Kurt Luifs Werkausgabe - 6. Teil - Der rote Affe - Jeff Baker I
Jeff Baker 1
Er haust im tropischen Urwald Brasiliens - ein Riesenaffe von unvorstellbarer Körperkraft. Er verwüstet die Dörfer, zerstampft die Hütten der Eingeborenen und raubt Indianermädchen. Ein Forscherteam macht Jagd auf das Ungeheuer. Aber tief im Dschungel lauern noch ganz andere Gefahren. Denn unheimlicher als der Riesenaffe ist der Mann in dem einsamen Haus, dem die mordende Bestie aufs Wort gehorcht.
Zuerst war das Krachen von zersplitternden Ästen und umstürzenden Bäumen zu hören. Das wütende Kreischen von aufgeschreckten Papageien vermischte sich mit dem Todesschrei eines Tapirs. Eine Horde Krallenäffchen ergriff laut schimpfend die Flucht.
Der nächtliche Tropenurwald war in Aufruhr geraten.
Nahe des träge dahinfließenden Flusses lag ein Brandrodungsfeld, auf dem einige armselige Laubhütten standen. Hier hauste ein Dutzend Indianerfamilien, die zum Stamm der Aruaks gehörten. In mühevoller Arbeit hatten sie dem Urwald ein Stück Land abgerungen, die Häuser errichtet und Maniok angebaut.
Die ersten Indianer wurden wach, als einige Spießhirsche, zusammen mit ein paar Pekari-Wildschweinen, zwischen den Hütten hindurch liefen. Einige Indianer traten verschlafen ins Freie.
Der Himmel war bedeckt. Er wirkte wie ein feiner Nebelschleier, der das Mondlicht absorbierte. Der freie Platz vor den Hütten war in diffuses Licht getaucht.
Immer mehr Tiere rannten entsetzt aus dem Urwald, stürzten an den Indianern vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken.
Das Krachen der brechenden Äste wurde lauter, kam näher.
Dann hörten sie das erstemal den unheimlichen Schrei. Ängstlich drängten sie sich zusammen. Einige Kleinkinder begannen zu weinen.
Es war, als würde ein riesiger Bulldozer durch den Urwald rasen und dabei Bäume entwurzeln. Einer der Urwaldriesen fiel um, krachte auf eine Hütte und erschlug einen Indianer.
Wieder war der Schrei zu hören. Es klang eher wie ein überlautes Bellen, ein Schrei, wie ihn die Indianer noch nie gehört hatten. Sie konnten sich nicht erklären, was die Unruhe unter den Tieren hervorrief, wer diese unheimlichen Schreie von sich gab.
Sie schnatterten aufgeregt miteinander und rannten aufgeschreckt hin und her.
Ein junges Mädchen sah als erste die unheimliche Gestalt, die aus dem Urwald trat und stehenblieb. Das Mädchen stieß einen lauten Schrei aus und zeigte auf das rote Geschöpf.
Bevor sich die Indianer von der Überraschung erholt hatten, setzte sich das rote Wesen in Bewegung. Mit drei Sprüngen hatte es die Hütten erreicht und stand mitten unter den Indianern.
Es war mindestens sechs Meter groß, der Körper war mit langhaarigem Pelz bedeckt, die Beine waren kurz und gedrungen, und die Arme mit den unförmigen Fäusten baumelten zu Boden. Das Wesen war ein riesiger Affe.
Das Ungeheuer zertrat einige Hütten und stieß ein lautes Bellen aus. Jetzt kam Bewegung in die Indianer, laut schreiend stoben sie in alle Richtungen davon. Der Affe brüllte noch einmal, zertrümmerte die restlichen Hütten, packte einen Indianer und zerdrückte ihn zwischen den riesigen Fingern. Achtlos ließ er ihn fallen
Plötzlich warf das Wesen sich flach zu Boden, streckte die Arme aus und bildete mit ihnen ein Gefängnis. Es knurrte, und sein fauliger Atem strich über die Indianer, die es gefangengenommen hatte. Seine wagenradgroßen Augen leuchteten dunkelgrün. Es drückte die Arme zusammen, und die Indianer brüllten entsetzt auf. Die grünen Augen starrten die Gefangenen an, dann drückte das Tier stärker zu. Mit dem rechten Arm hielt es sieben Menschen, vier Männer und drei Frauen, zu Boden. Mit der linken holte es sie einzeln hervor, hob sie hoch und musterte sie. Die Männer ließ es fallen, eine der Frauen ebenfalls. Die beiden verbliebenen Mädchen, die vor Angst ohnmächtig geworden waren, hielt es vor sich, stieß ein zufriedenes Brummen aus und legte die Mädchen auf seine rechte Handfläche. Dann schloß das Tier die Hand zur Faust, so daß nur mehr die Köpfe hervor sahen.
Der Affe richtete sich auf. Er brüllte nochmals und schlug mit der linken Faust gegen seine gewaltige Brust.
Die Indianer hatten sich in Sicherheit gebracht, das Brandrodungsfeld war leer.
Der Affe drehte sich um, und mit drei Sprüngen war er im Urwald verschwunden.
* * *
Jeff Baker warf dein Mädchen neben sich einen Blick zu und fühlte sich wie ein Junge vor Weihnachten, so voll Erwartung und Vorfreude war er. Judith Collins hatte honigfarbenes Haar, lange Beine und einen Körper, der einer näheren Erforschung wert war.
Jeff pfiff vergnügt vor sich hin, reihte sich in den starken Abendverkehr ein und fuhr in die Richtung von Manhattan.
Der Tag war ganz nach seinem Geschmack verlaufen. Zuerst hatte er auf dem Galopprennplatz zusammen mit Joe Henderson im Restaurant von Aqueduct ein vorzügliches Mittagessen eingenommen, dabei Judith Collins kennengelernt und von Henderson einen heißen Tip für das fünfte Rennen bekommen. Joe Henderson war der Pferdesportreporter der Sunday Post, bei der Jeff Baker als Reporter arbeitete. Und Hendersons Tips waren immer gut. Er setzte auf einen blutigen Außenseiter hundert Dollar und bekam für diese Investition eintausendachthundertdreiunddreißig Dollar retour.
Und das Zusammensein mit Judith hatte sich ganz nach seinem Geschmack entwickelt. Sie war wie Butter in der Sonne dahin geschmolzen, wobei sich Jeff nicht fragte, ob dies auf seine Erscheinung oder auf die gewonnene Wette zurückzuführen war.
Jeff Baker war vor einem Monat dreißig geworden, war fast einsneunzig groß und breit wie ein Kleiderschrank. Sein Haar war schwarz und ziemlich lang. Er war braungebrannt, doch sein Gesicht konnte man nicht als hübsch bezeichnen. Dazu war der Mund zu groß, die Nase zu klein und die grauen Augen zu weit auseinanderstehend. Doch der Eindruck änderte sich gewaltig, sobald er lächelte. Dann kam Leben in sein Gesicht. Er wußte um die Wir-kung seines Lächelns, und er nützte es unverschämt aus.
„Wohin fahren wir, Jeff?“ erkundigte sich Judith und sah ihn an.
Jeff wandte ihr den Kopf zu und lächelte.
„Zuerst fahren wir mal zu mir“, sagte er. „Und später dann feiern wir den Gewinn. Und dabei werden wir Manhattan auf den Kopf stellen.“
„Und was machen wir bei dir?“ fragte Judith weiter.
Jeffs Lächeln vertiefte sich.
„Das überlasse ich deinem Einfühlungsvermögen.“
Jeff überquerte die Queensboro Bridge und bog in den Franklin D. Roosevelt Drive ein. Die Straßen waren völlig verstopft, und sie kamen nur im Schrittempo vorwärts.
Judith konnte sich denken, warum sie zu Jeff fuhren, aber sie hatte nichts dagegen. Jeff Baker war ein Mann, der ihren Blutdruck gewaltig hochtrieb.
Jeff war es endlich gelungen, in die 62. Straße einzubiegen. Drei Häuserblocks kamen sie leidlich rasch vorwärts, dann blieben sie wieder stecken.
Er hatte vor vier Jahren, als er von Baltimore nach New York übersiedelt war, eine Wohnung in einem uralten Backsteinhaus in der 64. Straße gemietet und einen Haufen Geld in die Ausstattung seiner Behausung investiert.
Jeff hatte Glück und bekam einen Parkplatz ganz in der Nähe seines Hauses. Sie stiegen aus und schlenderten die Straße entlang. Jeff nahm Judiths rechten Arm, und sie drückte beim Gehen ihre angenehm gerundeten Hüften gegen ihn.
Das Backsteinhaus war dreistöckig, und Jeff hatte den obersten Stock ganz für sich. Die Wohnung war eigentlich viel zu groß für ihn, da er unverheiratet war und nicht daran dachte zu heiraten.
Nach der Hitze auf der Straße war es im Vorhaus wie in einem Eishaus. Das Haus war so alt, daß es keinen Aufzug hatte.
Sie stiegen die Stufen hoch. Jeff sperrte die Tür auf, und sie traten in die Diele. Judith blieb überrascht stehen. Das Vorzimmer wirkte wie ein Tanzlokal, überall waren Scheinwerfer und Lichtzerhacker angebracht, ein Kaleidoskop von Farben und Geräuschen, die aus verborgenen Lautsprechern drangen.
Jeff ging vor, und die Farben wurden immer schwächer, dafür wurde die Musik lauter. Eine Tür schwang automatisch auf, und sie traten in ein riesiges Zimmer. Die drei Fenster waren geschlossen. Jeff drückte auf einen Schalter, und die Jalousien rasselten herunter, wie von Geisterhand bewegt, wurden die Vorhänge zusammengezogen, Lichter flammten auf und überschütteten eine Wand mit einem blutroten Schein. Das Zimmer war groß. Ein sandfarbener Spannteppich bedeckte den Boden. In der Mitte des Raumes stand eine gewaltige Ledergarnitur.
„Setz dich, Judith“, sagte Jeff grinsend. Er wußte um die Wirkungen seiner technischen Spielereien. Gehorsam setzte sich Judith nieder, verwundert sah sie, daß aus dem Boden ein Tisch auftauchte. „Was willst du trinken?“
„Einen Martini, bitte.“
Jeff nickte, trat an die Bar und mixte zwei Martinis. Er stellte sie auf ein Tablett, setzte sich neben Judith und reichte ihr einen Drink.
Nach einigen Sekunden wechselte das Licht die Farbe, der Raum war jetzt blau angestrahlt.
Das Mädchen trank einen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch.
Jeff rückte näher und nahm die Kleine in seine Arme. Sie hatte nichts dagegen, ganz im Gegenteil, sie kam willig näher, und er küßte sie zärtlich auf die Lippen.
Jeff fühlte sich wohl. Er hatte im Augenblick keinen Auftrag, ein hübsches Mädchen im Arm und vor sich einen Martini stehen.
Und Judith war so willig, wie er es sich vorgestellt hatte. Und seine Vermutung war richtig gewesen. Ihr Körper war einer Untersuchung wert, einer langen sogar, wie er nach wenigen Minuten feststellte.
Das Klingeln des Telefons riß ihn aus seiner angenehmen Tätigkeit, und er riß seinen Blick von Judiths hübschem Busen los. Er angelte sich den Hörer.
„Ich will nicht gestört werden“, sagte er und legte auf.
Grinsend widmete er sich wieder Judith.
Doch das Telefon läutete abermals.
„Ich sagte“, begann Jeff, „daß ich nicht...“
„Hör mir mal gut zu, Jeff“, fauchte ihn eine Mädchenstimme an. „Wenn du nochmals auflegst, dann schnappe ich mir ein Taxi, fahre zu dir und kratze dir die Augen aus.“
„Das kann nur die reizende Nelly sein“, sagte Jeff sarkastisch. „Wo brennt's?“
„Wo hast du den ganzen Nachmittag gesteckt?“
„In Aqueduct“, sagte er. „Ich sah mir die Rennen an.“
„Du hättest wenigstens Bescheid hinterlassen können, wo du bist“, sagte Nelly vorwurfsvoll. „Seit Stunden versuche ich dich zu erreichen. Der Boß will dich sprechen.“
„Ich habe meinen freien Tag“, sagte Jeff. „Sag Dave, daß ich ihn morgen anrufen werde.“
„Nichts da“, sagte Nelly, „das sagst du ihm schön selber. Ich verbinde dich.“
Jeff seufzte und sah Judith traurig an, mit der rechten Hand deckte er die Muschel ab.
„Meine Zeitung“, sagte er erklärend.
„Hallo, Jeff“, hörte er Dave Bonniers Stimme.
„Hallo, Dave“, sagte Jeff. „Hör mal, ich habe ein reizendes Mädchen bei mir. Kann ich dich nicht...“
„Tut mir leid, Jeff, daß ich dich stören muß, aber es ist dringend. Sei in einer Stunde in der Redaktion.“
„Worum geht es?“ erkundigte sich Jeff.
„Um einen Affen“, sagte Bonnier.
„Dich laust wohl der Affe“, knurrte Jeff wütend. „Was soll der Unsinn?“
„Es geht tatsächlich um einen Affen“, sagte der Chefredakteur. „Er ist rot, sechs Meter hoch, vielleicht auch acht oder zehn. Da gehen die Ansichten auseinander.“
„Wir haben heute nicht den ersten April“, sagte Jeff. „Und wo soll dieses nette Haustier sein?“
„In Südamerika. Und ich will, daß du hinfährst und der Sache nachgehst.“
„Ist das wirklich kein Scherz, Dave?“
„Nein, das ist mein vollster Ernst“, sagte Bonnier geduldig. „In einer Stunde bist du hier, o.k.?“
Jeff knurrte wütend und schleuderte den Hörer in die Gabel. Er stand auf und mixte sich noch einen Martini.
Nach fünf Minuten hatte sich sein Unwillen gelegt. Daran war Judith nicht unmaßgeblich beteiligt. Ihre fordernden Lippen, die hohen, festen Brüste und ihre aufreizenden Bewegungen ließen ihn den Ärger rasch vergessen.
* * *
Dave Bonnier sah nicht so aus, wie man sich den Chefredakteur einer Sonntagszeitung vorstellte, die durch eine Blood & Sex-Gestaltung einen zweifelhaften Ruf gewonnen hatte, aber auf der anderen Seite die Auflage innerhalb von zwei Jahren verdoppeln konnte. Bonnier war ein unauffälliger Mann, sechsunddreißig, seit sechzehn Jahren verheiratet. Er hatte acht Kinder, die wie Orgelpfeifen aussahen, wenn sie nebeneinander standen. Er war klein, die dunkelbraunen Augen lagen tief in den Höhlen, und die schwere Brille saß meist auf seiner Nasenspitze, was ihm einen dümmlichen Eindruck verlieh, der aber in keiner Weise zutraf.
Dave Bonnier kannte er seit mehr als zehn Jahren. Sie waren gemeinsam bei einer Baltimorer Zeitung gewesen, und als Bonnier den Posten als Chefredakteur der Sunday Post angenommen hatte, engagierte er sofort Jeff Baker.
Jeff beäugte Dave wie ein seltsames Tier.
„Was ist mit diesem Affen, Dave?“ Der Chefredakteur lehnte sich zurück und grinste.
„In ein paar Minuten kommen Susan Wood und Carl Ellison, beide werden dich begleiten. Wood ist Völkerkundlerin und Ellison Zoologe.“
„Und wo soll die Reise hingehen?“
„Brasilien“, sagte Bonnier. „Genauer gesagt in die Provinz Amapa.“
„Nie davon etwas gehört“, sagte Jeff.
„Das kann ich mir denken“, meinte Bonnier. „Sieh es dir auf der Karte an.“
Jeff breitete die Karte auf seinen Knien aus. Amapa lag direkt neben Französisch-Guayana.
„Verdammt noch mal“, maulte Jeff. „Warum muß ich immer in Gegenden fahren, von denen kein Mensch je etwas gehört hat? Dort gibt es sicherlich nichts außer einigen Ansiedlungen, die aus Strohhütten bestehen, keine Frauen, keinen Alkohol. Mir reichts. Ich kündige.“ Brummend faltete er die Karte zusammen. Dave nahm die Drohung mit der Kündigung nicht mehr ernst. Das sagte Jeff jedesmal, wenn er einen Auftrag bekam, der ihn in wenig zivilisierte Gegenden führte. „Und was ist jetzt mit diesem blödsinnigen Affen? Soweit ich unterrichtet bin, gibt es in Südamerika keine Affen, die sechs bis zehn Meter groß werden. Da hat dir jemand einen Bären aufgebunden, Dave.“
Der Chefredakteur schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Die ersten Meldungen bekamen wir vor mehr als drei Monaten. Da wurde vom Auftauchen eines Riesenaffen berichtet. Das nahm keiner ernst. Aber es kamen immer mehr Meldungen über den Affen herein. Ich beauftragte einen brasilianischen Reporter, sich einmal umzusehen. Und heute rief er mich an. An den Gerüchten ist etwas Wahres. Er sah ein Indianerdorf, das der Affe verwüstet hatte. Alle Häuser waren zerstört, und er fand Fußspuren, die die Angaben der Indianer bestätigen. Er machte einige Fotos, die er mir schicken wird.“
„Und du glaubst diesen Blödsinn?“ Dave zuckte mit den Schultern.
„Bis jetzt hat mich mein Gefühl noch nie im Stich gelassen, und dahinter steckt eine Story.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Ich glaube nicht daran.“
„Der Affe überfiel bis jetzt mindestens fünf Indianerdörfer, die er alle völlig zerstörte, dabei tötete er einige Indianer und raubte immer einige Mädchen.“
Jeff schnaufte verächtlich.
„Du willst mir doch nicht erzählen, daß dieser Affe nur Mädchen raubt?“
„Es sieht so aus“, sagte Dave Bonnier.
„Mr. Bonnier“, meldete sich Nelly über das Sprechgerät. „Miß Susan Wood und Mr. Carl Ellison sind hier.“
„Schicken Sie sie herein, Miß Norton“, sagte Dave. Er stand auf und Jeff seinem Beispiel.
Nelly öffnete die Tür, und Wood und Ellison traten ein.
Susan Wood war ein zierliches Mädchen. Sie konnte nicht viel älter als fünfundzwanzig sein. Ihr kupfernes Haar war kurzgeschnitten, das Gesicht ein hübsches Oval, mit kirschroten vollen Lippen, großen grünen Augen und einer Stupsnase. Sie trug ein buntes Männerhemd, eng anliegende Jeans und Sandalen. Die Brüste, die sich unter dem Hemd abzeichneten, waren klein und fest, die Hüften schlank wie die eines Knaben.
Carl Ellison war um einen halben Kopf kleiner als Jeff. Sein leicht gewelltes Haar war dunkelbraun und stellte sich im Nacken auf. Aus dem wirren Vollbart starrten zwei hellblaue Augen Jeff forschend an. Ellisons Alter war schwer zu schätzen, doch Jeff nahm an, daß er ungefähr fünfunddreißig sein mußte.
Sie setzten sich um Bonniers Schreibtisch, nachdem die Vorstellung erledigt war.
„Ich habe Sie ja schon informiert“, wandte sich Bonnier an Wood und Ellison. Die beiden nickten.
„Mr. Bonnier“, sagte Ellison und beugte sich vor. Seine Stimme klang sanft und einschmeichelnd. „Ich habe ja schon einige Aufträge für Sie übernommen, aber diesmal muß ich Ihnen abraten. Ein Affe, der mindestens sechs Meter groß ist, ist eine Unmöglichkeit. In Südamerika gibt es überhaupt keine Menschenaffen.“
„Das mir alles bekannt“, sagte Bonnier lächelnd. „Deshalb möchte ich ja wissen, was hinter diesem Affen steckt. Vielleicht ist es gar kein Affe?“
„Was soll es denn dann sein?“ fragte Jeff spöttisch. „Der Mann vom Mond vielleicht?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Bonnier. „Das sollen Sie ja herausbekommen.“
„Naja“, sagte Ellison und rieb sich die Nase. „Es ist Ihr Geld, Mr. Bonnier. Ich habe nichts dagegen, auf Ihre Kosten nach Brasilien zu fahren, und Susan auch nicht. Aber ich habe Sie gewarnt. Ich glaube noch immer nicht an die Berichte, die Sie bekommen haben. Die einzigen Zeugen sind einfache Indianer. Außerdem tauchte dieser riesige Affe bis jetzt nur nachts auf. Diese Eingeborenen können alles mögliche gesehen haben, und bei Tag wurde dann ein Riesenaffe daraus.“
„Möglicherweise haben Sie recht, Mr. Ellison“, gab Bonnier zu. „Aber trotzdem möchte ich, daß dieser Sache nachgegangen wird.“
Jeff seufzte. Er wußte, daß es völlig aussichtslos war. Bonnier von seiner Meinung abzubringen. Und bis jetzt hatte der Chefredakteur immer eine gute Nase gehabt.
„Und wann sollen wir starten, Dave?“ sagte Jeff.
„Morgen“, sagte der Chefredakteur.
„Waren Sie schon einmal in Brasilien, Mr. Baker?“ fragte Ellison.
„Ja“, sagte Jeff mürrisch. „Aber nur in Rio de Janeiro und Sao Paulo.“
„Lassen Sie sich nicht von Baker wirr machen, Mr. Ellison“, sagte Bonnier schmunzelnd. „Er weiß, worauf es ankommt. Er war schon öfter im Urwald.“
„Zu oft für meinen Geschmack“, stellte Jeff unwillig fest.
* * *
Sie befanden sich nun seit drei Tagen in Brasilien. In Aporema hatten sie ein Motorboot gemietet, ein altes Ding, das aber noch ganz gut in Schuß war. Sie hatten ihre Ausrüstung verstaut und waren losgefahren.
Zuerst hatte Jeff Baker einen Hubschrauber mieten wollen, doch Ellison und Wood hatten ihm davon abgeraten. Da es kaum Straßen gab, die in den Urwald führten, waren Boote das beste Fortbewegungsmittel. Es gab unzählige Flüsse, von denen die meisten bis zum Quellgebiet schiffbar waren.
Zuerst waren sie den Rio Araguari hinaufgefahren und hatten sich eines der zerstörten Indianerdörfer angesehen. Jeff war wenig begeistert gewesen, daß Susan Wood mitfuhr. So sehr er Frauen mochte, hatte er etwas gegen sie, wenn es um eine Fahrt in unzivilisierte Gegenden ging. Sie entwickelten sich dann meist als Hemmschuh. Außerdem störte ihn, daß Ellison und Wood mehr als bloße Freunde waren. Sie lebten seit einem halben Jahr zusammen und wollten demnächst heiraten.
Anfangs waren die drei ganz gut miteinander ausgekommen, doch das Verhältnis verschlechterte sich zunehmend. Jeff ging das ewige Gerede der beiden auf die Nerven. Sie konnten einfach nicht den Mund halten. Vor allem störte ihn der schulmeisterliche Ton, in dem die beiden zu ihm sprachen.
Das Motorboot tuckerte langsam den Fluß hinauf, der stellenweise mehr als hundert Meter breit war. Links und rechts erstreckte sich der immergrüne Urwald, einige Bäume standen im Wasser, und unzählige Äste ragten wie vielfingrige Hände über die Wasserfläche. Jeff versuchte dem Geschwätz von Carl und Susan nicht zu lauschen, doch immer wieder schnappte er Wortfetzen auf.
Bis jetzt war ihre Expedition nicht sehr erfolgreich gewesen. Sie hatten sich mit einigen Eingeborenen unterhalten, doch keine Hinweise auf den roten Affen bekommen.
Aber an den Gerüchten mußte etwas Wahres sein. Jeff hatte sich das zerstörte Dorf genau angesehen und auch einige Fußspuren des Riesenaffen fotografiert. Eine Zeitlang hatten sie auch die Spuren des seltsamen Wesens durch den Urwald verfolgen können. Das Untier hatte eine Schneise in den Urwald gebrochen. Es mußte über gewaltige Kräfte verfügen, da es ganze Bäume entwurzelt hatte. Doch nach etwa einem Kilometer hörten dann die Spuren auf. Soweit es Jeff bis jetzt beurteilen konnte, war der Affe in einem Umkreis von ungefähr zweihundert Kilometer gesehen worden. Von Rafael Domingo, dem Reporter, den Dave Bonnier mit den Nachforschungen beauftragt hatte, hatte er eine Karte bekommen, auf der eingezeichnet war, wo das Monster aufgetaucht war.
Sie hatten die Absicht, das Boot irgendwo nach der Gabelung des Flusses zu verstauen und das Gebiet zwischen den beiden Flußarmen zu durchsuchen.
Es war Mittag und unerträglich schwül. Über dem lehmbraunen Wasser tanzten Insektenschwärme, die oft so dicht beisammen flogen, daß sie wie kleine, dunkle Wolken aussahen.
Jeff war im Lauf der vergangenen Jahre gegen fast alle Krankheiten geimpft worden. Sie hatten Gesichter, Körper und Arme mit Insektenschutzmittel eingerieben, die aber nur geringen Schutz boten. Immer wieder spürte Jeff einen Stich, schlug mit der flachen Hand zu und tötete den Quälgeist.
Carl Ellison rutschte neben Jeff und sah ihn an.
„Sollten wir nicht eine Pause einlegen, Jeff?“
„Später“, sagte Jeff. „Wir müssen bald die Gabelung des Flusses erreicht haben.“
„Wollen Sie noch heute mit der Untersuchung des Urwalds beginnen, Jeff?“
„Das haben wir doch schon gestern besprochen, Carl“, sagte Jeff unwillig. „Ich will keine Zeit verlieren. Je rascher wir diesen Affen gefunden haben, umso besser.“
Jeff wußte, daß es Carl und Susan nicht besonders eilig hatten. Für beide war das Gebiet, in dem sie sich befanden, recht interessant. Doch er machte sich überhaupt nichts aus dem Urwald. Sein wissenschaftliches Interesse hielt sich in mäßigen Grenzen.
„Sie sind ein Banause, Jeff“, sagte Carl und zupfte an seinem Bart. „Beeindruckt Sie der Urwald nicht? Das ist doch etwas ganz anderes als Großstädte, hier gibt es keine Luftverschmutzung, hier liegt unberührte Natur vor Ihnen.“
„Hören Sie mir mal zu, Carl“, sagte Jeff gereizt. „Als ich das erstemal einen Urwald gesehen habe, das war in Afrika, da war ich beeindruckt. Aber als mich dann die ersten hundert Moskitos gestochen hatten, sank meine Begeisterung. Und als mich dann eine Schlange in die rechte Hand biß und mein Arm mehr als einen Monat lang gelähmt blieb, hatte ich vom Urwald genug. Ich bin kein Wissenschaftler, ich bin Reporter, in einer Großstadt großgeworden, liebe die Annehmlichkeiten der Zivilisation und sehne mich nach einem Bad und einem guten Essen. Nennen Sie mich ruhig einen Banausen, aber verschonen Sie mich mit Ihren Schwärmereien und vor allem mit Ihren Belehrungen, 0.k.?“
Carl lachte spöttisch.
„Sie mögen mich nicht sehr, was?“
Jeff gab keine Antwort.
„Keine Antwort ist auch eine Antwort“, sagte Carl. „Und Susan können Sie auch nicht besonders leiden, wahrscheinlich weil sie Ihnen nicht um den Hals gefallen ist, stimmts?“
Jeff beschleunigte stärker, und das Boot bäumte sich auf.
„Sagen Sie was, Jeff.“ Carl ließ nicht locker.
Jeff steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief den Rauch und blies ihn aus den Nasenflügeln. Er konzentrierte sich ganz auf das Steuern des Bootes.
„Was wollen Sie eigentlich von mir, Carl?“ fragte Jeff, ohne den Zoologen anzusehen. „Suchen Sie Streit?“
„Ich habe genügend von Ihnen gehört“, sagte Carl. „Sie haben keinen besonders guten Ruf, Jeff. Als Reporter sind Sie skrupellos, und als Mensch hemmungslos. Sie saufen und sind wie der Teufel hinter Frauen her. Ich rate Ihnen, lassen Sie die Finger von Susan.“
Jeff schüttelte den Kopf.
„Bei Ihnen ist nicht nur eine Schraube locker, Carl, bei Ihnen wackelt das ganze Hirn. Sie haben sich schlecht über mich informiert, andernfalls müßten Sie wissen, daß ich mich noch nie um verheiratete, verlobte oder mit einem ständigen Freund gesegnete Frauen bemüht habe. Die sind für mich tabu. Und ich kann Sie beruhigen, ich lasse Ihre Freundin in Ruhe, zufrieden?“
Carl drehte sich um und rutschte neben Susan.
Jeff starrte über den Fluß und wunderte sich. Es rannten schon ein Haufen Verrückter auf der Erde herum, dachte er. Und Carl Ellison gehörte dazu. Das kann ja heiter werden, sinnierte er weiter. Unsere Suche nach dem roten Affen hat kaum begonnen, und Ellison spielt schon verrückt.
Der Fluß wurde immer breiter, er war jetzt fast zweihundert Meter breit. Jeff fuhr in der Mitte und drehte noch stärker auf. Er richtete sich auf und genoß den kühlen Fahrtwind.
„Fahren Sie nicht so rasch“, brüllte ihm Carl zu, doch Jeff hörte nicht auf ihn.
Weit vor sich sah er die Teilung des Flusses. Sie hatten beschlossen, sich zuerst den linken Arm vorzunehmen. Seit Stunden hatten sie keinen Menschen mehr gesehen. Hier gab es auch keine Ansiedlung mehr, höchstens ein paar Indianerstämme, die noch kaum mit Weißen in Berührung gekommen waren. Morgens hatten sie noch einige Indianer in Rindenkanus gesehen und ein Motorboot mit einem finster blickenden Mestizen, der ihnen aber keine Beachtung geschenkt hatte.
Wenn ihnen hier etwas geschah, dann waren sie mit ziemlicher Sicherheit verloren. Hilfe hatten sie keine zu erwarten.
Sekundenlang genoß Jeff die wilde Fahrt. Er bog in den linken Arm des Flusses ein, und das Boot schoß blitzschnell weiter. Er erwachte aus der Erstarrung, als ihn Carl an der Schulter packte.
„Fahren Sie langsamer, Jeff“, brüllte er.
Jeff wich einem heranschwimmenden Baumstamm aus und drosselte das Tempo. Er fuhr näher ans Ufer und beobachtete die überhängenden Äste ganz genau. Es konnte möglich sein, daß sich dazwischen eine Schlange befand, die sich ins Boot fallen lassen konnte, und das wollte er vermeiden.
Nach wenigen Minuten hatte Jeff eine geeignete Stelle zum Anlegen gefunden. Sie befestigten das Boot am Ufer, stiegen aber nicht aus.
Jeff warf dem Urwald einen bösen Blick zu. Einige farbenprächtige Schmetterlinge flatterten durch die schwüle Luft, die mit unzähligen Gerüchen erfüllt war. Und dazu kamen die unzähligen Geräusche, das Kreischen der Vögel und Schreien der Affen.
Susan wärmte auf einem Kocher einige Konservendosen. Jeff zog das Netz aus dem Wasser, in das er einige Bierdosen getan hatte, damit sie kühl blieben. Sie aßen die Konserven, und Jeff trank zwei Dosen Bier dazu.
„Und was jetzt?“ fragte Carl, als sie mit dem Essen fertig waren.
„Wir brechen auf“, sagte Jeff.
„Eine Zigarette noch“, sagte Susan, und Jeff nickte. Sie saßen schweigend im Boot und rauchten. Jeff konnte sich an keine Expedition erinnern, bei der eine ähnlich schlechte Stimmung geherrscht hatte. Er ärgerte sich wieder, daß er nachgegeben und Susan Wood mitgenommen hatte. Nie mehr würde er in Zukunft bei einem Auftrag eine Frau mitnehmen, das schwor er sich. Er warf den Zigarettenstummel in den Fluß, stand auf und packte den Rucksack, der eine Decke, ein Stück des Dreimannzeltes, einige Lebensmittel, Verbandszeug und Tabletten enthielt. Er trug einen breiten Gürtel, an dem eine Feldflasche baumelte und ein Colt. Er schob sich das Schnellfeuergewehr über die Schulter, griff nach der Machete und sprang aus dem Boot. Susan und Carl folgten ihm. Sie trugen feste Leinenhosen, Blusen und hohe Lederstiefel. Jeff und Carl hatten noch je einen Fotoapparat bei sich.
„Haben Sie die Absicht, die Nacht im Urwald zu verbringen, Jeff?“ erkundigte sich Susan.
„Nein, die habe ich nicht“, sagte Jeff. „Ich möchte zum Boot zurückkommen.“
Er ging vor, Susan folgte ihm, und Carl bildete den Abschluß.
Nach wenigen Schritten empfing sie das trübe Zwielicht. Die hohen Baumwipfel bildeten ein dichtes, grünes Gewebe, das die Sonnenstrahlen filterte und den Pflanzenwuchs am Boden unterdrückte. Hier herrschte immer ein düsteres Licht, und der Boden war oft bis zu zwanzig Zentimeter hoch mit Blättern bedeckt.
Einige der Baumstämme waren mehr als sechzig Meter hoch, die Blätter waren zäh und dunkelgrün, und überall hingen zwischen den Baumstämmen die Ranken der Lianen herunter. Immer tropfte es von den Bäumen, die Luft war mit Feuchtigkeit geschwängert, die einem den Atem raubte. Innerhalb von wenigen Sekunden waren die Kleider völlig verschwitzt.
Sie kamen rasch weiter, nur gelegentlich mußte Jeff einige Lianen und andere Kletterpflanzen abschlagen.
Der Urwald war voller Leben. Vor allem auffällig waren die unzähligen Falter und Kolibris. Und wo man hinsah, bemerkte man Orchideen, Bromeliazeen und wildwuchernde Baumfarne mit gigantischen Wedeln.
Sie waren mehr als eine Stunde lang gegangen, bevor der erste Zwischenfall geschah. Eine Lanzenschlange schnappte nach Jeff, doch er konnte ihr mit der Machete den Schädel abschlagen. Angewidert sah er das zuckende Reptil an, ging aber sofort weiter.
Größere Tiere bekamen sie nicht zu sehen. Die zeigten sich erst bei Beginn der Dämmerung, wenn, das Licht noch düsterer geworden war.
Sie suchten nach Spuren des roten Affen, doch sie fanden nichts.
„Wir sollten bald umkehren“, sagte Susan. „Sonst kommen wir in die Dunkelheit.“
„Zwanzig Minuten noch“, sagte Jeff.
Nach fünf Minuten blieb Jeff stehen.
„Was ist los?“ fragte Carl.
„Riechen Sie nichts?“
Susan und Carl schnupperten.
„Sie haben recht“, sagte Carl. „Da brennen irgendwo Feuer. Da muß ein Indianerdorf in der Nähe sein. Sollen wir weitergehen, Susan?“
„Ja“, sagte sie. „Ich werde sie fragen, ob sie etwas von einem roten Affen gehört haben. Ich würde aber sagen, daß wir vorsichtig sind. Bis jetzt hatten wir mit den Indianern keine Schwierigkeiten, aber wir können Pech haben und auf einen Stamm stoßen, der Weiße nicht besonders mag.“
Sicherheitshalber nahmen sie die Gewehre in die Hände, dann gingen sie vorsichtig weiter. Nach wenigen Minuten erreichten sie ein großes Brandrodungsfeld, in dessen Mitte das Indianerdorf stand. Sie blieben stehen und musterten die Häuser. Das Dorf war ziemlich groß, die Häuser waren hufeisenförmig um einen großen Platz angelegt. Meist waren es große Viereckhäuser, doch dazwischen standen auch ein paar kleinere Kegeldachhütten. Das Dorf war von Palisaden aus Pfählen geschützt, und in den Wegen zwischen den Häusern standen angespitzte Stöcke, die sicherlich vergiftet waren.
Unweit des Dorfes lagen einige Felder, auf denen Maniok, Yams, Bohnen und Melonen angepflanzt waren.
„Sieht recht friedlich aus“, sagte Jeff.
„Das kann täuschen“, sagte Susan. „Ich bin sicher, daß wir bereits seit längerer Zeit beobachtet werden.“ Sie wandte den Kopf und erstarrte. „Nicht bewegen“, sagte sie. „Hinter uns stehen mindestens ein Dutzend Indianer.“
Jeff bewegte den Kopf einen Zentimeter, und aus den Augenwinkeln konnte er einen Indianer erkennen, der drei Meter neben eben ihm stand und einen Bogen in der Hand hielt, der gespannt war. Die Pfeilspitze wies auf Jeffs Rücken.
„Nicht anmerken lassen, daß wir sie entdeckt haben“, sagte Susan. „Ruhig bleiben. Einige haben Blasrohre bei sich, und ich bin sicher, daß die Pfeile vergiftet sind.“
Was sollen wir tun?“ fragte Jeff.
„Vielleicht darauf warten, bis sie uns die Pfeile in den Rücken schießen?“
„Was wollen Sie denn unternehmen, Sie Klugscheißer“, fauchte Carl. „Sollen wir uns vielleicht auf einen Kampf einlassen? Bevor wir etwas unternehmen können, haben wir ein paar Pfeile im Rücken. Susan soll mit ihnen sprechen. Hoffentlich sprechen sie einen Dialekt, den Susan kennt.“
„Ihr rührt euch nicht“, sagte Susan beschwörend. „Ich spreche mit ihnen.“
Das Mädchen blieb ruhig stehen und fing zu sprechen an. Jeff und Carl verstanden nicht ein einziges Wort.
Susan schwieg, und hinter ihnen war eine zischende Stimme zu hören, die rasch etwas sagte. Susan antwortete, und die Stimme zischte wieder.
„Was hat der Kerl gesagt?“ fragte Carl schließlich.
„Wir müssen ins Dorf mitkommen“, sagte Susan. „Es sieht nicht gut aus, sie wollen keine Weißen. Sie haben schon einige Male schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht. Es wird uns aber nichts anderes übrigbleiben, als mitzukommen.“
Jeff nickte unbehaglich.
„Gehen wir.“
Der Indianer sagte wieder etwas, und Susan antwortete.
„Wir sollen die Gewehre fallen lassen“, sagte das Mädchen.
„Ich denke nicht daran“, schnaufte Carl wütend.
„Wir haben keine andere Wahl“, stellte Susan fest und ließ ihr Gewehr fallen. Jeff folgte ihrem Beispiel, nur Carl zögerte.
„Spielen Sie nicht den Helden, Sie Dummkopf“, knurrte Jeff.
„Mit Ihnen rede ich später noch“, sagte Carl und warf das Gewehr zu Boden.
„Falls es ein Später noch gibt“, sagte Jeff sarkastisch.
Er ärgerte sich maßlos, daß sie so unvorsichtig gewesen waren.
„Wir sollen die Hände weit vom Körper halten“, sagte Susan, „und keine verdächtige Bewegung machen.“
Langsam gingen sie auf das Dorf zu.
„Wir stecken recht hübsch in der Tinte“, sagte Carl.
„Wir dürfen nicht sprechen“, sagte Susan rasch.
Carl unterdrückte mit Mühe einen Fluch, und Jeff warf ihm einen kurzen Blick zu. Er befürchtete, daß sich Carl zu etwas Unüberlegtem hinreißen lassen würde.
Die ersten Indianer kamen ihnen entgegen, die Männer trugen einfache Penisfutterale aus Palmblättern, sonst waren sie völlig nackt. Die meisten Frauen waren nackt, nur einige trugen einen einfachen Lendenschurz. Die Indianer gehörten der Sprachfamilie der Tupi an. Es waren ziemlich kleingewachsene Leute, die auf Jeff nicht besonders hübsch wirkten. Die Indianerinnen sahen unappetitlich aus, mit dem strähnigen Haar, den großen Hängebrüsten und gedrungenen Beinen. Und alle strömten einen Geruch nach ranzigem Fett aus.
„Wir sollen stehen bleiben“, sagte Susan.
Sie standen in der Mitte des Platzes, die Frauen und Mädchen hatten sich zurückgezogen, und die Männer warfen ihnen unfreundliche Blicke zu.
Aus einer der Hütten tauchte ein uralter Mann auf, sein Haar war grau, das Gesicht faltig wie eine getrocknete Pampelmuse. Er wurde von zwei jungen Männern gestützt. Einige Meter vor den Gefangenen blieb er stehen. Ein Indianer brachte einen kunstvoll geschnitzten Schemel, und der Alte setzte sich. Seine Hände zitterten, und er atmete schwer.
Jeff wußte, daß der Alte der Häuptling des Stammes war. Als Zeichen seiner Würde hielt er in der rechten Hand eine Steinaxt. Er blinzelte sie kurzsichtig an, dann sagte er etwas. Seine Stimme klang wie das Krächzen eines Papageis.
Susan sprach einige Minuten lang mit dem Alten, der immer wieder den Kopf schüttelte und gelegentlich ein Grunzen ausstieß. Das Mädchen wandte sich Jeff und Carl zu.
„Der Häuptling sagte, daß er mit dem Ältestenrat sprechen werde, einstweilen sind wir Gefangene. Und später wird uns der Medizinmann, der Schamane, untersuchen, ob wir von Dämonen befallen sind. Wir müssen alles bis auf unsere Kleidung ablegen.“
„Wenn wir das tun, dann sind wir den Indianern hilflos ausgeliefert“, sagte Carl Ellison.
„Das sind wir jetzt auch“, meinte Jeff. „Die Pfeile sind noch immer auf uns gerichtet.“ Er löste die Tragriemen des Rucksacks und warf das Gepäck zu Boden. Susan folgte seinem Beispiel. Carl zögerte, doch dann fügte er sich mit einem Schulterzucken.
Der Häuptling zeigte auf ihre Gürtel, und sie schnallten sie ab. Sie mußten die Rucksäcke, die Gewehre und die Gürtel zu einem Haufen aufschichten.
Dann wurden sie in eine kleine Hütte geführt, die ohne Einrichtungsgegenstände war. Auf dem festgestampften Boden lagen einige Felle und Matten.
Sie mußten sich setzen, und vor der Eingangsöffnung blieben einige Indianer stehen.
„Ich sehe schon unsere Köpfe als Schrumpfköpfe im Haus des Häuptling baumeln“, sagte Carl brutal.
„Sie haben eine eigenartige Art von Humor“, stellte Jeff fest.
* * *
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam der Schamane in die Hütte. Sein Gesicht war mit Erdfarben bunt beschmiert, und an seinem Körper klebten Federn.
Er hockte sich vor die drei Gefangenen, starrte sekundenlang zu Boden, dann blickte er sie der Reihe nach an. Er schloß die Augen, und seine Lippen bewegten sich. Plötzlich stieß er einen heiseren Schrei aus, riß die Augen auf und sprang hoch. Sein Körper zitterte, er drehte und wand sich wie eine Schlange, dabei schrie er immer wieder. Sein Schreien wurde immer lauter, er rollte die Augen, und Schaum stand vor seinem Mund. Er sprang aus der Hütte, blieb vor der Eingangsöffnung stehen und zeigte mit beiden Händen auf die Gefangenen. Er schrie etwas, und die Indianer heulten auf.
„Was hat er gesagt?“ fragte Jeff.
Susan war bleich.
„Wir seien von Dämonen befallen“, sagte sie stockend. „Das bedeutet unseren Tod.“
Das Geschrei der Indianer wurde immer durchdringender. Vor den Hütten waren Feuer angezündet worden, das Innere der Hütte, in der sich die Gefangenen befanden, war in flackerndes Licht getaucht.
„Wir müssen zu fliehen versuchen“, sagte Jeff.
Carl stieß ein höhnisches Gelächter aus.
„Was Sie nicht sagen. Und wie stellen Sie sich unsere Flucht vor? Vor der Hütte lauern mindestens hundert Indianer. Wenn wir nur einen Schritt hinaus tun, stecken wir so voller Pfeile, daß wir wie Igel aussehen.“
„Die Hütte scheint mir nicht sehr stabil“, sagte Jeff. „Vielleicht können wir ein Loch in die Rückwand bohren.“
Sie befanden sich in einer Bienenkorbhütte, die von ziemlich einfacher Konstruktion war. Biegsame Äste waren kreisförmig in die Erde gesteckt und oben in der Mitte zusammengebunden worden. Die Ritzen waren mit Zweigen, Gras und Rinde ausgestopft worden. Jeff trat in den Hintergrund der Hütte und untersuchte die zusammengedrückten Äste. Die Hütte war überraschenderweise recht stabil, die Äste lagen dicht beisammen. Er versuchte an einigen Stellen die Äste auseinanderzudrücken, doch es gelang ihm nicht. Schließlich holte er ein Taschenmesser aus der Brusttasche seines Hemdes, klappte die große Klinge auf und machte sich daran, an den Ästen herumzuschneiden.
Susan und Carl hatten sich nahe zum Hütteneingang gestellt und verdeckten so Jeff.
„Was haben Sie entdeckt?“ fragte Susan.
„Ich versuche mit dem Taschenmesser einige Äste zu durchschneiden, aber das ist nicht einfach“, sagte Jeff und arbeitete verbissen weiter.
Vor der Hütte flammten neue Feuer auf. Auf einem pyramidenförmigen Bratrost lagen Fleischstücke, daneben hingen einige Kessel über dem Feuer, in den Maniokbrei gekocht wurde.
„Wie lange haben wir noch Zeit, bis sie uns töten werden?“ fragte Jeff keuchend. Es war ihm gelungen, zwei Äste zu durchschneiden.
„Nach dem Essen werden sie wahrscheinlich noch ausgiebig Maisbier trinken“, sagte Susan. „Einige Tänze veranstalten, der Schamane wird Beschwörungen murmeln, und dann...“ Sie brauchte nicht mehr zu sagen.
„Da haben wir ja mindestens noch eine Stunde Zeit“, sagte Jeff.
„Wahrscheinlich länger“, sagte Susan. „Aber darauf können wir uns nicht verlassen. Es kann ihnen auch einfallen, uns aus der Hütte zu holen und zu fesseln. Dann haben wir keine Chance mehr.“
„Soll ich Sie ablösen, Jeff?“ fragte Carl.
„Nein“, keuchte Jeff. „Ich mache noch einige Minuten weiter.“
Susan und Carl beobachteten die Indianer. Sie gewannen den Eindruck, daß sich die Indianer nicht mehr um sie kümmerten und ihnen keine Beachtung schenkten.
Das Essen begann. Der Maniokbrei wurde in kleine Tonschalen gegeben, und das gebratene Fleisch mit Haken vom Rost gehoben. Niemand brachte ihnen etwas zu essen. Nach einigen Minuten wechselte Carl Jeff ab. Fünf der dünnen Äste waren durchschnitten.
„Sie sind mit dem Essen fertig“, sagte Susan. „Wie weit bist du, Carl?“
„Das Loch ist noch nicht groß genug zum Hinauskriechen“, sagte er. „Wir brauchen noch mindestens eine halbe Stunde.“
Plötzlich wurde es still. Der Häuptling stand auf. Er hob die Steinaxt und brüllte etwas. Die Indianer stimmten in seinen Schrei ein, und einige sprangen auf.
„Zu spät“, sagte Susan. „Sie kommen uns holen.“
Einige Indianer blieben vor der Hütte stehen, einer schrie Susan an.
„Wir sollen herauskommen“, sagte sie tonlos. „Das ist das Ende.“
„Sag ihnen, sie sollen uns holen“, knurrte Carl. „Freiwillig komme ich nicht heraus.“
„Sie sind nicht bewaffnet“, sagte Jeff. „Vielleicht haben wir eine Chance, wenn wir uns fügen und aus der Hütte gehen. Unsere Waffen sind nur fünf Meter entfernt. Vielleicht gelingt es uns, die Gewehre zu schnappen.“
Die Indianer schrien ungeduldig auf sie ein.
„Sie haben recht, Jeff“, sagte Carl widerstrebend. „Wenn wir uns zur Wehr setzen, haben wir keine Chance. Sie überwältigen uns. Treten wir aus der Hütte und halten uns nach links. Susan soll vorgehen.“
Susan war bleich, als sie aus der Hütte trat. Die Indianer wichen einige Schritte zurück und bildeten eine schmale Gasse, die zum Häuptling führte. Zögernd tat sie drei Schritte, eine Hand griff nach ihr und stieß sie weiter.
Jeff folgte ihr. Aus den Augenwinkeln warf er den Gepäckstücken einen Blick zu. Er ging langsam, Carl folgte dicht hinter ihm. Beide spannten die Muskeln an. Als sie sich auf der Höhe der Waffen befanden, blieben sie stehen. Drei Indianer verstellten ihnen den Weg, doch hinter ihnen lagen die Gewehre.
„Einen Schritt noch“, sagte Carl, „dann schlagen wir die drei Brüder nieder und schnappen uns die Gewehre.“
„O.K.“, sagte Jeff und tat den Schritt. Er ballte die 'Fäuste und drehte sich nach links.
„Vorsicht“, schrie Susan, doch ihre Warnung kam zu spät.
Ein Dutzend Indianer war lautlos herangeschlichen, in den Händen trugen sie biegsame Lianen, die sie um die Männer warfen. Carl bekam eine Schlinge um den Hals. Verzweifelt versuchte er sie abzustreifen, doch er hatte keinen Erfolg. Jeffs Arme waren gegen den Oberkörper gedrückt. Er schlug mit den Füßen nach den Indianern, doch die Übermacht war zu groß. Er wurde, so wie Eillson, zu Boden gedrückt. Susan wurde von zwei Indianern gepackt, die ihre Hände auf den Rücken gedreht hatten und festhielten.
Die Indianer brüllten wie verrückt. Triumphierend schleppten sie den ohnmächtigen Ellison vor den Häuptling und warfen ihn nieder. Jeff setzte sich noch immer zur Wehr, doch seine Bewegungen wurden zusehends schwächer. Auch er wurde vor den Häuptling geschleppt. Er bekam einen Schlag auf den Hinterkopf und brach zusammen. Die Indianer warfen ihn neben Carl.
Einige Indianerinnen umringten die ohnmächtigen Männer und beschimpften und bespuckten sie.
Susans Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Sie schrie, als sie vor den Häuptling gezerrt wurde. Die Männer hielten ihre Handgelenke wie Schraubstöcke umklammert.
Auch sie wurde von den Frauen beschimpft und bespuckt. Ein altes Weib blieb vor ihr stehen, ihr Gesicht war haßerfüllt. Sie riß ihr die Bluse auf, schrie sie an und spuckte ihr ins Gesicht.
Einige der Frauen beugten sich über die ohnmächtigen Männer und begannen sie zu entkleiden.
Susan schloß entsetzt die Augen. In wenigen Minuten würde alles vorbei sein. Sie würden getötet werden.
Eine Hand verkrallte sich in ihrem Haar, und der Kopf wurde zurückgerissen. Sie bekam einen Schlag auf die Halsschlagader und brach bewußtlos zusammen. Die Indianerinnen wälzten sie auf den Rücken, rissen die Bluse ganz herunter, dann den Büstenhalter.
Der Platz zwischen den Häusern war mit Geschrei erfüllt, das ganze Dorf war versammelt, um der Vernichtung der weißen Dämonen beizuwohnen. Die Kinder standen zu einer Gruppe zusammengedrängt da und verfolgten die Geschehnisse mit weit aufgerissenen Augen.
Im Geschrei der Indianer ging das Krachen der umstürzenden Bäume und der laute Schrei des Ungeheuers unter. Der rote Affe schien aus dem Nichts aufzutauchen, plötzlich stand er in der Mitte des Platzes. Seine gewaltigen Fäuste schlugen eines der Viereckhäuser zusammen. Das Schreien der Indianer erstarb plötzlich. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich vom Schreck erholt hatten.
Als der Affe nach dem Häuptling griff und ihn zwischen seinen riesigen Fingern zermalmte, kam Leben in das Dorf. Die Indianer stoben entsetzt auseinander.
Der rote Affe sah dem Treiben einige Zeit zu und zerschlug dann ein weiteres Haus. Die Trümmer krachten zu Boden, einige fielen in die Flammen, und in wenigen Sekunden fing ein Haus Feuer.
Die Indianer ergriffen die Flucht, doch die meisten rannten kopflos zwischen den Häusern hin und her.
Susan bewegte sich leicht, sie hob den Kopf und richtete sich auf. Als sie die Augen aufschlug, verzerrte sich ihr Gesicht, und sie schrie.
Eine riesige Pranke tastete nach ihr, schwebte über ihr und drückte sich auf ihren Körper. Für Sekunden konnte sie nichts erkennen, dann spürte sie tastende Finger, die ihren Körper zusammendrückten. Sie wurde hochgehoben und brüllte wieder. Der rote Affe nahm sie in die andere Hand, drückte die Finger zusammen, und nur ihr nackter Oberkörper sah hervor. Er hielt sich das Mädchen dicht vor das Gesicht, die grünen Augen funkelten sie böse an. Jetzt sah sie zum erstenmal das Gesicht des Riesenaffen. Die Nüstern blähten sich, und das gewaltige Maul wurde geöffnet. Mehr konnte Susan nicht erkennen. Sie war wieder in Ohnmacht gefallen.
Der rote Affe stieß ein zufriedenes Grunzen aus, zertrat alle Hütten und warf einige Holztrümmer in das Feuer. Das halbe Dorf stand in Flammen.
Jeff und Carl waren aus ihrer Ohnmacht erwacht. Mit weit aufgerissenen Augen sahen sie den Affen an, doch sie bewegten sich nicht, und das Tier schenkte ihnen keine Beachtung.
Mit zwei Sprüngen verließ der Affe das Dorf und rannte den flüchtenden Indianern nach.
Er hatte kaum das Dorf verlassen, als Jeff und Carl aufsprangen. Sie schlüpften blitzschnell in ihre Blusen, schlossen die Hosenbünde, und rannten zu ihrer Ausrüstung.
Das Dorf war ein Flammenmeer. Jeff packte einen Rucksack, seinen Gürtel, den Fotoapparat und das Gewehr. Carl folgte seinem Beispiel. Rings um sie loderten die Feuer. Alle Häuser brannten, ein scheinbar undurchdringlicher Flammengürtel lag vor ihnen.
Jeff holte tief Atem und rannte auf das Feuer zu, Carl folgte ihm. Die Flammen griffen nach ihnen, brachten ihre Blusen und Hosen zum Glimmen, doch sie hatten keine Zeit, darauf zu achten.
Jeff glaubte zu ersticken. Dicke schwarze Rauchwolken hüllten ihn ein, seine Hände schmerzten. Doch es gelang ihm, durch den Feuerkreis zu kommen. Erschöpft blieb er stehen, dann setzte er sich. Er sah, wie Carl durch die Flammen torkelte und zu Boden fiel. Er sprang auf und zerrte den Ohnmächtigen aus den Flammen.
Carl hatte es böse erwischt. Seine Bluse brannte, und Jeff versuchte die Flammen zu ersticken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Carl am Boden zu wälzen. Endlich erloschen die Flammen. Carl sah fürchterlich aus. Sein Gesicht war geschwärzt, die Haare verbrannt. Keuchend öffnete Jeff Carls halbverbrannte Bluse und sah sich, den Oberkörper an. Überall waren Brandblasen zu sehen. Er packte Carl unter den Armen und schleppte Ihn von den Flammen fort. Erschöpft setzte er sich nieder, öffnete die Feldflasche und trank gierig einige Schlucke. Er spülte den Mund aus und spuckte das Wasser aus.
Carl bewegte sich leicht, dann schlug er die Augen auf und stöhnte.
„Wir haben es geschafft“, sagte Jeff. Der Feuerschein erhellte die Lichtung fast taghell. Von den Indianern war nichts zu sehen, man hörte nur ihr Geschrei. Wahrscheinlich verfolgte sie noch immer der rote Affe.
„Wir müssen fort von hier“, sagte Jeff drängend. „Das Monster kann zurückkommen.“
Carl stöhnte, und Jeff reichte ihm die Feldflasche. Gierig trank Carl einige Schlucke.
„Ich kann nicht gehen“, sagte Carl schwer atmend. „Ich habe unerträgliche Schmerzen.“
Jeff öffnete einen Rucksack und holte ein Röllchen mit schmerzstillenden Tabletten hervor. Er gab drei Stück Carl, der sie schluckte.
„Wir müssen weiter“, sagte Jeff. „Notfalls trage ich Sie. Versuchen Sie aufzustehen, Carl.“
Carl versuchte es, doch es gelang ihm nicht. Schließlich riß ihn Jeff brutal hoch, und Carl stieß einen Schmerzensschrei aus.
„Reißen Sie sich zusammen, Carl“, brüllte Jeff, um das Toben des Feuers zu übertönen.
„Sie haben leicht reden“, keuchte Carl. „Ich habe schreckliche Schmerzen.“
„Glauben Sie vielleicht, daß es mir viel besser geht“, schnauzte Jeff ihn an. Er band Carl den Gürtel um, dann gab er ihm das Gewehr und den Fotoapparat. „Ihren Rucksack müssen wir zurücklassen. Ich nehme nur meinen mit.“
„Und wo wollen Sie hingehen?“ fragte Carl stöhnend.
„In den Urwald.“
„Und dann?“
„Den Affen verfolgen“, sagte Jeff grimmig. „Er hat Susan mitgenommen.“
„Das habe ich bemerkt“, sagte Carl. „Aber ich bezweifle, daß sie noch lebt.“
„Das kann man nicht sagen“, stellte Jeff fest. „Angeblich soll der Affe nur Frauen rauben, und er nahm Susan mit sich.“
„Wenn Sie recht haben, Jeff, dann möchte ich aber nicht in Susans Haut stecken. Was hat der Affe mit ihr vor?“
„Denken Sie nicht daran, Carl“, sagte Jeff drängend. „Wir müssen endlich aufbrechen, bevor das Monster oder die Indianer zurückkommen.“
„Sie haben leicht reden“, sagte Carl schwach. „Sie liebten ja Susan nicht. Wir wollten heiraten, und jetzt...“ Er schluckte. „Sie haben recht, wir müssen weiter, sonst können wir ihr nicht helfen.“
„Endlich nehmen Sie Vernunft an. Stützen Sie sich auf mich.“
Carl legte einen Arm um Jeffs Schultern, der zusammenzuckte, denn auch er hatte einige Brandwunden abbekommen. Sie torkelten auf den nahen Urwald zu. Nach einigen Minuten umfing sie der Tropenwald. Das brennende Indianerdorf war kaum mehr auszumachen. Sie blieben stehen und sahen zurück. Von den Indianern war nichts zu sehen. Auch der Affe war verschwunden.
Nach hundert Metern umfing sie undurchdringliche Dunkelheit.
„Es hat keinen Sinn weiterzugehen“, sagte Carl. „Wir sehen nichts. Und der Urwald ist voller Gefahren.“
„Was sollen wir denn unternehmen?“ fragte Jeff.
„Nichts“, sagte Carl. „Niederlegen und schlafen.“
„Blödsinn“, sagte Jeff. „Ich kann nicht schlafen. Wir gehen weiter. Es geht jetzt schon viel besser, meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Viel kann ich zwar nicht sehen, aber genug, um weitergehen zu können. Wir gehen jetzt in einem Halbkreis um die Lichtung herum, so lange, bis wir die Spuren des Affen gefunden haben, denen wir folgen werden.“
„Sie sind wahnsinnig geworden. Das hat doch keinen Sinn. Wir müssen den Morgen abwarten.“
„Ich sage Ihnen etwas, Carl. Ich gehe. Entweder Sie kommen mit, oder Sie lassen es bleiben, verstanden?“
„Das war deutlich, Sie Schwein“, sagte Carl. „Sie würden mich glatt allein hier lassen.“
„Ja, das würde ich tun“, sagte Jeff hart. „Kommen Sie mit, oder?“
„Sie lassen mir ja keine andere Wahl“, stieß Carl hervor.
Jeff ging vor. Er hielt sich nach links. Langsam gingen sie weiter. Nach einigen Minuten ließen Carls Schmerzen nach. Die schmerzstillenden Tabletten hatten geholfen.
Überall waren Geräusche zu hören. Jeff versuchte nicht daran zu denken, welche scheußlichen Tiere da am Boden herumkrochen. War es schon bei Tag kein Vergnügen, durch den Urwald zu laufen, so war es bei Nacht die Hölle.
Vor den Raubkatzen hatte Jeff keine Angst. Die meisten Sorgen bereiteten ihm die unzähligen Schlangen, von denen einige einen tödlichen Biß hatten. Zusätzlich gab es dann noch einen Haufen von ekelhaften Spinnen und Insekten, deren Biß oft sehr gefährlich war.
Plötzlich blieb Jeff stehen. Er war sicher, die Stelle gefunden zu haben, wo der rote Affe aus dem Urwald aufgetaucht war. Einige umgestürzte kleinere Bäume waren ein deutlicher Hinweis.
„Hier entlang geht es“, sagte Jeff.
„Sie wollen tatsächlich nicht von Ihren wahnwitzigen Unternehmen ablassen, Jeff?“
„Wir gehen weiter“, sagte Jeff. „In ein paar Minuten legen wir eine Pause ein. Ich habe Hunger und sehne mich nach einer Zigarette.“
„Ein Picknick im nächtlichen Urwald, Sie haben vielleicht Nerven“, sagte Carl, der schon wieder einiges von seiner Kaltschnäuzigkeit zurückgewonnen hatte. Er dachte die ganze Zeit an Susan. Er versuchte den Gedanken an sie zu verdrängen, doch es gelang ihm nicht. Immer sah er das Bild des Riesenaffen vor, sich, der Susan in seiner Faust hielt und beschnupperte. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, er hätte es niemals geglaubt. Der rote Affe existierte nicht nur in dar Phantasie der Eingeborenen. Er war Realität.
Nach fünf Minuten blieb Jeff stehen und knipste sein Feuerzeug an. Sofort waren sie von Insekten umringt, die summend um sie herumflogen. Jeff bückte sich und hob einen Ast auf, den er mit dem Feuerzeug zum Brennen brachte.
„Wollen Sie einen Fackelzug veranstalten?“ fragte Carl.
„Ich will sehen, ob wir auf dem richtigen Weg sind“, sagte Jeff. Eine Zwergbeutelratte ergriff erschreckt die Flucht. Jeff sah sich kurz um. „Der Affe ist hier vorbeigekommen“, sagte er schließlich. „Wir können jetzt ruhig eine Pause einlegen.“
Sie suchten einige Holzstücke zusammen und steckten sie in Brand, aber es dauerte ziemlich lange, bis sie ein Feuer zustande gebracht hatten, denn das Holz war feucht und wollte nur schlecht brennen. Die beiden Männer setzten sich gegenüber, die Gewehre hatten sie entsichert auf den Knien liegen. Jeff öffnete den Rucksack und holte zwei Konservendosen und eine Packung Zwieback hervor. Er öffnete die Dosen und reichte Carl eine. Während sie aßen, blickten sie ununterbrochen um sich. Der Feuerschein konnte eine Menge Tiere anlocken.
Carl hob den Kopf.
„Bewegen Sie sich nicht“, keuchte er. „Ruhigbleiben, Jeff.“
Blitzschnell hob er das Gewehr, stellte auf Dauerfeuer, riß die Waffe hoch, zog durch, und das Gewehr ratterte los.
Jeff warf sich zur Seite, keine Sekunde zu früh. Der gut sieben Meter lange Leib einer Regenbogen-Riesenschlange fiel zu Boden. Carl hatte gut getroffen und ihr den Schädel abgeschossen, doch der gewaltige Leib zuckte noch im Tod. Der Schwanz umklammerte Jeffs Leib und drückte ihn zusammen. Mit beiden Händen riß er die Schlange herunter und sprang einige Schritte zur Seite.
Angeekelt sah er den zuckenden Leib an.
„Danke“, sagte er zu Carl, der ruhig weiteraß. Jeff war der Appetit vergangen. Er packte den Rucksack zusammen und steckte sich eine Zigarette an. Er fühlte sich unendlich müde, jeder Knochen schmerzte, und sein Hirn war leer.
Doch sie gingen trotzdem weiter. Sie kamen nur langsam vorwärts. Schwärme von Moskitos umflogen sie und stachen unerbittlich zu. Immer wieder mußten sie eine kurze Rast einlegen. Ihre mit unzähligen Brandwunden bedeckten Körper bluteten an vielen Stellen, Lianen und Farnwedel hatte ihnen schmerzhafte Wunden zugefügt.
Langsam wurde es hell. Sie konnten, sich kaum mehr auf den Beinen halten. Carl blieb erschöpft stehen.
„Ich kann nicht mehr“, sagte er und setzte sich. Jeff folgte seinem Beispiel. Es wurde immer heller. Sie hatten die Spur des Affen nicht verloren
„Sollen wir etwas essen, Carl?“ fragte Jeff, doch Carl gab ihm keine Antwort. Fr war im Sitzen eingeschlafen. Mühsam versuchte Jeff die Augen offenzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Nach wenigen Augenblicken war auch er eingeschlafen.
Doch sie schliefen nicht lange. Eine Horde Schweifaffen hatte sie entdeckt, und eröffnete ein Bombardement auf sie. Die kleinen weißköpfigen Affen warfen Aststücke und Früchte auf die Schlafenden.
Carl erwachte als erster. Verschlafen richtete er sieh auf. Er gab Jeff einen Stoß, der unwillig brummend die Augen öffnete.
Sie tranken den Rest des Wassers, aßen einige Stück Schokolade und hingen weiter. Es bereitete keinerlei Schwierigkeiten, den Spuren des Affen zu folgen. Sie überquerten einen schmalen Fluß, wuschen sich und torkelten weiter.
Sie sahen beide furchterregend aus. Die Kleider hingen in Fetzen um ihre geschundenen Körper. Sie hatten es schon längst aufgegeben, die Fliegen zu verjagen, die über ihre Wunden krochen.
Plötzlich hörten die Spuren auf. Ratlos blieben sie stehen.
„Was nun?“ fragte Carl.
Jeff zuckte mit den Schultern.
„Suchen wir noch einige Zeit weiter“, sagte er. „Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als umzukehren.“
„Das kommt nicht in Frage“, knurrte Carl verbissen. „Ich höre nicht mit der Suche auf.“
„Das meinte ich ja auch nicht“, sagte Jeff. „Aber in unserem Zustand kommen wir nicht weit. Wir sind zu schwach, und noch eine Nacht im Urwald überleben wir nicht.“
„Darüber reden wir später noch“, sagte Carl. Seine Wangen waren eingefallen, der Bart war versengt und die Augen blutunterlaufen. Er muß entsetzliche Schmerzen haben, dachte Jeff.
Eine Zeitlang suchten sie die Umgebung nach Spuren des Affen ab, doch sie fanden keine.
„Wahrscheinlich ging er nicht mehr am Boden“, sagte Carl schließlich. „Er wird auf einen Baum geklettert sein und sich über dem Boden fortbewegt haben.“
„Sie können recht haben“, sagte Jeff. „Suchen wir weiter.“
Beide hatten es bis jetzt vermieden, über die Ereignisse zu sprechen, doch sie dachten ununterbrochen an den Affen und an Susan.
„Geben wir die Suche auf“, sagte Jeff nach weiteren zwei Stunden vergeblicher Suche, doch Carl wollte davon nichts wissen. Unbeirrt ging er weiter, obwohl er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
Zehn Minuten später blieb Carl stehen.
„Sehen Sie selbst, Jeff“, sagte er mit zitternder Stimme. „Träume ich, oder...“
Jeff trat neben ihn. Zwischen den Urwaldriesen erkannten sie eine schmale Lichtung, auf der ein aus Steinen gebautes Haus stand.
„Ein Haus“, sagte Jeff ungläubig. „Ein Steinhaus!“
„Nichts wie hin“, keuchte Carl. Er entsicherte das Gewehr und rannte los. Der Anblick des Hauses verlieh ihm neue Kräfte. Jeff folgte ihm. Auch er hatte sein Gewehr entsichert.
Das Haus war überraschend groß. Es war ein langgestreckter Bau und bestand nur aus einem Erdgeschoß, in dem einige Glasfenster eingelassen waren.
Kein Mensch war zu sehen. Sie erreichten das Haus und blieben schwer atmend stehen. Jeff nahm den Rucksack ab und ließ ihn einfach fallen.
„Ist da jemand?“ rief Carl.
Sie gingen um das Haus herum. An der Schmalseite fanden sie eine Eisentür, die abgesperrt war. Carl klopfte mit dem Gewehrkolben dagegen. Nichts rührte sich. Wütend klopfte er nochmals.
„Aufmachen“, brüllte er. „Aufmachen! Wir brauchen Hilfe.“
Es dauerte fast eine Minute, bis die Tür geöffnet wurde. Ein hagerer Mann trat hervor und musterte Jeff und Carl. Er war an die dreißig, etwas kleiner als Jeff und schmalschultrig. Sein Gesicht war hager, das dichte blonde Haar kurzgeschnitten. Er war seltsam blaß. Seine dunkelbraunen Augen blickten kühl.
„Was wollen Sie?“ fragte er barsch.
„Wir brauchen Hilfe“, sagte Jeff. „Wir sind verwundet und...“
„Tut mir leid“, sagte der Mann kalt. „Ich kann Ihnen nicht helfen.“ Er trat einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen.
Carl richtete das Gewehr auf ihn. „Lassen Sie die Tür offen“, sagte er grimmig. „Sie können uns doch nicht so einfach hier draußen stehen lassen. Wir brauchen Hilfe.“
Der Mann sagte nichts. Er knabberte an seiner Unterlippe.
„Was ist los, Terry?“ hörten sie eine Frauenstimme. Schritte kamen näher, und dann tauchte ein Mädchen auf. Die Ähnlichkeit der beiden war augenfällig. Sie konnten nur Geschwister sein. Das Mädchen war um einige Jahre jünger. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie das ihres Bruders. Es fiel lose auf ihre Schultern herab. Ihr Gesicht war annehmbar hübsch, die großen dunklen Augen waren das Schönste daran. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah Jeff und Carl überrascht an. Sie war kaum kleiner als ihr Bruder, trug eine einfache, weiße ärmellose Bluse, die sich um gut geformte Brüste spannte. Ihre schlanken Beine steckten in abgewetzten Jeans.
„Misch dich da nicht ein, Carol“, sagte Terry unwillig. „Ich will mit diesen beiden Kerlen nichts zu tun haben. Geh zurück ins Haus.“
„Mister“, sagte Carl stockend. „Wir brauchen Hilfe. Sie können uns doch nicht wie räudige Hunde davonjagen. Wir wurden von Indianern gefangen genommen und konnten entfliehen. Außerdem wurde meine Freundin von einem...“
„Das interessiert mich alles nicht“, sagte Terry. „Warum glauben Sie wohl, daß ich mich in den Urwald zurückgezogen habe? Ich will von den Menschen nichts wissen, und meine Schwester auch nicht. Lassen Sie uns in Ruhe.“
„Aber, Terry“, sagte Carol. „Du kannst sie doch nicht einfach davonjagen.“
Der junge Mann preßte die Lippen zusammen und warf seiner Schwester einen wütenden Blick zu. Dann sah er Jeff und Carl an. Auf seiner Stirn erschienen einige Falten. Er seufzte.
„Kommen Sie herein“, sagte er schließlich, drehte sich um und verschwand.
Jeff und Carl traten ein. Das Mädchen schloß die Tür und sperrte ab.
„Entschuldigen Sie meinen Bruder“, sagte Carol lächelnd. „Er ist ein Menschenfeind. Kommen Sie bitte mit.“
Jeff sah sich flüchtig um. Sie gingen einen schmalen Gang entlang, an dem links und rechts Türen lagen. Die Wände bestanden aus einfachen Holzplatten, den Boden bedeckte ein dunkelroter Kokosläufer.
„Recht herzlichen Dank, daß Sie uns nicht draußen stehen gelassen haben, Carol“, sagte Jeff und grinste.
„Nichts zu danken“, sagte das Mädchen. Sie öffnete eine Tür, und sie traten ein. Der Raum war als Speisezimmer eingerichtet. In der Mitte stand ein schwerer Holztisch, umgeben von einigen kunstvoll geschnitzten Stühlen. Eine Wand bedeckte ein Regal, das bis zur Decke reichte und mit indianischen Tongefäßen und Tanzmasken gefüllt war.
„Nehmen Sie Platz“, sagte Carol. „Sie haben sicherlich Hunger, nicht wahr?“
„Allerdings“, sagte Jeff.
„Wie wär's mit einer kräftigen Suppe?“
„Das wäre herrlich“, sagte Jeff grinsend. „Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir uns waschen könnten.“
„Nachher“, sagte Carol. „Zuerst die Suppe.“
Jeff sah ihr nachdenklich nach, als sie den Raum verließ, und wandte sich Carl zu.
„Was halten Sie von den beiden, Carl?“
Der Zoologe fuhr mit der Zunge über die Lippen.
„Schwer zu sagen, aber sie kommen mir merkwürdig vor.“
Jeff beugte sich vor.
„Merkwürdig ist eine milde Untertreibung“, sagte er grimmig. „Da ist etwas faul. Dieses Haus, die Unfreundlichkeit des Mannes, da stimmt etwas nicht. Und dieser Sache werde ich auf den Grund gehen. Wir müssen schauen, daß wir über Nacht bleiben können. Spielen Sie die Rolle des Schwerverletzten, Carl.“
Ellison lachte sarkastisch.
„Diese Rolle brauche ich nicht zu spielen“, sagte er grimmig.
Carol kam mit einem Tablett herein. Sie stellte zwei Teller auf den Tisch und legte Löffel dazu. Dann setzte sie sich.
„Die Suppe wird in wenigen Minuten serviert“, sagte sie.
Jeff holte seine zerdrückte Packung Zigaretten hervor und bot dem Mädchen eine an. Carol lehnte dankend ab. Er zündete sich eine Zigarette an und wandte sich dem Mädchen zu.
„Seit wann wohnen Sie und Ihr Bruder schon hier?“
„Mein Bruder ist schon ein Jahr hier“, sagte sie. „Ich kam erst vor etwa drei Monaten.“
„Und wer baute das Haus?“
„Mein Bruder.“
„Das ist eine beachtliche Leistung“, sagte Jeff. „Wo nahm er die Steine her, und wer half ihm dabei?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mein Bruder erzählte mir nichts davon.“
„Was macht Ihr Bruder eigentlich hier, Carol?“
„Er ist ein Menschenfeind“, sagte das Mädchen, „Er hatte von den Menschen genug und zog sich nach hier zurück, um ungestört zu sein.“
„Und was macht er hier?“
„Das fragen Sie ihn selbst“, sagte sie abweisend.
Die Tür wurde geöffnet, und eine junge Indianerin trat ein. Sie konnte kaum älter als sechzehn sein. Auf einem Tablett trug sie einen großen Suppentopf. Jeff sah sie genau an. Das Gesicht des Mädchens war eine rotbraune Maske, die Augen lagen tief in den Höhlen und waren völlig glanzlos. Sie trug Sandalen und einen weißen Lendenschurz. Ihm fiel der merkwürdig steife Gang der Indianerin auf. Sie blieb vor dem Tisch stehen, stellte das Tablett ab und hob den Topf herunter. Sie legte einen Schöpfer daneben, griff nach dem Tablett, drehte sich eckig um und verschwand durch die Tür.
Carol schob ihren Stuhl zurück, stand auf und füllte die Teller mit Fleischbrühe, in der dicke Nudeln schwammen.
Einige Minuten lang aßen sie schweigend. Die Suppe schmeckte ausgezeichnet, und beide nahmen sich nach.
„Weshalb halten Sie sich im Urwald auf?“ erkundigte sich Carol.
„Entschuldigen Sie“, sagte Jeff, „wir haben uns noch nicht einmal vorgestellt. Carl Ellison.“ Er drehte seinen Kopf Carl zu. „Und mein Name ist Jeff Baker.“
„Carol Tucker“, sagte das Mädchen. „Und mein Bruder heißt Terry.“
Jeff senkte den Kopf, dabei ließ er aber das Mädchen nicht aus den Augen. „Haben Sie schon einmal etwas von einem roten Affen gehört?“
Carol zuckte zusammen.
„Nein“, sagte sie. „Nie davon gehört.“
„Er ist mehr als sechs Meter groß“, sagte Carl. „Und er hat meine Freundin Susan Wood geraubt.“
„Das ist doch nicht möglich“, sagte Carol. „Es gibt keine Affen, die sechs Meter groß werden.“
„Das glaubten wir auch“, sagte Jeff. „Aber wir sahen das Biest mit eigenen Augen. Wir waren von einem Indianerstamm gefangengenommen worden. Sie waren eben dabei, uns zu Schrumpfköpfen zu verarbeiten, als der Affe auftauchte. Sein Auftauchen rettete unser Leben, aber er nahm Susan mit. Er packte sie, hob sie hoch, beschnüffelte sie und kehrte in den Urwald zurück. Wir folgten seinen Spuren, verloren sie aber, suchten weiter und fanden Ihr Haus.“
Da müssen Sie ja Entsetzliches mitgemacht haben“, sagte Carol.
Jeff hatte den Eindruck, als wären ihre Gedanken ganz woanders.
„Seit wann ist die Indianerin bei Ihnen, Carol?“ fragte Jeff.
Das Mädchen schreckte aus ihren Gedanken hoch.
„Das Indianermädchen? Seit ein paar Wochen.“
„Und wie kam sie zu Ihnen?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das weiß mein Bruder.“
„Wohnt sonst noch jemand im Haus?“
„Nein, nur wir drei.“
„Was war Ihr Bruder von Beruf, bevor er nach Brasilien zog?“
„Er studierte“, sagte Carol.
„Was studierte er?“
„Alles mögliche“, sagte das Mädchen und stand auf. „Ich zeige Ihnen das Badezimmer.“
Jeff und Carl wechselten einen Blick, standen auf und folgten dem Mädchen. Das Badezimmer war eine Überraschung. Es war gekachelt, und es gab heißes fließendes Wasser.
„Ich besorge Ihnen frische Wäsche“, sagte Carol. „Vielleicht finde ich auch Hemden und Hosen, die Ihnen passen.“
* * *
Eine Stunde später sahen sie wieder menschlich aus. Ihre Wunden waren mit Heilsalben eingeschmiert worden, sie hatten frische Wäsche bekommen, und die Hemden und Hosen paßten halbwegs. Carl hatte sich den halb verbrannten Bart abrasiert, und Jeff hatte ihm das Haar geschnitten.
Carol führte sie in den Wohnraum des Hauses. Er war rechteckig und ziemlich groß. Der Boden war mit Fellen bedeckt. Eine bequeme Sitzecke fiel Jeff besonders auf, da sie mit Ozelotfellen bespannt war. Sie setzten sich, und Carl fiel augenblicklich in tiefen Schlaf. Jeff fühlte sich ebenfalls müde, doch er wollte nicht einschlafen. Er spürte, daß mit Terry Tucker etwas nicht stimmte, und er wollte mehr herausbekommen.
Das Mädchen schlug vor, Carl in ein anderes Zimmer zu bringen. Jeff hob den Schlafenden auf und folgte Carol. Sie führte ihn in ein kleines Gästezimmer, in dem sich außer einem niederen Bett und einem Kasten nichts befand. Jeff legte Carl auf das Bett, und sie kehrten in das Wohnzimmer zurück.
„Wo steckt eigentlich Ihr Bruder, Carol?“ fragte Jeff.
„Wahrscheinlich in seinem Zimmer.“
„Es war ihm gar nicht recht, dass Sie uns ins Haus hereinbaten.“
„Nein, es paßte ihm nicht“, sagte Carol.
Jeff setzte sein strahlendstes Lächeln auf. Dabei fixierte er das Mädchen.
„Fühlen Sie sich nicht einsam hier, so ganz allein, fern der Zivilisation?“
„Eigentlich nicht“, sagte sie zögernd, und er merkte, daß es nicht stimmte.
„So ein hübsches Mädchen wie Sie“, sagte er. „Und Sie sind doch hier wie eine Gefangene, Sie können…“
„Sprechen wir über etwas anderes“, sagte sie abweisend. „Wollen Sie etwas trinken, Mr. Baker?“
„Jeff für meine Freunde“, sagte er, und sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie ist nervös, dachte Jeff, verdammt nervös. „Ich hätte gern ein Bier, aber...“
„Das können Sie haben, Jeff“, sagte sie und, öffnete den Kühlschrank, holte zwei Bierdosen heraus, nahm zwei Gläser und stellte sie auf den Tisch. Jeff riß die Verschlüsse auf und schenkte ein. Carol saß ihm gegenüber, sprungbereit auf der Couchkante, die Arme hatte sie über der Brust gekreuzt. Sie war ganz Abwehr. Jeff seufzte innerlich. Es würde einige Zeit dauern, bis es ihm gelang, sie aufzutauen. Sie wollte nicht über ihren Bruder sprechen. Sobald die Sprache auf ihn kam, war sie abweisend und zog sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück.
„Was haben Sie für einen Beruf, Jeff?“
„Ich bin Reporter“ sagte er. „Carl ist Zoologe. Wir kamen hierher, da, wir Gerüchte über diesen roten Riesenaffen gehört hatten.“
Wieder wartete er auf eine Reaktion, die aber diesmal ausblieb. So komme ich nicht weiter, sagte sich Jeff. Er drängte die vielen Fragen zurück die ihm auf der Zunge lagen, lehnte sich bequem zurück, trank einen Schluck Bier, steckte sich eine Zigarette an und legte los. In seiner Laufbahn als Reporter hatte er die seltsamsten Erlebnisse gehabt, und er konnte stundenlang fesselnd erzählen.
Er wählte sich einige der heitersten Erlebnisse aus. Dabei achtete er auf jede Reaktion Carols. Nach einigen Minuten merkte er den ersten Erfolg. Sie saß nicht mehr so verkrampft da. Sie lehnte sich zurück und nahm die Hände von ihrem Busen. Je länger er erzählte, umso gelöster wurde sie. Sie beugte sich vor, hörte interessiert zu, lachte oft und taute richtig auf.
Nach einer Stunde streute er gelegentlich ein, wie hübsch sie sei, und er merkte, daß ihr seine offensichtliche Bewunderung gut tat. Ihre Wangen bekamen Farbe, und ihre Augen glänzten. Sein Gehirn arbeitete wie ein Computer. Jede ihrer Reaktionen wurde genau vermerkt, und automatisch paßte er sich an.
Jeff ließ sich Zeit. Er wußte, daß er sich jetzt ohne weiteres neben Carol hätte setzen können und daß sie sich gegen seine Küsse nicht gewehrt hätte. Doch er wollte damit warten.
Plötzlich öffnete Terry Tucker die Tür und sah herein. Er beachtete Jeff nicht, sondern wandte sich an Carol.
„Komm bitte zu mir“, sagte er und zog den Kopf zurück.
Sofort war ihre Gelöstheit verschwunden. Sie wirkte wieder unsicher und verkrampft. Sie stand auf und verließ das Zimmer.
Jeff drehte eine leere Bierdose zwischen seinen Fingern. Eines stand für ihn fest: Carol fühlte sich äußerst unwohl. Warum war sie zu ihrem Bruder gekommen, und weshalb kehrte sie nicht zurück? Warum blieb sie hier, wo es ihr offensichtlich nicht gefiel? Sie mußte etwas über den roten Affen wissen, das war klar.
Hatte ihr Bruder etwas mit dem Affen zu tun?
Carol blieb fast eine Viertelstunde lang fort. Als sie zurückkam, war sie bleich und nervös.
„Noch ein Bier?“ fragte sie.
„Gern“, sagte Jeff.
Sie brachte ihm eine Dose und setzte sich.
„In einer Stunde gibt es das Abendbrot“, sagte sie.
„Was wollte Ihr Bruder von Ihnen, Carol?“
„Nichts Besonderes“, sagte sie.
„Das glaube ich nicht. Sie sehen aus, als hätten Sie einen Streit gehabt.“
Sie antwortete nicht.
„Ging es um uns?“ bohrte Jeff weiter. „Ihr Bruder will, daß wir das Haus verlassen, nicht?“
„Ja“, sagte Carol leise. „Er will nicht, daß Sie über Nacht bleiben, aber ich... Sie können über Nacht bleiben, aber morgen müssen Sie fort.“
„Kommen Sie mit uns, Carol“, sagte Jeff drängend. Er stand auf und setzte sich neben sie. „Wir nehmen Sie mit.“
Carol preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
„Das geht nicht“, sagte sie. „Ich kann nicht fort.“
„Sie fühlen sich nicht wohl“, sagte Jeff. „Es gefällt Ihnen hier nicht.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie zuckte zusammen. Mit der anderen Hand umfaßte er ihr Kinn und drehte den Kopf in seine Richtung. Ihre Augen waren tränengefüllt. Er beugte sich vor und drückte seine Lippen sanft auf die ihren. Ihr Mund war kühl und leblos. Es dauerte nur wenige Sekunden, und sie drängte sich gegen ihn und erwiderte seinen Kuß. Jeff war über ihre rückhaltlose Hingabe überrascht. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an ihn. Der Kuß dauerte lange, viel zu lange. Seine Hände glitten über ihren Körper, und sein Verlangen erwachte. Langsam löste sie ihre Lippen von den seinen und drückte den Kopf gegen seine Schulter. Er spürte die Tränen, die seine Wangen netzten. Carol schluchzte. Plötzlich sprang sie auf, zog ein Taschentuch hervor, trocknete sich die Tränen ab und sah Jeff an.
„Ich kümmere mich um das Abendessen“, sagte sie. „Wecken Sie Ihren Freund auf.“
Jeff sah ihr kopfschüttelnd nach.
* * *
Zum Abendessen versammelten sie sich im Speisezimmer. Jeff wunderte sich, daß auch Terry Tucker daran teilnahm. Die junge Indianerin servierte. Tucker ignorierte Jeff und Carl. Er widmete sich ganz der Suppe, löffelte sie rasch aus, lehnte sich zurück und starrte die Wand an. Carol war kühl und abweisend.
„Mr. Tucker“, sagte Jeff nach einiger Zeit, und der junge Mann wandte ihm unwillig den Kopf zu. „Haben Sie etwas von einem roten Riesenaffen gehört?“
„Nein. Ich habe keine Lust zu einer Unterhaltung. Sie können noch über Nacht bleiben, dank der Fürsprache meiner Schwester. Aber morgen will ich Sie nicht mehr sehen.“
„Warum hassen Sie die Menschen, Mr. Tucker?“
„Das geht Sie nichts an“, brummte Tucker. „Das ist meine Angelegenheit, und ich mische mich auch nicht in Ihre Angelegenheiten. Mir ist es völlig egal, warum Sie hier sind. Ich will nur, daß Sie möglichst bald verschwinden.“
„Das ist deutlich, Mr. Tucker“, sagte Jeff. „Was haben Sie zu verbergen?“
Tucker schob den Stuhl zurück und stand auf.
„Ich esse in meinem Zimmer, Carol“, sagte er und schlug die Tür wütend zu.
Carols Hände zitterten. Sie stand auf und folgte ihrem Bruder.
„Dieser Tucker ist aber empfindlich“, sagte Carl.
„Sie gehen bald schlafen, Carl“, sagte Jeff. „Sagen Sie ganz einfach, daß Ihnen nicht gut ist. Ich widme mich Carol. Schauen Sie sich etwas im Haus um. Ich möchte mehr wissen.“
„Das möchte ich auch“, sagte Carl. „So einen Menschen wie diesen Tucker habe ich bis jetzt noch nie kennengelernt.“
Die Indianerin räumte die Suppenteller fort und brachte neue Teller. Jeff sprach sie an, doch sie reagierte überhaupt nicht. Es war, als sei sie taub.
„Sehen Sie sich das Mädchen einmal genau an, Carl“, bat Jeff.
„Sie ist hübsch“, sagte Carl. „Die hübscheste Indianerin, die ich je gesehen habe.“
„Das meine ich nicht“, sagte Jeff ungeduldig. „Fällt Ihnen nichts an ihr auf?“
„O ja“, sagte Carl nachdenklich. „Die Augen. Sie sind leblos. Und ihre Bewegungen, wie eine mechanische Puppe. Das Mädchen wirkt wie ein Roboter.“
Jeff nickte zufrieden.
„Genau diesen Eindruck hatte ich auch. Sie wurde durch irgendetwas beeinflußt. Und ich wette, dahinter steckt dieser Tucker.“
„Was haben Sie eigentlich für einen Verdacht gegen ihn?“
„Das kann ich nicht sagen. Aber ich bin zu lange Reporter, um da nicht etwas zu wittern. Tucker hält sich seit einem Jahr hier auf. Was er hier tut, bekam ich noch nicht heraus. Carol sagte, daß er einige Studienfächer in den USA belegt hatte. Und in dieser Gegend tauchte der rote Affe auf. Ich glaube nicht daran, daß Tucker nichts von dem roten Affen weiß. Und seine Schwester ist unglücklich. Sie will fort, doch sie hat nicht den Mut dazu.“
„Sie glauben also, daß Tucker etwas mit dem roten Affen zu tun hat?“
„Das sagte ich nicht“, stellte Jeff fest. „Aber er muß etwas von ihm wissen. Was es ist, kann ich mir nicht denken, er...“
Carol kam ins Zimmer und setzte sich.
„Ich muß mich für das Verhalten meines Bruders entschuldigen“, sagte sie tonlos. „Verzeihen Sie.“
„Er ist ein rechter Sonderling“, sagte Carl.
„Nein, das ist er nicht“, sagte Carol bestimmt. „Er ist ein...“ Sie biß sich auf die Lippe.
„Was ist er?“
„Er mag keine fremden Menschen“, sagte Carol lahm.
* **
Jeff war froh, als sie das Abendessen hinter sich gebracht hatten. Das Essen war gut gewesen, doch die Stimmung frostig. Carol beantwortete alle an sie gestellten Fragen ausweichend.
Sie übersiedelten später in das Wohnzimmer, doch die Stimmung besserte sich nicht. Carols Bruder ließ sich nicht mehr blicken.
„Ich fühle mich noch immer müde“, sagte Carl und stand auf. „Ich gehe schlafen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, sagte Carol gleichgültig. „Gehen Sie auch schlafen, Jeff?“
Der Reporter schüttelte den Kopf. Seine Augen waren klein, und er sehnte sich nach Schlaf, doch er wollte es nochmals mit Carol versuchen. Vielleicht taute sie doch auf, wenn er mit ihr allein war.
Carol hatte eine Flasche Four Roses auf den Tisch gestellt, und eine Schale mit Eiswasser. Es war angenehm kühl im Zimmer. Die Klimaanlage lief auf vollen Touren.
„Wollen Sie Musik hören, Jeff?“ fragte Carol schließlich, um das peinliche Schweigen zu überbrücken.
„Gern“, sagte er.
„Was wollen Sie hören?“ fragte Carol.
„Mein Musikgeschmack ist nicht sehr ausgeprägt“, sagte Jeff grinsend. „Irgendwelche Schlager.“
Das Mädchen nickte und öffnete einen Schrank, holte einen Kassettenrecorder hervor und steckte eine Kassette hinein. Die Stimme Jose Felicianos klang aus dem Lautsprecher. Carol blieb einige Sekunden lang vor dem Recorder stehen, und ihr Gesicht entspannte sich.
„Ich höre ihn gern“, sagte sie und setzte sich. Sie hörten einige Zeit schweigend zu.
Jeff hing seinen Gedanken nach, schreckte aber hoch, als Carol sagte: „Ich sah ihn einmal in Chikago.“
Es dauerte einige Sekunden, bis Jeff begriff, wovon sie sprach. Sie redete über Feliciano.
„Es war vor einem halben Jahr“, sagte sie und lehnte sich zurück. Die Augen hatte sie halb geschlossen, und ihre Hände bewegten sich unruhig. „Es war ein scheußlicher Wintertag. Es schneite, und der Michigansee war kaum zusehen. Ich hatte einen Platz in der zwölften Reihe. Das Konzert war ausverkauft. Mehr als dreitausend Menschen füllten die Halle.“
Sie beugte sich vor und griff nach ihrem Glas. Langsam trank sie es leer, und Jeff schenkte ihr nach.
„Und dann tauchte er auf“, sagte sie leise. „Ein kleiner Mann, viel kleiner als ich. Ein häßlicher Mann. Er wurde auf die Bühne geführt. Er trug eine dunkle Brille. Er ist blind. Seine Bewegungen waren seltsam ungelenk. Er setzte sich auf eine Art Barhocker, der Schlagzeuger reichte ihm seine Gitarre, und er setzte sich zurecht. Dann fing er zu spielen an, und ich schloß die Augen, und plötzlich war ich allein im Saal. Nur er und ich, und er spielte für mich, für mich ganz allein. Der Klang der Gitarre und seiner Stimme, das war nur für mich da. Seine Stimme war eine zärtliche Hand, die meinen Körper koste, sich in meine Brust drängte und meine Seele zum Schwingen brachte.“
Ihre Augen schimmerten feucht, als sie Jeff ansah.
„Und immer wenn ich ihn jetzt höre, dann denke ich daran, wie er damals auf der Bühne saß, ein blinder Mann, der nie in seinem Leben gesehen hatte und nie sehen würde. Ein Mann, der Millionen verdient, der aber nicht weiß, wie schön es ist, eine Wiese zu sehen, die mit Tau bedeckt ist. Lachen Sie mich nicht aus, Jeff, ich bin eine Romantikerin.“
„Ihre Augen müssen bei Kerzenlicht noch schöner aussehen“, sagte er und griff nach ihren Händen, die sich wie kleine zitternde Vögel in seine Fäuste drängten, als würden sie Schutz suchen.
„Im Schrank in der ersten Lade ist eine Kerze“, sagte sie fast unhörbar. Jeff stand auf und holte sie. Es war eine dicke, stark herabgebrannte rote Kerze. Er stellte sie auf den Tisch und zündete den Docht an, dann löschte er die Deckenbeleuchtung aus.
„Ich hatte recht“, sagte er lächelnd. „Ihre Augen sind wunderschön.“
Sie lag halb auf der Couch und wehrte ihn nicht ab, als er sich über sie beugte, ihr Gesicht mit kleinen flüchtigen Küssen bedeckte. Er nahm sie in die Arme und küßte sie sanft auf die Lippen. Eine Zeitlang gab sie sich seinen Liebkosungen hin, dann schob sie ihn schwer atmend zur Seite.
Ihr Gesicht war jetzt voller Leben, und sie kam Jeff wunderhübsch vor. Der flackernde Schein der Kerze zauberte Schatten auf ihr glattes Gesicht und brachte die blonden Haare zum Glühen.
„Geh in dein Zimmer, Jeff“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Ich komme dann nach.“ Sie war rot geworden.
Er stand schweigend auf und ging aus dem Zimmer. In der Tür blieb er kurz stehen und drehte sich um. Sie hatte die Augen geschlossen und hörte der Musik zu. Leise schloß er die Tür.
* * *
Carl Ellison lag auf dem Bett und rauchte. Er starrte die weiße Decke an und versuchte sich zu entspannen, was ihm aber nicht gelang. Er drückte die Zigarette aus und richtete sich auf, dann schlüpfte er in die Stiefel und stand auf.
Unruhig ging er langsam im Zimmer auf und ab. Er hatte den ganzen Tag vergeblich versucht, nicht an Susan zu denken, doch es war ihm nicht gelungen.
Sie ist tot, sagte er sich immer wieder, doch er hoffte noch. In seiner Brust fand ein Kampf statt. Auf der einen Seite sagte ihm sein Verstand, daß sie tot war, auf der anderen Seite hoffte er aber doch noch.
In ein paar Wochen hatten sie heiraten wollen, aber dazu würde es nun wohl nicht mehr kommen. Im Augenblick konnte er sich ein Leben ohne Susan nicht vorstellen. In ihr hatte er gefunden, was er jahrelang vergeblich gesucht hatte: eine gutaussehende Frau, mit der er sich in allen Belangen prächtig verstand und die obendrein noch intelligent war und seine Interessen teilte.
Doch jetzt war sie von einem roten Riesenaffen geraubt worden, der nach den Gesetzen der Natur nicht existieren durfte, aber wie zum Hohn der Naturgesetze doch lebte.
Er schnallte sich den Gürtel um und öffnete die Tür. Im Haus war es ruhig. Zögernd trat er in den Gang und blieb stehen. Seine Tür ließ er offen.
Neben seinem Zimmer lag das Badezimmer, dann kam Jeffs Zimmer. Daneben lag der Speiseraum, die Küche befand sich gegenüber. Er huschte geräuschlos durch den Gang. Sein Ziel war die Tür, die am Ende des Ganges lag.
Er blieb vor ihr stehen und wandte den Kopf. Kein Laut war zu hören. Vorsichtig griff er nach der Türklinke und drückte sie nieder. Die Tür war nicht versperrt und schwang nach innen auf. Überrascht trat er einen Schritt näher. Eine Steintreppe führte in einen schmalen Gang. Er zog die Tür hinter sich zu und stieg die zehn Stufen hinunter.
Der Gang mußte mindestens fünfzig Meter lang sein. Carl öffnete die erste Tür, an der er vorbeikam, und trat ein. Der Raum war groß und mit Käfigen angefüllt, in denen Mäuse, Affen und andere kleine Tiere untergebracht waren. Carl sah sich flüchtig um, konnte aber nichts Besonderes entdecken.
Der Reihe nach untersuchte er die anderen Räume. Zwei Räume waren als Labors eingerichtet, und wie er sich überzeugen konnte, befanden sich die modernsten Geräte darin.
Ein anderes Zimmer war als Bibliothek eingerichtet. Die Wände waren bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt. Er sah sich die Titel rasch an. Dabei schüttelte er den Kopf. Es fanden sich Bücher über alle Wissensgebiete, eine beeindruckende Sammlung.
Der nächste Raum war dunkel. Er tastete nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei. Der Raum war quadratisch, und es standen zehn Betten darin, von denen sieben belegt waren. Er ging zwischen den Betten hindurch. Junge Indianerinnen schliefen darin. Als er das letzte Bett erreichte, schrie er entsetzt auf.
Susan lag darin. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen, und die Decke war über ihren nackten Oberkörper geglitten. Ihre Arme lagen über ihrer nackten Brust, und sie atmete ruhig.
„Susan“, keuchte er und kniete neben dem Bett nieder. Er packte sie an der Schulter und schüttelte das Mädchen, doch sie wachte nicht auf. „Susan!“ rief er wieder. „Ich bin es, Carl! Wach auf, Susan!“
Doch das Mädchen schlief einen totenähnlichen Schlaf. Sie reagierte, auf keine seiner Berührungen. Er schüttelte ihren Körper, doch sie regte sich nicht. Sie schlief ruhig weiter. Er zog die Decke zur Seite. Sie war völlig nackt. Dann stutzte er. Ihre Schamhaare waren abrasiert worden. Der Bauch wies einige Einstichstellen auf.
„Susan“, keuchte er. „Wach endlich auf.“
Doch das Mädchen schlief weiter.
Carl wandte sich dem Nebenbett zu und schüttelte die schlafende Indianerin, die sich aber nicht aufwecken ließ. Er wandte sich wieder Susan zu und fühlte ihren Puls, der aber normal war. Er legte seine Hand unter ihre linke Brust, der Herzschlag war regelmäßig.
Er stand auf und sah seine Freundin an, dann preßte er die Lippen zusammen und knirschte mit den Zähnen. Susan war von dem roten Affen geraubt worden, und jetzt fand er sie hier mit anderen Mädchen im Haus von Terry Tucker.
Wütend drehte er sich um und erstarrte.
In der Tür stand Terry Tucker und richtete eine Maschinenpistole auf ihn.
„Bewegen Sie sich nicht“, sagte Tucker und hob die Waffe.
„Was haben Sie mit Susan gemacht?“ brüllte Carl und ballte die Hände.
„Keine Bewegung“, sagte Tucker scharf. „Sonst muß ich abdrücken. Und das wäre mir unangenehm, da ich kein Mörder bin.“
Carl blieb regungslos stehen.
„Antworten Sie!“ brüllte er. „Was haben Sie mit Susan gemacht?“
Tucker zuckte mit den Schultern.
„Noch nichts, Mister“, sagte er. „Sie bekam von mir eine Injektion, daraufhin schlief sie ein.“
„Und was haben Sie mit dem roten Affen zu tun, Tucker?“
Tucker lächelte leicht.
„Das braucht Sie nicht zu interessieren. Ich bedaure es sehr, daß Sie nicht in Ihrem Zimmer geblieben sind. Sie sind zu neugierig. Nehmen Sie die Hände in die Höhe und kommen Sie langsam auf mich zu. Ganz langsam.“
Carl gehorchte. Er ging zwischen den Betten hindurch, Tucker trat einige Schritte zurück und blieb im Gang stehen. Er öffnete eine Tür.
„Gehen Sie da hinein“, sagte Tucker, und Carl gehorchte wieder.
Der Raum erinnerte ihn an ein Ärztezimmer. Einige Schränke standen an den Wänden, eine fahrbare Bahre stand in der Mitte, und einige medizinische Apparate waren an der rechts liegenden Wand befestigt.
„Gehen Sie bis zur Wand“, sagte Tucker. „So ist es gut. Jetzt drücken Sie die Hände gegen die Wand und bleiben ruhig stehen.“
„Was haben Sie mit mir vor?“ fragte Carl wütend.
Tucker gab keine Antwort. Er öffnete eine Lade und holte eine Luftdruckpistole hervor. Er senkte die Maschinenpistole, hob die Luftdruckpistole, zielte und drückte ab. Carl stieß einen leisen Schrei aus und griff sich an den Nacken. Ein winziger Pfeil hatte sich in das Fleisch gebohrt. Bevor er den Pfeil herausreißen konnte, wurde es schwarz vor seinen Augen, und er brach ohnmächtig zusammen.
Tucker legte die Luftdruckpistole zurück, warf die Maschinenpistole auf die Bahre und blieb vor Carl Ellison stehen. Er bückte sich und drehte ihn auf den Rücken. Seufzend richtete er eine Injektion her, schob den Ärmel zurück und spritzte das Serum in Carls Armbeuge. Dann warf er die Spritze in eine Schale, warf dem Bewußtlosen noch einen Blick zu und setzte sich auf einen Stuhl.
Auf seiner Stirn erschienen einige Falten, dann seufzte er wieder.
* * *
Carol hatte sich Zeit gelassen, und Jeff war schon halb eingeschlafen, als sie ins Zimmer kam. Er schreckte hoch und setzte sich auf. Sie trug ein knöchellanges dunkelblaues Nachthemd, das eng an ihrem Oberkörper lag und mit einem schmalen Gürtel um die Taille zusammengebunden war.
Jeff schob die Bettdecke zur Seite, und sie blieb kurz stehen, setzte sich auf die Bettkante und kroch zu Jeff ins Bett. Er spürte die Wärme und Nachgiebigkeit ihres Körpers, als sie sich eng gegen ihn schmiegte.
Unter seinen zärtlichen Händen entspannte sie sich. Jeff ließ sich Zeit. Erst als sie sich verlangend gegen ihn preßte, wurden die Bewegungen seiner Hände heftiger und fordernder. Durch das Nachthemd spürte er die steifen Spitzen ihrer Brüste.
Minuten später lag das Nachthemd über einem Stuhl, und sie drängte ihm ihren nackten, zitternden Körper entgegen. Sie bäumte sich unter ihm auf und seufzte, als er sich mit ihrem Körper vereinte. Ihre Hände lagen um seinen Nacken, und sie paßte sich seinen sanften Bewegungen an, die langsam rascher wurden.
Für Jeff versank die Welt, nur mehr Carol existierte. Ihr angespanntes Gesicht mit den flatternden Lidern, die festen Brüste und langen Beine, der Geruch und die Wärme ihres Körpers, das alles bildete eine aufregende Einheit, die Jeff mitriß. Sie verlangte nach heftigeren Bewegungen, und er gab sie ihr. Sie stieß ein leises Wimmern aus und warf den Kopf hin und her, als sie den ersten Höhepunkt erreichte.
Unbemerkt von den beiden wurde die Tür geöffnet, und Terry Tucker trat ins Zimmer. Er blieb überrascht stehen und ließ die Maschinenpistole sinken, als er erkannte, daß Jeff nicht allein war.
Tuckers Gesicht veränderte sich erschreckend. Die Haut spannte sich über der Nase, der Mund wurde zu einem häßlichen Geierschnabel, die Augen traten aus den Höhlen, und das Gesicht wurde fleckig.
„Aufhören“, brüllte Tucker. „Sofort aufhören!“ Seine Stimme war ein nahezu unverständliches Krächzen.
Jeff zuckte zusammen und wandte den Kopf. Carol klammerte sich an ihn und sah ihren Bruder entsetzt an.
„Lassen Sie meine Schwester los, Sie Dreckskerl“, keuchte Tucker.
Jeff glitt von Carol und legte sich auf den Rücken.
„Lassen Sie uns allein, Tucker“, sagte er. „Ihre Schwester ist alt genug, um zu wissen, was sie tut.“
„Du kommst mit, Carol“, schrie Tucker wütend.
„Sie bleibt“, sagte Jeff fest.
„Sie kommt mit“, kreischte Tucker und hob die Maschinenpistole. Er entsicherte sie und kam einen Schritt näher.
„Sind Sie wahnsinnig geworden?“ schrie Jeff. „Legen Sie sofort die Maschinenpistole weg.“
„Ich denke nicht daran“, sagte Tucker. „Raus aus dem Bett mit dir, Carol.“
Jeff schlug die Decke zurück und setzte sich auf.
„Niederlegen“, sagte Tucker. „Wenn Sie nicht sofort gehorchen, schieße ich.“
„Du gehst auf dein Zimmer, Carol“, sagte Tucker, und seine Schwester richtete sich zitternd auf. Sie kroch über Jeff, griff nach dem Nachthemd und schlüpfte hinein. Sie preßte die Lippen zusammen und ging an ihrem Bruder vorbei.
„Ziehen Sie sich an, Baker“, sagte Tucker.
Jeff zuckte mit den Schultern und griff nach der Unterwäsche.
„Legen Sie endlich die verdammte Maschinenpistole weg“, sagte er ungehalten. „Und reißen Sie sich zusammen, Mann.“
Tucker leckte sich über die Lippen.
„Sie sind ein Schwein, Baker“, sagte er. „So mißbrauchen Sie die Gastfreundschaft, die ich Ihnen...“
„Gastfreundschaft“, sagte Jeff höhnisch. „Daß ich nicht lache. Sie wollten uns ja gar nicht ins Haus lassen.“
„Und dann schlafen Sie noch mit meiner Schwester“, sagte Tucker.
Jeff stopfte die Bluse in die Hose und knöpfte sie zu.
„Sie führen sich wie ein hysterischer Ehemann auf, der seine Frau mit einem anderen Mann im Bett entdeckt hat. Sind Sie vielleicht in Ihre Schwester verliebt?“
„Halten Sie den Mund“, schnauzte ihn Tucker an, und Jeff grinste.
„Genau, wie ich es mir dachte“, sagte Jeff. „Sie sind...“
„Maulhalten“, schrie Tucker und fuchtelte mit der Maschinenpistole herum. „Gehen Sie vor, Baker“
Jeff schüttelte den Kopf, ging an Tucker vorbei und trat auf den Gang. Eine der Türen wurde geöffnet, und Carol trat hervor. Sie war in Jeans und in eine Bluse geschlüpft.
„Geh zurück in dein Zimmer“, brüllte Tucker.
„Ich denke nicht daran“, sagte Carol fest. „Ich habe genug. Endgültig genug von dir, Terry. Ich gehe mit Jeff.“
„Daraus wird nichts“, sagte Tucker. „Bakers Freund war neugierig. Er durchsuchte das Haus.“
„Was hast du mit ihm getan?“
„Eingesperrt. Und das werde ich auch mit Baker tun.“
„Du bist wahnsinnig“, schrie Carol.
Jeff war an ihr vorbeigegangen, und sie sprang zwischen ihn und ihren Bruder.
„Flieh, Jeff“, schrie sie. „Lauf aus dem Haus. Ich halte meinen Bruder auf.“
Sie warf sich gegen Tucker und drückte ihn gegen die Wand. Jeff drehte sich um. Es gelang Tucker die Maschinenpistole durchzuziehen, und die Kugeln rasten knapp neben Jeff in die Tür.
Tucker hatte seine Schwester abgeschüttelt, die am Boden lag und halb ohnmächtig war. Er hob die Maschinenpistole und zielte auf Jeff, der durch die Tür sprang und sich fallen ließ. Er rollte zur Seite, sprang auf und rannte davon. Als er den Urwald erreicht hatte, blieb er schwer atmend stehen und blickte zum Haus zurück.
Tucker stand in der Tür, trat ins Freie und ging nach rechts. Einige Sekunden später konnte er ihn nicht mehr sehen.
Jeff überlegte, ob er zum Haus zurückkehren sollte, verwarf aber diesen Gedanken, da er annahm, daß irgendwo in der Dunkelheit Tucker auf ihn lauerte.
Doch Tucker tauchte nach einer Minute wieder auf. Er trat ins Haus und schloß die Tür.
Jeff schlich langsam zum Haus. Aus dem kurzen Dialog zwischen Carol und ihrem Bruder hatte er entnommen, daß Carl Ellison bei der Durchsuchung des Hauses von Tucker erwischt worden war.
Jeff wartete. Er steckte sich eine Zigarette an. Carl Ellison mußte etwas entdeckt haben, sonst hätte ihn Tucker kaum eingesperrt. Und das bedeutete, daß Tucker einiges zu verbergen hatte, Und noch eines war offensichtlich: Carol hatte Angst vor ihrem Bruder, und sie wollte fort. Nachdenklich rauchte Jeff. Im Haus war es ruhig, und um ihn waren die Geräusche des nächtlichen Urwalds. Er fühlte sich ziemlich unbehaglich, da er unbewaffnet war.
Plötzlich war ein lautes Krachen zu hören, und es kam Jeff, vor, als würde der Urwald die Luft anhalten. Jedes Geräusch erstarb. Wieder war das Krachen zu hören.
Da war es wieder, diesmal kam es von rechts. Jeff drehte sich um und erstarrte.
Der rote Affe trat auf die Lichtung und blieb stehen.
Automatisch ließ sich Jeff zu Boden fallen und robbte auf den Urwald zu. Er hoffte, daß das Monster ihn noch nicht gesehen hatte. Er riß sich die Hände blutig, drückte sich ganz dicht an den Boden und glitt weiter.
Als er nur mehr wenige Meter vom Urwald entfernt war, blieb er liegen und hob den Blick. Der Affe stand einige Meter vom Haus entfernt, bückte sich und witterte. Er hörte das Schnaufen des riesigen Tieres. Der Affe setzte sich langsam in Bewegung. Er ging auf allen vieren, schnüffelte am Boden, und seine Bewegungen wurden rascher.
Er hat mich entdeckt, dachte Jeff und sprang auf, stolperte über eine Wurzel, kam ins Taumeln und ging in die Knie. Doch sofort richtete er sich wieder auf.
Er spürte den fauligen Atem des Monsters im Nacken, dann bekam er einen Stoß in den Rücken und fiel auf den Bauch. Er versuchte aufzustehen, doch ein Finger des Monsters bohrte sich in sein Rückgrat. Jeff versuchte sich zur Seite zu werfen, doch der Druck des Fingers verstärkte sich. Er keuchte, rote Kreise drehten sich vor seinen Augen. Das Monster drückte ihm die Luft aus den Lungen. Er japste nach Luft und kämpfte gegen die Ohnmacht an.
Plötzlich lockerte sich der Druck, und er spürte einen Schmerz in seinem rechten Bein. Dann wurde er hochgerissen, schwebte zwei Meter über dem Boden. Der Affe hielt sein Bein umklammert, und Jeff versuchte sich zu befreien, doch der Griff war zu stark.
Die Finger drückten auf sein Gesicht, er biß zu, doch das Monster reagierte darauf überhaupt nicht.
Das ist das Ende, dachte er, dann fiel er in Ohnmacht.
* * *
Jeff erwachte stöhnend. Er wollte sich aufrichten, doch es ging nicht. Seine Arme waren gefesselt. Er schlug die Augen auf und sah sich um. Er lag auf einer Holzpritsche, in der eiserne Ringe eingelassen waren, in denen seine Arme steckten. Der Raum war völlig leer, nur die Pritsche befand sich darin, auf der er lag.
Er schloß die Augen, sein Kopf schmerzte, und er glaubte, daß jeder Knochen im Leib gebrochen war. Der Schmerz, der von seinem Kopf ausging, durchzog den ganzen Körper, doch der Nacken schmerzte besonders. Außerdem war ihm noch übel.
Er versuchte sich aus der Umklammerung der eisernen Spangen zu befreien, doch sie waren zu fest. Wütend schlug er mit den Beinen auf die Pritsche, doch nichts rührte sich.
Der Affe hatte ihn gefangengenommen, und er war ziemlich sicher, daß er sich in Tuckers Haus befand.
Er döste einige Zeit vor sich hin und fuhr auf, als die Tür geöffnet wurde und Tucker eintrat. Er blieb neben Jeff stehen und sah ihn an.
„Was haben Sie mit mir vor, Tucker?“ fragte Jeff und hob den Kopf. Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Zunge lag wie ein geschwollener Klumpen im Mund.
„Um es ganz ehrlich zu sagen, Baker, ich weiß es nicht.“
„Lassen Sie mich los“, sagte Jeff.
Tucker schüttelte den Kopf und setzte sich auf die Pritsche. „Das ist leider unmöglich“, sagte er. „Sie wissen schon zuviel, viel zuviel.“
„Ich weiß gar nichts“, sagte Jeff krächzend.
„Ich wollte nichts als Ruhe“, sagte Tucker mehr zu sich selbst. „Ich wollte ohne Störungen meine Experimente durchführen. Deshalb ließ ich mich hier nieder, weitab von jeder Zivilisation, aber auch hier hatte ich keine Ruhe.“ Er sah Jeff wieder an. „Sie sind Reporter. Wenn ich Sie freilasse, steht in ein paar Tagen ein sensationeller Artikel in der Zeitung, und das will ich nicht, Baker. Ich will, daß die Welt nichts von mir weiß.“
„Sie erschufen den roten Affen, nicht?“
Tucker lächelte.
„So kann man es auch sagen.“
„Der Affe gehorcht Ihnen?“
„Ja, er gehorcht“, sagte Tucker.
„Welche Experimente führten Sie durch, Tucker?“
„Sie sind zu neugierig, Baker“, sagte Tucker und stand auf. Langsam ging er zur Tür.
„Bleiben Sie hier, Tucker“, schrie ihm Jeff nach, doch Tucker hörte nicht. Jeff schloß die Augen. Er fragte sich, wie es Tucker gelungen war, den roten Affen zu erschaffen und welche Experimente er durchführte.
Minuten später kam Tucker zurück. Er trug in der rechten Hand eine Spritze, die mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war.
„Sie werden jetzt auf einige Stunden Ihren Willen verlieren, Baker“, sagte Tucker und setzte sich.
Jeff preßte die Lippen zusammen. Es war sinnlos, mit Tucker zu diskutieren, da er doch machen würde, was er wollte.
„Was ist mit Carl?“ fragte Jeff. „Und befindet sich auch Susan in Ihrer Gewalt?“
Tucker gab keine Antwort. Er injizierte ihm die Flüssigkeit in die rechte Armbeuge. Innerhalb weniger Sekunden fühlte sich Jeff angenehm entspannt. Er schloß die Augen und atmete ruhig. Tucker wartete einige Minuten, dann löste er die Handfesseln.
„Stehen Sie auf, Baker“, sagte er. „Und folgen Sie mir.“
Jeff folgte augenblicklich. Sein Gehirn war eingenebelt, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Tucker untersuchte Jeff genau. Er prüfte vor allem die Herztätigkeit des Reporters. Danach führte er ihn in den Saal, in dem die Indianerinnen und Susan lagen. Jeff legte sich auf ein Bett, und Tucker befahl ihm zu schlafen.
* * *
Tucker sperrte die Tür zum Zimmer seiner Schwester auf und trat ein. Carol saß auf dem Bett und starrte ihren Bruder böse an.
„Hast du Vernunft angenommen, Carol?“ fragte Tucker spöttisch.
„Was hast du mit Jeff vor?“ fragte sie ängstlich.
Tucker zuckte mit den Schultern.
„Das weiß ich noch nicht genau. Wahrscheinlich werde ich ihm die Erinnerung rauben, und nachdem ich meine Experimente beendet habe, ihn freilassen.“
Carol sprang auf.
„Du bist ein Scheusal“, keuchte sie. „Du bist völlig wahnsinnig geworden.“
„Unsinn“, sagte Tucker. „Ich bin nicht wahnsinnig, das weißt du ganz genau.“
„Das weiß ich nicht“, schrie sie. „Die Experimente, die du durchführst, sind dem Hirn eines Wahnsinnigen entsprungen. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben, Terry. Du hast dich innerhalb eines Jahres sehr zu deinem Nachteil verwandelt. Deine Experimente sind mir unheimlich, und du bist skrupellos geworden. Mindestens zwanzig Menschen haben durch dich den Tod gefunden.“
„Ich habe keinen Menschen getötet“, sagte Tucker ruhig.
„Aber der verdammte Affe“, kreischte Carol. „Er zerstörte einige Indianerdörfer, und dabei tötete er mindestens zwanzig Indianer. Und das verfluchte Biest handelte auf deinen Befehl. Du bist am Tod der Indianer schuld.“
„Das ist bedauerlich“, sagte Tucker zynisch, „war aber nicht zu ändern.“
Carol stand vor ihrem Bruder und schüttelte den Kopf.
„Wo ist der Terry, den ich einmal kannte und mochte?“ fragte sie leise. „Du bist ein anderer Mensch geworden, merkst du das nicht? Ein Zyniker, ein Sadist, völlig verrückt.“
Tucker ging nicht auf ihre Vorwürfe ein.
„Ich hatte Erfolg mit meinen Experimenten. Du brauchst dir ja nur Harlo ansehen.“
„Terry“, sagte Carol beschwörend. „Siehst du nicht das Ungeheuerliche dieses Versuches?“
Tucker lachte.
„Daran war nichts Ungeheuerliches, Carol.“
„Der rote Affe ist doch, strenggenommen, ein Sohn von dir.“
„So kann man es auch sagen“, erwiderte Tucker kichernd. „Aber mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte mein eigenes Sperma zu diesem Versuch verwenden, und ich veränderte es. Dann pflanzte ich es einer Äffin ein, und das Produkt aus dieser Verbindung ist Harlo geworden. Die erste Kreuzung zwischen einem Menschen und einem Affen. Etwas, was für völlig unmöglich gehalten wurde, doch, es gelang mir. Es gelang mir auch, Ratten mit Hunden zu kreuzen, und Affen mit Pumas. Jeder Zoologe und Genetiker wird dir erklären, daß dies unmöglich ist, doch ich schaffte es. Ich bin nicht wahnsinnig, Schwester, ganz im Gegenteil, mir gelang eine der sensationellsten Erfindungen der letzten Jahre.“
„Eine Erfindung“, sagte Carol kalt, „die völlig nutzlos ist. Davon profitiert kein Mensch. Es ist eine Erfindung, gegen die sich das gesunde Empfinden eines jeden Menschen sträubt. Diese Erfindung ist unmenschlich, grausig und unappetitlich.“
„Das ist deine Meinung, Carol“, sagte Tucker böse. „Ich denke da anders. Diese Experimente eröffnen ganz neue Möglichkeiten. Es wird möglich sein, völlig neue Geschöpfe zu erschaffen. Der Mensch ist nicht mehr an seine Gestalt gebunden, es wird möglich sein, seinem Körper jede beliebige Gestalt zu geben.“
„Das ist scheußlich“, schrie Carol.
„Und zusätzlich gelangen mir einige andere Experimente recht gut“, sagte Tucker grinsend. „Ich kann Menschen willenlos machen und ihr Gedächtnis wie ein Magnetband löschen.“
„Darauf bist du noch stolz“, sagte Carol verächtlich. „Ich will fort, Terry. Ich halte es nicht mehr aus.“
„Tut mir leid, Carol“, sagte er. „Du bist zwar meine Schwester, aber ich kann kein Risiko mit dir eingehen. Du bleibst hier. Entweder du nimmst Vernunft an, oder...“
„Du drohst mir?“ fragte Carol. „Siehst du jetzt endlich, wie tief du gesunken bist, Terry?“
Tucker stand auf.
„Ich drohe dir nicht, Carol“, sagte er, „aber es wäre mir sehr unangenehm, wenn du mich zwingen würdest, dich zu behandeln.“
Carol zitterte vor unterdrückter Wut.
„Ich habe verstanden“, sagte sie keuchend. „Demnach bin ich jetzt eine Gefangene?“
„So kann man es auch sagen“, stellte Tucker kalt fest. „Du bleibst in deinem Zimmer.“
Das Mädchen setzte sich.
„Ich flehe dich an, Terry, nimm Vernunft an.“
„Ich weiß, was ich tue“, sagte er.
„Was machst du mit Susan Wood und Carl Ellison?“
„Susan verwende ich zu einem interessanten Experiment“, sagte Tucker zynisch. „Zuerst wollte ich ihr behandelten Affensamen einpflanzen, aber davon bin ich abgekommen. Ich werde Carls Sperma behandeln und sie damit befruchten. Ich bin schon neugierig, was dabei herauskommt, ein Genie oder ein Monster.“
Carol schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.
„Du bist kein Mensch mehr“, stieß sie schluchzend hervor. „Du bist ein Monster.“
„Ich kann auch anders, Carol“, sagte Tucker drohend. „Seit gestern verabscheue ich dich. Es war entwürdigend, wie du dich Jeff an den Hals geworfen hast.“
Er öffnete die Tür, trat in den Gang und sperrte ab.
Das Mädchen schluchzte eine Zeitlang weiter, dann wischte sie sich die Tränen ab.
Sie mußte fliehen. Sie hatte Angst vor ihrem Bruder. Sie konnte sich nicht erklären, was die Veränderung Terrys hervorgerufen hatte. Bis vor einem Jahr war er ein netter Junge gewesen, mit dem sie sich prächtig verstand. Nach dem Tod ihrer Eltern vor drei Jahren war sie zu Terry gezogen. Schon als Kind war er überdurchschnittlich intelligent gewesen. Er lernte unglaublich rasch und merkte sich alles, was er einmal gelesen hatte.
Er war von einer unglaublichen Wissensbegierde, und hatte sich mit nahezu allen Wissensgebieten beschäftigt. Er studierte eifrig, schloß aber kein Studium ab, da er es als unwichtig empfand, einen Titel zu haben. Er war lernbesessen. Dann fing er mit einigen Experimenten an, hatte damit die ersten Erfolge zu verzeichnen und meldete einige Patente an, die ihm recht viel Geld einbrachten.
Von einem Tag auf den anderen eröffnete er Carol, daß er genug von Chikago habe und nach Brasilien gehen wolle, wo er in Ruhe und ungestört seine Experimente durchführen könne. Er fuhr los, und Carol hörte ein halbes Jahr nichts von ihm. Dann bekam sie Briefe, in denen er sie bat, zu ihm zu kommen. Carol war nur mäßig begeistert gewesen, hatte sich dann aber doch entschlossen, zu Terry zu fahren. Er hatte sie abgeholt, und mit dem Motorboot waren sie zu seinem Haus gefahren.
Anfangs war er ihr nicht sehr verändert erschienen, doch nach ein paar Tagen, als sie nach und nach mehr von seinen Experimenten erfuhr, bekam sie Angst. Sie hatte einige lautstarke Auseinandersetzungen mit ihm, die aber nichts nützten. Sie wollte fort, doch er weigerte sich, sie fortzulassen. Sie sei der einzige Mensch, der ihm etwas bedeute, hatte Terry gesagt, und er lasse sie nicht fort.
Sie hatte alles versucht, ihn umzustimmen, ihn von seinen wahnsinnigen Experimenten abzuhalten, doch vergeblich.
Sie mußte fort, möglichst rasch. Sie hatte Angst vor Terry und dem unheimlichen Geschöpf, das er Harlo nannte und das eine Kreuzung zwischen Mensch und Affe war.
Sie hatte Harlo einige Male gesehen, und sich dabei immer gefürchtet. Das unheimliche Geschöpf verfügte über eine gewisse Intelligenz, und es war Terry möglich, sich mit ihm zu unterhalten. Und Harlo führte alle Befehle Terrys ohne Widerspruch aus.
Terry hatte ihr einmal gezeigt, wie er den menschlichen Samen behandelte, doch sie hatte nicht viel davon mitbekommen. Es war zu kompliziert für sie gewesen, da der Vorgang ziemlich langwierig und schwierig war.
Carol ging rasch im Zimmer auf und ab. Es war später Nachmittag. In der Nacht würde sie versuchen zu entfliehen. Es war ihr aber noch nicht klar, wie sie es schaffen würde.
Sie setzte sich und überlegte.
Terry würde ihr Zimmer abgesperrt lassen. Das würde keine Schwierigkeit bereiten, da sie einen Reserveschlüssel hatte. Würde er jedoch den Schlüssel von außen stecken lassen, dann konnte sie nur aufsperren, wenn sie den Schlüssel hinausstieß.
Außerdem würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als freundlicher zu Terry sein. Aber sie durfte es nicht zu auffällig machen.
* * *
Terry holte sie zum Abendbrot in den Speiseraum. Sie sprachen nicht während des Essens. Carol hatte keinen Appetit und aß nur wenige Bissen.
„Können wir nicht vernünftig miteinander sprechen, Terry?“ sagte Carol schließlich.
„Das hängt nicht von mir ab“, sagte Tucker frostig. „Du kennst meinen Standpunkt, und davon gehe ich nicht ab.“
Carol seufzte.
„Ich verlange doch nicht viel von dir, Terry. Ich will nur, daß du mich gehen läßt.“
„Das schlage dir aus dem Kopf“, sagte Tucker. „Das kommt überhaupt nicht in Frage.“
„Und wie lange muß ich noch hierbleiben?“
„Bis ich mit meinen Experimenten fertig bin.“
„Das kann noch Jahre dauern“, sagte Carol spitz.
„Nein, höchstens ein paar Wochen“, sagte ihr Bruder. „Dann kehre ich in die Staaten zurück.“
„Und was geschieht mit deinen Gefangenen?“
„Die lasse ich frei.“
„Und sie haben kein Gedächtnis mehr, nicht wahr?“
„Das wird sich nicht vermeiden lassen“, sagte Tucker kühl.
„Was hast du mit Jeff getan?“ Tucker starrte sie böse an.
„Du denkst wohl nur an diesen Baker, was? Ich bin nicht mehr vorhanden.“
„Das ist doch etwas ganz anderes“, sagte sie.
„Das ist überhaupt nicht anders“, knurrte er. „Liebst du vielleicht den Kerl?“
„Nein“, sagte Carol nachdenklich. „Das glaube ich nicht.“
„Warum bist du dann mit ihm ins Bett gegangen?“ fragte er grimmig.
Carol schob sich die Haare aus dem Gesicht.
„Weil er nett ist.“
„Du gehst also mit allen Männern ins Bett, die du nett findest?“ Angriffslustig streckte er sein Kinn vor.
„Nein“, sagte Carol. „Das tue ich nicht. Seit drei Monaten werde ich hier wie eine Gefangene gehalten, und dann taucht ein netter Mann auf, ein Mann, der mich versteht, der freundlich zu mir ist. Ganz zum Unterschied von dir.“
„Du bist ja mannstoll“, sagte Tucker verächtlich.
Carols Augen funkelten ihn wütend an. „Jeder ist eben nicht so ein Mönch wie du“, sagte sie höhnisch, und ihr Bruder lief rot an.
„Genug davon“, sagte er und stand auf.
„Was hast du mit ihm getan?“
„Nichts“, sagte er. „Es geht ihm gut.“
„Ich möchte ihn sehen“, sagte Carol und trat neben Tucker.
„„Kommt nicht in Frage. Du gehst auf dein Zimmer.”
Er sperrte die Tür ab und zog den Schlüssel aus dem Schloß, wie Carol erleichtert bemerkte.
Jetzt hatte sie einige Stunden Zeit. Sie wußte, daß ihr Bruder kaum vor Mitternacht schlafen ging.
Sie legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen, doch es ging nicht. Sie konnte ihre Gedanken nicht abschalten, sie war zu nervös.
Nach zwölf Uhr hörte sie vor ihrer Tür leise Schritte, die kurz stehen - blieben. Sie kannte diese Schritte. Es war Terry. Nach einigen Sekunden ging er weiter.
Sie blieb ruhig liegen. Das Licht hatte sie abgedreht. Es war völlig dunkel in dem fensterlosen Raum. Sie wartete eine halbe Stunde, dann stand sie leise auf, zog sich an und wartete noch einige Minuten. Im Haus war es ruhig.
Nach ein Uhr öffnete sie die Tür, zog sie halb auf und trat in den Gang. Sie war barfuß und wartete zwei Minuten. Doch alles blieb ruhig. Sie huschte den Gang entlang und blieb vor der Tür stehen, die in den Keller führte, der sich unter dem ganzen Haus erstreckte. Die Tür war versperrt, doch der Schlüssel steckte. Sie drehte ihn rasch um, wandte den Kopf und lauschte.
Die Tür glitt lautlos auf, und sie lief geräuschlos die Stufen hinunter. Ihr Bruder hatte sie einige Male in sein unterirdisches Reich mitgenommen. Sie öffnete eine Tür und knipste das Licht an. Susan Wood und Carl Ellison schliefen den totenähnlichen Schlaf, und die Indianerinnen rührten sich auch nicht. Carol wußte, daß es nicht möglich war, die Schlafenden zu wecken. Sie löschte das Licht und schloß die Tür. Der Reihe nach sah sie rasch in die anderen Räume, bis sie Jeff entdeckte.
Er lag auf einer Holzpritsche, und seine Arme waren mit Stahlfesseln zusammengepreßt, die aus der Pritsche ragten.
Jeff blinzelte verschlafen ins Licht.
„Still“, sagte Carol leise.
Jeff hob den Kopf und sah sie an.
„Mein Bruder schläft“, sagte sie. „Wir werden fliehen. Nur frage ich mich, wie ich die Fesseln lösen kann.“
„Das ist ganz einfach“, sagte Jeff fast unhörbar. „Am Fußende der Pritsche muß sich ein Schalter befinden, den brauchst du nur herunterzuklappen, und die Fesseln öffnen sich.“
Carol beugte sich vor und sah den Schalter. Sie drückte ihn herunter, und die Fesseln glitten auf. Jeff richtete sich auf und massierte die Unterarme. Er stand schwankend auf, setzte sich gleich wieder und schüttelte die Arme.
„Wäre es nicht besser“, sagte Jeff, „wenn wir deinen Bruder überwältigen würden, anstatt zu fliehen?“
Carol schüttelte entschieden den Kopf.
„Sein Zimmer ist versperrt, wir kommen nicht hinein, und wenn er entdeckt, daß wir frei sind, dann hetzt er uns den Riesenaffen an den Hals. Wir müssen fliehen, das ist unsere einzige Chance.“
„Was ist mit Carl?“
„Er ist bewußtlos“, sagte Carol. „Wir können ihn nicht mitnehmen, auch Susan Wood müssen wir hier lassen.“
„Sie ist doch da“, sagte Jeff grimmig. „Wie ich es mir gedacht habe.“
„Wir verlassen sofort das Haus“, sagte Carol. „Wir müssen nur zehn Minuten gehen, dann erreichen wir den Fluß. Terry hat dort in einer Bootshütte zwei Motorboote. Kannst du gehen, Jeff?“
Der Reporter stand auf. Er fühlte sich müde, sein Körper schmerzte noch immer. Mühsam tat er einige Schritte.
„Es muß gehen“, sagte er. „Wir brauchen aber Waffen.“
„Mein Bruder muß hier einige Gewehre haben“, sagte Carol. „Ich hole zwei.“
Jeff folgte ihr, blieb aber am Gang stehen und machte Lockerungsübungen. Nach einigen Minuten fühlte er sich etwas besser. Carol kam mit zwei Schnellfeuergewehren und einigen Magazinen zurück, die Jeff im Gürtel verstaute.
„Wir müssen leise sein“, sagte Carol. „Er darf nicht aufwachen, sonst sind wir verloren.“
Sie schlichen die Stufen hoch und huschten über den Gang. Carol holte rasch aus ihrem Zimmer Stiefel, dann eilten sie weiter, sperrten die Eingangstür auf und traten auf die Lichtung.
Carol schlüpfte rasch in die Stiefel. Jeff war neben der Tür stehengeblieben und lauschte ins Haus. Er hörte das Zuschlagen einer Tür und zuckte zusammen.
„Dein Bruder ist wach“, sagte er. „Wir haben nur mehr wenige Sekunden Zeit, bis er unsere Flucht entdeckt hat.“
Carol lief voraus. Sie kannte den Weg. Sie rannte zum Urwald, blieb kurz stehen und sah sich um. Ein schmaler Weg schlängelte sich durch die Bäume hindurch. Jeff folgte Carol schwer atmend. Immer wieder wandte er den Kopf und sah zurück, doch er konnte nichts erkennen. Es war zu dunkel.
Sie liefen, so rasch es ging, und versuchten erst gar nicht, keine Geräusche zu verursachen.
„Er hat uns gewiß schon den Affen nachgejagt“, keuchte Carol. „Rascher, wir müssen rascher laufen.“
Nach fünf Minuten standen die Bäume nicht mehr so dicht beisammen, und sie konnten Einzelheiten erkennen. Sie erreichten die Uferböschung, und Carol lief nach rechts. Der Himmel war wolkenlos, und der Mond stand hoch. Der Fluß schimmerte schwarz, und in fünfzig Meter Entfernung sah Jeff die Silhouette des Bootshauses.
Sie hörten das Krachen von Zweigen. Der Affe war hinter ihnen her. Jeff stolperte, stürzte zu Boden, verlor dabei sein Gewehr, das über die Uferböschung fiel und im Fluß verschwand.
„Komm schon“, schrie ihm Carol ungeduldig zu, die weitergelaufen war und das Bootshaus erreicht hatte. Die Tür war mit einem Schloß gesichert. Sie riß daran, bekam es aber nicht auf.
Jeff stand taumelnd auf und rannte weiter. Neben Carol blieb er schwer atmend stehen. Er riß am Vorhängeschloß, aber vergebens.
„Ich brauche einen Stein“, sagte er keuchend.
Sie bückten sich und fanden schließlich einen faustgroßen Stein. Es dauerte nur Sekunden, und das Schloß sprang auf.
Im Inneren des Bootshauses war es völlig dunkel. Sie tasteten sich langsam vorwärts. Jeff blieb stehen und riß ein Streichholz an. Er bückte sich. Carol hatte recht, hier lagen zwei Motorboote. Eines war ziemlich groß, das andere eine kleine Nußschale.
„Wir nehmen das kleine Boot“, sagte Jeff und sprang ins Boot, das heftig schwankte. Carol folgte seinem Beispiel. Jeff riß ein weiteres Hölzchen an. Das Boot war ziemlich klein, mit einem einfachen Außenbordmotor ausgestattet. Das Streichholz verlöschte, und er riß ein weiteres an.
Er holte sein Taschenmesser heraus und schnitt die Schnur durch, mit dem das Boot am Steg festgebunden war. Jeff packte eine Stange und stieß das Boot ab. Es schaukelte leicht, drehte sich etwas zur Seite und war halb aus dem Bootshaus, als sie den Schatten sahen. Er riß den Starter durch, doch der Motor sprang nicht an. Er versuchte es nochmals, diesmal stärker, wieder wollte der Motor nicht anspringen. Das Boot glitt aus dem Bootshaus.
„Der Affe“, keuchte Carol.
Das Monster stand auf der Böschung und hatte den Körper weit nach vorn gebeugt.
„Gib mir das Gewehr“, sagte Jeff, und Carol gehorchte. Jeff hob die Waffe, stellte auf Dauerfeuer und zog durch. Die Schüsse hallten schaurig über den Fluß.
Der rote Affe stieß einen Schrei aus und richtete sich auf. In der Dunkelheit konnte Jeff nicht erkennen, wo er das Biest getroffen hatte, doch es gab keinen Zweifel, daß der Affe verwundet war.
Jeff riß nochmals den Starter durch, diesmal sprang der Motor blubbernd an. Er gab Gas, und das Boot setzte sich langsam in Bewegung.
Der rote Affe griff mit beiden Händen nach dem Boot, und Jeff schoß wieder. Kopfüber fiel das Monster in den Fluß, die beiden Arme klatschten ins Wasser, nur wenige Zentimeter vom Boot entfernt. Jeff beschleunigte stärker, und das Boot schoß über die ruhige Wasse¬oberfläche. Der Mond trat hinter einer einzelnen kleinen Wolke hervor, und Carol wandte den Kopf.
Im Mondlicht konnte sie deutlich den Affen erkennen, der sich schwerfällig aufrichtete und ein lautes, klagendes Bellen ausstieß.
„Wir haben es geschafft“, sagte Jeff. „Hoffentlich haben wir genügend Benzin.“
Er suchte nach einer Benzinkanne, fand aber keine. Weit würden sie nicht kommen. Er wollte versuchen, sein eigenes Boot zu erreichen.
Er drosselte die Geschwindigkeit. Im Augenblick drohte ihnen keine Gefahr. Der Affe war verwundet, und bis Tucker sich an die Verfolgung machen konnte, hatten sie schon einen schönen Vorsprung gewonnen.
„Mein Bruder darf uns nicht erwischen“, sagte Carol. „Er bringt uns glatt um.“
Jeff nickte. Er konzentrierte sich ganz auf das Fahren. Er fuhr in der Mitte des Flusses und drosselte die Geschwindigkeit noch mehr.
Eine Stunde später gab das Boot den Geist auf, das Benzin war alle. Jeff steuerte ans Ufer.
„Was nun?“ fragte Carol.
„Wir warten, bis es hell ist“, sagte Jeff. „Dann gehen wir den Fluß entlang, bis wir mein Boot gefunden haben. Es kann nicht mehr weit sein.“
„Und wenn uns mein Bruder verfolgt? Wir hätten das zweite Boot versenken sollen.“
„Dazu hatten wir keine Zeit“, meinte Jeff. „Wir können froh sein, daß uns die Flucht gelungen ist.“
„Wir müssen gleich weiter“, sagte Carol drängend. „Das zweite Boot ist mit Suchscheinwerfern ausgestattet. Und Terry weiß, daß du irgendwo ein Boot verstaut hast. Wenn er es findet, dann haben wir nicht viele Chancen.“
Jeff kratzte sich das Kinn. Sie hatte recht, ohne Boot und nur mit der mangelhaften Ausrüstung, die sie besaßen, waren sie verloren.
Er versenkte das unbrauchbar gewordene Boot, und sie gingen den Fluß entlang. Als sie eine halbe Stunde lang gegangen waren, hörte Jeff Motorengeräusch. Sie warfen sich zu Boden. Ein Motorboot fuhr den Fluß hinunter. Ein Suchscheinwerfer tauchte die Wasserfläche in gleißendes Licht.
„Zu spät“, knurrte Jeff verbittert, als das Boot an ihnen vorbeifuhr. „Er braucht nur unser Boot zu finden, es zu versenken oder es mitzunehmen, und wir sind verloren.“
Carol schwieg. Mutlos gingen sie weiter. Sie kamen nur langsam vorwärts. Nach vierzig Minuten hörten sie wieder das Motorengeräusch. Terry Tucker kam zurück.
„Er hat mein Boot gefunden“, schrie Jeff wütend.
Sie standen hinter einer Baumgruppe und starrten auf den Fluß. Tucker fuhr an ihnen vorbei, im Schlepptau hatte er Jeffs Boot.
„Gib mir das Gewehr“, sagte er zu Carol. „Ich versuche ihn zu erschießen.“
„Das kommt nicht in Frage“, sagte Carol fest. „Er ist mein Bruder.“
„Verdammt noch mal“, brüllte Jeff. „Her mit dem Gewehr, wir sind ohne Boot verloren.“
Doch Carol gab ihm das Gewehr nicht. Er versuchte es ihr zu entreißen, doch geschmeidig wie eine Katze bückte sie sich und glitt unter seinen Armen hinweg. Jeff richtete sich fluchend auf und sah resignierend den Booten nach.
„Am liebsten würde ich dich verprügeln, Carol“, sagte er wütend. „Wir haben keinen Proviant, nur ein verdammtes Gewehr und sind hundert Kilometer von der nächsten Ansiedlung entfernt.“
„Wir werden es schon schaffen“, sagte Carol tonlos.
„Wir hatten noch eine Chance, aber nein, es ist ja dein Bruder“, sagte Jeff höhnisch.
„Kannst du mich denn nicht verstehen“, schrie Carol. „Ja, er ist mein Bruder, und ich will nicht, daß er stirbt.“
„Es ist dir lieber, daß wir beide sterben werden, was?“
„Natürlich nicht“, sagte Carol.
„Du hast wahrscheinlich keine Ahnung, was es bedeutet, hundert Kilometer durch den Urwald zu laufen.“
„Wir schaffen es“, sagte sie stur.
„Vielleicht“, sagte Jeff. „Gibst du mir jetzt das Gewehr?“
Sie nickte und hielt ihm die Schnellfeuerwaffe hin. Nach einigen Minuten hatte sich seine Wut gelegt. Carol ging hinter ihm. Langsam wurde es hell.
Hundert Kilometer Marsch liegen vor uns, dachte Jeff. In der Zwischenzeit kann sich Tucker aus dem Staub machen. Falls wir überleben sollten, hat er einige Tage Zeit, seine Flucht vorzubereiten.
Er seufzte und ging weiter. Das vordringlichste Problem war die Beschaffung von Nahrung. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als ein Tier zu schießen.
„Ich kann nicht mehr“, sagte Carol. „Legen wir eine kurze Rast ein.“
Unwillig stimmte Jeff zu. Nach einer Viertelstunde gingen sie weiter. Sie fanden einige Beeren, von denen Jeff wußte, daß sie ungiftig waren.
Sie hatten Glück, als ihnen ein Rudel Spießhirsche über den Weg lief. Jeff riß das Gewehr hoch und schoß. Eines der Tiere brach zusammen. Er hatte es nicht sehr waidgerecht erlegt, da er auf Dauerfeuer geschaltet hatte.
Fluchend machte er sich mit seinem Taschenmesser daran, das Tier zu enthäuten und auszunehmen. Sie brieten eine Keule über einem rasch entfachten Feuer. Dabei verloren sie einige Stunden Zeit, und als das Fleisch fertig gebraten war, stellten sie fest, daß es scheußlich schmeckte. Mit Todesverachtung würgten sie einige Bissen hinunter, nahmen den Rest der Keule mit und gingen weiter.
Dann kam die Nacht. Vor Erschöpfung schliefen sie einige Stunden. Als der Tag herandämmerte, wunderte sich Jeff, daß sie noch am Leben waren.
Sie kamen nur langsam weiter. Ihre Beine waren mit Blasen bedeckt, die Kleider hingen schon lange in Fetzen um ihre Körper, die aus unzähligen Wunden bluteten und von Moskitos zerstochen waren.
Am späten Nachmittag fiel Carol um. Sie war ohnmächtig geworden. Ihr Körper wurde von Fieberschauern geschüttelt. Jeff blieb vor ihr stehen und sah sie finster an. Schließlich hob er sie auf und trug sie zum Flußbett hinunter, legte sie auf den Rücken und netzte ihr Gesicht mit Wasser.
Er setzte sich nieder und beobachtete sie, doch sie wachte nicht aus ihrer Ohnmacht auf. Fiebernd warf sie sich hin und her und stöhnte.
Jeff stand mißmutig auf und ging ziellos den Fluß entlang. Plötzlich stutzte er, kniff die Augen zusammen und ging rascher. Er hatte sich nicht getäuscht. Auf der Böschung lag ein Rindenkanu, wie es die Indianer verwendeten. Das Boot war tadellos intakt, wie sich Jeff sofort überzeugte. Er lief zu Carol zurück, die noch immer nicht aufgewacht war, hing sich das Gewehr über die Schulter und hob das Mädchen hoch.
Langsam ging er zum Boot, legte Carol hinein und schob das Kanu vorsichtig über die Böschung, bis es halb im lehmfarbenen Wasser lag. Er schob es noch weiter hinein, watete einige Schritte neben dem Boot, bis ihm das Wasser bis zu den Knien ging, dann schwang er sich ins Boot, ergriff das Paddel und ruderte in die Mitte des Flusses.
So schwach hatte er sich noch nie in seinem Leben gefühlt. Nach wenigen Minuten wurden seine Arme gefühllos, seine Hände waren aufgeplatzt und eine einzige Wunde. Carol stöhnte hinter ihm, doch er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Verbissen ruderte er weiter. Das Kanu lag gut im Wasser, und er kam rasch vorwärts.
Nach einigen Stunden wurde es dunkel, und er steuerte das Ufer an. Er kümmerte sich um Carol, die für wenige Minuten bei Bewußtsein war. Sie hatte hohes Fieber, doch Jeff konnte ihr nicht helfen. Er gab ihr etwas Wasser zu trinken, trank selbst einen Schluck und aß den Rest der Hirschkeule auf. Sekunden später war er eingeschlafen. Doch er konnte kaum zwei Stunden geschlafen haben, als er wach wurde. Sofort stieß er das Boot ab und fuhr weiter.
Er hatte unerträgliche Schmerzen, jede Bewegung war eine Qual. Die Nacht zog sich zurück, und es wurde rasch hell. Jeff hatte keine Ahnung, wo er sich befand, aber er hoffte, daß er nicht weit von einer Ansiedlung entfernt war.
Er merkte nicht, wie ihm das Paddel entfiel und wie er zusammensackte und einschlief. Das Boot drehte sich langsam im Kreis und glitt den Fluß hinunter.
* * *
Er wurde einmal für Sekunden wach, hörte Stimmen um sich, war aber zu schwach, um den Kopf zu heben. Sofort schlief er wieder ein.
Als er wieder erwachte, war es Nacht. Er lag in einem Bett in einem weißen Zimmer. Er hob den Kopf und sah sich um. Neben seinem Bett stand ein anderes. Jeff setzte sich auf und sah auf das Nebenbett. Im schwachen Licht, das durch das Fenster drang, erkannte er Carol. Sie schlief.
Er versuchte aufzustehen, doch er war zu schwach dazu. Er ließ sich zurückfallen und blieb liegen. Wir schafften es doch, dachte er, dann schlief er wieder ein.
Er erwachte, als es hell geworden war, und sah in das faltige Gesicht eines uralten Mannes. Die Unterhaltung gestaltete sich ziemlich schwierig, da Jeff nicht Portugiesisch sprach und der Alte nur einige wenige Brocken Englisch verstand.
Doch nach und nach begriff Jeff was geschehen war. Er war von einem Fischerboot entdeckt und in das Dorf gebracht worden. Es bestand nur aus ein paar Häusern, die Bewohner waren unsagbar arm, und es gab natürlich keinen Arzt.
Jeff stand auf. Er konnte sich kaum bewegen, sein Körper schmerzte noch immer. Er merkte, daß seine Wunden verbunden worden waren. Er setzte sich zu Carol aufs Bett. Sie sah wie eine Tote aus. Ihr Gesicht war gelb, die Wangen eingefallen und die Haut schlaff.
„Sie braucht einen Arzt“, sagte Jeff.
Er wandte sich an den Alten und sprach längere Zeit mit ihm. Endlich hatte der Alte begriffen. Jeff wollte, daß man ihn und Carol nach Aporema brachte. Er griff nach seinem Gürtel, der neben dem Bett lag, und öffnete ihn. Er zog ein Bündel Banknoten heraus und hielt sie dem Alten hin. Der Anblick des Geldes machte ihn lebendig.
Eine Stunde später fuhren sie los. Carol war in Decken gehüllt. Sie lag auf dem Boden des Bootes. Zwei jüngere Männer begleiteten Jeff, der sich neben Carol setzte und gedankenverloren über den Fluß starrte.
Gegen Abend erreichten sie Aporema, eine kleine Stadt, die über ein Spital verfügte, in das sie Carol brachten. Jeff ließ sich von einem Arzt untersuchen, der seine Wunden fachmännisch verband. Jeff verabschiedete sich von den beiden Männern, die ihn nach Aporema gebracht hatten, und gab ihnen noch ein Bündel Banknoten. Im einzigen Hotel der Stadt nahm er sich ein Zimmer und meldete ein Ferngespräch mit Dave Bonnier an.
Er ließ sich etwas zu essen bringen, dann setzte er sich in die Halle des Hotels und wartete ungeduldig auf die Verbindung mit New York. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Er mußte mehr als vier Stunden warten, bis er Dave Bonnier an den Apparat bekam. Die Verbindung war schlecht.
„Dave, hier ist Jeff“, brüllte er in die Muschel.
„Bist du es, Jeff“, hörte er Bonniers Stimme ganz leise.
„Ich bin es“, schrie er. „Verstehst du mich?“
„Ja, ich verstehe dich, aber sehr schlecht.“
Jeff gab seinen Bericht schreiend durch. Nach wenigen Minuten hatte er sich heiser gebrüllt. Dave hörte ihm schweigend zu.
„Das ist vielleicht ein Ding“, sagte Dave, als Jeff geendet hatte.
„Was soll ich jetzt unternehmen?“ fragte Jeff. „Soll ich die Polizei verständigen?“
„Keine Polizei“, sagte Bonnier. „Du bleibst in deinem Hotel. Ich schicke Leute zu dir, die den Affen fangen werden.“
„Bist du übergeschnappt, Dave?“ brüllte Jeff. „Du willst den Affen fangen?“
„Na klar“, sagte der Chefredakteur. „Das wird ein Knüller. Ich veranlasse alles Notwendige. Bis später, Jeff.“
„Aber...“ Jeff starrte den Hörer wütend an. Dave hatte aufgelegt.
* * *
Am nächsten Tag besuchte er Carol. Es ging ihr etwas besser. Das Fieber war schwächer geworden, und sie war wach, als er ins Zimmer trat. Sie lächelte schwach. Jeff zog sich einen Stuhl heran und setzte sich grinsend. Er hatte sich neue Kleider gekauft und sah nun wieder manierlich aus.
Carol streckte ihm ihre rechte Hand hin, und er ergriff sie vorsichtig.
„Wie geht es dir, Carol?“ fragte er und setzte sein strahlendstes Lächeln auf.
„Wir haben es doch geschafft“, sagte sie leise.
„In letzter Sekunde“, stellte Jeff fest. „Wir hatten Glück, unverschämtes Glück.“
„Hast du etwas von meinem Bruder gehört, Jeff?“
Das Gesicht des Reporters verdüsterte sich.
„Nein“, sagte er. „Ich habe nichts von ihm gehört.“
„Wann kehren wir in die Staaten zurück, Jeff?“
Wenn ich das wüßte, dachte er. Er beschloß ihr aber nichts davon zu sagen, daß der Affe gefangengenommen werden sollte. Unterwegs hatte sie ihm alles über ihren Bruder erzählt. Er wußte von den Experimenten, die Tucker vornahm.
„Sobald du gesund bist“, sagte er. „Ich darf nur kurz bleiben. Ich schaue aber am Nachmittag bei dir vorbei.“
Er kehrte in sein Hotel zurück. Nach dem Mittagessen bekam er den erwarteten Anruf von Dave Bonnier. Diesmal war die Verbindung besser.
„Wie geht's, Jeff?“ fragte Bonnier.
„Mäßig“, sagte Jeff. „Ich will endlich nach Hause.“
„Das kann ich mir denken“, sagte Bonnier. „Aber daraus wird nichts. Morgen trifft Mike Vance bei dir ein.“
Vance war der Starfotograf der Sunday Post.
„Das ist ja recht schön, daß Mike kommt“, brummte Jeff, „aber er kann mir nicht viel helfen.“
„Das ist mir auch klar. Aber Harry Gittins und seine Männer werden dir helfen.“
„Allerdings“, stimmte Jeff zu. Harry Gittins war einer der letzten Abenteurer. Er hatte Männer um sich geschart, die immer auf der Suche nach Abenteuern waren, und Jeff hatte schon einige Male mit Gittins zusammengearbeitet.
„Gittins bringt zwei Hubschrauber mit“, sagte der Chefredakteur. „Außerdem schickte ich ein Schiff los. Sobald Gittins mit seinen Leuten bei dir eingetroffen ist, macht ihr euch auf die Suche nach dem Affen und versucht ihn zu fangen. Ihr bringt ihn dann auf das Schiff und fahrt nach New York. Sobald der Affe außer Land gebracht ist, starten wir die Artikelserie.“
„Warum nicht gleich, Dave?“
Bonnier seufzte. „Wenn ich gleich mit der Serie beginne, dann schaltet sich garantiert die Regierung in Brasilien ein. Und dann bekommen wir den verdammten Affen nicht heraus. Außerdem würde es augenblicklich von Reportern bei dir wimmeln. Und ich will, daß wir den Bericht exklusiv bringen. Das wird ein Knüller werden. Setz dich hin und verfasse einstweilen den ersten Teil, Jeff.“
Jeff grunzte ungehalten.
„Ich kann nicht schreiben“, sagte er. „Meine Hände sind bandagiert.“
„Dann besorge dir ein Diktiergerät“, knurrte Dave ungehalten.
„Eine andere Sache, Dave“, sagte Jeff nachdenklich. „Was sollen wir mit Tucker machen?“
„Ich sprach mit einem Anwalt“, sagte Bonnier. „Es dürfte schwer sein, dem Kerl etwas anzuhängen. Seine Experimente kann ihm niemand verbieten, und was der Affe auf seinen Befehl anstellte, das ist kaum zu beweisen. Gehe nicht zu sehr auf Tucker ein in deinem Bericht. Da müssen wir vorsichtig sein, sonst haben wir unter Umständen von ihm eine Klage am Hals.“
„Und was soll ich mit Tuckers Schwester machen?“
„Die nimmst du mit, sobald der Affe gefangen ist.“
„Ich fürchte, daß sich Tucker aus dem Staub gemacht hat.“
„Das fürchte ich auch“, meinte Bonnier nachdenklich. „Wenn ihr aber den Affen fangen könnt, dann ist das die größte Sensation der letzten Jahre. Da wird unsere Auflage in die Höhe schnellen.“
„Du denkst nur an die verdammte Auflage“, brummte Jeff.
„Dafür bin ich ja da“, sagte Bonnier. „Rufe mich an, sobald du den Artikel fertig hast. Bis später.“
* * *
Nach dem Mittagessen setzte sich Jeff in sein Zimmer. Es war ihm gelungen, eine uralte Schreibmaschine aufzutreiben. Er trank eine halbe Flasche Whisky und rauchte ein Päckchen Zigaretten, bis der Artikel fertig war. Er las ihn nochmals durch und meldete das Gespräch nach New York an.
Seine Hände schmerzten. Es war eine Qual gewesen zu schreiben. Diesmal mußte er nur zwei Stunden auf die Verbindung nach New York warten. Rasch gab er seinen Artikel durch, den Bonnier auf Band aufnahm.
Es war schon dunkel, als er Carol besuchte. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen, die Augen glänzten nicht mehr fiebrig. Er setzte sich ans Bett und sah sie an.
„Es geht dir schon besser, nicht?“ fragte er.
„Viel besser“, sagte Carol. „Das Fieber ist vorbei. Ich fühle mich aber unglaublich schwach. Hast du mit deiner Zeitung gesprochen, Jeff?“
„Ja“, sagte er nachdenklich. „Ich gab den ersten Teil meiner Abenteuer durch. Sieh mal, Carol, es läßt sich nicht vermeiden. Es ist mein Beruf, ich muß darüber schreiben.“
„Ich weiß“, sagte sie. „Stelle aber meinen Bruder nicht allzu schlecht dar, Jeff.“
„Er kommt nur am Rand vor“, sagte Jeff. „Ich konzentriere mich ganz auf den Affen.“ Er schwieg einige Sekunden, dann sah er sie an. „Ich wollte es dir nicht sagen, aber einmal muß es doch heraus. Morgen machen wir uns auf die Suche nach Harlo. Wir sollen ihn gefangennehmen.“
„Das dachte ich mir“, sagte Carol. „Ich glaube aber nicht, daß sich mein Bruder noch hier aufhält. Er muß damit rechnen, daß dir und mir die Flucht gelungen ist. Und er wird kein Risiko eingehen. Das Haus wird verlassen sein oder zerstört.“
„Und der Affe?“
Carol zuckte mit den Schultern. „Du meinst, ob er Harlo mitgenommen hat? Nein, das glaube ich nicht.
Dazu ist sein Boot zu klein. Wahrscheinlich wird er Susan und Carl mitgenommen haben und die Indianerinnen freilassen. Harlo ist außerdem verletzt. Vielleicht tötete er ihn oder ließ ihn zurück. Ich nehme aber eher das letztere an.“
„Und wo, glaubst du, wird dein Bruder hinfahren?“
„Keine Ahnung“, sagte sie. „Aber eines ist klar, er wird dich hassen. Und er wird sich rächen wollen.“
Jeff nickte. Er konnte sich vorstellen, welchen Haß Tucker ihm gegenüber hatte. Er mußte vorsichtig sein.
* * *
Nachts wurde et durch heftiges Klopfen an der Zimmertür wach, drehte sich um und öffnete die Augen.
„Aufmachen, Jeff“, hörte er undeutlich eine Stimme. „Ich bin's, Mike.“
Jeff stand auf, öffnete die Tür, und Mike Vance trat grinsend ein.
„Einen schönen guten Morgen“, sagte er freundlich.
Er setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Er war fünfundzwanzig, ein schmächtiges Bürschchen mit schulterlangem hellblondem Haar. Er hatte das Gesicht eines jungen Mädchens, und da er das wußte, hatte er sich einen Oberlippenbart wachsen lassen, der aber eigenartigerweise das Mädchenhafte seines Gesichtes noch mehr betonte.
„Ist Harry Gittins schon eingetroffen, Mike?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Aber er muß bald kommen.“
Jeff stand auf, wusch und rasierte sich, dann zog er sich an. Gemeinsam gingen sie in die Hotelhalle hinunter und setzten sich ins Frühstückszimmer. Als das Frühstück serviert wurde, öffnete sich die Tür, und vier Männer traten ein.
Jeff sah auf und grinste. Harry Gittins und seine Männer waren da. Gittins war Mitte Dreißig, ein Bär von einem Mann. Er war gut zwei Meter groß, mit Schultern, die so breit wie ein Schrank waren. Ein wild wuchernder rotbrauner Bart bedeckte sein Gesicht. Trotz seiner Jugend hatte er schon eine Glatze, deshalb trug er auch immer eine lächerlich wirkende Sherlock-Holmes-Mütze. Seine Stimme war wie das Grollen eines Gewitters.
„Hallo, Jeff“, brüllte er und schlug Jeff die flache Hand auf die Schulter.
„Hallo, Harry“, sagte Jeff grinsend. Dann begrüßte er die anderen drei Männer, die alle so verwegen wie Gittins aussahen. Sie waren ein wilder Haufen, der durch dick und dünn zusammenhielt. Manchmal hatten sie viel Geld, doch meistens waren sie völlig pleite. Robert Raine war der jüngste, ein hünenhafter Neger, der ewig Kaugummi kaute und von allen nur der ‚Schweiger’ genannt wurde. Er nickte Jeff schweigend zu und zog sich einen Stuhl heran. Brian Pocock war der kleinste des Teams. Sein blondes Haar war eine kurz geschorene Bürste. Als Ausgleich dazu trug er einen gewaltigen Schnauzbart, der ihm einen pfiffigen Ausdruck verlieh. Peter Calver paßte vom Aussehen her überhaupt nicht zu den anderen. Er war stets korrekt gekleidet und sprach wie ein englischer Lord. Mit Vorliebe trug er eine Melone und weiße Handschuhe.
„Nach dem Frühstück starten wir“, sagte Gittins und holte eine Landkarte aus seiner Umhängetasche. „Zeichne mir an, wo sich der rote Affe aufhalten soll, Jeff.“
Jeff kreuzte die Stelle an, wo sich Tuckers Haus befand.
* * *
Die zwei Hubschrauber flogen knapp über der dicht geschlossenen Laubdecke des Urwalds. Sie stiegen etwas höher, und der Urwald sah wie ein riesiges grünes Tuch aus, das sich bis zum Horizont erstreckte.
Nach einigen Minuten folgten sie dem Lauf des Flusses. Jeff befand sich mit Gittins und Raine in dem größeren der Hubschrauber. Aufmerksam betrachtete er den Urwald. Gelegentlich kamen ihnen einige Aras entgegen, und einmal erkannte er eine Harpyie, einen Tagraubvogel.
Vor dem Abflug hatten sie alles genau besprochen. Alles hing nun davon ab, ob Tucker den Affen mitgenommen hatte.
Gittins ging tiefer. Er schwebte knapp über den Urwaldriesen. Sie hatten einige Indianerdörfer entdeckt, darunter auch jenes, in dem Jeff zusammen mit Susan und Carl gefangengehalten worden war.
„Wir müssen bald da sein“, sagte Gittins, und Jeff nickte.
Dann tauchte die Lichtung mit dem Steinhaus auf.
„Das ist es“, rief Jeff.
Gittins zog einen Kreis um die Lichtung. Kein Mensch war zu sehen. Sie schwebten einige. Minuten über dem Haus, dann setzte Gittins zur Landung an. Pocock, der den zweiten Hubschrauber steuerte, blieb noch in der Luft. Gittins setzte den Helikopter neben dem Haus ab.
Sie warteten kürze Zeit, dann sprangen sie ins Freie. Gittins und Jeff trugen Schnellfeuergewehre. Raine hielt ein Lähmgewehr zwischen den Fingern.
Die Eingangstür war abgesperrt, doch Gittins ließ sich davon nicht abhalten. Er schoß einfach das Schloß heraus.
„Ist da jemand?“ brüllte er und trat ein. Niemand antwortete. Langsam gingen sie weiter. Alle Zimmer waren leer. Sie stiegen in den Keller. Die Versuchstiere waren verschwunden.
Die Betten waren leer. Jeff sah sich rasch um, Tucker mußte schon seit einiger Zeit verschwunden sein. Er hatte den Großteil der Einrichtungsgegenstände zurückgelassen.
„Unser Vogel ist ausgeflogen“, sagte Gittins. „Jetzt fragt es sich nur, ob er den Affen auch mitgenommen hat.“
Jeff nickte. Der zweite Hubschrauber war gelandet, und Mike Vance trat ins Haus.
„Schieß ein paar Fotos, Mike“, sagte Jeff. Der Fotograf nickte.
Jeff verließ das Haus, steckte sich eine Zigarette an und sah nachdenklich zum Urwald.
Pocock und Calver sollten bei den Hubschraubern zurückbleiben, die anderen wollten sich auf die Suche nach dem Affen machen.
Gittins und Raine suchten aufmerksam die Lichtung ab, immer wieder bückten sie sich und untersuchten den Boden ganz genau. Schließlich kehrten sie zu den Hubschraubern zurück.
„Es sieht so aus“, sagte Gittins nachdenklich, „als wäre der Affe vor gar nicht so langer Zeit noch hier gewesen. Ich fand ziemlich frische Fußspuren.“
* * *
Fünf Minuten später machten sie sich an die Verfolgung des Affen. Gittins und Raine gingen voraus, dann folgte Jeff, und Vance bildete den Abschluß. Die riesenhaften Fußspuren Harlos waren deutlich zu erkennen.
Sie mußten nicht lange suchen. Der Affe kam ihnen entgegen. Unwillkürlich hielten sie den Atem an, als die riesige Gestalt auftauchte. Mike reagierte als erster. Er riß seine Kamera hoch und fotografierte wie verrückt.
Harlo schlich langsam näher. Seine Augen glühten dunkelgrün und blickten ziemlich böse. Er hat menschliche Züge, dachte Jeff überrascht. Und er ist schwer verletzt. Die linke Schulter war blutverkrustet, ebenfalls die Hüfte und das linke Bein.
Der Affe stand mehr als hundert Meter von ihnen entfernt, mit dem rechten Arm stützte er sich an einen Baum.
„Das Biest ist schwer verletzt“, sagte Gittins. „Schieß endlich, Robert.“
Der Schwarze hob sein Gewehr, zielte und drückte ab. Ein Bolzen bohrte sich in die rechte Schulter des Affen, der einen wütenden Schrei ausstieß und sich den Bolzen aus der Schulter riß. Er richtete sich auf und kam langsam näher. Sie wichen zurück. Jeff starrte fasziniert das Gesicht des unheimlichen Wesens an, das aus der Vereinigung zwischen Mensch und Affe entstanden war.
Das Gesicht war unbehaart, die Stirn war überraschend hoch, die grünen Augen lagen tief in den Höhlen. Das überraschendste war aber die Nase, die durchaus menschlich wirkte. Das Maul stand weit offen, und das Biest atmete schwer.
Raine schoß noch einen Bolzen ab. Diesmal dauerte es länger, bis Harlo ihn herausreißen konnte. Die Bewegungen des Monsters wurden nicht schwächer.
„Verdammt noch mal, Robert“, rief Gittins. „Schieß ihm rasch hintereinander ein paar Bolzen ins Fell.“
Raine nickte und schoß rasch hintereinander drei Bolzen ab.
Harlo stieß einen wütenden Schrei aus, riß sich die Bolzen heraus und kam rasch näher.
„Das Betäubungsmittel wirkt nicht“, sagte Jeff.
„Unsinn“, stellte Gittins fest. „Es dauert einige Zeit. Wir müssen rascher zurück.“
Sie drehten sich um und rannten auf die Lichtung. Der Affe folgte ihnen.
„In die Hubschrauber“, brüllte Gittins.
Sie kletterten hinein, und Gittins warf den Motor an. Raine schoß noch zwei Bolzen auf Harlo, dann hoben sie ab. Der Affe blieb auf der Lichtung stehen und sah den Hubschraubern nach. Sie schwebten über ihm.
„Der braucht aber verdammt lang, bis er ohnmächtig wird“, knurrte Gittins ungehalten.
Nach einigen Minuten fiel Harlo zu Boden. Mühsam richtete er sich wieder auf, stützte sich auf den langen Armen auf, konnte sich aufrichten, doch dann fing er zu schwanken an und krachte auf den Rücken. Er zog Arme und Beine an und strampelte wie ein Baby in der Wiege. Die Beine zuckten noch einige Zeitlang, dann blieb er bewegungslos liegen.
„Na endlich“, knurrte Gittins und landete.
Gittins und seine Männer arbeiteten rasch. Es dauerte kaum eine halben Stunde, dann war der Riesenaffe mit dicken Eisenketten zu einem Paket verschnürt. Als sich Harlo zu bewegen begann, gab ihm Raine zwei Injektionen, und das Biest schlief weiter.
Die Ketten wurden an der Unterseite von Gittins Hubschrauber befestigt. Sie stiegen ein, und Gittins hob vorsichtig ab. Jeff konnte Mike Vance erkennen, der noch immer fotografierte. Sein Gesicht war vor Aufregung hochrot.
Langsam stieg Gittins höher. Eine Minute später folgte ihnen der andere Hubschrauber.
„Das war ja ein Kinderspiel“, sagte Gittins zufrieden.
* * *
Zwei Stunden später befand sich Harlo an Bord der Green Eagle, einer Hochseejacht. Er wurde im Laderaum verstaut und ständig unter Betäubung gehalten. Die Jacht befand sich zwanzig Meilen von der Küste entfernt. Niemand hatte bemerkt, daß der Affe außer Landes gebracht worden war.
Die Hubschrauber kehrten mit Jeff und Mike Vance nach Aporema zurück. Sie zahlten die Hotelrechnung, holten die noch immer schwache Carol aus dem Spital und flogen ab.
Mit den Hubschraubern flogen sie nach Trinidad und übernachteten im Trinidad Hilton. Jeff setzte sich mit Dave Bonnier in Verbindung, der aber schon über den erfolgreichen Verlauf der Aktion von der Green Egale verständigt worden war. Der Affe würde auf dem schnellsten Weg in die Staaten gebracht werden.
„Wir machten einen ganz schönen Wirbel mit dem roten Affen“, sagte Bonnier lachend. „Reklame im Fernsehen und Rundfunk. In ein paar Stunden sind die ersten Exemplare auf den Straßen, mit dem ersten Teil deines Artikels. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es bei uns jetzt zugeht, Jeff. Wir werden den Affen weidlich ausschlachten. Ich wette was, daß wir die Auflage verdoppeln.“
Er denkt nur an die Auflage, dachte Jeff kopfschüttelnd.
„Mike soll morgen sofort nach New York starten“, sagte Bonnier weiter. „Du kannst ein paar Tage in Trinidad bleiben, wenn du willst.“
„Ich werde es mir überlegen, Dave“, sagte Jeff. „Ich spreche noch mit Carol. Es hängt davon ab, wie sie sich fühlt.“
„O.K., Jeff, gib mir dann morgen Bescheid.“
Jeff legte den Hörer auf und sah Carol an. Er hatte mit ihr ein Doppelzimmer genommen.
„Ich fühle mich schon recht gut“, sagte Carol. „Ich bin nur etwas müde. Du wirst sehen, morgen bin ich wieder auf dem Damm.“
„Hoffentlich“, sagte Jeff. „Jetzt gehst du mal ins Bett.“
Carol nickte und stand auf. Sie ging ins Badezimmer, und Jeff trat auf den Balkon. Ein dunkelblauer Himmel spannte sich über Port of Spain. Jeff setzte sich und schloß die Augen. Das Abenteuer war vorüber, Dave hatte wieder einmal bewiesen, welch gute Nase er hatte. Der Affe war nicht das Phantasieprodukt einiger Eingeborener, er war Realität.
Jeff entspannte sich. Nach einigen Minuten löste sich die Spannung, unter der er die vergangenen Tage gestanden hatte.
Er hörte, wie die Balkontür geöffnet wurde. Dann merkte er die Bewegung neben sich. Carol lehnte sich leicht gegen ihn, und er sah sie an. Sie hatte ihr Haar gekämmt und war in ein dünnes Nachthemd geschlüpft, das er für sie in Aporema gekauft hatte.
„Wunderhübsch“, sagte sie. „Der Himmel sieht wie ein Samttuch aus, auf das jemand Silberlametta gestreut hat. Kein origineller Vergleich, ich weiß, aber treffend.“
Jeff nickte. Es war warm, und der Straßenlärm drang nur gedämpft zu ihnen.
„Ich bin dir sehr zur Last gefallen, Jeff“, sagte Carol.
„War nicht so schlimm“, sagte er grinsend.
Sie schmiegte sich eng an ihn und küßte ihn leicht auf die Lippen. Er spürte den federnden Druck ihrer Brüste, und sein Verlangen erwachte.
„Geh schlafen, Carol“, sagte er rauh.
„Bring mich ins Bett“, sagte sie leise und schlang ihre Arme um seinen Nacken. Die Wärme ihres Körpers und die fordernden Lippen schwemmten seine Hemmungen fort. Er hob sie hoch, trug sie ins Zimmer und legte sie aufs Bett. Er preßte sein Gesicht zwischen ihre hohen Brüste, und ihre Finger nestelten an seinem Hemd. Rasch schlüpfte er aus seinen Kleidern und schmiegte sich an sie.
Innerhalb weniger Minuten stand ihr Körper in Flammen, sie drängte ihm ungeduldig ihren Leib entgegen, er lag zwischen ihren Schenkeln und drang in ihren Körper ein.
Ihre Hände glitten über seinen Rücken, und sie seufzte zufrieden.
* * *
Es regnete, als sie auf dem Kennedy International Airport landeten. Sie waren drei Tage in Trinidad geblieben und hatten es beide ängstlich vermieden, über Harlo und Carols Bruder zu sprechen.
Es waren drei zauberhafte Tage gewesen. Tagsüber waren sie am Strand gelegen, hatten sich dann einige Sehenswürdigkeiten angesehen und waren abends ins Gay Cavalier gegangen, hatten ausgezeichnet gegessen und eine halbe Stunde lang der Steelband-Musik zugehört. Und dann waren sie wie ein Ehepaar in den Flitterwochen ins Hotel zurückgekehrt und hatten sich geliebt, bis ihre Körper schweißtriefend und erschöpft waren.
Doch schon während des Fluges war die zauberhafte Stimmung der vergangenen Tage verschwunden. Je näher sie New York kamen, umso mißmutiger wurde Jeff. Bei der Zollabfertigung stritt er grundlos mit einem Beamten. Auf der Fahrt zu seiner Wohnung schnauzte er einige Male den Taxifahrer an.
Jeffs Stimmung hatte auf Carol abgefärbt. Sie war ebenfalls gereizt. Sie hatten beschlossen, daß sie vorerst bei Jeff wohnen sollte, bis sie sich entschlossen hatte, was sie in Zukunft tun würde.
Die drei Tage in Port of Spain waren wunderschön gewesen, dachte Carol. Jeff hatte sich wie ein Traummann benommen, doch sie wußte ganz genau, daß er kein Mann zum Heiraten war. Dazu war er viel zu ruhelos, viel zu wenig ausgeglichen. Er war ein Mann, mit dem man einige Tage harmonisch verbringen konnte, aber nicht ein ganzes Leben.
Jeff zeigte Carol die Wohnung, genehmigte sich einen Drink und ging. Er hatte sich umgezogen und stellte vor dem Haus den Kragen seines Mantels auf.
Die Straßen waren hoffnungslos verstopft, und er beschloß zu Fuß in die Redaktion zu gehen. In Brasilien hatte er den Wunsch gehabt, in New York zu sein, in Trinidad dann nicht mehr, und jetzt war er wieder in dieser verdammten Stadt, vollgestopft mit unzähligen Autos und Menschenmassen.
Es regnete stärker, als er in die Park Avenue einbog. Es war dunkel geworden, und die Straßenbeleuchtung flammte auf. Nach einigen Minuten hatte er das Redaktionsgebäude erreicht. Seine schlechte Laune hatte sich um nichts gebessert, ganz im Gegenteil. Je näher er Bonniers Zimmer kam, umso mißmutiger wurde er.
Er riß die Tür auf und trat ein. Nelly Norton saß hinter ihrem kleinen Schreibtisch und puderte sich die Nase. Sie sah Jeff überrascht an, dann lächelte sie.
„Der Abenteurer ist zurück“, sagte sie kichernd. „Und wie üblich hat er schlechte Laune.“ Sie stand auf und blieb vor Jeff stehen. Nelly war ein zierliches Mädchen mit einem frechen Roßschweif. Jeff hatte sie eine Zeitlang auf seiner Abschußliste gehabt, war aber bei ihr nicht gelandet. Sie war ihrem Verlobten treu.
„Ist Dave da?“ fragte Jeff und schlüpfte aus seinem Mantel.
„Er wartet schon sehnsüchtig auf dein Erscheinen.“
Jeff nickte und öffnete die Tür zu Bonniers Zimmer. Der Chefredakteur stand freudig grinsend auf.
„Fein, daß du da bist, Jeff“, sagte er, und sie setzten sich. Er warf Jeff einen raschen Blick zu, dann seufzte er. „Einmal möchte ich erleben, daß du gut aufgelegt bist, wenn du von einem Auftrag zurückkommst, Jeff.“
„Das wirst du nie erleben“, sagte Jeff mißmutig.
„Hier sind die Fotos, die Mike geschossen hat“, sagte Bonnier und reichte Jeff eine Mappe. Jeff lehnte sich zurück und sah die Fotos an. Sie waren gut gelungen, und seine Laune hob sich etwas.
„Nicht schlecht“, sagte er schließlich und legte die Mappe auf den Tisch.
„Nicht schlecht“, sagte Bonnier. „Sie sind großartig. Hör mir zu, Jeff. Du schreibst jetzt deinen Artikel fertig. Er soll einige Seiten lang werden, und wir nehmen mindestens fünfzehn Bilder dazu. Die Zeitung erscheint diesmal schon am Samstag, und da lassen wir die Bombe platzen. Nach dem Erscheinen des ersten Teils deines Berichtes sind die Leute ja noch skeptisch. Nach dem zweiten Teil werden es nur mehr wenige sein. Der Affe trifft nächsten Montag ein. Der Herausgeber hat beschlossen, daß wir am Dienstag eine Sondernummer herausbringen, in der wir vom Eintreffen des Riesenaffen berichten und deinen Artikel nochmals bringen. Harlo wird in einen von uns gemieteten Saal am Broadway gebracht. Es ist schon alles vorbereitet, auch ein Käfig, aus dem auch dieses Biest nicht entkommen kann. Die Verträge mit den Fernsehgesellschaften sind schon abgeschlossen. Es geht um viel Geld, Jeff. Und wir bekommen eine Reklame, wie sie besser nicht zu denken ist.“
Jeff sah den Chefredakteur angewidert an.
„Das habe ich befürchtet“, sagte er.
„Komm, sei nicht so zart besaitet, Jeff“, sagte Bonnier. „Es fällt eine hübsche Summe Geld für dich dabei ab.“
* * *
Die Sunday Post war schon in der Nacht auf Samstag im Verkauf. Auf der Titelseite prangte ein Bild des Affen, und in Riesenlettern stand darüber: HARLO - DER ROTE AFFE.
Samstag um zehn Uhr war die erste Auflage restlos vergriffen. Um elf Uhr kam die zweite Auflage auf die Straße. Die Sunday Post wurde normalerweise nur in New York verkauft, doch diese Nummer ging in alle Staaten der USA.
Jeff hatte Carol ein Exemplar mitgenommen. Er mixte zwei Manhattans, während sie las. Er stellte die Drinks ab und setzte sich Carol gegenüber. Sie legte die Zeitung zur Seite und sah auf.
„Danke“, sagte sie.
„Wofür?“ fragte Jeff.
„Daß du meinen Bruder nicht besonders herausgestellt hast, sondern nur am Rand erwähntest“, sagte sie.
„Das versprach ich dir ja“, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. „Dein Bruder ist spurlos verschwunden. Die Polizei sucht ihn. Er ist ja mit Susan Wood und Carl Ellison verschwunden.“
„Ich habe Angst“, sagte Carol. „Terry sinnt hundertprozentig auf Rache.“
„Das befürchte ich auch.“
„Es ist ihm sicherlich klar, daß die Polizei ihn sucht“, sagte Carol nachdenklich. „Und das verdankt er alles uns.“
* * *
Am Montag traf Harlo in New York ein.
Jeff hatte sich geweigert, den Bericht über die Ankunft zu schreiben. Er wollte nie mehr in seinem Leben den roten Affen sehen. Er blieb zusammen mit Carol in seiner Wohnung.
Ein dichter Polizeikordon sperrte den Pier ab, auf dem der Green Eagle angelegt hatte. Die Einfuhrformalitäten wurden an Bord des Schiffes abgewickelt. Mit einem Kran wurde der noch immer bewußtlose Harlo aus der Jacht gehievt. Ein Raunen ging durch die wartende Menge. Der rote Affe war nur wenige Minuten lang zu sehen. Er wurde auf einen Lastwagen gehoben und die Plane zugezogen.
Langsam setzte sich der Lastwagen in Bewegung. Vor ihm fuhr ein Streifenwagen, und zwei folgten ihm. Dann kamen einige andere Fahrzeuge, in denen Dave Bonnier und einige Reporter und Fotografen saßen.
Der Wagenzug fuhr über die 42. Straße und bog dann in den Broadway ein. Bonnier hatte ein aufgelassenes Theater in der Nähe des Columbus Circle gemietet. Der Lastwagen fuhr in den Hof des Hauses und blieb stehen. Der rote Affe wurde auf einen eigens angefertigten Wagen gelegt und ins Theater geschoben. Auf der Bühne stand ein gewaltiger Käfig, dessen Gitterstangen armdick waren.
Sie schoben den Affen hinein und lösten die Ketten. Dann verließen die Männer den Käfig, und die Tür wurde versperrt. Der Affe lag auf dem Rücken und regte sich nicht.
Zwei Männer mit Schnellfeuergewehren nahmen vor dem Käfig Aufstellung. Sie würden Harlo Tag und Nacht bewachen. Es war zwar völlig ausgeschlossen, daß sich der Riesenaffe aus eigener Kraft befreien konnte, aber Bonnier wollte kein Risiko eingehen.
Bonnier blieb zusammen mit Howard Haycraft, dem Herausgeber der Sunday Post, vor dem Käfig stehen. Haycraft schüttelte immer wieder den Kopf.
„Unglaublich“, sagte er. „Der Affe muß tatsächlich sechs Meter groß sein. Sehen Sie sich mal die gewaltigen Fäuste an, Bonnier.“
„Stellen Sie sich vor, der Affe würde ausbrechen“, sagte Bonnier.
„Das stelle ich mir lieber nicht vor“, sagte Haycraft. Er war fast sechzig, ein mittelgroßer Mann, dessen dunkles Haar mit weißen Strähnen durchzogen war. Der gut geschnittene Anzug konnte nicht seinen gewaltigen Bauch verdecken. Er trat näher an den Käfig und schüttelte wieder den Kopf. „Es ist einfach unglaublich. Dieser Affe ist ja, streng genommen, ein halber Mensch.“
„So würde ich das nicht sagen“, meinte Bonnier.
„Ist ja auch gleichgültig“, sagte Haycraft und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als sich Harlo leicht bewegte. „Er erwacht.“
Bonnier nickte, und die beiden bewaffneten Männer brachten die Gewehre in Anschlag. Einige Fotografen und Reporter der Sunday Post standen um den Käfig. Bonnier hatte keine Reporter von anderen Zeitungen hereingelassen.
Die Fernsehrechte hatte er an eine Fernsehstation verkauft, die dafür eine horrende Summe auf den Tisch hatte legen müssen.
Scheinwerfer waren aufgestellt worden und tauchten den Käfig in gleißendes Licht. Die Fotografen postierten sich, und die Kameraleute der Fernsehstation nahmen hinter den Kameras Aufstellung.
Harlo bewegte sich wieder. Er hob den rechten Arm, dann bewegte er leicht die Beine. Seine Wunden waren während des Transports gut verheilt. Ein Arzt hatte sich während der ganzen Überfahrt um ihn gekümmert und ihn auch künstlich ernährt.
Ein Zittern lief durch den gewaltigen Körper, dann war ein unwilliges Brummen zu hören. Der Affe richtete sich auf und sah verständnislos um sich. Er wandte den Kopf den Menschen zu und brüllte wütend auf. Die Scheinwerferstrahlen stachen in seine Augen, und die vielen Menschen beunruhigten ihn.
Er stand schwankend auf und entblößte seine gewaltigen Zähne. Er trat an die Gitterstäbe und hielt sich mit beiden Händen daran fest, dann riß er an den Stäben und der Käfig bebte, doch die Stäbe hielten. Wütend schlug das Monster mit beiden Fäusten gegen die Stäbe. Als es die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkannte, trat es zurück und setzte sich. Es wandte den Kopf der Wand zu.
„Unglaublich“, sagte Haycraft wieder. „Das werden beeindruckende Bilder. Es bleibt dabei, Bonnier. Die Sonderausgabe wird in den späten Abendstunden ausgeliefert. Und ab morgen kann man den Affen hier besichtigen.“
Er sah sich im Saal um. Die Sitzreihen waren entfernt worden. Überall an den Wänden hingen große Plakate, auf denen SUNDAY POST stand. Arbeiter waren mit der Umgestaltung des Saales beschäftigt. Eine Schnellimbißstube wurde eingerichtet, Verkaufsstände, in denen Souvenirs verkauft werden sollten.
* * *
Abends lief im Fernsehen ein kurzer Film, der die Ankunft des roten Affen zeigte, und um neun Uhr gelangten die ersten Exemplare der Sondernummer der Sunday Post in den Verkauf. Die ersten Besucher stellten sich um zehn Uhr abends vor dem Theater an. Um zwölf Uhr war der Broadway bis zum Times Square voll mit Menschen.
Die Polizei versuchte die Menschenmenge zu zerstreuen, doch alle Appelle nützten nichts. Ganz im Gegenteil, die Menschenmassen ver-dichteten sich, der Verkehr kam völlig zum Erliegen.
Nach Mitternacht wurden einige des Wartens müde, doch einige Tausende harrten aus, bis das Theater um neun Uhr geöffnet wurde. Das Gedränge war fürchterlich. Einige wurden zu Boden gestoßen und rücksichtslos niedergetrampelt. Die Sanitäter kamen nicht durch, und der Polizei blieb schließlich nichts anderes übrig, als Wasserwerfer einzusetzen, um die Leute auseinanderzutreiben.
Der Broadway wurde zwischen Columbus Circle und Times Square abgesperrt. Die Leute wurden nur in Gruppen von etwa hundert hereingelassen.
Harlo war die Nacht über ruhig geblieben. Er hatte einige Stunden geschlafen und war dann langsam in seinem Käfig herumgegangen. Einige Male hatte er versucht, die Gitterstäbe herauszureißen, und als es ihm nicht gelang, resigniert.
Sein Verhalten änderte sich grundlegend, als die ersten Menschenmassen ins Theater kamen. Das aufgeregte Geschrei der Masse steigerte seine Unruhe. Nervös lief er im Käfig auf und ab, stellte sich an die Gitterstäbe und brüllte. Seine grünen Augen glühten.
Der Lärm im Saal war ohrenhetäubend. Hunderte Menschen brüll¬ten aufgeregt, dazwischen standen die Souvenirverkäufer und priesen die Fotos und Plaketten an, die den Affen darstellten. Man konnte Abziehbilder kaufen, Statuen und bunt bedruckte Tücher.
Es war schon eine feine Sache, den roten Affen zu sehen. Man stand vor dem Käfig, die Augen weit aufgerissen, nuckelte an einer Cola und biß von einem Würstchen ab, hörte dem wütenden Gebrüll der hilflosen Kreatur zu, schlenderte anschließend zu einem Souvenirverkäufer und wählte mit Bedacht und feinem Geschmack einige hübsche Andenken aus, damit man noch den Enkelkindern in zwanzig Jahren anschaulich vom Riesenaffen berichten konnte.
Jeff und Carol hatten sich nicht überreden lassen, dem Affen einen Besuch abzustatten, was verständlich war. Jeff hatte nur die Berichte über den Erfolg gelesen, den der Affe erzielt hatte.
Die Begeisterung hielt einige Tage an, dann geschahen andere Dinge, und der Affe war bald fast vergessen. Es kamen noch immer täglich Schaulustige, aber der Andrang war nicht mehr so groß wie in den ersten Tagen.
Harlo hatte sich an den täglichen Rummel gewöhnt. Er saß teilnahmslos in seinem Käfig. Der Blick seiner Augen war trüb, und sein rotes Fell war glanzlos geworden. Das vorgesetzte Futter fraß er ohne Appetit.
* * *
Sam Hill saß auf einem Stuhl genau dem Käfig gegenüber. Der Saal war dunkel, nur über den Eingangstüren brannten die roten Notlichter. Der Affe lag zusammengerollt auf dem Boden und schlief. Hill blickte kurz auf die Armbanduhr, es war nach drei Uhr früh. Das Gewehr lag auf seinen Knien, er ließ den Kopf auf die Brust sinken und döste ein. Immer wieder schreckte er hoch und warf dem Affen einen raschen Blick zu.
Nach halb vier Uhr wurde eine der Türen langsam geöffnet. Ein schwarz gekleideter Mann huschte in den Saal und blieb neben der Türstehen, die er leise schloß.
Hill öffnete wieder die Augen, veränderte seine Stellung und blickte den Affen verschlafen an. Wieder döste er ein.
Der schwarz gekleidete Mann, der neben der Tür lehnte, war Terry Tucker. Er zog aus der Rocktasche eine Luftdruckpistole und stieß sich von der Wand ab. Geräuschlos huschte er durch den leeren Saal und blieb einige Schritte vor Hill stehen. Er hob die Waffe, zielte, drückte ab, und ein winziger Bolzen bohrte sich in die linke Wange Hills, der aufschreckte und mit beiden Händen nach seinem Gesicht griff. Er erblickte Tucker, der die Pistole einsteckte. Hill wollte sein Gewehr packen, doch er kam nicht mehr dazu. Ohnmächtig brach er zusammen.
Tucker lief zum Käfig und blieb stehen.
„Harlo!“ rief er. „Harlo!“
Das von ihm geschaffene Wesen bewegte sich und sprang auf. Es blickte Tucker an und trat rasch an die Gitter. Die grünen Augen funkelten. Harlo stieß ein zufriedenes Brummen aus, als er seinen Schöpfer erkannte.
Tucker sprach rasch auf den Affen ein. Sein Englisch war fast völlig unverständlich. Ein Zuhörer hätte nur wenige Wortbrocken, verstanden, doch der Affe verstand ihn. Tucker untersuchte die drei Schlösser an der Käfigtür, griff in die Hosentasche und holte drei winzige Haftbomben hervor. Er drückte sie gegen die Schlösser und befahl Harlo etwas zurückzugehen. Der Affe gehorchte.
Die Bomben explodierten, und Harlo stieß einen erschreckten Schrei aus. Tucker riß an der Käfigtür, und sie glitt auf.
Der rote Affe mußte sich etwas bücken, damit er herauskommen konnte. Folgsam wie ein Hündchen folgte er Tucker.
Sie erreichten das Foyer und gingen an den Garderoben vorbei.
„Bleib stehen, Harlo“, sagte Tucker, und der Affe gehorchte.
Tucker blieb vor der Eingangstür stehen. Sie war mehr als drei Meter hoch und hatte drei Flügel. Es blieb nichts anderes übrig, Harlo mußte die Tür aus den Angeln reißen, sonst konnte er nicht hinauskommen. Zischend erteilte Tucker den Befehl dazu.
Harlo packte die Eisentür und riß daran, bis sie in den Angeln zu knirschen begann. Er stützte sich mit den Beinen gegen den Pfeiler daneben und griff wieder mit beiden Händen nach der Tür. Diesmal konnte sie aber seinen gewaltigen Kräften nicht widerstehen. Die Muskelstränge des Affen traten deutlich hervor, und er stieß ein zufriedenes Brummen aus, als die Tür aus den Angeln gerissen wurde und donnernd zu Boden fiel.
Wieder schrie ihm Tucker etwas zu. Harlo ging zu Boden und kroch auf die Straße hinaus. Tucker folgte ihm.
Um diese Zeit war wenig Verkehr auf dem Broadway. Es war die Zeit, in der sich anständige Bürger nicht ins Freie getrauten. Die Stadt wurde von allerlei Lichtscheuern Gesindel beherrscht.
Harlo richtete sich auf und hielt seine rechte Hand Tucker hin. Tucker stellte sich auf die Handfläche, und Harlo hob ihn hoch.
Der Affe überquerte den Broadway. Ein Wagen bremste im letzten Augenblick ab, dem Fahrer fielen fast die Augen aus den Höhlen. Zwei abgetakelte Freudenmädchen, die sich einen Betrunkenen vorgenommen hatten, waren die nächsten, die den Affen sahen. Er rannte an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.
Harlo erreichte den Columbus Circle, rannte an der Gallery of Modern Art vorbei und überquerte schließlich die 59. Straße. Mit einigen Sprüngen hatte er den Central Park erreicht und verschwand in der Dunkelheit.
Um Punkt vier Uhr bekam die Polizei die erste Meldung, daß der Affe gesehen worden war. Zwei Minuten später hielt ein Funkstreifenwagen vor dem Theater am Broadway, in dem Harlo gefangengehalten gewesen war.
Eine Minute später wurde Großalarm gegeben. Mehr als zwanzig Funkstreifenwagen wurden zum Central Park dirigiert. Zehn Minuten nach vier Uhr kreisten vier Polizeihubschrauber über dem Central Park.
* * *
Tucker trieb den Affen an, der mit gewaltigen Sprüngen durch den Park raste. Es dauerte kaum fünf Minuten, und sie hatten die Fifth Avenue erreicht, die sie noch vor Eintreffen der Streifenwagen überquerten.
Ihr Ziel war ein altes Backsteinhaus in der 64. Straße, in dem Jeff Baker wohnte.
Harlo rannte die 62. Straße entlang. Ein Fußgänger, der ihnen entgegenkam, wurde von dem riesigen Affen zertreten.
„Rascher“, brüllte Tucker. Er wußte, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Die Polizei war sicherlich schon verständigt worden. Harlo sprang über die Straße und bog nach rechts ein. Sie überquerten die 63. Straße und waren nur einen Häuserblock von Jeffs Wohnung entfernt.
Langsam wurde es hell. Die Straßenbeleuchtung erlosch, und ein grauer Morgen dämmerte über New York hoch.
Die Stadt erwachte langsam zum Leben.
* * *
Jeff und Carol waren italienisch essen gewesen, bei Renato's in der Van Dam Street. Anschließend waren sie ins Central Plaza gegangen und hatten bis zwei Uhr heißen Jazz gehört.
Jeff war augenblicklich eingeschlafen, als er ins Bett kroch, doch Carol konnte nicht einschlafen. Sie lag neben ihm und lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen. Sie war sich bis jetzt noch immer nicht klargeworden, was sie tun sollte. In den vergangenen Tagen hatte sich Jeffs Laune wieder gebessert, aber es war ihr klar, daß sie nicht mehr bei ihm wohnen durfte.
Sie setzte sich im Bett auf, zog die Beine an und stützte den Kopf auf die Knie. Sie blieb einige Minuten so sitzen, dann stand sie auf und huschte lautlos aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Sie knipste das Licht an, blieb neben der Bar stehen und mixte sich einen Martini.
Plötzlich hörte sie das seltsame Geräusch. Es hörte sich an, als würde etwas über die Hauswand scharren, dann war das Zersplittern von Glas zu hören. Überrascht stellte sie den Drink ab und sah zu den Fenstern.
Wieder war Glassplittern zu hören.
Bevor sie noch zu einem Entschluß kommen konnte, zersplitterte das mittlere der drei Fenster im Wohnzimmer. Die Jalousie wurde heruntergerissen und der Fensterstock ins Zimmer gedrückt. Eine riesige behaarte Hand schob sich durch die Fensteröffnung und glitt ins Zimmer. Tastend strich sie über die Möbelstücke.
Carol riß die Augen auf und drängte sich gegen die Wand.
„Jeff“, schrie sie entsetzt. „Jeff!“
Jeff hatte undeutlich im Schlaf das Krachen des Glases gehört. Carols Schrei ließ ihn endgültig erwachen. Er sprang aus dem Bett und knipste das Licht an. Eines der Schlafzimmerfenster zerbarst, und die zweite Hand des Affen glitt ins Zimmer.
„Harlo“, hörte er Carol entsetzt schreien.
Die Hand erreichte das französische Bett und zerdrückte es. Blitzschnell rannte Jeff ins Wohnzimmer und konnte im letzten Augenblick den suchenden Fingern entgehen.
Carol stand wie gelähmt an der Wand. Er rannte zu ihr, packte sie und riß sie mit. Keine Sekunde zu früh konnte er die Tür ins Vorzimmer öffnen und Carol mit sich reißen.
Die Hand des Affen zertrümmerte die Einrichtung, die Sitzgarnitur war umgefallen, die Bar zertrümmert.
Wie von Furien gehetzt rasten sie durch das Vorzimmer auf den Gang hinaus. Carol schmiegte sich zitternd an ihn.
„Er ist frei“, schrie sie. „Harlo ist frei! Dahinter steckt mein Bruder. Er ließ den Affen los und wollte uns töten.“
Schluchzend preßte sie ihren Kopf gegen Jeffs Schulter.
* * *
Harlo hatte Tucker abgesetzt und war die Hausfassade hinaufgekrochen. Dabei hatte er die Fenster im ersten Stockwerk eingedrückt, sich mit den Beinen festgeklammert und schließlich Jeffs Fenster zerschlagen. Er hatte versucht, Jeff und Carol zu erwischen.
Tucker schrie dem Affen etwas zu, und er antwortete.
Das Heulen von Polizeisirenen war zu hören, die rasch näher kamen.
Wieder schrie Tucker dem Affen etwas zu. Harlo ließ sich zu Boden fallen und lief in die Richtung der Fifth Avenue davon. Tucker rannte in die andere Richtung, nach einem Häuserblock blieb er schwer atmend stehen und ballte wütend die Hände. Sein Plan war fehlgeschlagen.
Langsam ging er weiter, winkte ein Taxi heran und verschwand.
* * *
Jeff war mit Carol in die verwüstete Wohnung zurückgekehrt und hatte sich rasch angezogen. Er blickte aus dem Fenster und sah dem Affen nach. Dann blickte er in die andere Richtung und erkannte Terry Tucker. Jeff preßte grimmig die Lippen zusammen.
„Ich folge dem Affen“, sagte er. „Kommst du mit?“
„Nein“, sagte Carol zitternd. „Ich bleibe.“
Jeff nickte ihr zu und rannte die Stufen hinunter. Sein Reporterinstinkt war erwacht.
Einige Leute waren auf der Straße. Weit vor sich erkannte Jeff den roten Affen. Er hatte die Fifth Avenue erreicht und blieb stehen. Jeff kam rasch näher. Plötzlich hatte er Mitleid mit Harlo. Der rote Affe war das Resultat eines unmenschlichen Versuches, eine arme Kreatur, von einem Verrückten erschaffen, die sich in New York nicht zurechtfand und jetzt auch noch von ihrem Schöpfer verlassen wurde.
Jeff blieb etwa hundert Meter von Harlo entfernt stehen.
Einige Funkstreifenwagen waren stehen geblieben, und Polizisten sprangen heraus. Zwei eröffneten augenblicklich das Feuer. Harlo bekam einige Kugeln in den Rücken und bäumte sich auf. Er stieß ein lautes Stöhnen aus, drehte sich um und ging auf die Polizisten los, die erschreckt auseinanderstoben.
Jeff drückte sich in ein Haustor.
Der rote Affe packte zwei Polizisten und schleuderte sie gegen eine Hauswand. Wieder krachte ein Schuß, der das unheimliche Geschöpf in den rechten Arm traf.
Die grünen Augen Harlos funkelten wütend. Er packte einen der Funkstreifenwagen und hob ihn hoch. Mit einem gewaltigen Schwung schleuderte er das schwere Fahrzeug auf die Gruppe der Polizisten, die sich hinter einigen Autos verschanzt hatten. Sie sahen das Fahrzeug heranfliegen, einigen gelang die Flucht, doch mindestens vier wurden von dem Streifenwagen erschlagen.
Harlo leckte die Armwunde, dann setzte er sich in Bewegung und überquerte mit zwei Sprüngen die Fifth Avenue und verschwand im Central Park. Jeff folgte ihm. Der Affe war jetzt völlig von Sinnen. Die Verletzungen hatten seine Wut gesteigert. Er lief einen der Wege entlang und zerstörte dabei einige Bänke.
Einige Passanten ergriffen erschrocken die Flucht, doch Harlo verfolgte sie. Einige zertrat er einfach, die anderen packte er und schleuderte sie weit von sich.
Einer der Polizeihubschrauber hatte ihn entdeckt und umkreiste ihn. Harlo blieb stehen und versuchte den Hubschrauber mit seinen langen Armen zu erreichen, was ihm aber nicht gelang.
Jeff hatte sich hinter einem Baum versteckt und sah dem Ende des Dramas zu.
Ein Maschinengewehr hämmerte los und zerfetzte die Brust des Affen.
Noch einmal bäumte er sich auf. Eine weitere Garbe gab ihm den Rest. Er krachte zu Boden, seine Glieder zuckten nochmals, der gewaltige Körper krampfte sich zusammen. Dann blieb er regungslos liegen.
Jeff kroch hinter dem Baum hervor und ging langsam auf Harlo zu. Er blieb vor dem riesigen Schädel stehen. Die Augen waren weit aufgerissen und gebrochen. Das Maul stand offen und entblößte die Zähne.
Der Hubschrauber landete, und einige Polizisten sprangen heraus.
Jeff blieb lange vor dem toten Affen stehen, dann drehte er sich um und ging langsam durch den Central Park.
Er achtete nicht auf die hastenden Menschen, auf das Heulen der Polizeisirenen. Er war zu sehr in Gedanken versunken.
Harlo war tot, aber sein Schöpfer lebte.
* * *
Als er die Wohnungstür öffnete, kam ihm Carol entgegen.
„Harlo ist tot“, sagte Jeff. „Sie erwischten ihn im Central Park. Er sah so menschlich im Tod aus, zu menschlich.“
Er trat ins Wohnzimmer und sah sich müde um. Es sah fürchterlich aus. Die Bar war umgefallen und die Türen aufgesprungen. Die meisten Flaschen und Gläser waren zerbrochen, doch eine Flasche Whisky war ganz geblieben. Er griff nach ihr, schraubte den Verschluß auf und setzte sie an die Lippen. Gierig trank er einen Schluck.
„Hast du auch Terry gesehen?“ fragte Carol ängstlich.
„Ja“, sagte er. „Ganz kurz, als ich aus dem Fenster sah. Er stieg eben in ein Taxi.“
„Also stimmt meine Vermutung, daß mein Bruder Harlo befreit hat?“
„Ich nehme es an“, sagte Jeff. „Besser gesagt, ich bin sicher, daß er dahinter steckt. Außer ihm konnte sich ja niemand mit Harlo verständigen.“
Jeff drehte einen der umgefallenen Stühle um und setzte sich.
„Dein Bruder wollte uns töten“, sagte er.
Carol nickte und preßte die Lippen zusammen.
„Er wird es wieder versuchen“, sagte sie tonlos.
„Das ist anzunehmen“, sagte Jeff und trank noch einen Schluck.
Das Telefon klingelte, und er hob ab.
„Hast du es schon gehört, Jeff?“ hörte er Bonniers Stimme. „Der Affe wurde losgelassen, und die Polizei erwischte ihn im Central Park.“
„Er wollte Carol und mich töten“, sagte Jeff. In kurzen Worten erzählte er Dave von den Vorfällen, dann warf er den Hörer auf die Gabel.
Sie schwiegen und zuckten zusammen, als die Türglocke schrillte. Jeff stand auf und ging ins Vorzimmer. Er öffnete die Wohnungstür und trat überrascht einen Schritt zurück.
Vor ihm standen Susan Wood und Carl Ellison.
Ihre Gesichter waren völlig ausdruckslos, die Augen starr und ohne Leben. Sie setzten sich in Bewegung, und Jeff trat rasch zurück.
Wie Marionetten, dachte er.
Susan und Carl sagten kein Wort. Sie gingen weiter, betraten das verwüstete Wohnzimmer und blieben stehen.
Carol stellte sich neben Jeff und sah die beiden ängstlich an.
„Wir sollen Ihnen etwas ausrichten, Jeff“, sagte Carl tonlos. „Terry Tucker läßt Sie schön grüßen. Sie sollen nicht glauben, daß er Sie vergessen hat. Er hat Zeit. Er wird sich rächen, aber es eilt ihm damit nicht. Doch einmal wird er Sie töten. Irgendwann einmal.“
Carl schwieg.
„Und ich soll auch Ihnen etwas ausrichten, Carol“, sagte Susan. „Terry Tucker betrachtet Sie nicht mehr als seine Schwester. Er haßt Sie genauso wie Jeff. Auch Sie werden sterben, irgendwann.“
Susan schwieg. Sie blieben etwa eine halbe Minute stehen, dann fiel die Erstarrung von ihnen ab, und sie erwachten wie aus einem unendlich langen Schlaf.
„Wo sind wir?“ fragte Carl überrascht.
„In meiner Wohnung“, sagte Jeff grimmig. „Sie überbrachten mir gerade eine Warnung von Terry Tucker. Erinnern Sie sich?“
„Terry Tucker?“ fragte Carl verwundert. „Nie gehört. Und wer ist das Mädchen?“
„Tuckers Schwester Carol“, sagte Jeff. „Sie kennen doch Carol, Carl?“
„Ich sehe sie zum erstenmal“, sagte Carl. „Wir waren doch in Brasilien. Ich kann mich ganz genau erinnern. Wir wurden von den Indianern gefangen und sollten getötet werden, und jetzt bin ich auf einmal in New York.“
„Was ist Ihre letzte Erinnerung, Susan?“ fragte Jeff.
„Eine Indianerin riß mir die Bluse herunter, ich wurde ohnmächtig und... Ja, an mehr kann ich mich nicht erinnern.“
„Auch nicht daran, daß Sie der rote Affe geraubt hat?“
Susan lachte.
„Unsinn“, sagte sie. „Daran müßte ich mich doch erinnern.“
Jeff preßte die Lippen zusammen und suchte unter den Trümmern nach dem Bericht über den roten Affen. Endlich fand er die Zeitung und reichte sie Carl, der gemeinsam mit Susan zu lesen begann.
„Das ist doch unmöglich“, sagte er, nachdem er einige Zeilen gelesen hatte. „Völlig unmöglich.“
„Sie befanden sich in der Gewalt von Carols Bruder“, sagte Jeff. „Er löschte Ihre Erinnerung, lesen Sie den Bericht zu Ende.“
Jeff trat mit Carol ins Schlafzimmer.
„Niemand kennt den Aufenthaltsort deines Bruders“, sagte Jeff. „Er wird seine Experimente weiterhin durchführen, und wir können nur hoffen, daß es der Polizei gelingen wird, ihn zu erwischen.“
Doch die Polizei erwischte Terry Tucker nicht. Er blieb verschwunden.
Und es sollte einige Zeit vergehen, bis er wieder auftauchte.
Alles begann damit, daß...
Aber das ist eine andere Geschichte.
E N D E
© by Kurt Luif 1974 + 2017