerung nach unten hatte. Auf der anderen Seite führte eine schwankende Hängebrücke durch die Blätter der Bäume ins Leere.

Die schwarzen Wirbel vor meinen Augen tauchten wieder auf. Quälend langsam drehten sich meine Gedanken. Wie ein Idiot stand ich in dem Vorraum und wußte nicht, welchen Weg ich wählen sollte. Die Schmerzen raubten mir fast die Besinnung, ließen mir die Tränen in die Augen steigen.

Mühsam nahm ich mich zusammen. Sie würden mich sehen, wenn ich hier hinabkletterte. Es war hellichter Tag. Die Hängebrücke war der einzige Ausweg. Ich mußte über die Bäume an den Rand der Lichtung gelangen und dort erst hinabklettern.

Wie in Trance schleppte ich mich darauf zu. Die Brücke verschwand vor meinen Füßen im Blätterdach, unbekannte Entfernungen überbrückend. Einen Moment lang überkamen mich Zweifel, ob ich es überhaupt schaffen konnte, doch die Wut fegte die Zweifel beiseite und setzte ungeahnte Kräfte frei.

Unsicher setzte ich den ersten Fuß auf das schwankende Gerüst ...

 

Harantor

Ich konnte sehen, wie sich Laurealka suchend umblickte. Schließlich kam sie auf mich zu. Sie schob sich in die erste Reihe des Halbkreises, der sich um mich gebildet hatte.

“Wo ist Elrod?” fragte sie ohne einen Gruß. Ihr Blick ging hin und her.

“Ich werde es gleich erklären. Bitte hör mir zu, Laurealka”, sagte ich zu ihr und sah ihr in die Augen, dabei las ich die aufkommenden Zweifel; dann hob ich meine Stimme und sah in die Schar der Eldar: “Bitte hört mir alle zu!”

Ich hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ihre Blicke trafen mich wie Pfeile.

“Elrod sendet euch allen seine Grüße, auch teilt er den Schmerz um den Verlust Kalwes und Singollos, aber er wird nicht nach Laurínamardi kommen. Wichtige Aufgaben halten ihn in Minas Thín fest!”

“Was sagst du da?” Laurealkas Blick war wie glühende Lava, auch die übrigen tuschelten. “Hast du dem Ringmeister nicht klar gemacht, daß nur er...”

“Schweig! Schweigt alle!” fuhr ich besonders Laurealka an. “Seht her. Seht auf meine Hand!”

Ich streckte meine Rechte vor, an dessen Ringfinger der Angya, der Eiserne, einer der Drei, matt glänzte.

Augenblicklich schwiegen alle, sie starrten wie gebannt auf meine Rechte, konnten den Blick nicht von dem Ring lassen, einem der Großen Ringe, die Elrod erschuf.

Innerlich atmete ich durch. Ich hatte den ersten Streich geführt. Nun durfte ich ihnen allen, aber besonders Laurealka keine Atempause geben, durfte mich nicht in eine Diskussion verwickeln lassen, mußte ihre Überraschung nutzen.

“Hört! Elrod Cormatur hat mir den Carnya genommen und den Angya gegeben, auf daß ich Richter der Eldar bin. Ich werde im Namen Elrods über den Menschen richten!”

Ich sah in Laurealkas Gesicht. Blankes Entsetzen zeichnete sich darin ab, auch Wut konnte ich in ihren Zügen lesen. Auf andere achtete ich im Moment nicht. Ich durfte Laurealka nicht zu Wort kommen lassen, durfte nicht zulassen, daß sie ihre Autorität wegen unbedachter Äußerungen verlor, durfte nicht zulassen, daß sie sich in Sorge um diesen Jungen, die Liebe und die Achtung aller verscherzte, ohne mich angehört zu haben.

Die übrigen tuschelten, doch ich beachtete sie kaum. Mein Blick streifte Angaimaite, der mich grimmig ansah. Offensichtlich ahnte er, daß ich den Menschen nicht gleich holen und aufhängen, vierteilen oder köpfen ließ.

“Hört mich an. Der Cormatur, den wir alle kennen und verehren, dessen Liebe uns hier auf Tol Uinor zusammenführte, wünscht, daß dieser Mann eine Verhandlung erhält, die unserem Volk würdig ist. Bei der Macht des Carnya habe ich geschworen, diesem Jungen ein Recht auf Verhandlung zu geben, in der er sich verteidigen kann und die ihn fair behandelt.”

Kurz holte ich Luft und achtete auf die Wirkung meiner Worte. Laurealka hatte sich gefangen und blickte mich fragend an.

“Bei allen Valar! Ich bestimme, daß Angaimaite als Vater Kalwes das Recht hat, die Anklage gegen den Menschen zu führen. Ich frage dich Angaimaite, willst du den Menschen anklagen?”

Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Vater des toten Kalwe.

“Ja, Harantor. Ich klage den Mörder meines Sohnes an und fordere Gerechtigkeit!” antwortete er mit fester Stimme. Deutlich sah ich den Zorn in seinen Augen funkeln.

“So sei es! Du wirst der Ankläger sein”, entgegnete ich. “Ich bestimme Laurealka, Herrin in Laurínamardi zur Verteidigerin des Angeklagten. Ich frage dich, Laurealka. Nimmst du diese Aufgabe an?”

Sie sah mich an. In ihren Augen begann ein wildes Feuer zu lodern.

“Wenn du glaubst, ich...”, begann sie und wollte mir offensichtlich Vorwürfe machen. Das konnte und durfte ich nicht zulassen.

“Nimmst du an?” fragte ich drängend.

“Ja! Ja, ich nehme an”, sagte sie nur mühsam beherrscht. “Ich werde versuchen, der Gerechtigkeit zu dienen.”

“Nun gut. So hört denn weiter. Der Ankläger und die Verteidigerin haben bis zum Sonnenuntergang Zeit, mir je eine Person ihrer Wahl zu benennen, die zusammen mit mir das Urteil fällen werden. Die Verhandlung wird für den morgigen Tag angesetzt. Sie beginnt bei Sonnenaufgang.”

Ich blickte in die Runde. Es erhob sich weder Protest noch Zustimmung. Sie schwiegen.

„Ich erwarte”, ergriff ich erneut das Wort, „daß die Empfangshalle morgen bereitstehen wird. Taurion, das wird deine Aufgabe sein. Später am Tag werde ich dir sagen, wie ich es mir vorstelle.”

Taurion nickte nur.

“Mehr gibt es vorerst nicht zu sagen. Bitte geht. Laurealka, bitte zeig mir ein Flett, wo ich wohnen kann, solange ich hier bin.”

“Du kannst eines der Gästezimmer neben der Empfangshalle beziehen”, sagte sie mit betont gleichmütigem Tonfall. Dabei blickte sie Earel an, die artig nickte und Richtung Aldamar ging. Als sei dies ein Zeichen gewesen, zerstreuten sich auch die anderen Elben langsam wieder.

Ich atmete tief durch, griff nach dem Beutel mit dem Pfeifenkraut, und drehte mir eine Yulepse. Angaimaite ging mit den anderen. Laurealka blieb und wartete, bis die anderen weit genug weg waren.

“Harantor, warum kommt Elrod nicht?” fragte sie mich, während ich meine Yulepse anzündete und den Rauch tief inhalierte.

Ich hielt ihrem Blick stand. Für die Antwort nahm ich mir Zeit, denn jedes falsche Wort, konnte das Erreichte zerstören.

“Er hat mir eine Prüfung auferlegt”, begann ich. “Ich muß mich seiner Gabe, ihm und auch mir gegenüber würdig erweisen. Elrod selbst hat andere Angelegenheiten, derer er sich widmen muß.”

Flüchtig dachte ich an den gewaltigen Ruf, den ich bei meinem letzten Blick auf Minas Thín gespürt hatte.

“Das ist nicht wahr, Harantor. Du hast Elrod belogen, du hast ihm nicht alles erzählt, du...”, Laurealka standen die Tränen in den Augen. Sie schien verlassen und enttäuscht, ihr fehlten die Worte.

“Hör doch. Glaubst du, irgendeiner von uns könnte Elrod belügen, könnte es schaffen, die Wahrheit vor ihm zu verbergen. Oh ja, ich kann lügen, ich kann fast jeden täuschen, aber nicht den Ringmeister, nicht ihn. Du weißt doch, wenn er dir in die Augen sieht, dann entgeht ihm nichts...”

“Du hast ja recht. Es ist nur...”, sie wußte nicht weiter.

“Laß gut sein. Gehen wir zu dem Menschen...”, sagte ich, wurde aber von Laurealka unterbrochen.

“Er heißt Alessan...”, sagte sie mit einem seltsamen Bedauern in der Stimme.

“Gehen wir zu ihm, ich will ihn sprechen”, beendete ich meinen Satz.

Schweigend erklommen wir die Leitern. Laurealka ging voraus. Kurz bevor wir das Zimmer erreichten, in dem der Junge lag, wandte sich Laurealka um.

“Das Schwert, bitte laß das Schwert hier draußen”, sagte sie.

“Ich verstehe”, sagte ich. Ich legte den Schwertgurt ab, an dem der Benngur in seiner Scheide hing.

Gleich darauf schritten wir in das Zimmer.

Es war leer! Der Junge war weg!

 

Laurealka

Der Schreck erwischte mich eiskalt. Entsetzt blickte ich auf das leere Lager. Wie hatte er das geschafft? Da sah ich, wie Harantor sich umdrehte, kalte Wut glomm in seinen Augen, und ich wußte, was kommen würde.

„Dieser Bastard! Dieser dreimal verfluchte Hurensohn!“ brüllte er und trat ein unbeteiligtes Stück Möbel beiseite.

„Ich werde ihn töten! Ihn übers’s Knie legen und windelweich schlagen, daß ihm hören und sehen vergeht! Ihn...„

„Harantor!“ beschwor ich ihn, während ich auf ihn zuging. „Harantor!“ Doch er war wie von Sinnen. Fluchend strebte er an mir vorbei zur Tür. Zweifelsohne war er auf dem besten Wege, die ganze Siedlung zusammenzurufen, um sie dem Jungen hinterherzuschicken.

Und wasserhell stand mir vor Augen geschrieben, was das für den Gefangenen bedeutete.

Sein Ende!

Sie würden ihn töten, wenn sie ihn auf der Flucht fanden. Ihn abschlachten wie ein Tier. Alles was ich bisher erreicht hatte, würde dadurch zunichte gemacht werden. Der Zusammenhalt der Siedlung würde vor eine erbarmungslose Zerreißprobe gestellt werden. Eine Zerreißprobe, die sie vielleicht nicht bestehen würde. Das durfte ich nicht zulassen!

„Nein!“ Mit einem Schritt versperrte ich dem aufgebrachten Harantor den Weg. Ich legte all meine Autorität in dieses Wort. Verdutzt starrte er mich an.

„Geh mir aus dem Weg!“ herrschte er mich an und versuchte um mich herumzugehen.

„Nein, Harantor!“ Geschickt wich ich ihm aus, und stellte mich vor die Tür, mit beiden Händen den Türrahmen umklammernd. Würde er es wagen, mich beiseite zu stoßen? Ich hoffte nicht!

Sein Gesicht rötete sich. „Geh mir aus dem Weg!“ wiederholte er noch einmal. Diesmal klang es gefährlich leise.

„Nein. Erst hörst du mir zu. Nur ein paar Sätze. Du wirst ihn schon finden. Er kann nicht weit gekommen sein. Nicht mit diesen Verletzungen. Er ...“

„Nicht weit gekommen! Ha!“ Giftig starrte er mich an. „Wo sind die Wachen, du dusselige Kuh. Lernst du denn nie dazu? Wie konntest du diesen Hurensohn hier alleine lassen? Diesen dreimal ...“

„Darf ich dich daran erinnern, daß du“, böse schleuderte ich ihm das letzte Wort entgegen, „alle Elben unten auf der Lichtung zusammengerufen hast. Außerdem ist er nach wie vor schwer verletzt. Er konnte kaum alleine sitzen, als ich ihn zurückließ. Ich frage mich, wie er überhaupt aufstehen konnte, geschweige denn eine der Leitern hinabklettern!“

Er drehte sich um, marschierte mit wenigen raumgreifenden Schritten an die Fensterfront. Mit einem heftigen Krachen ließ er seine Faust auf das Geländer donnern. Dann drehte er sich um und starrte mich heftig atmend an.

„Ist das ein Grund ihn hier allein zu lassen? Was hast du dir dabei gedacht? Wie kann man nur so dämlich sein!“ polterte er los.

„Es reicht!“ fuhr ich ihn an. Langsam kam ich ihn Fahrt. Die Enttäuschung, daß Elrod nicht gekommen war, brach sich in Worten Bahn. „Was hast du dir dabei gedacht, dich da unten hinzustellen und deine Richterwürde zu verkünden? Warum hast du mir nicht vorher Bescheid gesagt? Damit ich ihn schonend darauf vorbereiten kann! Er...“

„Kannst du denn nur noch an diesen verfluchten Meuchler denken? Verdammt noch mal! Was ist in dich gefahren?“ unterbrach er mich, ging einen Schritt auf mich zu und packte mich an den Schultern. Er schüttelte mich. Doch so leicht ließ ich mich nicht einschüchtern.

Flüchtig drängte sich mir Alessans mißtraurischer Blick auf. Soviel Leid hatte ich darin gelesen, solch entsetzliche Einsamkeit, soviel Schmerz...

Wer hatte ihn derartig mißhandelt, daß er niemandem mehr trauen konnte?

Wer?

„Harantor! Begreif doch! Er hat Angst vor uns. Er ist felsenfest davon überzeugt, daß wir ihn töten wollen. Als er dich da unten gesehen hat und gehört hat, daß du sein Richter bist, was hätte er da denken sollen, außer daß sein letztes Stündlein geschlagen hat?“

„Es ist mir scheißegal, was dieser Meuchler über mich denkt, oder ob er Angst hat. Keine Angst der Welt kann zuviel sein für das, was er getan hat. Ich...“, wollte Harantor aufgebracht fortfahren, während er meine Oberarme wie Schraubstöcke umklammert hielt.

Der Blick seiner wütend glitzernden Augen machte mir Angst, doch die Wut ließ mich weiterreden.

„Wenn du die anderen jetzt zusammenrufst, werden sie ihn verfolgen wie ein Tier. Sie werden ihn abschlachten. Sie werden ihn töten.“

Meine Worte überstürzten sich, tief holte ich Atem. Ich sah, wie Harantor zu einer Erwiderung ansetzte, beschwörend sah ich ihn an, legte all mein Gewicht in die nächsten Worte.

„Bitte, du darfst das nicht zulassen. Nicht jetzt, so kurz vor der Verhandlung. Dann ist alles verloren, alles ...“ Rüde unterbrach er mich.

„Ach, soll ich die Fehler der gnädigen Frau jetzt wieder ausbügeln? - Sollen die anderen ihn doch finden. Soll Angaimaite ihm doch den Kopf abhacken. Hättest du hier Wachen aufgestellt, dann wäre er noch hier!“

Wie konnte er es wagen!

„Hättest du einen Gedanken an ihn verschwendet, dann wäre er ebenfalls noch hier. Ich hatte keinen Ärger mit ihm, bis du kamst“, erwiderte ich erbost. Meine Worte überstürzten sich mit meinen aufgewühlten Gefühlen. „Hättest du einen Augenblick darüber nachgedacht, daß er hier oben liegt und alles mithören kann! Oder wenn du wenigstens elbisch gesprochen hättest. Aber nein, du hast ja nur an deinen Auftritt gedacht! Hauptsache der Barbar Harantor kann sich gut in Szene setzen! Wie immer!“

Kaum waren die letzten Worte verklungen, da taten sie mir auch schon leid. Verwirrt hielt ich inne, während Harantor mich wortlos von sich stieß.

„Es tut mir leid“, setzte ich schnell hinterher. „Verzeih mir! Das war nicht fair! Ich ...“

„Laß mich durch! Genug geredet!“ knurrte er und versuchte mich beiseite zu schieben. Ich wußte, daß ich keine Chance gegen ihn hatte. Ich hatte alles verdorben durch meinen Zorn. Panik überfiel mich. Er durfte jetzt nicht so gehen! Was sollte ich nur tun?

 

Harantor

Ich wollte Laurealka zur Seite drücken, wollte sie aus dem Weg haben. Wir, die Elben des Tauredín und ich, mußten, mußten den Jungen finden, bevor er noch Schaden anrichten konnte.

Sie warf sich mit all ihrer Kraft gegen gegen mich, klammerte sich förmlich an mich, versuchte mich zurückzuhalten.

„Laß mich los!“ entfuhr es mir.

„Nein! Bitte versuch doch mich zu verstehen“, jammerte sie. Absolute Verzweifelung klang aus ihrer Stimme.

Ich sah, daß ihr die Tränen in die Augen stiegen, spürte ihre absolute Trauer, fühlte förmlich wie sie um ihre Siedlung fürchtete.

‘Ob sie gleiches schon erlebt hat’, schoß es mir durch den Kopf. ‘Hat sie schon mal erlebt, wie etwas an dem ihr Herz mit allen Fasern hing zerstört wurde?’

Ich starrte sie an, starrte in die sich mit Tränen füllenden Augen Laurealkas. Erinnerungen stiegen in mir auf; ungebetene Erinnerungen...

Ich war oft bei jenen gewesen, die zerstört hatten, die vernichteten... Mein Handwerk war der Kampf, mein Beruf der Krieg gewesen. Brandschatzen, alles im Wege stehende zermalmen, das hatte zu dem gehört, was ich über viele Jahre im Dienste gütiger und weniger gütiger Herren getan hatte. Oft waren Dörfer zum Schlachtfeld geworden, und wurden dabei dem Erdboden gleicht gemacht. Menschen hatten ihre Heimat, ihre Existenz, alles was sie geliebt hatten verloren.

Es hat Zeiten gegeben, wo ich mir wenig Gedanken über mein Tun gemacht hatte. Ich hatte wohl nie Wehrlose getötet, aber im Getümmel der Schlacht konnte man sich nicht aussuchen, was man tat.

‘Willst du es wieder tun?’ fragte mich eine innere Stimme. ‘Willst du wieder etwas sinnlos zerstören? Diesmal nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit deinem Stolz, deiner Gedankenlosigkeit. Willst du Laurealka das antun?’

‘Nein!’

Trotzdem weigerte ich mich, diesen Gedanken zu akzeptieren. Der Junge hatte sich alles selber zuzuschreiben. Er war...

„Harantor, bitte!“ drang ihre schluchzende Stimme zu mir durch. Mir war als klärte sich mein Blick, und ich sah, daß sie die Tränen nicht mehr lang würde zurückhalten können.

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun“, knurrte ich, mit mir selbst überhaupt nicht im reinen, was ich zu verbergen suchte.

„Such du ihn! Bitte! Geh!“

Die Tränen standen in ihren Augen, lösten sich. Wie ein Sturzbach rannen sie herab. Ihr Griff löste sich. Es war nun meine Entscheidung. Sie hatte aufgegeben, hatte die Last auf mich abgeworfen, hatte sich in ihr Schicksal ergeben.

„Ich vertraue dir. Du... du wirst ihm nichts antun! Das weiß ich! Nicht einem Wehrlosen...“ Ein Schluchzen würgte ihr die Stimme ab. Ihr letztes Aufbäumen gegen die Hilflosigkeit.

„Weinende Frauen!“ knurrte ich.

Sie war nur noch ein heulendes Bündel, gefangen in ihrem Taum von Gerechtigkeit. Sie saß zwischen allen Stühlen und wußte das.

Und ich wußte das auch. Langsam begriff ich, was Elrod meinte, als er sagte, er würde mir eine Lektion erteilen.

Ob ich wollte oder nicht. Ich mußte ihr helfen, oder sie würde zerbrechen und alles verlieren.

Diesmal wollte ich nicht der Brandschatzer sein, nein diesmal nicht...

„Ich werde gehen! Und ich werde ihn dir in einem Stück zurückbringen. Hör auf zu weinen! Aber bete zu den Valar, daß deine Wachen im Wald ihn nicht mit Pfeilen spicken wie Hinner es mit dem Speck für einen Mendilrücken macht!“

Ich ließ sie mit ihren Tränen allein. Sie würde sich wieder fangen, wenn ich den Jungen vor den anderen fand. Wenn nicht...

Ich mochte nicht daran denken...

 

Alessan

Ich wußte nicht, wie ich es schaffte, über diese vielen Hängebrücken zu gelangen. Ich wußte nur, daß ich hinüber mußte. So zog ich mich denn mehr über sie hinweg, als ich ging, aber ich schaffte es. Jeder Schritt jagte eine glühende Lanze durch meinen Körper. Und mit jedem Schritt verwandelte sich der bodenlose Schmerz in glühende Wut.

Sie hat mich verraten!

Die Worte hämmerten im Stakkato durch meinen Kopf, sie zogen mich vorwärts.

Sie ist nicht besser als all die anderen! Ich hasse sie, ich hasse sie! Sie und diesen Dämon von Harantor und die andere verlogene Brut!

Der Zorn hielt mich aufrecht. Ich schürte ihn, so gut ich konnte.

Irgendwann hielt ich an, um mich zu orientieren. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn, troff in meine Augen, als ich mich auf dem neuen Flett umsah und nach der nächsten Brücke suchte. Doch da war keine, so sehr ich auch vor mich hinfluchte!

Keuchend lehnte ich mich an die geflochtene Wand. Rein zufällig fiel mein Blick in die Richtung, aus der ich gekommen war und gewahrte, wie sich eine Person aus der Menge löste und in Richtung des Baumes ging, auf dem man mich untergebracht hatte.

Bei allen Göttern! Der Schreck durchfuhr mich wie ein Blitz, setzte meinen Körper wieder unter Spannung. Mein Herz pochte wild. Ich drehte mich um und stolperte auf die Tür zu, die sich neben mir abzeichnete. Wie von Sinnen riß ich sie auf und stürzte hinein.

In einen halbdunklen Raum mit vor den Fenstern herabgelassenen Bambusrollos. Die Sonne malte leuchtende Lichtgitter auf den Boden. Ich schloß die Tür hinter mir und hastete hindurch. Stolperte halb über etwas am Boden. Nur knapp konnte ich mich an dem Tisch festhalten und einen Sturz verhindern.

Ich zitterte und lehnte mich über den Tisch, um nicht einfach umzukippen. Nebenbei blickte ich auf den Raum, nahm die Dinge wahr, die dort lagen und standen, mir einen Gedanken aufdrängten. Es sah unordentlich aus. Als gebe sich der Bewohner keine Mühe, Ordnung zu halten. Als wäre es ihm egal oder bemerke es nicht.

Kinderspielzeug lag achtlos auf dem Boden herum, hatte mich fast zu Fall gebracht. Auf dem Tisch neben mir fand ich Gemüsereste neben einem schmutzigen Messer und einem verdreckten Kittel. Die beiden Gegenstände gaben mir neuen Auftrieb, ließen mich meine Verwunderung vergessen. Wie ein Geschenk erschienen sie mir.

Hastig warf ich mir die dunkelblaue Tunika über. Es war eine Männertunika, doch sie war um einiges zu groß für mich. Dann griff ich nach dem Messer und stemmte mich vom Tisch hoch. Es war lächerlich klein, dieses Messer. Ein Küchenmesser wahrscheinlich, aber mir erschien es wie ein Schatz.

Mit einigen wenigen Schritten erreichte ich die nächste Tür. Ich erkannte einen Außenraum mit Geländer, aber keine Brücke weit und breit. Die Angst preßte mein Herz zusammen. Wohin jetzt? Ich humpelte an das Geländer - und sah, wie die Menge sich zerstreute.

Schnell, schnell, ich muß handeln. Panik drohte sich in mir breit zu machen. Ich umklammerte das Messer, als sei es ein Talisman. Meine Gedanken rasten.

Zurück? Unmöglich! Also weiter! Es muß hier einfach einen Abstieg geben!

Und tatsächlich. Nur ein paar Schritte weiter fand ich die Strickleiter nach unten. Ein Blick überzeugte mich davon, daß der Lichtungsrand nicht mehr fern war. Die Erleichterung ließ mich in die Knie gehen.

Als ich im nächsten Augenblick jedoch begriff, daß ich das Messer liegen lassen mußte, um hinunter zu klettern, war die Enttäuschung so groß, daß mir fast die Tränen gekommen wären.

Mühsam schob ich mich rückwärts auf den Rand zu, das Messer vor mich hinlegend. Im letzten Augenblick kam mir der rettende Einfall und ich schob den Griff des Messers zwischen meine Zähne. Dann ließ ich die Beine über den Rand baumeln. Einen endlosen Atemzug lang hing ich über dem Abgrund, bis meine Füße endlich eine der Sprossen fanden. Der rasende Schmerz krampfte meine Kiefer in den Messergriff, unterdrückte dadurch mein hilfloses Stöhnen.

Dann begann der Abstieg. Ich schaffte es - vielleicht nur, weil ich es schaffen wollte. Eigentlich hangelte ich mich allein an meinen Händen hinab. Mit jedem Mal kostete es mich größere Überwindung, die Sprosse loszulassen. Und von Sekunde zu Sekunde wurden meine Hände rutschiger vom Schweiß, der an mir herabrann. Ich zitterte und fühlte, wie die Erschöpfung mich zu überwältigen drohte.

Da sah ich sie. Zwei Elben, ein Mann und eine Frau, kamen lamgsam auf den Baum zu, den ich gerade hinabkletterte. Sie waren noch etwa zwanzig Schritt entfernt, ihr Blick war zu Boden gerichtet, als trügen sie eine schwere Last.

Ich sah nach unten und wußte, daß ich es nicht schaffen würde, nicht schaffen konnte. Einen Augenblick zögerte ich, unschlüssig, was ich tun sollte, dann ließ ich los. Fast war ich froh darüber, diese Tortur abkürzen zu können.

Rein instinktiv rollte ich mich ab. Wie hoch der Sturz war, wußte ich nicht, doch er preßte mir die Luft aus den Lungen und machte mich für einen Augenblick benommen. Blut tropfte aus meinen Mundwinkeln, wo ich mich durch den Messergriff verletzt hatte, hinterließ einen metallischen Geschmack in meinem Mund. Den Göttern sei Dank, daß ich das Messer beim Aufschlag verloren hatte.

Vorsichtig hob ich den Kopf aus dem kniehohen Gras. Das Paar verhielt wenige Schritte von mir entfernt. Die Frau weinte, wendete ihr Gesicht ab und vergrub es in ihren Händen. Sie schluchzte, hart und hoffnunglos.

„Nicht. Nicht“, beschwichtigte sie der Mann und umfaßte sie von hinten. „Nicht!“ Die Worte hingen in der Luft, doch sie trösteten nicht. Es schien, als gebe es keinen Trost für die Qual dieser beiden. Sanft umfing der Mann die Frau von hinten, vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge und wiegte sich zusammen mit der Frau hin und her.

Der Anblick berührte mich. Was verursachte diesem Paar diese Qualen? Aber im gleichen Augenblick begriff ich, daß dies meine Chance war. Ich riß mich los und rollte mich beiseite. Fühlte das Messer unter meinen schmerzenden Rippen, dankte den Göttern für mein Glück, als ich es mit der Rechten umfaßte, und kroch auf allen vieren durch´s Gras auf den Lichtungsrand zu, den Schmerz ignorierend so gut ich konnte. Bis ich vor mir einen Busch erblickte, hinter dem ich mich mit letzter Kraft zusammenrollte, um keuchend Atem zu holen und die Tränen des Schmerzes und den Schweiß der Erschöpfung auf meinem Gesicht und meinem Körper trocknen zu lassen.

 

Harantor

Bei den Valar, durchfuhr es mich. Immer wieder falle ich auf heulende Frauen rein.

Im gleichen Moment wußte ich, daß ich mir etwas vormachte, daß es nicht das Weinen Laurealkas gewesen war, sondern daß mir das Gewissen geschlagen hatte.

Eigentlich sollte ich gehen und alle Eldar dieses Ortes zusammenrufen, um diesen Alessan zu stellen.

Nun gut, einmal würde ich noch nachgeben und den Burschen finden, ohne ihn seinen Ahnen vorzustellen. Ich ließ den Benngur stehen, denn um den Jungen zu fangen benötigte ich kein Schwert.

Aber auch diese Gerede war nichts als eine faule Selbsttäuschung. Aber es gelang mir einfach nicht, mich selbst zu täuschen, mir etwas vorzugaukeln. Ich wußte, meine Gründe, ihn zu suchen waren ganz andere...

Ich stand vor der Hängebrücke. Wohin war der Bursche geflohen? Bestimmt nicht nach unten, denn dann hätten ihn alle in Laurínamardi sehen müssen. Er war entweder nach oben oder zunächst über diese Hängebrücke verschwunden.

Ich sah nach oben in das grüne Blätterdach, das die Strahlen der stechenden Sonne nur gemildert durchließ.

‘Nein’, entschied ich für mich, das schafft er nicht; um da hoch zu kommen ist er zu schwach.

Also folgte ich der Hängebrücke, wollte sehen, wo er hinuntergeklettert war. Sorgfältig achtete ich auf Spuren, konnte aber keine finden. Ich wählte immer die Hängebrücke, die zum Waldrand hinführte, denn schließlich mußte er den erreichen.

Ich näherte mich dem Flett, das Angaimaite bewohnte. Oft genug war ich diesen Weg gegangen, um Kalwe zu besuchen. Ich hörte Geräusche aus dem Flett und duckte mich.

Angaimaite kam mit haßerfüllter Miene und gegürtetem Schwert heraus.

„Er war da unten Lomélinde, glaub mir, er war es...“, schnaubte er.

Aus dem Flett drang nur ein Schluchzen.

„Glaub mir, ich muß es tun...“, sagte Angaimaite noch und ließ sich an einem Seil zu Boden gleiten.

Ich fluchte leise in mich hinein, und suchte nach einer Möglichkeit zum Abstieg.

Jetzt war das Rennen zwischen Angaimaite und mir eröffnet. Für den Jungen, der sich Alessan nannte, ging es um Leben und Tod.

Ich verharrte einen Moment und setzte Angaimaite nach. Am selben Seil, wie der Vater Kalwes, der nun Rache am Mörder seines Sohnes nehmen wollte, kletterte ich hinab.

Mehr um Angaimaites, als um Laurealkas Willen wollte ich die Verfolgung aufnehmen. Er würde im Rausch der Rache einen Wehrlosen töten, und ich war mir sicher, daß der sonst so Friedfertige es später bereuen würde, aber dann ließ sich nichts mehr ändern.

‘Warum suchst du nach Rechtfertigungen für dein Tun, wo du doch keine brauchst? Warum täuscht du dich selbst?’ hämmerte es in mir.

Dann schüttelte ich diese Gedanken ab. Gleich was mich all diese Dinge tun ließ; ich mußte mich jetzt darauf konzentrieren und durfte mich nicht ablenken lassen.

Ich sah mich am Fuße des Baumes kurz um, fand ein wenig Blut und folgte den deutlichen Spuren, die beide für mich gelegt hatten.

Ich ging in den Wald hinein, sorgfältig darauf achtend, nicht zu laut zu sein. Die Erfahrung langer Jahre machte nun einen Vorteil für mich aus.

Der Abstand zwischen uns dreien, konnte nicht sonderlich groß sein, aber Angaimaite pirschte sich langsam an sein Wild heran.

Nur langsam kam ich den beiden näher, dabei bemerkte ich wieder die Ziellosigkeit des Jungens, denn er rannte zurück in Richtung Laurínamardi, als habe er sich wieder verlaufen. Der Junge wußte wirklich nicht, wo er hin wollte.

Die Zweifel nagten an mir. Sollte ich Angaimaite nicht doch seine Rache vollenden lassen? Wäre das nicht besser für uns alle?

Aber dann stand Elrod vor meinem geistigen Auge und hinter ihm sah ich Laurealka, die an dem Zwiespalt zwischen Gerechtigkeit und Rache zu zerbrechen drohte. Das war mir Mahnung genug. Ich mußte, diesem Jungen das Leben retten, selbst wenn morgen bei Sonnenuntergang sein Tod beschlossen wurde, aber so durfte er nicht sterben.

Zwanzig Schritt vor mir, konnte ich Angaimaite sehen, der hinter einem Busch lauerte. Offensichtlich hatte er den Jungen gefunden, und wartete nur auf seine Gelegenheit zuzuschlagen.

So leise es eben ging, schlug ich mich in die Büsche, um die beiden zu umrunden, und so möglichst eher bei dem Jungen zu sein.

Gebückt rannte ich, sorgsam auf den Waldboden achtend. Schließlich hatte ich es geschafft.

Der Junge hatte sich umgedreht, starrte auf den Busch in dem Angaimaite hockte. Irgendein Laut entrang sich statt eines Rufes seiner Kehle.

Er hielt ein Messer so, daß er es jederzeit drehen und gegen seinen Feind richten konnte, dabei konnte er sich kaum auf den Füßen halten.

Ich mußte jetzt zupacken, bevor Angaimaite es tun konnte.

Ich schoß aus meiner Deckung vor...

 

Alessan

Ich mußte weiter! So sehr der Schmerz auch in meinem mißhandelten Körper tobte! Ich durfte hier nicht ausruhen! Es grenzte fast an ein Wunder, daß ich es überhaupt bis hierher geschafft hatte. Ich durfte mein Glück jetzt nicht unnötig auf die Probe stellen!

Also raffte ich mich auf. Noch einmal nahm ich die quälende Tortur auf mich, die Füße unter meinen Körper zu ziehen, um mich hochzustemmen. Und dieses Mal gab es kein Geländer, keine Wand, an der ich mich abstützen konnte. Nur mit Mühe konnte ich den Schmerzenslaut, der über meine Lippen drang, unterdrücken.

Und ich lief weiter. Hatte ich anfangs noch einen einzelnen glühenden Schmerz bei jedem Schritt verspürt, so war meine linke Seite jetzt eine einzige Quelle brennender Lava, die mein linkes Bein zu einem nutzlosen und schmerzenden Anhängsel machte. Ich zog es inzwischen nur noch hinter mir her.

Irgendwann fühlte ich das Blut zwischen den Fingern meiner linken Hand hervorsickern, die ich zum Schutz um die verletzte Seite geklammert hatte. Schatten tanzten vor meinen Augen.

Alle Gedanken, die mich kurz zuvor noch so beschäftigt hatten, waren wie fortgeblasen. Es gab nur noch mich und den unsichtbaren Weg durch den Wald. Wie ein Gegner kam er mir vor, den ich mit jedem Schritt ein Stückchen besiegte. Ich würde ihm schon zeigen, wer hier der Gewinner sein würde!

Die Zeit verlor an Bedeutung. Schemenhaft tauchte manchmal ein Gesicht aus dem Gut vor mir auf, das mich verhöhnte. Garvinus´ Gesicht oder das seines Bruders, voller Haß und Bosheit. Harantors Gesicht, ein machtvoller Racheengel. Das Gesicht meiner Mutter. Und manchmal auch ihr Gesicht, lieblich und traurig.

Doch es blieb immer häufiger, vermischte sich mit dem meiner Mutter, gebeugt und sorgenvoll. Es zwang mir den Gedanken auf, daß es nicht richtig war, was ich hier tat. Daß ich vor meiner Schuld davonrannte, mich vor der Verantwortung drückte. Daß ich etwas unehrenhaftes tat.

Sie werden dich töten, redete ich mir ein. Sie werden dich töten!

Dennoch... Floh ich nicht schon wieder, genau wie beim ersten Mal? Rannte ich nicht kopflos davon, weil ich Angst vor den Konsequenzen hatte? Hatte ich nicht vor kurzem noch zu dem Dämon gesagt, er solle ein Ende machen? War ich nicht bereit gewesen zu sterben?

Waren all das nur leere Worte von mir gewesen?

Ich blieb stehen. Mein Atem ging keuchend. Ich erinnerte mich:

„Vertrau mir! Ich will dir helfen! Ich weiß nicht, wie ich dich davon überzeugen kann“, hatte sie gesagt und ihre Hand auf meinen Arm gelegt. Ihr süßer Blick hatte mich festgebannt und wie ein Windhauch so zart, hatte sie meinen Arm gestreichelt. Es kam mir vor, als spüre ich die Berührung immer noch.

Nie hat mich jemand gestreichelt ...

Ein Stöhnen entrang sich mir, fast ein Schluchzen.

Oh, ihr Götter! Was soll ich nur tun? Ist es falsch, was ich tue? Ist es falsch?

Aber ich wußte, das war nicht das Entscheidende. Was mich störte war, daß ich immer diesen Blick vor mir sehen würde, wenn ich jetzt entkommen konnte. Immer würde ich mich fragen, was sie jetzt über mich denken mochten, sie und dieser Dämon. Wie sehr sie mich alle verachten würden...

Ich hatte eines ihrer Kinder getötet und sie hatten mich verfolgt, um mich vor Gericht zu stellen, wie sie gesagt hatte. Und wie auch Harantor es vor versammelter Menge gesagt hatte.

Es war ihr gutes Recht!

Wenn ich ehrlich mit ihnen war, hatten sie mir bewiesen, daß sie ehrenhaft waren. Statt mich gleich zu töten, hatten sie mich mitgenommen und gesund gepflegt.

Und wenn ich ihnen beweisen wollte, daß ich kein elender Kindermörder war, kein dahergelaufener Bastard, sondern es in punkto Ehre mit ihnen aufnehmen konnte, dann sollte ich mich endlich meiner Verantwortung stellen und ...

... und die Strafe auf mich nehmen!

Ohne Ausflüchte und Ausreden! Aufrecht, so wie ich mich diesem Harantor gestellt hatte. Damals im Wald! Nur so konnte ich diese elende Scharte auswetzen, als ich heulend vor ihm zusammengebrochen war.

Wie ein Kind!

Die Scham brachte mich nachträglich fast um den Verstand. Und hier stand ich und lief davon! Wie mußten sie mich verachten. Wie die Leute vom Gut. Sie alle...

Langsam, voller Qual drehte ich mich um, und ging langsam den Weg zurück, den ich gekommen war. Schritt für Schritt. Und mit jedem Schritt fühlte ich mich besser, schien eine Last von mir abzufallen.

Ein Lächeln zuckte über mein Gesicht, als ich plötzlich von links aus dem Gebüsch ein Rascheln hörte. Ein Verfolger? Erstarrt blieb ich stehen, mit offenem Mund. Ich kam mir ziemlich dämlich vor. Was sollte ich tun? Hingehen und mich stellen?

Unschlüssig tat ich einen weiteren Schritt, das Messer vor mich haltend, mit der Klinge gegen mich, um dem Verfolger im Gebüsch zu zeigen, daß ich keine schlechten Absichten hatte.

Ich wollte ihm etwas zurufen, doch nur ein Krächzen kam über meine Lippen. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich räusperte mich und tat noch einen Schritt, nun schon entschlossener.

Da fühlte ich, wie eine riesige Faust meinen rechten Unterarm packte und brutal nach hinten drehte. Gleichzeitig legte sich ein Arm um meinen Hals und drückte meinen Kopf unbarmherzig in den Nacken, machte aus meinem Schmerzensschrei ein unterdrücktes Gurgeln.

„Nein“, hub ich stöhnend an. „Ich...“

In diesem Augenblick sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich aus dem bewußten Busch eine Gestalt löste und mit haßverzerrtem Gesicht auf mich losstürmte. Ich sah das erhobene Schwert in seiner Rechten und erkannte den Mann von zuvor.

Blitzschnell drehte sich der Mann hinter mir zur Seite. Der andere stolperte vor Hektik und der Schlag fuhr daneben. Schnell faßte er nach. Zu nah um zu zuschlagen, rammte er mir den Schwertgriff ins Gesicht und gleich darauf in den Magen.

Hatte ich zuvor noch geglaubt, der Schmerz könne sich nicht mehr steigern, wurde ich eines besseren belehrt. Ich fühlte das tobende Brennen in meiner linken Wange und den würgenden Schmerz, der, ausgehend von dem Hieb in meinen Magen, durch meinen Leib fuhr.

Einen Herzschlag lang hoffte ich, bewußtlos zu werden, doch diese Gnade blieb mir verwehrt. Die Tränen schoßen in meine Augen und ich schrie auf, ein entsetztes Gurgeln, das kaum mehr menschlich klang.

Unter mir sackten meine Beine weg und ich hing grausam in dem eisenharten Griff des Mannes hinter mir, hatte das Gefühl, als müsse mein Körper zerbrechen an dem entsetzlichen Schmerz, der ihn durchraste.

Ich begriff, daß seine schnelle Bewegung mich gerettet hatte. Doch schon hob der Mann vor mir erneut sein Schwert, um mit einem lodernden Glühen in seinen Augen ein letztes Mal zu zuschlagen ...

 

Harantor

Mir blieb keine Zeit nachzudenken. Ich hielt den Jungen in meinem Griff, Angaimaite hob sein Schwert zum Todesstoß. Jetzt geschah all das, was Laurealka hatte vermeiden wollen.

‘Ich werde dir eine Lektion erteilen’, hallten die Worte Elrods in mir wieder. Ich hatte diese Lektion zu lernen, den der Cormatur hatte großes Vertrauen in mich gesetzt, dem ich mich nun würdig erweisen mußte. Ich spürte den Ring, der das Symbol dieser Bürde war.

Angaimaite schlug zu. Ich warf den Jungen zur Seite, hörte sein Aufstöhnen nur noch mit halben Ohr, denn ich konnte mich nicht weiter um ihn kümmern, weil ich mich in Angaimaites Waffenarm warf.

Ich bekam seinen Unterarm zu fassen, und die Wucht meines Angriffs warf uns zu Boden.

Ich entwaffnete Angaimaite, indem ich sein Handgelenk mit aller Kraft auf den Boden schmetterte.. Wir beide keuchten vor Anstrengung, es ist erstaunlich, welche Kräfte der Haß in Angaimaite freimachte.

Der Junge lag mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden, wie mir ein kurzer Seitenblick zeigte, das gab mir die Zeit mit Angaimaite fertig zu werden.

Unsere Gesichter trennte nur eine Handspanne. Mein Blick bohrte sich in den seinen.

„Hör auf, Harantor!“ keuchte er. „Ich will ihm den Tod bringen. Er ist geflohen, das gibt mir das Recht...“

„Garnichts gibt dir das!“ fauchte ich zurück. „Elrod befahl eine Verhandlung. Wir werden morgen über ihn richten. Das ist die Zeit der Urteile...“

„Aber er verdient den Tod“, Tränen traten Angaimaite in die Augen. „Er hat Kalwe getötet...“

„Morgen ist die Zeit der Anklage. Ich werde ihn zurückbringen und bewachen lassen. Sieh in dir doch an, er ist zu nichts mehr in der Lage. Willst du dich wirklich mit dem Tod eines Wehrlosen, ohne daß ein Urteil über ihn gefällt wurde, belasten? Ich weiß, du bist anders, und wenn der Rachedurst verflogen ist, wirst du dir Vorwürfe machen. Geh jetzt! Bereite deine Anklage vor“, befahl ich Angaimaite. „Geh sofort!“

Angaimaite wandte den Blick ab und nickte. Ich hatte gewonnen.

„Fessele ihn!“ keuchte der Vater Kalwes. „ Er soll nicht entwischen...“

„Wir werden sehen“, entgegnete ich.

Ich ließ Angaimaite los und erhob mich, stellte mich zwischen ihn und den Jungen und ließ ihn gehen.

Schweren Schrittes schleppte sich Angaimaite davon. Seine Schultern waren gebeugt.

Dann wandte ich mich dem Jungen zu, hob ihn am Kragen hoch und blickte ihm in die Augen.

„Hör gut zu. Ich habe nicht übel Lust, dir sämtliche Knochen zu brechen. Nun bringe ich dich zurück, Bastard!“

„Bastard? Wag nicht noch einmal, mich so zu nennen, verfluchter Dämon! Ich... ich... töten werde ich dich dafür beim nächsten Mal!“ keuchte er.

„Wie vor drei Nächten im Wald“, höhnte ich. „Lerne erst einmal richtig mit dem Schwert umzugehen, bevor du mich forderst, Kleiner.“

Er versuchte sich aus meinem Griff zu befreien und mir seine Faust ins Gesicht zu rammen, aber er war noch viel zu schwach und zu langsam, als daß er mich hätte überraschen können. Ein kurzer Dreh nur und mein Unterarm war wieder um seine Kehle geschlungen, während ich seine Rechte auf den Rücken drehte.

„Hör mir gut zu“, sagte ich ihm leise ins Ohr. „Wenn mir danach ist, breche ich dir hier und jetzt das Genick.“

Hilflos wand er sich in meinem Griff und bedachte mich mit wüsten Flüchen, sein Gesicht naß von Tränen.

„Nun gut, wie du willst, dann wird es hart für dich!“ sagte ich ihm ins Ohr.

„Laß mich los! Verdammter Dämon. Ich kann alleine gehen. Ich werde nicht fliehen! Ich wollte zurückkehren, du Idiot! Ich stelle mich!“

„Das soll ich dir glauben“, lachte ich. Ich ging vorwärts. Wie ein Wilder versuchte er, sich aus dem Griff zu lösen.

„Ich war doch auf dem Rückweg, siehst du das denn nicht, du Dummkopf!“

„Das kann jeder sagen. Ich glaube vielmehr, du hast dich verirrt! Außerdem habe ich nur gesehen, wie du mit dem Messer in der Hand, auf einen Busch gestarrt hast.“

So ging es weiter, den ganzen Weg zurück bis zum Aufstieg in Aldamar. Immer wieder erzählte er mir die Geschichte, daß er sich stellen wollte, brüllte, ich solle ihn doch loslassen.

Und bei der Finsternis, die ihn erwartete wenn Angaimaites Anklage erfolgreich war, ich glaubte ihm fast...

Trotzdem hielt ich ihn eisern im Griff, denn natürlich hatten sich Neugierige versammelt, die uns beobachteten. Ich konnte ihn jetzt nicht loslassen, nur auf das Gefühl hin, daß er mich nicht belog. Ich sah ein oder zwei Eldar mit Pfeil und Bogen, die nur darauf warteten, daß er sich meinem Griff entwandt. Im gleichen Moment würde ihm ein Pfeilschaft aus dem Körper ragen.

Laurealka zeigte sich nicht und ich fand das beruhigend. In ihrer fast schon rührenden Sorge um den Bastard, hätte sie alles nur schwieriger machen können; für sich und mich...

Ich schleppte ihn den Aufgang hinauf, bis ins Flett, wo Laurealka ihn gefangen gehalten, nein, vielmehr gepflegt hatte. Ich warf ihn auf das Lager. Zornbebend blickte er mich an.

„So mein Kleiner“, sagte ich leise und drohend zu ihm, „nun werde ich dafür sorgen, daß Du mir nicht nochmal entkommst.“

Ich griff nach dem Seil, das ich mir aus meiner Satteltasche hatte bringen lassen, bevor wir uns an den Aufstieg gemacht hatten.

Angaimaite hatte recht. Ich mußte ihn fesseln. Das schützte ihn und die Eldar vor Dummheiten.

Mit meinem Messer trennte ich einige Stücke ab. Ich prüfte die Festigkeit.

Als er erkannte, was ich vorhatte, wich er zurück und griff nach der Brüstung, um sich daran hochzuziehen. Er zitterte. Sein Gesicht war aschfahl.

„Nein, Dämon, du wirst mich nicht fesseln! Ich stelle mich, und bleibe hier, bis ich vor Gericht geführt werde. Mein Ehrenwort!“

Ich lächelte nur und würdigte ihn keiner Antwort. Hart griff ich zu, als er sich aufrichten wollte. Nicht um zu fliehen, nein, er wollte sich wieder zum Kampf stellen.

Ich griff zu, aber er wehrte sich wie ein Berserker. Wütend warf er sich gegen mich. Ohne auf sich selbst zu achten, griff er mich an, spuckte mir ins Gesicht und schlug nach mir.

Er konnte mir damit nicht gefährlich werden, aber sich selbst konnte er dabei einiges antun.

Ich konnte diesen wildgewordenen Bastard nicht unter Kontrolle bringen. Er wand sich in meinem Griff wie ein großer Fisch am Haken.

Es gab keine andere Möglichkeit mehr, meine Rechte schoß vor und traf ihn hart am Kinn.

Ich fing den erschlaffenden Körper auf, fesselte ihn sorgfältig an Armen und Beinen und vergaß nicht, seine Handgelenke an einen der Balken zu binden.

Dann wandte ich mich dem Ausgang zu. Ich ging wieder nach unten und suchte Taurion.

Endlich fand ich ihn. Der junge Eldar kümmerte sich um mein Pferd.

„Es ist alles in Ordnung, Harantor...“, begann er, wohl mit einer Rüge und einem Tadel rechnend.

„Das ist gut“, antwortete ich und schenkte ihm ein Lächeln. „Aber ich will etwas anderes. Stell bitte im weiteren Umkreis um das Flett mit dem Menschen, vier Wachen auf. Nicht direkt vor die Tür, aber so daß keine Möglichkeit besteht, nochmal zu entkommen. Richte den Wachen auch aus, daß sie ihn, sobald er seine Nasenspitze außerhalb des Fletts zeigen sollte, mit Pfeilen spicken sollen. Keiner, nicht einmal Laurealka, bringt den Jungen vom Flett, es sei, ich befehle es. Richtet das aus!“

„Ja, Harantor“, entgegnete Taurion.

„Geh schon, ich kümmere mich um den Braunen“, munterte ich ihn auf.

„Ach, Taurion“, hielt ich ihn noch einen Augenblick zurück. „Wenn du das erledigt hast, kommst du wieder und läßt mein Gewand reinigen, es sind Grasflecken darauf. Dann werde ich dir auch die Sitzordnung erklären.“

Der junge Eldar nickte und verschwand.

Ich spürte die Schwüle der Luft, es würde ein schweres Unwetter sein, daß sich am Abend entladen würde.

Ich hoffte nun auf keine weitere Störung bis zur Verhandlung. Später würde ich mir das Jüngelchen nochmal ansehen.

 

Alessan

Er hat mich gefesselt! Der Hurensohn, hat mich gefesselt!

Es war der erste klare Gedanken, den ich fassen konnte, nachdem ich aus der Bewußtlosigkeit erwachte. Die Schmerzen in meinem Körper erschienen mir nebensächlich, nur diese neuerliche, ungeheuerliche Demütigung beschäftigte mein Denken. Es machte mich rasend!

Alles hätte ich ertragen. Alles, nur das nicht!

Wütend riß ich an den Fesseln, ignorierte den Schmerz, der in meinem Körper wühlte, und zog - zog, bis mir der Schweiß auf die Stirn trat und mich erneut fast die Sinne verlassen hätten. Bis ich das Blut über meine Handgelenke rinnen fühlte.

„Nicht, nicht!“ Eine bekannte Stimme riß mich aus der beginnenden Ohnmacht.

„Du wirst dich nur verletzen! Laß das!“ Sanfter Tadel schwang in den Worten mit, während eine Hand schattengleich über mein Gesicht strich.

Ihre zärtliche Berührung erschien mir wie nackter Hohn. War ich nicht genug gedemütigt? Wollte sie mir in meiner wehrlosen Lage noch weitere Schmach zufügen?

Zornbebend entzog ich mein Gesicht ihrer Hand.

„Verschwinde! Laß mich in Ruhe, falsche Schlange!“ fauchte ich sie an, nur mühsam beherrscht. „Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben! Los, verschwinde!“

Entsetzt starrte sie mich an.

„Verzeih. Ich ... ich wollte dir nur helfen. Ich ...“, stotterte sie und zog die Hand zurück, als habe sie eben entdeckt, daß sie eine Schlange gestreichelt hatte.

„Danke!“ höhnte ich. „Danke. Du hast mir genug geholfen. Ich will deine Hilfe nicht. Ich spucke darauf!“ Zum Beweis spuckte ich vor ihr aus.

„Verschwinde!“

Zögerlich streckte sie wieder die Hand nach mir aus, als wolle sie mich beruhigen, doch auf halbem Wege ballte sie sie zur Faust und ließ sie zurück in ihren Schoß fallen. Unsicher sah sie mich an.

Ich bemerkte die Tiegel und blutigen Leinenreste und den frischen Verband um meinen Leib. Außerdem fühlte ich, daß der heftige Schmerz in meiner Seite nur noch dumpf pochte, ebenso wie der Schmerz in meiner Wange.

Sie hatte mich also wieder gepflegt. Die Erkenntnis versetzte mir einen heftigen Stich, entfachte eine sinnlose Wut in meinem Bauch.

„Was ist“, fauchte ich sie an. „Was sitzt du noch hier? Willst du dich an meiner Hilflosigkeit weiden? Ist es das?“

Wie ein Schaf starrte sie mich an. Dann ganz langsam stand sie auf, umständlich ihre Röcke ordnend, ihr Gesicht blaß und verletzt, so schien es mir. Ihre offensichtliche Hilflosigkeit zerrte an meinen Nerven.

„Los, hau ab!“ blaffte ich sie an.

Etwas schneller jetzt sammelte sie ihre Tiegel und die Stoffetzen zusammen und ging zur Tür. Einen Schritt davor blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. Erste Böen eines herannahenden Gewitters bauschten ihren weiten Rock.

„Es war nicht meine Schuld. Lord Elrod kann nicht kommen. Ich...“, hub sie an. Meine Beherrschung brach.

„Es reicht!“ schrie ich, sie unterbrechend. „Habt ihr mich nicht genug gedemütigt? Reicht es euch nicht mich zu töten? Müßt ihr mir auch noch meinen Stolz rauben? Das letzte, was mir geblieben ist?“

Ich fühlte, wie meine Augen brannten. Doch sicher nur von der Anstrengung. Ich wollte nicht weinen, nicht vor ihr. Männer weinen nicht! Aber meine Wangen brannten vor Scham im kühlen Wind.

Entschlossen drehte sie sich in diesem Augenblick um und kniete sich wieder neben mich, die Tiegel und Stoffetzen kullerten achtlos auf den Boden.

„Geh!“ knirschte ich zwischen geschlossenen Zähnen hervor. Das Brennen in meinen Augen machte mir das Sprechen fast unmöglich.

„Hör zu!“ sagte sie leise, aber eindringlich.

„Nein“, unterbrach ich sie. Selbst für meine Ohren hörte sich meine Antwort mehr wie ein Schluchzen an. Warum ging sie nicht endlich und ließ mich in Ruhe?

„Hör zu!“ fuhr sie unbeirrt fort. „Wenn du mir nicht vertraust... Nun, es scheint, daß ich es nicht ändern kann. Zuviel ist passiert, was dich zweifeln läßt. Aber...“ Sie brach ab und holte tief Luft.

„Aber ich vertraue dir. Hörst du? Ich vertraue dir. Du hast Ehre in dir, ich weiß es. Wenn du mir versprichst, nicht zu fliehen, werde ich deine Fesseln lösen und du kannst dich bis zur Verhandlung in diesem Raum frei bewegen. Hast du verstanden?“

Ich starrte sie ungläubig an. Sollte das ein Witz sein oder hatte sie nur eine erneute Teufelei mit mir vor?

„Hah!“ keuchte ich. „Wahrscheinlich wollt ihr nur einen Grund schaffen, mich vorher zu erledigen, ihr Schlangenbrut!“

„Bei den Valar“, entfuhr es ihr. „Wie kann jemand nur so uneinsichtig sein. Wieso bist du nur so mißtraurisch? Wenn wir dich auf der Flucht töten wollten, hätte Harantor schon die beste Gelegenheit dazu gehabt.“

„Ich wollte mich stellen“, erwiderte ich heftig. Irgendetwas brannte immer noch in meinen Augen.

„Ich weiß. Harantor sagte es mir. Nun, wenn das wahr ist, was hindert dich dann daran, mir dieses Versprechen zu geben? Es würde mir nur beweisen, daß du die Wahrheit sprichst.“

„Und was macht dich so sicher, daß ich dich nicht belügen werde?“ forderte ich sie heraus.

„Ich weiß es.“ Sie lächelte, warm und freundlich. „Du wirst mich nicht anlügen. Nicht um Nutzen für dich herauszuschlagen. Dafür bist du zu stolz. Und außerdem..“ Ihre Augen blitzten triumphierend, als spiele sie eine letzte Trumpfkarte aus. „...bin ich mir ziemlich sicher, daß Ehre in dir wohnt. Und es liegt dir etwas daran, sie zu erhalten.“

„Ich...,“ entgegnete ich lahm. Ich kam mir ertappt vor, durchschaut wie ein kleines Kind. Mein einziger Wunsch war, daß sie ging und mich in Frieden ließ.

„Nun, überleg es dir. Du kannst Earel nach mir schicken, wenn ich nicht mehr da bin. Sie wird mir deine Antwort mitteilen.“

Mit diesen Worten stand sie auf, ihre Tiegel und Stoffetzen zusammenraffend, und ging zur Tür. Verblüfft starrte ich hinter ihr her.

Was sollte ich nur tun? Wollte sie mich hereinlegen? Sicher wollte sie das! Aber andererseits, wenn ich auf ihren Vorschlag nicht einging, dann würde ihr das beweisen, daß ich doch unehrenhaft war.

Noch ein Spiel, dachte ich. Noch so ein Spiel, daß du mit mir spielst. Aber verdammt, du wirst es nicht gewinnen. Sei verflucht, aber ich werde dein Angebot annehmen. Es ist mir egal, ob ihr mich danach vierteilt oder köpft. Aber ich werde mir nicht nachsagen lassen, ich hätte keine Ehre oder keinen Stolz.

„Halt!“ rief ich sie an, als sie schon halb zur Tür hinaus war. „Halt!“

Sie drehte sich um und schloß wieder hinter sich die Tür, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen.

Hexe! durchfuhr es mich. Wütend blaffte ich sie an.

„Ich nehme an. Ich...“ Verzweifelt suchte ich nach Worten. „Ich verspreche dir bei meiner Ehre, daß ich nicht fliehen werde, wenn... wenn du mir die Fesseln abnimmst.“

Als hätte sie einen Sieg errungen, trat sie beschwingten Schrittes auf mich zu und beugte sich über meine Handgelenke. Nur mit Mühe konnte ich meine Wut unterdrücken.

Wieder hatte mich dieses dreimal verfluchte Weib eingewickelt!

 

Laurealka

Ich begriff ihn nicht, ich begriff ihn ganz und gar nicht. Es war dieser unbändige Stolz in ihm, der ihn unberechenbar machte. Harantor hatte mir erzählt, er habe sich stellen wollen. Seltsam genug, aber ich glaubte es. Warum er es tat, war mir jedoch ein Rätsel. Bewies seine Flucht doch eindeutig, daß er davon ausging, daß die Verhandlung seinen Tod brachte. Warum sollte er dann zurückkehren?

Fest stand nur eines für mich, als ich die mühsam zurückgehaltenen Tränen in seinen Augen sah: Er litt. Ich hatte wirklich das Gefühl, daß die Fesselung ihm mehr zusetzte als sein eventuell bevorstehender Tod.

Ich war beileibe nicht mit der Absicht gekommen, seine Fesseln zu lösen. Eigentlich war es mir ganz recht, daß er jetzt nichts mehr anstellen konnte. - Bei den Valar, was hätte seine Flucht alles anrichten können! - Eigentlich wollte ich nur nach seinen Wunden sehen und wie sich herausstellte, war er schlimmer zugerichtet, als ich erwartet hatte. Aber als ich die Tränen in seinen Augen sah, konnte ich nicht anders...

Oh, ich haßte mich selbst für meinen miesen Trick, ihn dazu zu bringen, auf meinen Vorschlag einzugehen. Andererseits amüsierte es mich fast zu sehen, wie leicht es gewesen war, ihn damit herumzukriegen.

Ich streifte bei diesen Gedanken mit einem kurzen Blick sein Gesicht, während ich den letzten Knoten an seinen Fußgelenken löste, und hielt besorgt inne. Sein eben noch trotzig auf die Brust gesenktes Kinn hob sich und seine Augen weiteten sich. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, hörte ich Harantors Stimme.

„Bei den dreibusigen Huren von Erecta! Was tust du da, du dummes Weib?“

Seine Hand griff nach meinem rechten Arm und riß mich hoch, drehte mich ihm gleichzeitig zu, daß ich ihm ins zornbebende Gesicht starren konnte.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen, du dusselige Kuh!“ Er schüttelte mich, während ein Donnerschlag seine Worte untermalte.

„Willst du, daß er noch einmal abhaut? Bist du wirklich so dumm?“ Er schüttelte mich immer noch, doch sein Blick schien mir zu sagen, daß er mich viel lieber geschlagen hätte.

„Harantor, hör doch! Ich...“, bettelte ich verzweifelt. Aber er fegte mich achtlos beiseite, wie ein Stück Unrat. Ich taumelte gegen die Brüstung in die sich in den Sturmböen aufblähenden leichten Vorhänge. Irgendwo klapperte ein Bambusrollo im Wind.

Wenige Schritte neben mir, hatte sich der Junge inzwischen an der Brüstung hochgezogen, hing dort mehr als daß er stand. Ich sah sein leichenblasses Gesicht, die geweiteten Augen, die zitternden Lippen - nie hatte ich einen verzweifelteren Menschen gesehen.

„Nein“, ächzte er. „Nein. Du wirst mich nicht noch einmal fesseln. Sie hat es versprochen. Ich gab ihr mein Ehrenwort. Du darfst mich...“

Harantor kümmerte sich nicht darum. Grob griff er nach seinem Arm, mit dem er sich auf die Brüstung stützte, und riß ihn zu sich heran. Ich sah den Jungen zusammensacken, aber Harantor hielt ihn an den Oberarmen fest.

„Es ist mir egal, was sie dir versprochen hat, du Bastard. Ich werde dich trotzdem fesseln,“ knirschte Harantor zwischen gefletschten Zähnen hervor. Ein Blitz zuckte über den inzwischen nachtschwarzen Himmel, kurz darauf gefolgt von seinem Bruder, dem Donner.

„Ich wußte es“, keuchte Alessan. „Ihr seid nicht besser als die Leute aus dem Gut. Ehrlose Dämonenbrut seid ihr. Eure Versprechen sind nicht mehr wert wie Pferdepisse, ihr...“

„Halt den Mund! Ich bin mein eigener Herr und habe gar nichts versprochen!“ knurrte Harantor.

„Harantor!“ flehte ich und riß an seinem Arm, doch er beachtete mich nicht. Nur eine Windböe fegte herein und riß an meinen Kleidern und Haaren. Harantors Fäuste jedoch umschlossen fest wie Eisenklammern Alessans Oberarme.

In Alessans Gesicht zuckte es.

Harantor lächelte, ein kaltes, freudloses Lächeln.

„Die Finsternis weiß, aus wessen Schoß du gekrochen bist“, höhnte er. „Was weißt du von Ehre? Wehrlose Kinder töten, das kannst du. Das ist deine Ehre. Elender Kindermörder!“

Den Jungen durchzuckte ein atemloser Schlag. Blanker Haß loderte in seinen Augen.

„Selbst schuld! Wenn euer blödes Balg, mir in die Schußbahn läuft“, fauchte er und versuchte sich mit einem Ruck aus Harantors Griff zu befreien.

Ein Unfall, ein lächerlicher Unfall war es gewesen! Welch grausame Ironie! Die bittere Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag, lähmte mich völlig.

Harantor hielt inne, wie versteinert, als draußen wie eine Befreiung der Regen niederprasselte. Dann schlug er mit der flachen Hand zu.

Die Ohrfeige fegte den Jungen durch den halben Raum. Mühsam und mit verwirrtem Blick setzte er sich halb auf. Blut tropfte ihm aus Nase und Mund.

Er wird ihn töten, durchzuckte es mich voller Schrecken.

„Harantor“, schrie ich, als er auf den Jungen zuging, und versuchte mich zwischen die beiden zu stellen, doch Harantor schob mich einfach beiseite. Hinter mir hörte ich Alessans bebende Stimme.

„Schön“, stöhnte er. „Schön. Endlich zeigst du dein wahres Gesicht. Worauf wartest du? Ehrloser Hund! Los, töte mich! Bring es endlich hinter dich! Oder hast du Angst?“

Harantor verzog keine Miene. Wortlos packte er den Jüngling am Kragen und zog ihn hoch. Der Anflug eines Lächelns flog über Alessans mißhandeltes Gesicht, als erwarte er, daß seine Vermutungen bestätigt würden.

Doch Harantor nutzte diesen Augenblick und mit einem schnellen Griff packte er mit der anderen Hand eines von Alessans Handgelenken. Verwirrt starrte der Junge ihn an, dann begriff er anscheinend. Entsetzen lag in seinem Blick.

„Nein“, stöhnte er. Aus seinen Augen starrte nackte Verzweiflung.

„Nein“, wiederholte er noch einmal, doch es klang, als habe er schon alle Hoffnungen aufgegeben. Vergebens suchte er seine noch freie Hand vor Harantors Griff zu retten.

Der Regen jagte Kälteschauer über meinen Rücken. Da griff ich erneut ein.

„Harantor, hör auf!“ befahl ich ihm

Der verzog jedoch keine Miene, sondern zog den sich Wehrenden in Richtung der am Boden liegenden Seilstücke. Alessans Beine gaben nach, er stürzte. Mit dunklem, wildem Blick starrte er Harantor an.

„Nein“, keuchte er voller Haß und bäumte sich auf. Mit der freien Hand schlug er Harantor ins Gesicht. Dann sah ich, wie Harantor Alessans Handgelenk losließ und die Faust ballte.

„Nein“, rief ich außer mir. „Begreifst du denn nicht? Du tust genau das, was er von dir will! Du beweist ihm gerade, daß wir nicht besser sind als... als...“

Mir wollte kein Wort einfallen, doch es war schon zu spät. Harantors Faust krachte gegen Alessans Schläfe. Wie ein entgräteter Fisch sank er in Harantors Griff zusammen. Der ließ ihn achtlos zu Boden gleiten und griff nach dem Seil. Mich schien er gar nicht zu bemerken.

„Harantor“, herrschte ich ihn an. Doch er reagierte erst, als ich ingrimmig begann, seinen Rücken mit meinen Fäusten zu bearbeiten. Irritiert drehte er sich zu mir um.

„Harantor“, sprach ich ihn erbittert an und legte ihm meine Hand auf die Schulter. „Du wirst ihn nicht fesseln. Es mag zwar sein, daß du der Richter bist, aber ich bin immer noch die Herrin dieses Ortes und wie ich die Gefangenen dieses Ortes behandele, bestimme immer noch ich.“

„Ich habe gesehen, wie du ihn bewacht hast“, knirschte er, immer noch mit leicht wütender Stimme.

„Es ist mir gleich, wie du über mein Handeln denkst. Ich sage, er wird nicht gefesselt! Dies ist mein Heim und hier geschieht mein Wille. Egal, ob du der Richter der Eldar bist und den Eisernen Ring trägst oder nicht. Ich verbiete dir diese Einmischung!“

Gebieterisch sah ich ihn an.

„Falls du dich erinnern kannst, habe ich dich vor kurzem darum gebeten, daß du mir hilfst, meinen Willen hier durchzusetzen. Und jetzt bist du selbst es, der sich meinem Willen widersetzt.“

„Undankbares Weib“, knurrte er, doch er ließ den Jungen los. „Aber denk ja nicht, ich werde ihn nicht bewachen lassen!“

Er spie mir die Worte entgegen, als seien sie eine Beleidigung. Ich zuckte mit den Achseln.

„Nun, wie du meinst. Meinetwegen kannst du hundert Wachen auf diesem Flett postieren und dich quer vor die Tür hier legen, aber ihn rührst du nicht mehr an.“

Ich starrte ihn entschlossen an.

„Er ist mein Gefangener!“ setzte ich hinzu.

„Wie du meinst“, giftete er. Einen letzten Blick auf das leblose Bündel am Boden werfend, stampfte er schweren Schrittes hinaus. Der Regen verschluckte sein wortloses Gebrummel.

Wie sollte es nur weitergehen?

Ich seufzte. Daß ich nun endlich wußte, wie es zu Kalwes Tod gekommen war - Ein Unfall, so schien es. Ein dummer unglücklicher Zufall! -, verbesserte meine Laune um keinen Deut. Es schien mir im Moment völlig gleichgültig zu sein, wie Kalwe zu Tode gekommen war, denn Alessan hatte sich durch sein Benehmen die Chance einer einigermaßen fairen Gerichtsverhandlung eindeutig verscherzt.

 

Fortsetzung folgt in Kapitel 5

Das Gericht der Eldar

 

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