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Alessan 3 - Der Turm des Ringmeisters

Magirian Wonder TaleAlessan
Kapitel 3
Der Turm des Ringmeisters

Was bisher geschah ...
In Laurínarmardi, dem Wald der Elben auf Tol Uninor, wird der junge Elb Kalwe von einem jungen Menschen mittels Pfeil und Bogen erschossen

Die Herrin des Waldes, Laurealka, ruft Harantor herbei und gemeinsam jagen sie den jungen Mann namens Alessan.

Sie stellen den Jungen und Laurealka, mittlerweile von Mitleid getrieben, schlägt Harantor nieder, denn sie befürchtet ihr Gefährte würden den Jungen töten.

Doch der junge Mann missversteht ihre Absicht und läuft in die Klinge Laurealkas.

Harantor und Laurealka nehmen den verletzten Alessan mit, um ihn zur Siedlung der Elben zu bringen, wo ein ungewisses Schicksal auf ihn wartet ...


Harantor
 

Alessan 3‘Harantor, hole Elrod, bring ihn bitte nach Laurínamardi, er soll über den Menschen richten, denn nur er hat die Weisheit, um Schuld zu erkennen und die Sühne zu bestimmen’, klangen Laurealkas Worte in mir nach, als ich den Braunen zügelte.

 

Vor mir, in nicht weniger als tausend Schritt Entfernung, lag Minas Thín, der Graue Turm. Mächtig erhob er sich auf der Klippe über der schäumenden Brandung, und sein zyklopisches Mauerwerk schien nur ein steinernes Aufbäumen der Felsen zu sein, auf denen er gründete. Der atemberaubende Anblick des Turms ließ mich für einige Augenblicke meinen Auftrag vergessen, den ich widerwillig auf mich genommen hatte.



Ich stehe in ihrer Schuld! hämmerte es in mir, und ich dachte an die Geschehnisse, seit ich den Jungen und Laurealka zurück nach Laurínamardi geführt hatte.

 

Zunächst waren wir schweigend durch den Wald gegangen. Ich schleppte die Trage mit dem Jungen und stützte Laurealka. Sie war schwach, aber mit all ihrem Willen schaffte sie es, auf den Beinen zu bleiben.

 

Der Regen hatte gänzlich aufgehört, und das Gewitter hatte die Luft gereinigt. Das Wetter würde am darauffolgenden Tag schön werden, die Luft nicht mehr so stickig sein.

 

“Hier rasten wir!” sagte ich schließlich, und meine Stimme duldete keinen Widerspruch. Ich legte die Trage vorsichtig zu Boden.

 

Laurealka beugte sich sofort über den Verwundeten, um zu sehen, wie es ihm ging. Ihre Miene war sorgenvoll.

 

Unser Proviant war zurückgeblieben, aber das Wasser einer Pfütze erfrischte mich ebenso wie ein guter Schluck Wein. Ich drehte mir eine Yulepse und war hocherfreut, daß Feuerstein und Zunder noch trocken waren. Tief inhalierte ich den Rauch und entspannte mich für einen Moment, um neue Kräfte zu sammeln, denn erst am Abend würden wir in Laurínamardi sein, und bis dahin würde ich die Trage ziehen und Laurealka stützen müssen.

 

“Harantor?” Ihre fragende Stimme drückte all ihre Zweifel und Ängste aus. “Was wird in Laurínamardi geschehen?”

 

Ich wandte mich ihr zu. Im fahlen Licht des heraufdämmernden Morgens wirkte sie bleich und verletzlich. Die Zweifel schienen an ihr zu nagen.

 

Ich hob die Schultern. Ich wollte nicht darüber reden. Es war zuviel geschehen, und über das Schicksal des Menschen machte ich mir keine Gedanken.

 

“Wann werden wir in Laurínamardi sein?” fragte Laurealka.

 

“Am Abend”, entgegnete ich knapp und fügte in Gedanken hinzu: ‘Und du wirst viel Zeit haben, mich zu fragen, was nun werden soll, zuviel Zeit.`

 

“Hoffentlich ist es dann nicht schon zu spät...”, murmelte sie.

 

Ich würdigte sie keiner Antwort, drückte die Yulepse in den feuchten, kalten Waldboden, griff nach der Trage und ging weiter.

 

Laurealka folgte mir und ging schließlich neben mir. Ich griff ihr unter den Arm und stützte sie.

 

‘Gleich redet sie wieder, dachte ich bei mir.

 

Ich setzte einen Fuß vor den anderen, blickte stur geradeaus und versuchte abwesend zu erscheinen.

 

Im Laufe des Tages versuchte Laurealka immer wieder mich auszuhorchen, zu erfahren, was ich über den Menschen dachte. Ich wollte sie nicht enttäuschen, so antwortete ich zumeist ausweichend, denn die Waldelben Laurealkas sollten entscheiden, was mit ihm geschah. Sie würden seinen Tod beschließen, dafür würde Angaimaite schon sorgen. Ich hatte meinen Teil erfüllt. Ich hatte den Jungen gefangen.

 

Viel schlimmer für mich war mein Versagen, als mein Stolz mich dazu trieb, Laurealka im Wald zurückzulassen.

 

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie wieder auf mich einredete.

 

“Harantor, könnte Elrod nicht über den Menschen richten? Er ist der Ringmeister; seine Weisheit und seine Macht erkennt jeder an. Lassen wir ihn das Urteil fällen!”

 

“Laß Elrod aus dieser Sache raus! Dein Volk wird über den Mörder richten, denn er hat einen aus ihrer Mitte getötet. Und nun laß uns weiterziehen”, entgegnete ich.

 

“Aber Elrod ist gerecht! Er wird...”

 

“Laurealka”, entfuhr es mir, und ich unterbrach sie barsch. “Es nicht seine Angelegenheit! Es ist deine und die Sache deines Volkes, diesen Menschen seiner Strafe zu zuführen. Er ist derjenige, der Kalwe tötete! Er hat den Pfeil abgeschossen. Du selbst hast ihn gesehen! Es reicht jetzt. Schweig! Bitte”, schob ich sanfter nach, “schweig. Es ist besser so. Wir werden sehen, was in Laurínamardi passiert.”

 

Aus großen Augen sah sie mich an, es glitzterte feucht darin. Sie schien entmutigt zu sein, hatte sich wohl mehr Unterstützung durch mich erhofft.

 

So setzten wir unseren Weg schweigend fort, und keiner sprach mehr ein Wort, bis die Sonne schon sehr tief stand, und wir Laurínamardi schon sehr nahe gekommen waren.

 

“Bitte hilf mir, Harantor”, flüsterte Laurealka so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte; sie schien Angst vor der Heimkehr zu haben, fürchtete vielleicht zu schwach zu sein. “Ich will nicht, daß sie sein Leben sofort nehmen. Ich will, daß ihm Gerechtigkeit wiederfährt. Das sind wir ihm schuldig.”

 

‘Gerechtigkeit! War Kalwes Tod gerecht?´ durchfuhr es mich.

 

Ich schluckte die harte Erwiderung herunter, sprach sie nicht aus, sondern nickte lediglich. Ich war ihr verpflichtet, aber mehr als den Menschen nach Laurínamardi zu bringen, würde ich nicht für sie tun.

 

So erreichten wir nach Einbruch der Dämmerung Laurínamardi.

 

Es erregte dort einiges Aufsehen, als wir am späten Abend wiederkehrten und ich den verletzten Menschen auf der Trage zog.

 

Wie ein Lauffeuer sprach sich die Neuigkeit herum, und schon kam Angaimaite schnellen Schrittes heran. Seine Augen brannten im Feuer. Er zog ein Messer und wollte sich auf den Jungen stürzen.

 

“Nein!” rief Laurealka, aber Angaimaite ließ sich nicht beirren.

 

“Halt!” sagte ich und packte den Vater des toten Kalwe am Arm. Er blickte mich zornig an.

 

“Ich will sein Blut!” schrie er. Haß sprach aus jedem seiner Worte.

 

“Nein”, kam es schwach von Laurealka. “Nicht jetzt, nicht hier! Es ist schon genug Blut...”

 

Sie wurde unterbrochen, weil unter den Eldar des Waldes Tumult ausbrach. Ihre Herrin sprach gegen ihr Volk, und Laurealka war zu erschöpft, um sich dieser Kraftprobe zu stellen.

 

Ob ich wollte oder nicht. Ich mußte eingreifen. Selbst Laurealkas Vertrauter Kanyahón konnte sich kein Gehör mehr verschaffen.

 

Ich schleuderte Angaimaite zurück, setzte die Trage so vorsichtig wie möglich ab und stellte mich schützend vor den Jungen.

 

Angaimaite rappelte sich auf und griff mich an. Ich blockte seinen Messerhieb ab und schlug ihn nieder. Benommen lag er zu meinen Füßen.

 

Jetzt galt es zu handeln, bevor ich völlig die Kontrolle verlor und es zu einer Katastrophe kam, die die Gemeinschaft der Elben dieses Tales und ihre Herrin zerstören würde.

 

“Hört, Eldar des Waldes! Bei Carnya, dem Ring des Feuers, den ich trage, hört!”

 

Meine gewaltige Stimme und der Respekt vor einem der Neun Ringe, die Elrod schuf, sorgten für Ruhe. Die Eldar schwiegen.

 

“Hört mich an! Eure Herrin hat beschlossen, ihn”, ich deutete mit einer beiläufigen, abschätzigen Geste auf den Meuchler, “vor ein Gericht zu stellen. Es ist ihr Wille! Das ist es, und ihr habt euch zu fügen! Seid ihr Barbaren, die jeden Wehrlosen dahinschlachten? Sind wir Eldar so tief gesunken? Mißachten wir nun schon die Trägerin einer der Neun? Selbst ich habe ihn nicht getötet, als er am Boden lag! Fügt euch ihrem Willen!”

 

Ruhe kehrte ein, und ich blickte in betretene Gesichter.

 

“Wo soll er hin?” wandte ich mich Laurealka zu.

 

“Aufs zweite Flett, ins nordöstliche Zimmer”, kam ihre knappe Antwort, aber ihre Augen waren voll des Dankes.

 

Ich gab zwei Elben einen Wink, und sie brachten den Menschen aufs Flett.

 

“Seid vorsichtig”, gab ihnen Laurealka mit auf den Weg.

 

Ich beugte mich kurz über Angaimaite, der wieder bei Sinnen war.

 

“Verzeih Harantor...”, preßte er hervor.

 

“Es gibt nichts zu verzeihen, vertrau einfach auf die Gerechtigkeit, die den Mörder ereilen wird”, sagte ich ihm.

 

Er nickte nur und erhob sich. Ich konnte ihn zu gut verstehen, aber das war nicht der Weg. Es war etwas anderes einen Mann im Kampf zu töten, aber einem Wehrlosen die Kehle aufschneiden war feige, und man stellte sich mit dem Mörder auf eine Stufe.

 

Ich wollte mich zum Gehen wenden, denn meine Aufgabe war erfüllt. Sollte das Waldvolk, das sich langsam zersteute, über den Menschen richten.

 

“Harantor”, erreichte mich Laurealkas Stimme, die ungewohnt sanft war, “bleib bitte. Ich brauche dich...”

 

“Wozu? Der Mensch wird für Kalwes Tod geradestehen müssen. Er wird seine Strafe erhalten. All das ist nicht meine Sache, sondern die eure”, erwiderte ich ihre Worte.

 

Ich wollte nur noch nach Nassetussa, mußte über viele Dinge nachdenken, mußte sehen, daß ich mit meiner Schande fertig wurde, die Laurealka fast das Leben gekostet hätte. Das nagte an mir.

 

“Harantor, auch dieser Mensch verdient Gerechtigkeit”, versuchte es Laurealka.

 

“Das will ich glauben, aber er hat...”

 

“Bitte nicht hier unten”, hatte sie mich unterbrochen. “Komm... bitte.”

 

Eher widerwillig war ich ihr gefolgt. Wir erreichten das zweitunterste Flett, wo der immer noch Bewußtlose lag. Ihm galt ihre erste Sorge. Sie befeuchtete seine Lippen und sah ihn prüfend an.

 

“Er wird lang schlafen...”, murmelte sie wohl mehr zu sich selbst. “Wenn Aldamir sich später um ihn kümmert, wird er es vielleicht schaffen.”

 

Ich stand unschlüssig herum, wußte nicht, was ich tun sollte. Keinen Blick gönnte ich dem jungen Mann.

 

“Nun will ich deine Wunde verbinden. Setz dich und warte bitte einen Augenblick”, mit diesen Worten verschwand sie und kehrte bald darauf mit einer frischen Leinenbandage und einigen Kräutern wieder. Dann ging sie kurz zu dem Menschen herüber, um sich die Schale mit dem Wasser und ein Tuch zu holen.

 

Wortlos nahm sie mir die notdürftige Bandage vom Kopf, zerbröselte einige der Kräuter über der Schale, die dabei einen würzigen Duft verströmten, wusch mir damit die Wunde aus und verband sie frisch.

 

Als sie fertig war, ging sie erneut und kehrte mit Wein zurück. Sie schenkte einen Becher ein und reichte ihn mir. Ich griff zu und trank in kleinen Schlucken.

 

Ich zückte eine Pfeife und stopfte sie sorgfältig. Mit dem Span und Zunder entzündete ich sie und zog den Rauch genußvoll ein.

 

“Harantor”, begann sie zaghaft. “Was immer passiert ist, es hat einen Grund gegeben. Ich möchte dich um etwas bitten.”

 

Ich hob ruckartig den Kopf und sah sie an. Laurealka zuckte zusammen, als hätte sie sich erschrocken.

 

“Was soll ich tun? Ihn wegbringen? Die anderen davon abhalten, ihn der gerechten Strafe zuzuführen?” stieß ich hervor, und es klang härter, als es sein sollte.

 

Sie sah mich aus geweiteten Augen an. Alle Hoffnung schien mit einem Schlag aus ihnen zu verschwinden, aber sie fing sich wieder. Ihr zartes Gesicht nahm nur einen Moment später einen entschlossenen Zug an.

 

“Harantor, hör mir doch zu”, entgegnete sie. “Es geht darum, Gerechtigkeit zu suchen. Hier wird sie ihm nicht gewährt werden.”

 

“Und was soll ich tun?” lenkte ich ein.

 

“Harantor, hole Elrod, bring ihn bitte nach Laurínamardi, er soll über den Menschen richten, denn nur er hat die Weisheit, um Schuld zu erkennen und die Sühne zu bestimmen”, sie sprach eindringlich.

 

Wortlos erhob ich mich und blickte auf den nachtdunklen Wald. Ich spürte Laurealkas Blicke in meinem Rücken. Ich dachte darüber nach. Jetzt erschien mir die Idee nicht mehr so abwegig. Elrod war die Lösung. Seiner Entscheidung würden sich alle beugen. Er würde wieder für Frieden in Laurínamardi sorgen.

 

“Gut, Elrod soll entscheiden”, antwortete ich schließlich. Ich seufzte tief, nahm noch einen Schluck Wein. “Im Morgengrauen werde ich reiten.”

 

Der Ritt nach Minas Thín war eine Tortur. Ich dachte immer wieder an die Nacht, als mein Stolz mich übermannte.

 

Ich schüttelte die Gedanken an Laurealka, den Meuchler und das Waldvolk ab, und trieb den Braunen wieder an. Minas Thín lag nun direkt vor mir...

 

 

 

Elrod

 

Erinnerungen und Schatten von Erinnerungen ...

 

Es ist der Ring, natürlich, sagte ich mir, während ich auf jenes unscheinbare, grau schimmernde Ding starrte, das vor mir auf dem vernarbten Holztisch lag. Der Ring aus Mithril, jenem kostbarsten aller Metalle einer fernen, unerreichbaren Welt. Der Stoff, aus dem die Sterne sind. Der Ring der Sterne. Und der Ring der Zeit.

 

Ich hatte gedacht, als ich die Ringe schuf, mit ihnen mein Schicksal zu bezwingen. Der Welt die Ordnung zu geben, der sie bedurfte. Ihren Geist in Formen zu binden. Doch seit ich selber in jener dunklen und stürmischen Nacht den Meisterring auf meinen Finger steckte, um die Verstreuten meines Volkes zu rufen, hatte ich erkannt, daß jeder, der sich der Macht eines Ringes bedient, damit zugleich ihr Diener wird.

 

Ringmeister nennen sie mich. Wird man dereinst auf meinen Grabstein schreiben: Elrod Cormatur, turun cormatanen? Elrod Ringmeister, vom Ring gemeistert ...

 

Aber warum künden die Schatten aus der Zeit, die mich heimsuchen, immer nur vom Tod?

 

Ich erinnere mich an jenen Tag in Alqualonde, als der Tod in die Unsterblichen Lande kam. Es war ein schöner Tag. Die Luft war erfüllt von jener leuchtenden Klarheit, wie nur der äußere Westen sie kennt. Ein Wind strich landabwärts, und im Wind sah man Rauch von brennenden Türmen.

 

Wir liefen den Weg hinab von Tirion, und schon im Laufen wußten wir, daß wir zu spät kamen. Doch wir ahnten das Unfaßbare nicht, das sich ereignet hatte. Dann sahen wir den ersten unserer Brüder dort liegen, und sein Gewand war rotbefleckt. Dunkles Rot auf seinem bleichen Gesicht. Er rührte sich nicht. Denn sein Geist wandelte bereits in den Hallen des Mandos, die west vom Westen lagen und von denen bislang keiner zurückgekehrt war.

 

Elbe hatte Elbe getötet. Feanor und die Seinen waren zu den Schiffen der Teleri gestürmt, und als man sie ihnen verweigerte, hatten sie die Waffen gezückt. Und nun trieben sie irgendwo auf hoher See gen Norden, während Fingolfin mit seinem Heer die Ufer von Araman entlang stürmte, auf das malmende Eis zu, das die Unsterblichen Lande von Mittelerde trennte.

 

“Da ist einer von ihnen!” hörte ich es rufen.

 

“Einer von Feanors Brut!”

 

“Sippenmörder!”

 

Sie brachten einen blassen Jüngling, selbst mit Blut bedeckt, dessen bleiche Haut einen scharfen Kontrast bildete zu dem dunklen Haar der Noldor. Sie schleppten ihn vor mich, wie um meine Entscheidung zu erwarten.

 

“Wie soll ich über ihn richten?” stammelte ich

 

“Er muß sterben!”

 

“Nur einer ist Richter in Aman. Bringt ihn zu Manwe.”

 

Und so brachten wir den Sippenmörder durch den Calacirya zu den Toren von Valinor, wo im Anblick des Hügels Ezellohar, auf dem die Zwei Bäume schwarz und tot in den Himmel ragten, sich der Mahanaxar, der Schicksalring, erstreckte. Und wir legten unsere Waffen nieder und riefen den Altvorderen König an, daß er über ihn zu Gericht sitze.

 

Und Manwe kam, wie ein Sturmwind, wie die Schwinge des Adlers, und Macht war in dem Hauch seines Atems. Und er ließ sich nieder auf seinen Richterthron und sprach: “Was verlangt ihr?”

 

Ich antwortete, voll Schrecken: “Herr, er verdient den Tod.”

 

Der Altvordere König aber sprach: “Manche, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die tot sind, verdienen das Leben.” Und zu dem Elben gewandt, der bleich und zitternd vor ihm stand: “Geh, und töte hinfort nicht mehr.”

 

Erinnerungen und Schatten von Erinnerungen.

 

Ich erinnere mich an einen Nachmittag in Doriath, als man einen Menschen vor Elu Thingol brachte, einen hochgewachsenen, verwirrten Mann, in dessen Auge ein Leuchten war, als habe er ein zu großes Licht geschaut, und an dessen Hand ein Ring steckte, ein altes Erbstück seines Hauses, Freundschaft zwischen den Elben und Menschen bezeugend.

 

Und der König der Elben sprach: “Du hast die Grenze meines Landes überschritten und bist in das Reich der Elben eingedrungen. Du verdienst den Tod.”

 

Beren, Sohn des Barahir, aber blieb stumm, eingeschüchtert durch die Pracht der Hallen Menegroths, und Thingol blickte auf ihn und achtete ihn gering.

 

Frau Melian aber, seine Königin, legte ihm die Hand auf den Arm und sprach leise: “Manche, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die tot sind, verdienen das Leben.”

 

Später dachte ich noch oft an diese Worte, als Beren, dessen Hand den Silmaril umfangen hatte, durch die Liebe Lúthiens als einziger der Menschen von den Toten zurückkehrte und mit ihr in den Wäldern von Mittelerde wandelte. Und als ich erfuhr, wie Elwe Singollo, König von Doriath, der als einziger von allen der Kinder Ilúvatars mit einer Ainur vereint gewesen, in den tiefen Hallen Menegroths zu Tode kam, den gierigen Blick auf den Silmaril gerichtet.

 

Doch dies ist lange her; ein langer Weg liegt dazwischen und eine lange Zeit. Aber ich erinnere mich auch an Dinge, die hier geschahen, in dieser Welt, in der ich lebe.

 

Unter einem rund gemauerten Bogen, der vor dem kalten Wind schützt, welcher vom Hymir her weht.

 

Rauch liegt in den Luft, Rauch von brennenden Häusern und brennenden Schiffen. Und der Gestank von verbranntem Fleisch, der metallische Geschmack von Blut.

 

Es waren die Wælingas gewesen, die Wölfe des Meeres. Mit ihren schnellen Drachenschiffen waren sie mit dem Estwind gekommen, dem Wælingwind, den die Bewohner der Küstenregionen fürchten wie den Hauch der Dämonen.

 

Doch dieses eine Mal waren wir schneller gewesen, hatten in einem wilden Ritt durch das Hügelland ihnen den Weg abgeschnitten und waren ihnen in die Flanke gefallen, als sie die Schiffe verlassen hatten, um sich über das wehrlose Dorf mit seiner alten Abtei herzumachen. Und statt des Goldes hatten sie Stahl blinken sehen; statt der zarten Haut verschreckter Maiden bekamen sie scharfe Klingen zu spüren; statt Reichtümern als Beute fanden sie den Tod.

 

Ein Trupp meiner Männer kommt herbei. Sie schleppen einen jungen Mann zu mir, einen Verwundeten, blondhaarig, bleich, blutbefleckt, mit wirrem Blick.

 

“Es ist einer von ihnen.”

 

“Ihr seid der König. Ihr müßt ihn richten!”

 

“Er verdient den Tod.”

 

Und wie durch einen fernen Schleier höre ich über den Abgrund der Zeit hinweg die Stimmen, die rufen, die flüstern, die singen ...

 

Und ich erinnere mich.

 

Erinnerungen und Schatten von Erinnerungen.

 

Ich stand auf, löste den Schwertgurt und ließ mein Schwert zu Boden gleiten. Ich nahm den viel zu schweren goldenen Reif, der meine Stirn drückte, und legte ihn achtlos auf den nackten Stein.

 

“Es ist vorbei”, sagte ich. Und in diesem Augenblick schwor ich mir, mein und meines Schicksals eigener Meister zu sein.

 

So hatte ich gedacht, in meinem Wahn. Doch nun schien mich ein gleiches Geflecht von Zwängen zu umfangen wie ehedem, und an allen Enden stand der Tod.

 

Ich blickte von dem eichenen Tisch auf zu dem spitzbogigen Fenster, in dem sich ein Stück grauen Himmels zeigte. Der Wind trieb die Gischt des Meeres gegen die Mauern des Turms. Ich stand auf.

 

“Die Pflicht ruft, Ringmeister”, sagte ich halblaut zu mir selbst. “Eines deiner Geschöpfe naht.”

 

Ich sehe sie, die Ringe, die ich schuf, sehe sie vor meinem geistigen Auge, und ich weiß immer, wo sie sich befinden, jeder einzelne von ihnen. Diesen sah ich wie ein feuriges Rad, und so schloß ich die Augen und tat einen Schritt darauf zu, durch die Überwelt.

 

Dann ging ich eine Zeitlang neben ihm her, ohne daß der Ringträger mich auch nur bemerkte, bis ich schließlich die Hand auf den Zügel des Pferdes legte, daß es schnaubend stehenblieb.

 

Harantor blickte überrascht auf und schüttelte den Kopf, wie einer, der aus einem langen Traum erwacht.

 

“Na, mein Riesenhobbit”, seufzte ich, “was haben die Eldar nun wieder ausgefressen?”

 

 

 

Harantor

 

“... und dann schleppte ich den Meuchler und Laurealka zurück nach Laurínamardi”, beendete ich meine Erzählung über den Tod Kalwes und der Jagd auf den Meuchler. Ich konnte Elrod nicht in die Augen sehen. Ich wich seinem Blick aus und sah auf das weite Meer hinaus und sog an meiner Pfeife.

 

“Nun wird der Mensch von Laurealka gesund gepflegt. Wenn es ihm besser geht, soll er vor seinen Richter treten. Und deshalb bin ich hier. Laurealka schickt mich als ihren Boten, um dich als Richter zu gewinnen und sicher dorthin zu geleiten. Nur du hast die Macht, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, sagt Laurealka.”

 

Elrod sah mich ernst an, die Trauer über den Verlust Kalwes stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch es stand noch etwas darin, daß ich nicht lesen konnte.

 

“Was denkst du über den Menschen?” fragte mich Elrod.

 

“Er verdient den Tod”, entgegnete ich. “Das wird die Verhandlung zeigen. Er hat Kalwe getötet.”

 

“Mithrandir hat einmal gesagt...”

 

“Ich weiß, was Mithrandir sagte”, unterbrach ich Elrod, “aber es gilt, Feinde von Laurínamardi fern zu halten.”

 

“Manchmal bist du ausgesprochen uneinsichtig, Harantor, aber das warst du schon immer”, sagte Elrod. “Ich werde dir eine Lektion erteilen...”

 

Ich verstand nicht, was er damit meinte, aber ich war gespannt.

 

Wir saßen auf der schattigen, dem Meer zugewandten Veranda zu Füßen von Minas Thín, dem Turm Elrods an derKüste Tol Uinors, unserer neuen Heimat. Elrod hatte Tee für uns gemacht und darauf bestanden, draußen zu sitzen, denn in seinem Turm durfte ich kein Pfeifenkraut genießen.

 

Gelegentlich schaute ich zum Himmel empor; die Wolken hatten sich zusammengezogen, und der Sturm heulte in den Klippen, aber hier schien sogar die Sonne. Wie er das bloß hinkriegte? ‘Praktisch’, dachte ich, ‘so‘n Großer Ring. ’

 

Elrod fuhr nicht fort, und das Pfeifen des Windes, das Kreischen der Möwen und der Donner der Brandung waren nun die einzigen Geräusche, die an unsere Ohren drangen.

 

Bei allen Valar, ich hatte nichts beschönigt, auch nicht, daß ich Laurealka fast verlassen und ohne Hilfe gelassen hätte, weil ich zu stolz gewesen war, meine Dummheit zu sehen. Ich hätte sie fast ihrem Schicksal überlassen.

 

“Aber das hast du nicht”, brach Elrod das Schweigen.

 

‘Bei allen Göttern, er kann Gedanken lesen!’

 

Ich ruckte herum, und mein Blick suchte den Elrods. Er sah mich nachsichtig an. Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund.

 

“Mach dir keine Sorgen, mein Freund. Ich kann keine Gedanken lesen, aber ich weiß Gesichter zu deuten, und ich konnte die Zweifel an deinem Tun nur allzu deutlich erkennen, Harantor. So wie ich die Furcht in deinem Gesicht las, daß ich deine Gedanken erkennen könnte.”

 

Elrod erhob sich. Der Korbstuhl knarrte und das Geräusch mischte sich mit dem Geschrei der Möwen und dem Donnern der Brandung zu einer eigentümlichen Melodie. Er ging einige Schritt auf den Rand der Klippen zu und sah auf das Meer hinaus.

 

Seine ganze Aufmerksamkeit schien sich auf die See zurichten, die ihre Wogen immer wieder gegen die Gestade Tol Uinors warf. Er stand wie zu einer Statue erstarrt, völlig ruhig und erhaben. Elrod strahlte Ruhe und Weisheit aus, etwas, das ich an ihm schätzte, weil er ein ruhender Pol in meinem unsteten Leben war. Durch ihn fühlte ich mich meiner vergessenen Heimat nahe. Ich sehnte mich danach, die Erinnerung an Mittelerde zurückzugewinnen. Alles, was ich hatte, waren einige Bruchstücke, aber das war zu wenig. Mein einziger Trost war das Pfeifenkraut.

 

Erst Elrod hatte mir den Frieden gegeben. Er hatte mir gesagt, meine Erinnerungen würden kommen. Aber ich sollte Tol Uinor und die Welt Magira als meine neue Heimat sehen, denn es gäbe kein Weg zurück.

 

Ich sah betreten zu Boden. Ich hatte Laurealka verraten, hätte sie um ein Haar zurückgelassen. Ich tastete nach dem Verband, der meinen Kopf zierte, erinnerte mich an die Gewitternacht im Wald, an die...

 

“Denk nicht an dein Versagen, Harantor!” Elrod stand mit dem Rücken zu mir. “Du hast dich besonnen, du hast ihr geholfen, du hast dem Menschen geholfen!”

 

Ich hatte nicht bemerkt, das er sich mir zugewandt hatte, so vertieft war ich in meine Gedanken gewesen. Ich sagte ihm, was ich über meinen Sinneswandel dachte.

 

“Ich habe mich nicht besonnen. Ich glaube, der Ring”, ich hob meine Hand und zeigte den Reif an meinem Finger, der rot in der hellen, warmen Frühsommersonne funkelte, “hat verhindert, daß ich Laurealka im Stich lasse. Ich...”

 

“Der Ring?” unterbrach mich Elrod und wandte sich mir zu. “Gewiß, der Ring.” Er lächelte plötzlich auf eine Weise, daß mir ein bißchen unheimlich wurde. “Gib mir den Ring!”

 

Ich war völlig verdattert. War es das, was er gemeint hatte, als er davon sprach, mir eine Lektion erteilen zu wollen? Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.

 

“Gib mir den Ring!” wiederholte er. Ich zögerte immer noch, aber meine Hand zog das Kleinod schon von meinem Finger.

 

“Du bist der Ringmeister”, knurrte ich. “Du wirst wissen, was du tust.” Von einem Elbenring, selbst wenn es nur einer der geringeren Neun ist, trennt man sich nicht so einfach.

 

Er nahm mir den Ring aus der Hand, wog ihn in der Handfläche und warf ihn dann in die Luft. Er funkelte im Sonnenlicht, rot wie ein feuriges Rad. Elrod griff ihn blitzschnell mit der Rechten, und ehe ich mich versah, hatte er ihn mir wieder auf den Finger geschoben.

 

“Ein Trick”, sagte er, “den ich von meinem Meister gelernt habe.”

 

Ich starrte auf das Ding an meinem Finger. Es hatte seine Farbe verändert, von einem funkelnden Rot zu einem stumpfen Schwarzsilber. Und es war schwer, verdammt schwer; es zog meine Hand nach unten, daß ich sie unwillkürlich zur Faust ballte.

 

“Es ist Angya”, sagte er, “der Eiserne. Der erste der Hohen Ringe. Ich denke, du wirst ihn brauchen.”

 

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte nur auf dieses mattglänzende Ding und stammelte: “Womit habe ich das verdient?”

 

“Du wirst ihn dir verdienen, wenn du nach Laurínamardi zurückkehrst.”

 

Ich begriff gar nichts mehr. Um das Thema zu wechseln, fragte ich: “Wann brechen wir auf?”

 

“Wieso wir?” fragte Elrod. “Ich gedenke nicht nach Laurínamardi zu gehen. Du wirst über diesen Menschen richten...”

 

Der Boden wurde unter meinen Füßen fortgerissen, ich glaubte für einen Lidschlag, ich hätte mich verhört.

 

“Was!?” entfuhr es mir. “Ich... ich soll der Richter des Menschen sein, aber...”

 

“Bleib ruhig”, hörte ich die Worte des Ringmeisters.

 

Er sah mich durchdringend an, als suche er nach etwas, aber der Eindruck war zu flüchtig.

 

“Du richtest über einen Menschen. Er wird mit dem Ring als Zeichen deiner Würde nichts anzufangen wissen. Nimm das!”

 

Er griff in die leere Luft, und hielt einen Leinenbeutel in den Händen. Er gab ihn mir.

 

Zögernd griff ich nach dem Beutel.

 

“Nimm ihn, darin”, Elrod wies auf den Beutel, “ist die Kette, die deine Würde als Richter der Elben und derer, die unter ihr Recht fallen, für alle zeigt. Die Kette hat keine Macht, sie ist ein hohles Symbol, aber nur allzu viele brauchen solche Zeichen und Insignien, weil sie wahre Macht nicht erkennen!”

 

“Kommt denn meine Macht von innen?” fragte ich.

 

“Das werden wir sehen, und du wirst es herausfinden”, war die lakonische Antwort.

 

 

 

Elrod

 

Habe ich richtig gehandelt, als ich Harantor den Ring aus Eisen gab? War es schon an der Zeit, den ersten der Hohen Ringe in Kraft zu setzen? Würde Harantor sich dieser Kraft gewachsen zeigen - oder würde er an ihr zerbrechen?

 

Fragen über Fragen. Manchmal weiß ich nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Manchmal denke ich, daß die Aufgabe, die ich mir auferlegt habe, mich selbst überfordert.

 

Ich saß in meiner Kammer an der Spitze des Turmes und starrte hinaus in das Auge des Sturms. Wolken türmten sich über dem Meer, jagten dahin mit elementarer Gewalt, alles vernichtend, alles zerstörend.

 

Manchmal bin ich einfach entsetzlich müde.

 

Ich öffnete die linke Hand; darin lag immer noch der Ring, den ich Harantor abgenommen hatte. Carnya, der Ring des Feuers. Nun glühte er nur noch matt mit einer Glut, die sich nur dem inneren Auge erschloß.

 

Dann ballte ich die Hand zur Faust und tat einen Schritt in die Unterwelt.

 

Ich stand auf einer weiten, konturlosen Ebene. Über mir verlor sich die Welt in den Schatten, doch ich wußte, daß weit oben nicht der sturmgepeitschte Himmel dräute, sondern eine mächtige Kuppel sich erstreckte. Denn ich befand mich an der Schwelle jenes geheimen Ortes, der nur den Geistern der Eldar offen steht, wenn sie ihren Körper verlassen haben.

 

Vor mir erhob sich das Tor in die Nacht. Zu seiner Rechten und Linken wachten zwei Wesen, Sphingen gleich, deren Schwingen sich in die Schatten erstreckten.

 

Ich tat einen Schritt auf das Tor zu, einen zweiten, doch da stockte mein Atem. Eine Fessel schien sich um meine Brust zu legen, und mir war, als bewegte ich mich mit unendlicher Langsamkeit, wie durch Wasser, wie durch flüssiges Gestein. Ich kam zur Ruhe wie eine Kraft, die auf etwas Unbewegliches stößt, und vermochte keinen Finger zu regen, keinen Muskel zu bewegen.

 

Und ich hörte eine Stimme, die sprach: “Bis hierher und nicht weiter!”

 

Doch dem Meister sind alle Ringe untertan, und so setzte ich den Ring des Feuers in Kraft, und er entbrannte wie ein flammendes Rad in meiner Faust. Ich aber hob die Faust, die den Ring hielt, und schlug damit gegen das Tor. Und die gewaltigen Torflügel öffneten sich vor der Macht des Ringes, und ich trat hindurch.

 

Vor mir nichts als Nebel und Düsternis. Eine Dunkelheit, die sich hinabsenkte bis in die Tiefen der Erde, wo zeitloses Gewürm an den Festen der Welt nagt, von dem die Götter nichts wissen. Und ich wußte, daß ich am Rande des Abgrunds stand, der iakúma genannt wird, die tiefe Leere.

 

Über die Tiefe führte eine Brücke, nicht breiter als die Spanne einer Hand. Dies war túriant, die Brücke des Schicksals.

 

Der Wind aus dem Abgrund ergriff mich, zerrte an meinem Gewand, ließ mich taumeln. Doch ich machte mutig den ersten Schritt, den zweiten, den dritten. Zur Rechten und zur Linken ging es lotrecht hinab in die Unendlichkeit.

 

Dann umfing mich völliges Dunkel.

 

“Elbereth!” rief ich. Doch in diesen Tiefen einer fremden Welt hatte selbst die Entfacherin der Sterne nie ein Licht gesandt. Mich schwindelte. Ich stand wie festgewurzelt. Meine Knie zitterten. Wohin hatte mein letzter Schritt mich gebracht. Wohin würde mein nächster mich führen, auf festen Stein oder hinab, hinab in die zeitlose Leere und Finsternis.

 

Wie unter einem inneren Zwang hob ich die Hand.

 

Der Ring der Sterne schimmerte matt in der Finsternis.

 

Und so ging ich, Schritt für Schritt, auf dem Weg, den kein Eldar zu Lebzeiten gegangen, bis die Brücke des Schicksals wieder festem Boden wich, und ich trat hinein in die hohe Halle dessen, der die Seelen der Eldar in seinen Händen hält.

 

In jener Halle erhob sich ein mächtiger Thron, aus dem Urgeschein der Welt geschaffen, und auf dem Thron saß Einer, und der da saß, war aus Feuer und Dunkelheit gemacht. Sein Antlitz aber war gleich dem Antlitz eines der Eldar und doch ungleich; denn in seinen Augen lag eine unendliche Traurigkeit, und auf seiner Stirn stand Weisheit und Macht geschrieben, und seine Lippen umspielte ein Lächeln. Um den Thron aber standen die Geister jener, die in den Wirren der Welt ihre Todeswunde davongetragen hatten, welche selbst alle Kraft der Eldar nicht mehr heilt, oder deren Geist am Ende so übermächtig geworden war, daß er den Körper verzehrte und nur eine ausgebrannte Hülle zurückließ anstelle dessen, was einst das Haus der Seele gewesen.

 

Und ich warf mich vor dem Thron zu Boden und sagte: “Urulóme, Herr des Feuers und der Dunkelheit, nehmt mich in Frieden auf.”

 

Er aber blickte streng auf mich herab, und ich zitterte unter seinem Blick. Dann öffnete er den Mund, und seine Stimme war wie das Grollen eines Schmelzofens in der Nacht.

 

“Zur Unzeit kommst du zu mir, Ringmeister. Haben die Hohen dir nicht Macht gegeben, einem der istari gleich, das Volk der Versprengten zu sammeln?”

 

“Herr”, sagte ich, “ich habe sie gesammelt, und doch bin ich allein. Und die vielen, die in den Weiten der Zeit und des Raumes verschollen sind, hat mein Ruf nicht erreicht.”

 

Doch Urulóme, der Feuerdunkle, den man unter den Vardar, den Hohen, auch Angwe nennt, den Bezwinger, und Mahangainor, den mit der eisenstarken Hand, runzelte die Braue, und ein Beben ging durch die Halle. “Und was ist mit jenen, denen du Ringe gabest, Ringe der Macht? Sollen sie dir nicht helfen, als deine Augen und Ohren in der Welt, auf Wegen, die du nicht gehen kannst?”

 

“Herr”, sagte ich wiederum, “Sie sind noch wie Kinder, und die Macht hat sich in ihnen gerade erst zu entfalten begonnen. Und die Mißgunst der Menschen bedrückt sie sehr.

 

Ach”, fuhr ich fort, “gäbe es doch nur einen oder zwei von den Gefährten von einst, den Fürsten der Noldor oder Sindar, in voller Kraft und Herrlichkeit. Dann würde ich wieder Mut schöpfen. Aber alles, was mir bleibt, ist die Erinnerung.”

 

Da lächelte der Varda, und er sprach: “Geh und suche. Wo ist Glorfindel, der durch diese Hallen schritt, der Zweimalgeborene? Wo ist Nimrodel, die verloren ging und wiedergefunden ward. Sie wandeln die Weiten der Welt. Sende die Deinen aus, sie zu finden. Doch kehre nicht zurück zu mir, wenn dein Wunsch auf andere Weise in Erfüllung geht, als du ihn dir erwartest. Dies ist Angwes Spruch.”

 

Dann streckte er seine Hand aus und siehe, seine Hand war wie aus Eisen und rot wie Glut, und sie berührte mich an der Stirn, und mich umfing eine tosende Dunkelheit, von Feuerzungen durchleckt ...

 

Ich öffnete die Augen. Die Welt war zu mir zurückgekehrt. Schwindelnd blickte ich hinaus aus dem hohen Fenster des Turms, über das endlose Meer der Träume.

 

Der Sturm hatte sich verzogen. Der Himmel war klar.

 

Ich erhob den Ring, der Macht über alle Ringe besaß, und sandte meinen Ruf aus.

 

 

 

Harantor

 

Meine Gedanken waren so trübe, wie das Wetter. Ich hatte gleich nachdem ich von Elrod Ring, Amt und Kette erhalten hatte, den Turm des Meisters verlassen, hatte den Umhang eng um die Schultern gezogen, aufgesessen und in das Unwetter hineingeritten, das um Minas Thín herum tobte, und vor der Macht Elrods gewichen war.

 

Der Regen prasselte heftig auf mich hernieder. Das Unwetter, das Minas Thín nicht berührt hatte, zog nun ab. Die letzten heftigen Schauer gingen auf mich nieder.

 

Ich ignorierte das Wetter, so gut ich konnte, und ließ den Braunen in einem zügigen Kanter gehen.

 

Am nächsten Morgen würde ich wieder bei Laurealka sein...

 

Wie hatte Elrod so etwas tun können. Meine Würde, Richter zu sein, war eher eine Bürde, denn eine Erhebung. In mir hallten seine letzten Sätze nach, bevor er mich entließ: “Du wirst dich nicht erinnern, wie Eldar auf Mittelerde Recht gesprochen haben, aber du wirst nun auf Magira Recht sprechen müssen. Du wirst Regeln bestimmen, wie die Eldar richten, über uns und über andere. Führe den Prozeß, lasse alles aufschreiben, und ich werde entscheiden, ohne dein Urteil in diesem Fall anzutasten, ob diese Art bindend für alle noch kommenden Fälle Gültigkeit haben wird.”

 

Ich blickte auf meinen Finger. Statt des leuchtenden Rots des Carnya, des Ring des Feuers, war dort der Angya zu sehen, dessen schlichter, matter Glanz, über seine wahre Macht hinwegtäuschte. Es war einer der drei Großen Ringe, die Elrod schuf; soviel ich wußte, ein Ring der Kraft.

 

Ich hatte die Macht des Carnyas noch nicht einmal angekratzt und nun trug ich einen der Drei, dessen Macht mir noch dunkler, noch verschwommener erschien.

 

Wie sollte ich diese Macht ergründen? Würde ich mich dieser Macht würdig erweisen? Elrod hatte mir in der Tat eine Lektion erteilt.

 

Im Moment spürte ich lediglich sein Gewicht. Es lastete mit allem anderen schwer auf mir. Mein Weg würde über Nassetussa führen, ich hatte Anweisungen zu geben, dann würde ich mein Prunkgewand hervorholen, und mich in das von Elrod auferlegte Schicksal fügen, würde Recht sprechen.

 

Manche, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die tot sind, verdienen das Leben, fuhr es mir immer wieder durch den Kopf. So sehr ich mich auch bemühte, immer wieder drang dieser Satz in meine Gedanken.

 

Ich sollte Recht sprechen; sollte das Urteil über einen Menschen fällen, der Kalwe getötet hatte, der ein Kind mit einem Pfeil niedergestreckt hat. Noch als ich mich auf den Weg zu Elrod machte, war die Entscheidung für mich klar: der Tod. Für den feigen Mord an Kalwe konnte es nur diese eine Sühne geben.

 

In meinem Kopf stiegen Bilder auf, Bilder eines Mannes; eines Zauberers. Unter vielen Namen war er bekannt, doch wir Eldar kannten ihn als Mithrandir, den Grauen Wanderer. Aus den Nebeln des Vergessens schälte sich das Bild des alten Zauberers, so klar wie kaum eine Erinnerung an meine alte Heimat stand er vor mir. Uns verband die Leidenschaft für das Pfeifenkraut der Hobbits.

 

Ich mochte nach ihm greifen, und seine Lippen formten einen Satz. Ich konnte ihn nicht hören, aber ich las ihn nur allzu deutlich von seinen Lippen...

 

Manche, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die tot sind, verdienen das Leben.

 

Mit der Weisheit des Grauen konnte sich selbst Elrod kaum messen, war er doch in vielen Dingen der Vertraute der Großen unseres Volkes. Ich konnte, wenn mich die Schatten der Erinnerung nicht trogen, nie zu den Erhabenen der Eldar gerechnet werden.

 

Nun lastete auf mir die Bürde eines Menschenlebens, das Leben eines Mörders, aber auch er lebte und atmete. Sicher im Kampf ist ein Leben schnell genommen, aber der Gedanke daran, über ein Leben ohne die Bedrohung durch Klinge oder Axt entscheiden zu müssen, lastete schwer auf mir.

 

Ich erreichte eine Anhöhe, verhielt den Braunen und wandte mich ein letztes Mal um, denn ich wollte noch einen Blick auf den Turm des Ringmeisters werfen, der in all seiner Erhabenheit im Dunst auf den Klippen am Rande des Meeres wie ein mahnender Zeigefinger stand; im Moment erschien er mir als eine Mahnung an mich, daran, trotz meiner Unzulänglichkeiten einen Weg zu finden, das Richtige zu tun.

 

Ich seufzte und mein Blick haftete förmlich an Minas Thín, dem Haus Elrods, in dem eine bittere Lektion für mich vorbereitet wurde.

 

Gerade als mich abwenden wollte, um meinen Weg nach Nassetussa und darüber hinaus fortzusetzen, konnte ich sehen, wie es um den Turm aufblitzte. Wie ein greller Lichtschein den grauen Turm in goldenes Licht tauchte. Es war keine Himmelserscheinung, das Licht kam aus Minas Thín selbst.

 

Noch ehe das goldene Licht erlosch, spürte ich, daß meine Innerstes erbebte, fühlte eine gewaltige Macht, vernahm ein Rufen.

 

Elrod rief!

 

Er rief mit der ihm gegebenen Macht, aber wen oder was er rief, blieb mir verborgen. Mich rief er nicht, wie ich einen Lidschlag gehofft hatte, um mich von der Last und Bürde zu befreien, die er mir auferlegt hatte.

 

Manche, die leben, verdienen den Tod. Und manche, die tot sind, verdienen das Leben, schoß es mir wieder durch den Kopf.

 

Ich setzte meinen Weg fort, und bis ich Nassetussa erreicht hatte, quälten mich die Gedanken an das, was auf mich zukam.

 

Ich hatte gehofft, Frieden zu finden auf Tol Uinor, aber diese Hoffnung hatte getrogen; schon war ich wieder tiefer in die Angelegenheiten anderer verstrickt, als ich das je für möglich gehalten hatte.

 

Schließlich erreichte ich kurz nach Einbruch der Dunkelheit Nassetussa. Hinner, einer meiner beiden Knechte kam mir entgegen und begrüßte mich mit den Worten, daß alles in Ordnung sei.

 

“Ist gut. Richtet mir ein Bad, bringt mir was zu Essen und zu Trinken”, knurrte ich nur.

 

Hinner kannte mich inzwischen gut genug, um mir meine Launen nicht allzu übel zu nehmen und mich mit langen Reden aufzuhalten.

 

Karaval kam aus den Stallungen. Der gut sechs Fuß große, schweigsame Mann, nickte mir nur zu und nahm sich des Braunen an. Er würde ihn gut versorgen.

 

Ich eilte in meine Kammer und zog aus der Kleidertruhe mein Prunkgewand, das mir fleißige Hände in Laurínamardi nähten. Die blauen mit Silberborten besetzten Beinkleider, das nachtblaue Wams aus Samt und der schneeweiße Umhang würden mich in eine würdevolle Erscheinung verwandeln.

 

Ich würde mich hinter einer schillernden Maske verstecken, würde mich hinter Macht und Prunk verbergen, um die auferlegte Bürde zu tragen, und niemandem etwas von meiner Unsicherheit zu zeigen. Das hatte ich auf dem Ritt nach Nassetussa beschlossen, denn sollte man meine Schwäche durchschauen, wäre mein Urteil nichts; es würde, ganz gleich wie es ausfiel, immer umstritten bleiben.

 

Ich mußte Stärke zeigen, und ich durfte nicht vorschnell urteilen, mußte, so gut es eben ging, neutral sein.

 

Tief atmete ich durch, dann rief mich Hinner, daß das Bad gerichtet sei. Seufzend erhob ich mich...

 

Ich würde baden, essen, meine Anweisungen erteilen und dann in der Nacht nach Laurínamardi reiten, um meiner neuen Aufgabe gerecht zu werden; zumindest hoffte ich, daß ich es könnte...

 

Fortsetzung folgt in Kapitel 4

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