Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 8: Horace Walpole: Die Burg von Otranto (1764)
Teil 8:
Horace Walpole: Die Burg von Otranto
(1764)
Der Ur-Gruselroman allerdings, auch nicht viel umfangreicher als ein Heftroman, ist heute nur noch schwer genießbar.
I
Als der Sohn eines britischen Premierministers, der Earl Horace Walpole, sich 1764 daranmachte, den ersten echten Gruselroman der Weltliteratur zu schreiben, wurde er tatsächlich von Ängsten geplagt. Aber ihn plagte keine Gespensterfurcht. Walpole hatte den Eindruck, dass diese Sorte Literatur unter Freunden guten Bücher nicht nur Anerkennung auslösen würde. Also legte er sich ein Pseudonym zu. Und so behauptet er als Wilhelm Marshal, ein italienisches Manuskript von 1529 gefunden und übersetzt zu haben. Das wiederum bezieht sich auf eine dunkle Geschichte aus aus der mittelalterlichen Zeit der Gotik. Und dieses angebliche Gotik-Ambiente wird Geschichte schreiben! Es gab einer ganzen Gattung und Geisteshaltung ihren Namen. In dieser Erstauflage ist fällt das Schlagwort, das die Literaturwelt erschüttern sollte, noch nicht. Erst ein Jahr später, als Walpole das Buch aufgrund des enormen Erfolges dann doch unter eigenem Namen herausgibt, steht auf dem Titelblatt mit riesigen Lettern, größer als der Buchtitel selbst: „A GOTHIC STORY“.
„Gothic“ wird der gesamte düsteren Stil dann heißen – auch wenn er in der Gegenwart spielt. Geschichten und Romane, ja sogar Balladen und Dramen entstehen, in denen alte Burgen, sexuell erregte Psychopathen und zitternde, tugendhafte Girls unerlässlich sind.
Nicht, dass es nicht schon vorher Spannungsromane mit Psychopathen und und unschuldigen Mädchen gab. Doch die unheimliche Umgebung, das Einbrechen des Übersinnlichen in die Realität war neu. Um 1795 spaltet sich die schon erstaunlich angewachsene Flut von Gothic-Literatur in zwei große Nebenarme. Der eine entwickelt sich zum Genre des klassischen Gruselromans mit übersinnlichen Elementen, der andre zum Psychothriller, in dem die geistesgestörten Mädchenschänder wichtiger werden als das Setting und sich verstörende Rätsel am Ende als logisch erklärbare Phänomene entwirren. Aber darüber reden wir ein andermal, wenns um Ann Radcliffe oder Matthew Lewis geht.
A propos – worum geht’s eigentlich in der so sagenumwobenen „Burg von Otranto“?
Manfred, der Besitzer des Schlosses, will seinen Sohn verheiraten. Zu diesem Zweck entführt er eine junge Schöne aus der Gegend. Kurz vor der Hochzeit wird aber dieser Sohn im Schloßhof von einem gigantischen Riesenhelm, eine Art monströser Ritterrüstungskopf, erschlagen. Manfred, bei dem vermutlich schon vorher eine Schraube locker war, beschließt nun, die entführte Schöne selbst zu heiraten. Das ist nicht so einfach, denn erstens will die davon nichts wissen und zweitens ist er verheiratet und seine Frau quicklebendig. Bei einer dramatischen Flucht durch die unterirdischen Gänge der Burg trifft Isabella (die verfolgte Unschuld) einen jungen und edlen Bauern, der sich mit den Falltüren und Schlupfwinkeln des sinistren Gebäudekomplexes gut auskennt. Er verliebt sich in Isabella und versucht, ihr bei der Flucht zu helfen. Doch die Flucht mißlingt. Manfred nimmt den Jüngling gefangen und beschließt seinen Tod. Ein herbeigerufener Mönch soll Isabella und Manfred verheiraten und dem Todeskandidaten die letzte Beichte abnehmen – dabei ergibt sich, das der feurige Junge der lange verloren geglaubte Sohn des Mönches ist! Mithilfe des Mönches gelingt ein weiterer Fluchtversuch.
Vielleicht auch deshalb, weil Manfred noch weitere Probleme bekommt, die ihn gehörig ablenken.
Es stellt sich nämlich heraus, dass er gar nicht der legitime Besitzer der Burg ist. Der alte Besitzer kommt nun in Gestalt eines gigantischen Riesengespenstes wieder und fordert Gerechtigkeit. Inzwischen ist auch noch ein geheimnisvoller maskierter Ritter angelangt, der Manfred ans Leder will...
Die etwas konfusen Handlungsstränge vermengen sich... Ersparen Sie mir weitere Details, fest steht, dass am Ende sich die Liebenden kriegen und der böse Manfred zur Hölle fährt und die Burg den Guten gehört.
II
Etwas hat mich schon damals im Germanistikstudium immer entsetzt – die Entpoetisierung von Texten durch (zu) reichliche Interpretation. Ich erinnere mich daran, wie begeistert ich zur Vorbereitung für ein Seminar Goethes Wahlverwandtschaften las – und dass zum Ende des Semesters der gesamte Zauber des schönen Buches verflogen war. Es blieb nur noch zum Überdruss durchgekautes Papier. Vielleicht begann hier mein Faible für die sogenannte Trivialliteratur und Entlegenes. Meine Liebe zur Weltliteratur ist geblieben, später haben sich sogar die Wahlverwandschaften erholt, doch die Tabu-Bücher der Literatur haben mich fortan immer mehr gereizt.
Ich stelle mir Bücher immer als Städte vor. Da sind die Goethe- und Shakespeare-Städte, in denen sich, wie in einem virtuellem Venedig, tausende Touristen drängen, alle Gruppen folgen irgendwelchen selbsterklärten Führern. Rare Bücher erscheinen mir dann wie tote Städte, die ich ganz für mich allein habe, und zuweilen lese ich auch wirklich seltene Kolportageromane aus dem 19. Jahrhundert, in denen ich nie den hallenden Schritt eines zweiten Reisenden höre. Was für ein Genuss! Hier kann man wieder Kräfte sammeln für die Ellenbogenkämpfe in den lauten überlaufenen Touristenbüchern.
Doch auch hier ist man natürlich vor neuen Entdeckern und ihrer Interpretationswut nicht (mehr) sicher. Und letztlich bin ich ja auch ein solcher Entdecker, der vielleicht für andere ebenso einen lästigen Einbruch in die Stille bedeutet...
Diese Folge beschäftigt sich zum erstenmal mit einem Roman, der trotz seines eindeutig trashigen Inhalts eine erstaunlich große Zahl namhafter Kommentatoren auf den Plan rief – von Walter Scott bis hin zu wirklich aufregenden modernen Schauerroman-Experten wie Norbert Kohl und Norbert Miller. Alle drei schätze ich sehr. Ihre Klugheit ist einschüchternd. Jeder, der sich aus Liebhaberei mit dieser Literatur beschäftigt, muss also einen Weg finden, die Straßen der Stadt genießend zu beschreiben, ohne sich von den Profis stören zu lassen, die hinter Absperrbändern mit kleinen Hämmern an den alten Häusern herumklopfen. Und genau das habe ich hier (in dieser Reihe) vor. Man kann, wie Egon Friedell, vielleicht mit etwas Glück, auch als Dilettant an den Experten vorbeischreiben und doch auf etwas stoßen, das neu und staunenswert ist. Aber das ist natürlich nicht das erklärte Ziel dieser Berichte. Wie der (Unter)Titel sagt, geht es um ein sehr subjektives Austesten, wieweit bestimmte Städte einen Besuch überhaupt noch lohnen. Sprich, welche Bücher für einen Durchschnittsleser noch brauchbar sind. Es handelt sich also um rein feuilletonistische Spaziergänge, keine Expertenanalysen. Tja, nachdem das geklärt ist, wenden wir uns mal wieder der vielbesuchten Ruinenstadt „Die Burg von Otranto“ zu.
III
Von dem legendären Roman sind mindestens vier deutsche Übersetzungen im Umlauf. Die letzte erschien erst kürzlich und stammt von Hans Wolf (2014). Die populärste ist die zeitgenössische von Friedrich Ludwig Meyer (1794). Ob neue Übersetzung oder alte – wirklich zu retten für heutige Gruselfreunde ist das Werk nicht. Das liegt zum einen an der überfrachteten Story. Zum andern sind hier doch viele moralische Aspekte so fern für uns, dass uns der Roman erst recht wie der wirre Fiebertraum eines dekadenten britischen Adligen erscheinen muß, etwa die Rolle der Hyppolyte, der Ehefrau Manfreds, die sich alles, aber auch alles gefallen läßt, und sogar dann noch sanft wie ein Schaf ist, als er beschießt, sie abzustoßen, um Isabella zu heiraten. Auch der hochpathetische, gedrängte Stil ist heute nur schwer erträglich. Ein typischer Leser von Gruselromanen wird das Buch schnell wieder aus der Hand legen. (Das gilt übrigens nicht für die Gattung der Gothic Novel an sich! Spätere Meisterwerke, wie die Romane der von mir sehr geliebten Ann Radcliffe, sind Schmöker, die noch heute gut funktionieren.) Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht vor allem, dass bei dem ganzen Gewirr von durchgeknallten Figuren doch der eigentliche Hauptakteur – die Burg selbst ist. Und das ist kein Wunder!
Walpole war ein Burgfreak und baute – er konnte sich das als reicher Adliger leisten – seit den 1740er Jahren sein eigenes Gruselschloß. Es trägt den eigentümlich frivolen Namen „Strawberry Hill“ und kann noch immer besichtigt werden. Walpole legte dort düstere und verwinkelte Gänge an – und ließ sich dann von seiner eigenen schrägen architektonischen Vision zum Roman inspirieren. Diese Passagen gehören auch zu den besten.
Der untere Teil der Burg war in verschiedene sehr durcheinander laufende Kreuzgänge ausgehöhlt; und es war nicht leicht, für jemanden der so geängstigt ward, die Türe zu finden, welche die Höhle aufschloß. Eine schauerliche Stille herrschte in diesen unterirdischen Gegenden. Zuweilen nur erschütterte ein Windstoß die Türen, durch die sie gekommen war, und das Scharren ihrer rostigen Angeln hallte durch das lange Labyrinth der Finsterniß wieder. Jedes Geräusch erfüllte sie mit neuen Schrecken; und doch fürchtete sie noch viel mehr Manfreds wütende Stimme zu vernehmen, wie er seine Bedienten antriebe, sie zu verfolgen. Sie trat so leise auf als ihre Ungeduld nur erlauben konnte, und doch stand sie oftmals still und horchte, ob man ihr auch folge? In einem dieser Augenblicke kam es ihr vor, sie höre einen Seufzer. Sie schauderte und trat einige Schritte zurück. Gleich darauf schien es ihr, sie vernehme einen Fußtritt. Ihr Blut erstarrte, sie schloß, es sei Manfred. Jede Vorstellung, die das Entsetzen eingeben kann, bestürmte ihre Seele.
Ein gehetztes Mädchen in den beklemmenden (teilweise unterirdischen) Gängen eines unheimlichen Schlosses – im Grunde variieren die vielen Gaslicht- und Irrlicht-Hefte dies Thema bis heute unablässig.
Übrigens blieb es bei diesem einen Gruselroman von 1764, Walpole setzte seine selbst initiierte Literaturgattung nicht fort, jedenfalls nicht in Romanform. Wohl aber in Dramenform; 1768 erchien sein Schauerstück „Die mysteriöse Mutter“. Aufsehen sollte er einige Jahre später noch einmal erregen mit einem Sachbuch aus einer ganz andren Sparte – einem Werk über Gartenkunst. Aber vielleicht ist das gar nicht so weit von seinem Roman entfernt? Vielleicht war ja Walpole viel moderner als wir glauben, und sein Gruselroman war lediglich eine Art Reklame für seine verschrobenen architektonischen Ideen?
Fest steht, dass sich auch noch ein andrer Charakterzug des Buchs tausendfältig weitervererbt hat – das virtuelle, völlig frei erfundene Mittelalter als Hintergrund für im Grunde moderne Unterhaltungsliteratur. Von Scott über La Motte Fouque, Noah Gordon bis hin zu Rebecca Gablé – es ist dieselbe Masche, die hier vielleicht nicht zum ersten Mal, aber doch zum ersten Mal massenwirksam ausprobiert wurde. Dass das Vorbild für die mittelalterliche Burg ein hypermoderner Neubau war, der nur so tut, als sei er alt, ist ein hübsches Symbol für diese Art von Literatur.
Ansonsten kann man sich der Meinung von Simone Stölzel, der Autorin eines sehr lesenswerten Buches über unheimliche Literatur ( „Nachtmeerfahrten“, Die Andere Bibliothek, 2012) nur anschließen:
„Die Handlung erscheint so armselig an atmosphärischen Beschreibungen, daß sich eine unheimliche Stimmung kaum einstellen will. Ohnehin wird hier sehr viel mehr geredet als gehandelt. Trotzdem hatte der Reigen der schaurigen Motive bei Walpole – wie ungeschickt sie sich präsentieren mögen – für die gelungeneren Romane des gotischen Genres eine wichtige Vorbildwirkung“.
Zum Schluß sei noch auf eine kleine Kuriosität im Comic-Genre hingewiesen.
1948 erschien in den USA die erste Ausgabe des allerersten echten Grusel-Comic-Magazins der Welt, Adventures into the Unknown“. Als Hommage an die Anfänge des Genres brachte man dort auch eine flotte, sehr kurzweilige Comic-Version des Walpole-Romans.
In dieser gerafften, leicht entschlackten Fassung ist der Roman schon wieder sehr genießbar!
Kein Wunder, denn der Autor der entrümpelten Story war niemand anderes als der im letzten Artikel gerühmte Lovecraft-Freund Frank Belknap Long!
Nächste Folge: Georgi Martynow - Das Erbe der Phaetonen (1957/59)
Kommentare
Aber auch wenn das Genre letztlich den Namen und viele Elemente von Walpole übernommen hat – wie alle Schauerromane - , ist der Frauengrusler, um ihn mal so zu nennen, wirklich so direkt mit Walpole zu verlinken?
Der Massenmarkt-Gothic hat zwar eine Flut von Romanen hervorgebracht, aber er ist auch so schnell in Vergessenheit geraten wie er populär wurde. Und verglichen mit den Leuten der Romantik und des Schauerromans, die eine ununterbrochene Linie vorweisen können, hat es ihn in dieser Form erst nach dem zweiten Weltkrieg gegeben. Wobei das Element der verfolgten Unschuld, die von Erbschleichern und geilen Onkeln verfolgt wird, sicherlich vorher ein fester Bestandteil der Spannungsliteratur wurde. Das findet man auch noch bei Conan Doyle. Die Verantwortung für die im wallenden Nachthemd mit der Kerze in der Hand fliehenden Jungfrau tragen aber doch sicherlich eher DuMaurier und Patrick Hamilton, denn die haben das Element des Liebesromans dazugepackt.
Was mich an Walpole immer interessiert hat, sind weniger die – heute – lahme Geschichte als vielmehr das Umfeld. Eine Schicht, die sich vermutlich auf der Höhe ihrer Zeit glaubte, bevor ihre Welt kurz darauf erschüttert wurde, die sich an Skandalen ergötzte und für die der Okkultismus plötzlich interessant wurde wie zb bei Dashwoods Hellfire Club. (Auch wenn es nur ein Vorwand war, die Mägde vögeln zu können.) Und natürlich ist Manfred ein italienischer Graf, denn für Engländer kam alles Böse aus dem päpstlichen Italien. Wie unauslöschbar das in der englischen Unterhaltung verwurzelt war, lässt sich sehr schön noch hundert Jahre später in Marryats Jugendbuch nachlesen.
Die von dir erwähnten Elemente Architektur und dieses Pseudo-Mittelalter sind so typisch englisch. Walpole hat in vielerlei Hinsicht so viel angestoßen und vorweggenommen.
Und ja. Das stand da. Asche auf mein Haupt. Der "Hugh" hat das Platzhalterstafium für diesen Text überlebt. Ich habe in der tat vergessen, es zu korrigieren ... Jetzt ist geschehen. Danke für den Augenöffner.
hier von mir noch die dt. Meyer-Überestzung aus dem 18. Jh. :
www.zeno.org/Literatur/M/Walpole,+Horace/Erz%C3%A4hlung/Die+Burg+von+Otranto?hl=walpole
Wo der Mann recht hat ...
Man darf ja auch nicht vergessen, dass es für jeden dieser speziellen Klassiker garantiert diverse zu Recht in Vergessenheit geratene Romane gibt. Leute wie Le Fanu oder Wilkie Collins sind ja eher die Ausnahme als die Regel. Und sie hatten den Vorteil, sich in einem völlig anderen Literaturbetrieb zu bewegen, als wir ihn heute kennen.
Das zitat stammt von Louis Reybaud. Hat mich eh ein bißchen gewundert, dass es 1742 schon Fortsetzungromane gegeben haben soll, die sich doch eigentlich erst mit Eugene Sue in den 1830ern etabliert haben. glücklicherweise stehts ja nur im kommentar, nicht im Text. Danke für den hinweis.