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Jesus Secundus - Eine Kurzgeschichte

StoryJesus Secunduse
Eine Kurzgeschichte

„Betet mit mir, meine Brüder und Schwestern“, sagt Jesus II., gesprochen Jesus Secundus. Es ist 05:10 Uhr, Sonnenaufgang. Heute ist der 19. Mai. „Seht die blutende Sonne. Sie ist es, die uns von der Nacht erlöst, immer wieder. Ihr gebührt unsere Verehrung. Ein Labsal ist ein jeder Tag. Die Sonne schenkt uns Wärme. Sie sorgt für eine gute Ernte. Sie und die Luft sind es, die uns am Leben halten. Unsere Gebete, meine Brüder und Schwestern, soll uns die Sonne gnädig stimmen.

Schließt eure Augen und spürt ihre Strahlen auf euren Gesichtern.“ Jesus II und seine Gemeinde knien im Gras des Innenhofs der Burg, auf der sie leben. Eine Minute vergeht. Jesus II steht auf, seine Gemeinde macht es ihm nach. „Lasst uns jetzt mit der Arbeit beginnen“, sagt er.

Jesus II sucht sein Studierzimmer auf, das die modern gestaltete oberste Etage eines der zinnenbewehrten Türme belegt. Seine Gemeinde verrichtet nicht etwa agrikulturelle Arbeit, nein, bis auf zehn, die sich um den Haushalt kümmern, arbeiten sie an Computern, programmieren Bots, Apps, konstruieren technische Teile mittels Zeichnungen als ausgelagerte Entwicklungsabteilung von namhaften Firmen. Die Hallen sind verschiedene Großraumbüros, alle sind voll belegt, jedes Büro hat einen Abteilungsleiter, die Abteilungsleiter wiederum unterstehen einem technischen und einem kaufmännischen Direktor, über diesen zwei steht Jesus II. Gehälter werden keine gezahlt, die Gemeinde wohnt in der Burg, sie erhält alles, was sie zum Leben braucht. Die meisten ihrer Mitglieder waren Studenten von naturwissenschaftlichen Fächern. Jesus II hat darauf geachtet, dass es ziemlich genau gleich viele Frauen wie Männer sind.

Die Sonne eignet sich gut als Ziel einer Religion, weil sie mit Sicherheit wirklich vorhanden ist. Es gibt kein Mutmaßen, ob es sie gibt oder nicht, tagsüber steht sie sichtbar am Himmel. Jesus II wollte auf Nummer sicher mit seiner Religion gehen. Mit der Sonne hat er das geschafft. Er war ihr Hohepriester, das Bindeglied zwischen ihr und den Menschen, verkörpert durch seine Gemeinde, die aus siebenundsechzig Menschen besteht. Kinder sind keine dabei, Jesus II meint, sie würden den Betrieb aufhalten, weil man sich um sie kümmern müsse. Vielleicht würde sich das in Zukunft ändern. Die „Kirche der Sonne“ steht da erst an ihrem Anfang.

Als nächste Ausbaustufe des Wirtschaftsbetriebes ist eine Fertigung von Kleinserien geplant. Dafür soll eine Halle im Umland errichtet werden. Den Grund hat Jesus II bereits erworben. Für eine Umwidmung in eine Industriezone leicht würde er noch den Bürgermeister bedenken müssen, das sei eine Kleinigkeit, weiß er.

„Es ist ein weiter Weg zur neunundneunzig Prozent der Erlösung“, predigt er seiner Gemeinde immer wieder. Die vollkommene Erlösung ist nämlich gar nicht möglich, denn auch wenn eines der Gläubigen Leben völlig sonnengefällig sein sollte, bleibt noch die Erbsünde. Ist das Laken blendend weiß, bleibt stets doch ein kleiner schwarzer Fleck auf ihm bestehen. Dennoch sehen Jesus II und seine Gemeinde sich als die am besten vorbereiteten Menschen für das jenseitige Leben, das hinter der Sonne stattfinden wird.

Jesus II ist der Gründer und Führer dieser Bewegung. Sein wirklicher Name ist Hugo Garwenzel. Es ist nicht so, dass dieser Hugo Garwenzel plötzlich Visionen empfing und erleuchtet wurde. Die Angelegenheit ist sehr weltlich gelagert: Hugo überlegte sich, was er am besten konnte. Er arbeitete damals, wie meistens, als Vertreter, für Friseurbedarf, für Tierfutter, für minderwertige Haushaltsgeräte. Was er nun am besten konnte, war Menschen bezirzen, Menschen gängeln, sie so reagieren lassen, wie er es gerne hätte. Für einen Vertreter ist das natürlich eine großartige Voraussetzung. Hugo verkaufte auch viel, wobei viel mehr für die Firma abfiel als für ihn. Und überdies macht es keinen Spaß, wenn man eine „3-D-konstruierte Schere“ einer Friseurin anbietet, und die nach Ende seiner Überzeugungsrede sagt, er solle sich trollen, denn die Chefin sei nicht da, und sie habe nichts zu entscheiden, und außerdem sei er mindestens der Dritte, der diese „3-D-konstruierte Schere“ zu einem Mondpreis anpreist.

Kurz gesagt war Hugo der Meinung, sein Leben zu billig herzugeben, und er würde es auch lieber bequemer haben. So ging er in einem Sommerurlaub in sich und überlegte verschiedene Möglichkeiten durch, wie er sich verbessern könnte. Auf diese Weise kam er auf die Idee mit der „Kirche der Sonne“. Er würde das Risiko eingehen, er kündigte seinen Arbeitsplatz, ließ sich zwei weiße Gewänder schneidern und begann, unter einer Linde knapp außerhalb der Stadt Reden zu halten, man könnte auch sagen: zu predigen. Zwei seiner Freunde sorgten für die ersten Zuhörer, nicht selbstlos gewiss, Hugo, ab jetzt: Jesus II, bezahlte sie dafür.

Die Sonne schien sich für Jesus II auch deshalb am besten zur Verehrung zu eignen, weil sie niemanden enttäuscht. Mit Heiligen kann viel passieren, da hat man viele Ereignisse nicht im Griff. Darüber, was die Sonne betrifft, kann man sich informieren, ganz einfach im Internet – um welche Uhrzeit geht sie an einem bestimmten Tag auf und unter, gibt es Transits von Planeten, wann genau und in welcher Intensität in einer bestimmten Region tritt eine Sonnenfinsternis auf? Keine Hexerei und keine Lobpreisung sind dazu nötig.

Was die Menschen wollen, ist es, geführt zu werden. Das ist das Eine, und dann wollen sie einen Sinn in ihrem Leben sehen. Und ganz bestimmt halten sie sich gerne für auserwählt. Genau diese Wünsche befriedigt Jesus II.

In den nächsten Monaten vergrößert sich die Gemeinde, der Grund ist mittlerweile in Industriezone leicht umgewidmet, bald würde der Bau der Werkhalle beginnen. Der Bürgermeister hat sich einen Porsche 911 Targa gekauft. Im Nachbarland entstand eine neue Gemeinde, die in einem Schloss von einem der beiden Akquirierungs-Freunde von Jesus II stellvertretend für ihn geleitet wird. Die Geschäfte laufen hier wie dort glänzend.

Und das ist noch lange nicht das Limit.
Die Nacht vom 12. auf den 13. Dezember ist kalt gewesen. Jetzt ist es 07:40 Uhr, der Himmel ist schwarz und mit Sternen besetzt, keine Wolken also. Die Zeit vergeht – einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – eins, zwei, drei Sekunden – tick – tack – tick – tack, jetzt ist es 07:45 Uhr, der Himmel wird nicht grau, es erscheint keine rote Sonne – der Himmel ist so schwarz wie um Mitternacht. Um 07:37 Uhr hätte die Sonne aufgehen müssen. Plötzlich sinkt die Temperatur. Es wird bitter, bitter kalt.

Dass seine Anhänger Jesus II nun zum Teufel jagen werden, weil die Sonne nicht aufgeht, ist noch eines seiner geringsten Probleme.


Jesu mit blutendem Herzen und blutenden Händen
Zum Autor

Bright Angel (Pseudonym) wurde Mitte der 1960er Jahre in Kärnten geboren. Er ist ein unsteter Geist und ein rollender Stein. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und fotografiert. Er veröffentlichte Lyrik, Kurzprosa und Fotos in Zeitschriften und Anthologien und bei „Erozuna“, „Zukunftia“, „Gangway“ und „zugetextet.com“ im Internet.

Veröffentlichungen:

  • Gedichte in „Driesch“, Nr. 5  im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 27 im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „TrokkenPresse“, Nr. 5 im Jahr 2011.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 2 im Jahr 2012.
  • Gedichte in und Gedicht auf „Brückenschlag“, Band 28 im Jahr 2012.
  • Miniaturen in „WORTSCHAU“, Nr. 17 im November des Jahres 2012.
  • Gedichte in „Spring ins Feld“, 13. Ausgabe, Dezember des Jahres 2012.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 29 im Jahr 2013.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 3 im Jahr 2013.
  • Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 59, 09/2013.
  • Kurzgeschichte in der Anthologie „Mein heimliches Auge, Das Jahrbuch der Erotik XXVIII“ vom konkursbuch Verlag
  • Claudia Gehrke im Jahr 2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 60, 12/2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 61, 04/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 62, 08/2014.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 63, 11/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 64, 04/2015.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 67, 04/2016.

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