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Petruschka - Eine Kurzgeschichte

StoryPetruschka
Eine Kurzgeschichte

Immer hatte sie Probleme mit dem Urinstein. Der klebte gelblich an den Pissoirs und den WC-Muscheln. Den kriegte sie einfach nicht weg, egal wie viel sie schrubbte. Auch spezielle Reinigungsmittel zeigten keine Wirkung. Klar, da wurde natürlich viel ausgeschieden, viele Blasen, viele Därme wurden entleert hier in der öffentlichen Toilettenanlage am B.platz. Dann dieser beißende, säuerliche Gestank, der machte ihr schon zu schaffen, an den hatte sie sich seit nunmehr drei Jahren nicht gewöhnt. 

Ihr schien, dass selbst ihre Kleidung danach stank. Sie roch sozusagen wie eine menschliche Toilette. Jedenfalls wurde sie von den meisten Leuten gemieden, obwohl ja kaum jemand von ihrem Beruf wusste, da sie ja „im Untergrund“ arbeitete, 17 Stufen unterhalb des Straßenlevels, als Klofrau. Jemanden wie sie musste es auch geben. Jemand wie sie hatte auch seine Daseinsberechtigung, und sei es nur einen Schilling fürs Pinkeln im Stehen zu kassieren und drei für die Benützung der WC-Muschel.

Die Frauen waren reinlicher als die Männer. Ein Ärgernis nur waren die gebrauchten Binden und OBs, die sie häufig in den WC-Muscheln entsorgten und die diese gelegentlich verstopften. Auch stank es bei ihnen weniger, wenn sie ihre Exkremente herauspressten. Sogar Petruschka, die Klofrau, fand es ekelig, die braunen Spuren mit der rundförmigen WC-Bürste aus den WC-Muscheln zu schrubben. Die an den WC-Muscheln anhaftenden Reste der Exkremente durfte man nämlich nicht zu lange kleben lassen, sonst kriegte man sie nur noch mühsam weg. Die meiste Zeit saß Petruschka am Tisch im Vorraum der Toilettenanlage, eine Schüssel vor sich, in die die Damen und Herren die Gebühr für die Benutzung der WCs legten oder warfen, je nachdem, las die Schlagzeilen der aktuellen Tageszeitung und sah ihre damals noch oft schwarz-weißen Bilder an. Sie vermied Augenkontakt mit den Besuchern der Toilettenanlage, da sie sich für ihre Arbeit und ihren Arbeitsplatz schämte. Im wahrsten Sinn des Wortes kam sie sich vor wie ein Untermensch.

Wenn sich gerade niemand in der Toilettenanlage befand, dachte sie an ihre gescheiterte Ehe mit einem Araber, ihre drei Kinder, von denen eines mit zweieinhalb Jahren gestorben war, den Vater ihrer Kinder, bei dessen Verhandlung wegen einer Schlägerei unter Alkoholeinfluss und der Gefängnisstrafe von einem Jahr, zu der er verurteilt worden, der Staatsanwalt in Berufung gegangen war. Sie lebte mit dem Mann zwar nicht mehr zusammen, aber manchmal kümmerte er sich doch um die 18-jährige Tochter und den 14-jährigen Sohn und half ihr bei alltäglichen Arbeiten. Sie selbst war jetzt 42. Sie war nie hübsch gewesen. Sie hatte nie einen Beruf gelernt. Sie stand auf der untersten Stufe der Gesellschaft. In Indien wäre sie ein Paria gewesen.

Auf dem B.platz befand sich eine Markthalle, wo hausgemachte Würste, frische Säfte, verschiedene Gemüsesorten und dergleichen angeboten wurden. Jeden Donnerstag wurde ein Bauernmarkt veranstaltet, an dem die Bauersfrauen ihre selbst gemachten Erzeugnisse feilboten. Unter ihnen war Helga, die frequentierte sehr häufig Petruschkas Toilettenanlage, da sie eine schwache Blase hatte. Sie war sehr verklemmt, ließ die Spülung rinnen, wenn sie urinierte. Sie verkaufte eigenes Schweinefleisch, Würste und Käse, alles von sehr hoher Qualität, da es Bio-Produkte waren. Helga war stets freundlich zu Petruschka, gab ihr manchmal einen Extra-Schilling, denn sie arbeitete auch als Putzfrau in der Volks- und Hauptschule und wusste daher, was es heißt, unten zu sein.

Gleich neben der Toilettenanlage war eine Bäckerei. Die Backwarenverkäuferin Dorit, die dort arbeitete, kam gelegentlich bei Petruschkas Toilettenanlage vorbei, und knapp nach ihr häufig ein junger Bankkassierer. Die beiden zogen sich dann auf dem Damen-WC zurück, wo Dorit ihn mit dem Mund befriedigte, wie Petruschka annahm. Jedenfalls war der junge Mann danach immer sehr entspannt und Dorit spülte sich den Mund beim Waschbecken aus.

In Petruschkas Toilettenanlage trieben sich sehr viele Junkies herum, die jeweils die Gebühr von drei Schillingen zahlten, sich in den WC-Abteilen einsperrten, ihr Heroin auf einem Löffel zubereiteten und durch einen Zigarettenfilter in die Spritze zogen. Dann suchten sie eine freie Vene in ihren zerstochenen Armen und setzten sich ihre Schüsse. Sie verdrehten die Augen und flogen durch den Himmel in die glühende Sonne. Manch einer von ihnen blieb da oben, wurde mit der Nadel im Arm, auf der WC-Muschel sitzend, aufgefunden, nachdem die Polizei die Tür aufgebrochen hatte. Junge Burschen mit kindlichen Gesichtern waren darunter und hinterließen ihr Bild in Petruschkas Augen. Bilder, von denen Petruschka träumte und die sie nicht losließen.

Natürlich waren auch viele harmlose Kiffer unter Petruschkas Gästen, die ihr Haschisch über einem brennenden Feuerzeug erhitzten und in den Zigarettentabak bröselten, die Mischung in zusammengeklebte Papers leerten und ihre Joints drehten. Ein süßlicher Geruch stieg dann auf. Petruschka kannte das schon und es machte ihr nichts aus, schließlich kiffte sie selbst gelegentlich.

Nur wenn die Stadtstreicher kamen und in Petruschkas Toilettenanlage die Nacht verbringen wollten, wurde es ungemütlich. Sie stanken nicht nur aus dem Mund nach Fusel, sondern auch aus allen Poren und ihre zerlumpte Kleidung roch muffig wie das Fell eines kranken Hundes. Besonders wenn es Winter war, der eisige Wind über den Markplatz blies, tauchten sie auf und wollten sich in die Ecken der Graffiti-beschmierten Wände krümmen. Petruschka war nicht erbarmungslos, aber sie durfte das nicht zulassen. Wenn ihr Gezetere nicht half, rief sie die Polizei zu Hilfe, die Ausweise verlangte, die die Stadtstreicher oft nicht hatten und verwies sie der Toilettenanlage. Wenn die armen Teufel Glück hatten, nahmen die Polizisten sie mit und sperrten sie in Ausnüchterungszellen, wo es warm war und nicht nach Urin und Fäkalien stank. Sehr oft wurden sie geschlagen. Dann ging ihr Leben wieder weiter: essen bei der Caritas, schlafen in Papiercontainern, die voll mit alten Zeitungen waren und weich. Die gab es damals noch.

Petruschka rührte das wenig, sie war froh, dass noch jemand unter ihr stand und noch mehr litt als sie. Sie trank ja auch, hatte auch schon auf der Straße gelebt, früher, als sie von zuhause ausgerissen war, um den Tritten ihres Vaters zu entgehen. Nur als einer der Stadtstreicher sie von ihrem Stuhl zerrte, ihre Bluse zerriss, sie über den urinbeschmierten Boden schliff, ihr Gesicht gegen ein bestialisch stinkendes Pissoir quetschte und sie von hinten nehmen wollte, verging ihr die Schadenfreude und das Sich-ergötzen am Leid der alkoholisierten Gequälten, Geschundenen, Zerrissenen, denen, die ihr Leben schon verloren hatten, lange noch bevor sie starben. Sie wurde dadurch kein besserer Mensch, aber die Furcht hatte sich unter ihre Haut gegraben, denn es war so wie mit ihrem Onkel, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.

Viele knabenhafte Stricher standen vor den Pissoirs, taten so, als pinkelten sie, ließen aber ihre Glieder von ihren potentiellen Kunden, älteren Herren, häufig mit grünen Joppen und Hüten, begutachten. Die Jungs waren meist auf Rohypnol, Temesta, Praxiten oder anderen Tabletten, denn sie mussten Tiere sein und sich von dem Erlös ihrer Liebesdienste eng geschnittene Hosen kaufen. Am liebsten waren den älteren Herren Jungs, deren Bärte noch ein zarter Flaum war, jünger als in etwa 16 Jahren, die waren am formbarsten, hatten noch nicht gelernt, „nein“ zu sagen und taten, was die älteren Herren von ihnen wünschten, verlangten und einforderten, auch wenn es ihnen weh tat, doch daran gewöhnten sie sich bald.

Mit anderen Gästen pflegte Petruschka auch engeren Kontakt, wie mit dem Franziskanermönch Clemens, der, wenn er die Toilettenanlage benützte, auch keine Gebühr zahlen musste. Clemens war ein Mann unbestimmten Alters, wahrscheinlich Mitte 40. Er trug eine braune Kutte, die mit einer Schnur an der Taille zusammengehalten wurde und braune Sandalen, im Frühling und im Herbst, so wie jetzt, trug er Socken. Er war Seelsorger im Krankenhaus und in der Justizanstalt und sprach mit den seelisch Verwundeten vom nahe gelegenen H.platz, der Hauptstation der städtischen Autobusse, die Dosenbier und Schnaps tranken, sich mit Tabletten betäubten. Er machte ihnen Mut und half ihnen, in ihrem Leben, und sei es auch noch so zerrüttet, einen Sinn zu finden. Petruschka plauderte gerne mit Clemens, erzählte ihm von ihren alltäglichen Sorgen. Clemens hörte ihr zu und spendete ihr Trost, wenn sie ihn brauchte, und Verständnis. Petruschka genoss Clemens´ menschliche Wärme, wurde durch ihn etwas religiös und platzierte eine Plastikmadonna neben der Geldschüssel auf ihrem Tisch.

Dann gab es da noch den stadtbekannten geistig Behinderten, dessen Gesicht jeder und dessen Name niemand kannte, der mit durch gestrecktem Rücken und einem Wanderstock herumspazierte, Kastanien sammelte, die er in seinem Rucksack verstaute, der sich über jedes Lebewesen freute und ständig vor sich hin lächelte. Die Kinder der B.schule, die in der Nähe lag, machten sich über ihn lustig, aber er verstand nicht und lächelte sie freundlich an. Auch er brauchte keine Gebühr zu entrichten, da er über kein Geld verfügte, vielleicht gar nicht wusste, was das war. Wenn er die Stufen zu Petruschka hinabstieg, lächelte er sie an und erledigte sein kleines oder großes Geschäft, wusch sich anschließend die Hände. Er verabschiedete sich von Petruschka und spazierte weiter. Er versprühte Lebensfreude und Verbundenheit mit der Natur.

Manchmal kamen pickelige Schüler mit Plastiktüten in Petruschkas Toilettenanlage, zahlten die drei Schillinge, sperrten sich in den WCs ein und blieben auffällig lange darin. Die Zeitschriften, die sie in den Plastiktüten verstaut hatten, raschelten. Wenn sie aus den WCs traten, waren ihre Gesichter häufig gerötet und sie beeilten sich, die Toilettenanlage zu verlassen.

Am schlimmsten aber waren die Betrunkenen, die meist in der Nacht erschienen, oft nichts zahlen wollten, bei den Pissoirs stehend ihr Urin daneben verspritzten, in die WC-Muscheln spien. Petruschka musste den stinkenden Brei anschließend mit einem Bodentuch und einem Eimer entsorgen, während die Betrunkenen des Öfteren noch ausfällig wurden und sie verlachten. Dann war sie ganz unten angekommen, tiefer ging es nicht mehr.

Teil des öffentlichen WCs in Pritschitz


Zum Autor

Bright Angel (Pseudonym) wurde Mitte der 1960er Jahre in Kärnten geboren. Er ist ein unsteter Geist und ein rollender Stein. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und fotografiert. Er veröffentlichte Lyrik, Kurzprosa und Fotos in Zeitschriften und Anthologien und bei „Erozuna“, „Zukunftia“, „Gangway“ und „zugetextet.com“ im Internet.

Veröffentlichungen:

  • Gedichte in „Driesch“, Nr. 5  im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 27 im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „TrokkenPresse“, Nr. 5 im Jahr 2011.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 2 im Jahr 2012.
  • Gedichte in und Gedicht auf „Brückenschlag“, Band 28 im Jahr 2012.
  • Miniaturen in „WORTSCHAU“, Nr. 17 im November des Jahres 2012.
  • Gedichte in „Spring ins Feld“, 13. Ausgabe, Dezember des Jahres 2012.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 29 im Jahr 2013.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 3 im Jahr 2013.
  • Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 59, 09/2013.
  • Kurzgeschichte in der Anthologie „Mein heimliches Auge, Das Jahrbuch der Erotik XXVIII“ vom konkursbuch Verlag
  • Claudia Gehrke im Jahr 2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 60, 12/2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 61, 04/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 62, 08/2014.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 63, 11/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 64, 04/2015.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 67, 04/2016.

Kommentare  

#1 Penelope 2019-08-09 22:57
Mich hat der Text nachdenklich gemacht. Der Minimalismus bietet Raum für Assoziationen und eigene Gedanken. Bitte mehr davon!

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