Der letzte Zug
Der letzte Zug
Der letzte Zug
Normalerweise verbringe ich meine Nächte nicht auf Bahnhöfen. Aber mein Anschlusszug hatte dann doch nicht mehr warten können, und so saß ich auf diesem Bahnsteig im osthessischen Fulda und war dankbar, dass der Herbst sich für die letzte Nacht im Oktober noch ein bisschen Wärme aufgespart hatte.
Eigentlich musste ich ja nur irgendwie bis nach Bebra kommen, denn dort stand mein Auto auf dem Park&Ride-Platz. Morgen war allerdings ein Feiertag, und deshalb ging der erste Zug in meine Richtung erst kurz nach sechs Uhr früh. In meiner Jugend hätte ich unter diesen Umständen mein Glück wahrscheinlich als Anhalter auf der Bundesstraße versucht, aber seit wenigstens zehn Jahren habe ich niemanden mehr gesehen, der am Straßenrand den Daumen hoch hält.
Vor mir lag eine lange Nacht, und der Schnellimbiss gegenüber der Bahnhofshalle blieb nur bis Mitternacht offen - also ging ich los und nutzte diese letzte Gelegenheit, mir meine Warmhaltetasse mit Kaffee füllen zu lassen. Dazu noch einen Pappbecher für gleich, und dann kehrte ich auf meinen leeren Bahnsteig zurück und wickelte mich tief in meine Jacke ein.
Zuerst merkte ich gar nicht, dass ich Gesellschaft bekommen hatte. Ein Mann mit Hut in langem Mantel stand etwa hundert Meter von mir entfernt in der südlichen Hälfte des Bahnsteigs. Ein zweiter Mann, ohne Hut und mit einer Lederjacke, kam aus der Unterführung hoch auf den Bahnsteig und stellte sich ungefähr zwischen mich und den Mann im Mantel. Er sah nicht so aus, als ob er die nächsten sechs Stunden so verbringen wollte. Hatte ich einen Sonderzug übersehen? Hielt hier vielleicht irgendein Konkurrenzunternehmen der Bahn mit einem Nachfolgeangebot für die eingestellten Nachtzüge, von dem ich nichts gehört hatte und das auf den Fahrplänen der Bahn auch nicht auftauchte?
Egal. So weit ich wusste, ging es von diesem Bahnsteig aus nur auf der alten Nord-Süd-Trasse nach Bebra. Möglicherweise auch an Bebra vorbei und ohne Halt weiter bis Eisenach, aber das erschien mir immer noch besser als hier zu bleiben.
Dann sah ich, dass der Zuganzeiger eine Störung hatte. Anstelle einer Zugnummer, der Fahrziele und der Abfahrtszeit zeigte er nur noch weißes Schneegestöber auf blauem Untergrund. Das war ärgerlich, aber keine Katastrophe – ich musste mich ja sowieso auf die Suche nach dem Zugbegleiter machen und mich erkundigen, ob meine Bahnfahrkarte anerkannt wurde.
In der Ferne tauchten die Lichter eines Triebwagens auf – oder jedenfalls hielt ich sie zunächst dafür. Erst beim Näherkommen konnte ich erkennen, dass der Zug von einer E-Lok gezogen wurde, und zwar von einem alten Modell, das den Mittelscheinwerfer noch oberhalb des Führerstands trug statt mitten auf der Nase. So eine Lokomotive hatte ich eigentlich seit der Wiedervereinigung nicht mehr vor einem Personenzug gesehen. Aber die Anhänger, die diese Lokomotive zog – die weckten wirklich alte Erinnerungen. „Silberlinge“ aus Edelstahl mit aufgebürstetem Pfauenaugenmuster? Rote Kunstledersitzgruppen mit Gepäckablagen über den Rückenlehnen? In Waggons mit derartiger Ausstattung hatte ich zuletzt während meiner Dienstzeit bei der Bundeswehr gesessen.
Immerhin wusste ich noch, wie man diese Doppeltüren auf bekommt. Der Türgriff fühlte sich kalt an in meinen Fingern, aber ich erinnerte mich an die richtige Kombination aus Drehen und Ziehen, und der Weg ins Innere war frei. Ich stieg also über die beiden Trittstufen und wollte die Tür gerade wieder zufallen lassen, als ich hastige Schritte hörte. Eine große, schlanke Frau mit wehenden langen Haaren war auf den Bahnsteig gekommen und eilte auf meine offen stehende Tür zu. Also reichte ich ihr die Hand und half ihr in den Waggon, während vorne in der Nähe der Lokomotive eine Trillerpfeife erklang.
„Ich danke Ihnen“; sagte sie und rang nach Luft, während der Zug anruckte. „Ich hätte eher kommen sollen, aber … es ist so schwer, sich zu verabschieden.“ Trauer klang in ihrer Stimme. Trauer und Verlust.
„Ist ja nichts passiert“, antwortete ich. „Jetzt setzen Sie sich erst mal. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, setze ich mich für eine Weile zu Ihnen?“ Wir waren nicht allein im Waggon, aber es gab doch noch viele frei Plätze. Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie, und wir setzten uns einander gegenüber. Ich stellte mich vor, und sie nannte mir ihren Namen: „Ich bin Maria.“
Ihre Stimme brachte etwas in mir ins Schwingen. Sie rührte an bittersüße Erinnerungen aus der Zeit vor meinem Abitur. Ich fing an, von dem Konzert in Frankfurt zu erzählen und wie ich es vor der letzten Zugabe verlassen hatte, um noch rechtzeitig den letzten Zug nach Hause zu erreichen – den Zug, der dann unterwegs genug Verspätung ansammelte, um mich in Fulda über Nacht stranden zu lassen. „Störungen im Betriebsablauf“, wie es eben so heißt. Maria hörte sich meine Geschichte an, runzelte die Stirn und fragte:
„Und was ist Dir dann zugestoßen?“
„Wie meinst Du das? Was soll mir zugestoßen sein?“
An Stelle einer Antwort legte sie ihre Hand auf meine Stirn, dann zuckte sie zurück.
„Du solltest nicht in diesem Zug sitzen, Harald. Du bist nicht ...“
„Was bin ich nicht?“ wollte ich wissen.
„Du bist nicht tot.“
„Stimmt. Ich denke, das wäre mir aufgefallen.“ Ihre Berührung hatte sich kühl angefühlt. „Aber Du – Du bist ein Geist?“
Maria biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Ein Unfall auf der Autobahn. Ein Reisebus hat mein Auto in einen Lastwagen gequetscht. Ich hatte keine Chance.“ Sie beugte sich vor und sah mir in die Augen. „Dies ist die Nacht auf Allerheiligen, in der ich meine Eltern und meine Tochter besuchen kann – und das hier ist der Zug, der die Geister wieder einsammelt und zurück bringt. Du musst aussteigen. Sofort. Wenn wir erst mal in einen Tunnel fahren, dann ist es zu spät dafür!“
Ich stand auf, öffnete das Fenster und steckte den Kopf hinaus. Der Vollmond vergoss sein Licht über die Landschaft, und in Fahrtrichtung blinkte der Polarstern. Der Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht, aber ich konnte nicht erkennen, wo wir waren. Auf der Nord-Süd-Strecke gab es südlich von Bebra keine Tunnel, und durch Bad Hersfeld waren wir noch nicht gekommen. Natürlich gab es keine Garantie, dass dieser Zug an einem der Bahnhöfe anhalten würde. Mir fiel nur ein einziger Weg ein. Also holte ich tief Luft, sagte: „Leb wohl, Maria!“ und zog die Notbremse.
Die Bremsen kreischten auf, und ein gewaltiger Ruck ging durch den Wagen. Ich verlor den Halt und knallte mit der Stirn gegen die Gepäckablage - und Maria war da und stützte mich, half mir zur Tür und öffnete sie für mich. Schwankend stieg ich die Trittstufen hinunter und ließ mich dann neben den Bahndamm fallen, dann rappelte ich mich hoch und machte ein paar Schritte in die Nacht, bevor ich mich umdrehte und zurück sah.
Maria stand in der offenen Tür und sah zu mir herab. Ich hob die Hand und winkte ihr zu, und sie lächelte und winkte zurück. Dann schloss sie die Tür wieder, und der Zug fuhr an und entfernte sich in die Dunkelheit.
Und dann erwachte ich auf dem Bahnsteig in Fulda mit einem Pappbecher voller kalten Kaffees neben mir. Ich muss eingeschlafen sein und das alles geträumt haben. Ein Zug wie vor vierzig Jahren, der in der Nacht von Halloween die Geister abholt? Vermutlich sehe ich zu viele Filme. Und es gibt auch überhaupt keinen vernünftigen Grund, am nächsten 31. Oktober gegen Mitternacht am Bahnsteig in Fulda auf Maria zu warten.
Aber das wird mich nicht davon abhalten.
Kommentare
Bei Suhrkamp-Phantastik gab es einmal so eine Zug-Anthologie, glaube ich...