In der umkämpften Stadt - Eine Kurzgeschichte
In der umkämpften Stadt
Eine Kurzgeschichte
Verschiedene Milizen kämpfen gegeneinander. Versuchen Einwohner dieser Stadt das Gebiet zu verlassen, müssen sie schwer bewachte Checkpoints durchqueren. Zudem sind auf vielen höheren Häuser Scharfschützen postiert. Essen und Trinken zu holen ist möglich, aber mehr nicht.
Lennart und Holly haben schon oft diskutiert, ob es für sie sicherer ist, im obersten Stockwerk zu wohnen als im Erdgeschoß. „ich finde, dass es ganz oben sicherer ist, weil, falls ein Teil des Hauses einstürzen würde, und keine Stücke des Hauses auf den Kopf fallen würden“, artikuliert Lennart seine Meinung. „Nein, das denke ich nicht“, widerspricht dann Holly, „stürzt das Haus unter uns ein, fallen wir in die Tiefe.“ „Ach, lassen wir das“, lenkt da Lennart meistens ein. „Schau mal; Holly“, er zeigt aus der Maueröffnung, in der früher ein Fenster war, „dafür haben wir von hier oben die beste Aussicht.“ Damit hat er Recht. Sie sehen den Fluss und dahinter den südlichen Teil der Stadt, gefolgt von der grünen Ebene und rückseitig den Bergen.
Aber diesmal ist Lennart aufgebracht. „Wir müssen fort von hier, Holly. Die Kämpfe werden nie aufhören. Wenn wir es nicht bald schaffen, werden wir hier sterben. Die umkämpften Zonen rücken näher. Wir müssen uns beeilen!“, spricht er hastig. „Beruhige dich, mein Schatz. Es stimmt, wir müssen auf eine günstige Gelegenheit warten, um fliehen zu können. Aber dafür müssen wir ruhig sein und gefasst, und schnell, wenn es darauf ankommt. Aber ein ängstliches Herz verliert immer, mein Schatz, ein ängstliches Herz verliert immer“, versucht Holly, Lennart zu kalmieren.
„Wir sollten ein Kind haben“, sagt nun Lennart plötzlich. „Ja, mein Schatz, damit hast du Recht. Das werden wir auch, wenn wir in Sicherheit sind, nicht nur eines, mehrere Kinder“, entgegnet Holly. „Aber nicht hier. Hier würde das Kind sterben, oder wir würden sterben, und es würde als Waise aufwachsen. Hier kann man nicht viel mehr als das eigene Leben haben.“ „Ja leider“, beschließt Lennart das Gespräch, denn nun folgt Stille.
Hier ist ein Zentrum der Gewalt. Es ist alleine gefährlich, in seiner zerbombten Wohnung auszuharren. Weit gefährlicher ist es, die Wohnung und das Haus zu verlassen, um Lebensmittel und Wasser auf irgendeine Art aufzutreiben. Diese Tätigkeit erledigt im Allgemeinen Lennart. Nicht nur, weil er als Mann schneller und stärker ist, sondern weil, wie er Holly erklärt hat, zu viel Angst davor hat, dass sie getötet werden würde, da er es sich nicht vorstellen könne, ohne sie weiterzuleben. „Ich würde es ohne dich nicht schaffen. Ich wäre völlig alleine, ohne einen einzigen Menschen, so alleine, wie man nur sein kann. Ich würde verrückt werden“, sagte Lennart einmal zu Holly. „Aber nein, Lennart, das stimmt ja nicht, hier sind überall Menschen“, antwortete Holly ihm. „Ja, Feinde, die auf uns schießen“, fuhr Lennart fort. „Nein nicht nur“, widersprach Holly, „es gibt hier auch Freunde.“ „Nein, Holly“, sagte Lennart, „hier ist keiner mehr der Freund des anderen, hier versucht jeder, auf seine eigene Weise zu überleben. Was führtest du hier das letzte Mal ein freundliches Gespräch?“ „Das ist schon eine Zeitlang her“, gab Holly zu. „Na, siehst du, es ist, wie ich es sage“, bekräftigte Lennart. „Wir sind hier an einem bösen Ort, das stimmt. Aber wenn dieser Ort hier schon nichts Gutes hat, kann man das auch ausnützen, und zwar dadurch, dass man keine Grenzen mehr einhalten muss, man darf sich alles erlauben. Du könntest einen Nachbar töten und seine Frau rauben. Verstehst du, was ich dir sagen will?, du musst ohne mich überhaupt nicht alleine bleiben“, warf Holly ein. Dadurch hatte sie Lennart genügend beschwichtigt, dass er manchmal sie gehen ließ, um Vorräte herbeizuschaffen.
In einer derart mörderischen Umgebung gewöhnt man sich so sehr an den Schrecken, dass man sich ein normales Leben gar nicht mehr vorstellen kann. Es mutet einem an wie ein Traum, für den man schlafen muss, denn in Wirklichkeit gibt es nur Angst und Ungewissheit, und Schmerzen, wenn man verletzt wurde.
Lennart und Holly sitzen auf einer Decke. Die Sonne ist dabei unterzugehen. In einer halben Stunde wird es dunkel sein. Das Paar hat nur noch das schwache Licht einer Taschenlampe zu Verfügung, doch das muss es für einen Notfall aufsparen. Lennart lehnt an eine Wand: „Stell dir vor, Holly“, sagt er, „in Europa machen sich die Menschen Sorgen, dass ihre Daten missbräuchlich verwendet werden. In manchen Staaten ist das ihr wichtigstes Sicherheitsproblem.“ „Welche Daten?“, fragt Holly. „Was du in den Computer oder in dein Smartphone eingibst, solche Daten. Die Menschen befürchten, dadurch ausgeforscht zu werden“, erklärt Lennart. „Von wem ausgeforscht?“, fragt Holly weiter. „Von irgendwelchen Geheimdiensten“, sagt Lennart. „Solche schlimmste Sorgen hätten wir auch gerne, stimmt´s, Lennart“, bemerkt Holly. „Bestimmt, mein Schatz“, sagt Lennart, „dann wäre alles gut.“ „Ja, das wäre es. Aber warum eigentlich in Europa, mein Liebster?“, will Holly wissen. „Wir leben doch auch in Europa.“ „Ja, schon, aber wir leben im Osten. Die reichen Staaten Europas liegen in ihrer Mitte und im Norden, dort haben sie solche Art von Problemen“, erläutert Lennart. „Und wir haben hier Bürgerkrieg“, sagt Holly, „das ist nicht gerecht.“ „Nein, das ist es nicht, mein Schatz“, pflichtet Lennart bei, „aber vielleicht ist unser Land in vierzig Jahren auch so reich.“ „Das kann schon sein, mein Liebster“, wirft Holly ein, „doch dann sind wir alt.“
In einer halben Stunde werden Holly und Lennart sich auf ihre Matratzen legen, damit sie genug Schlaf kriegen, um für morgen ausgeruht zu sein. Wer hier nicht geistesgegenwärtig ist, stirbt leicht. Holly wird sich an Lennart drücken. Lennart wird seinen rechten Arm ihren Rücken umfassen. Die Nacht wird relativ ruhig sein, mit nur vereinzelten Schüssen in weiter entfernten Stadtvierteln.
Zwei Monate später ging Holly los zum Wasserfassen. Jetzt war hochheißer Sommer, der nähere Brunnen wies nur noch wenig Waser auf, das manchmal trüb war und nicht mehr zum Trinken zu verwenden. Aber jetzt war es sehr früh am Morgen. Holly ließ den Eimer aus Aluminium den Brunnenschacht hinunter, er füllte sich, und Holly zog ihn wieder hoch. Das Wasser war klar und roch nicht, es schien in Ordnung zu sein. Holly machte sich auf den Weg zurück. Plötzlich peitschten Schüsse durch die Luft. Knapp neben ihr fuhren die Projektile in den Boden. Die Schüsse galten ihr, begriff Holly jetzt. Jemand wollte sie erschießen. Es war absolut sinnlos, sie zu erschießen zu wollen, wahrscheinlich legte der Schütze bloß auf Holly an, weil sie in seiner Sicht war. So ist das oft bei kriegerischen Zuständen. Holly lief zickzack weiter. Ein nächster Schuss folgte von links, noch einer, keiner traf sie. Holly wendete den Kopf nach links, so sah sie nicht den Betonträger vor sich. Sie prallte mit dem rechten Unterschenkel dagegen, sie stürzte über den Betonträger und lag auf dem Bauch im Staub. Plötzlich peitschten drei Schüssen von rechts hoch über Holly nach links durch die Luft. Der Schütze auf der linken Seite hätte Holly nun leicht töten können, da sie einige Sekunden reglos dalag, aber er tat es nicht, womöglich war er auch von dem Schützen auf der anderen Seite getroffen worden, allerdings hörte Holly keinen Schrei von ihm. Nun regte Holly sich wieder, der rechte Unterschenkel schmerzte stark, er wies einen Knick auf, zumindest das Schienbein war gebrochen. Holly schrie, nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor der Angst, sich nicht mehr weiterbewegen zu können. Zuerst schrie sie unartikuliert, dann schrie sie: „Lennart, hilf mir! Hilf mir, Lennart!“
Lennart hörte sie. Er lief sofort los, die elf Stockwerke hinunter, aus dem Haus, er blieb stehen, lauschte, von wo Hollys Schreie kamen. Da schrie sie wieder: „Lennart, hilf mir, ich habe mir das Bein gebrochen. Schnell!“ „Wo bist du, Holly?“, rief Lennart zurück.“ „Auf der breiten Straße bin ich, neben dem eingestürzten Lagerhaus“, schrie Holly. Lennart wusste, wo das war. So schnell er konnte, lief er dorthin. Holly stützte sich vom Boden auf. Ihr rechter Unterschenkel war deformiert. Sie konnte rechts nicht auftreten. Lennart ging vor ihr in die Knie. „Los, Schatz, kletter auf meinen Rücken“, sagte er möglichst ruhig zu ihr. Holly tat das mit Mühe. Lennart hatte sie nun huckepack und lief langsam, aber stetig zurück. Zum Glück fielen keine Schüsse mehr. Lennart trug Holly sogar alle elf Stockwerke hoch. Es war die einzige Möglichkeit.
Oben angekommen setzte er sie ab. Was sollten sie jetzt tun? In jedem normalen, zivilisierten Staat hätten sie jetzt die Rettung angerufen. Hier gab es keine Rettung mehr. Nur noch ein Krankenhaus war in Betrieb, aber auf der anderen Flussseite. Dorthin würden sie niemals gelangen können. Lennart und Holly hatten zwar Smartphones, aber das Netz war schon lange zusammengebrochen. Sie kannten auch keinen Arzt oder wenigstens eine Krankenschwester oder einen Sanitäter. Sie waren völlig auf sich alleine gestellt.
„Wir haben nicht lange Zeit, Holly, sonst wächst der Knochen schief zusammen“, sagte Lennart nach ungefähr zehn Minuten. „Wir können uns nur selbst helfen“, setzte er nach. Er sah sich die Verletzung an. Zum Glück war es kein offener Bruch, das Wadenbein schien intakt zu sein, nur das Schienbein war offensichtlich gebrochen. „Ich muss dir den Knochen einrichten. Dann muss ich deinen Unterschenkel schienen“, sagte Lennart. „Ich brauche Holzbretter, eine lange Schnur und etwas, was ich als Hammer verwenden kann“, fuhr er fort. „Wir haben nicht hier, oder?“, fragte Holly. „Nein, haben wir nicht. Ich muss losziehen, um diese Sachen aufzutreiben, am besten sofort“, sagte Lennart. „Wie sind deine Schmerzen?“, fragte er noch. „Sie sind auszuhalten“, antwortete Holly. „Pass auf dich auf, mein Liebster!“
Lennart schnallte einen Rucksack um und lief wieder das Haus hinunter. Draußen hielt er sich nach rechts, wo viele Häuser stark beschädigt waren. Ein Schlaginstrument hatte er sofort, und zwar einen Ziegel. Um Bretter zu finden, brauchte er länger, aber er fand welche, die als Betonverschalungen gedacht waren. Am schwierigsten war eine Schnur aufzutreiben, in einem anderen Haus fand er zwei verschiedene, eine drei, die andere zirka zwei Meter lang, die kurze war schon recht alt. Dennoch, nun hatte er, was er gesucht hatte. Rasch lief er zurück.
Holly saß auf dem nackten Boden: „Du warst flott, Lennart, hast du alles gekriegt?“, fragte sie. „Ja, meine Liebe, ich habe alles“, sagte Lennart. Er setzte sich vor Holly, verschnaufte zwei, drei Minuten. „Okay“, sagte er, „fangen wir an! Bitte streck mir dein rechtes Bein entgegen.“ Holly tat wie befohlen. Lennart steckte Holly ein Stück Tuch in den Mund. „Bitte hier hineinbeißen, wenn es weh tut“, sagte er. Jetzt hockte er vor Holly. Er fühlte die Position des Bruchs. „Ich werde zuerst versuchen, ob ich den Knochen händisch einpassen kann Lennart drückte gegen den vorstehenden Knochen, steigerte die Druckkraft, aber der eine gebrochene Knochen schnappte nicht in den anderen ein. „Ich muss es mit dem Ziegel und einem Holzbrett machen“, sagte Lennart nun. „Bis du dir sicher, Schatz, dass du das Richtige tust?“, fragte Holly. „Ich weiß keine andere Möglichkeit, meine Liebe“, sagte Lennart. „Ich möchte wieder gehen können, bitte, Schatz, mach, dass ich wieder gehen kann“, bat Holly flehentlich. „Ja, meine Liebe, du wirst wieder gehen können“, sagte Lennart beruhigend. Er nahm ein Brett, hielt es mit der linken Hand gegen Hollys Schienbein. Mit der rechten Hand schwang er den Ziegelstein und schlug mit voller Kraft gegen das Brett. Das Brett übertrug die Kraft gegen den Schienbeinknochen. Es krachte und knackste, Lennart gab das Brett weg. Das Schienbein war beinahe eben. Er machte dasselbe noch einmal, mit etwas verringerter Kraft. Es machte Krach und Knacks. Nur war das Schienbein sehr eben. Noch mehr eben hätte Lennart es mit dieser Methode nicht mehr einrichten können. Holly hatte gar nicht geschrien, aber sie schwitzte stark.
„Der Schmerz ist überstanden, meine Liebe“, fuhr Lennart fort. „ich muss das Bein nur noch schienen.“ Das tat er mit einem schmalen Holzbrett vor dem Schienbein und einem zweiten schmalen hinter der Wade, die er mit der Schnur zusammenband, zusätzlich ein zweites Mal mit der alten Schnur. „Dein Bein ist nicht sehr gut mit dieser Schiene versorgt, meine Liebe“, sagte Lennart. „Bitte bleib in dieser Wohnung sitzen, bewege dich möglichst wenig. Ich justiere die Schiene regelmäßig nach. Wenn du Hilfe brauchst, bitte ruf mich. Wie geht es mit deinen Schmerzen“, fragte er. „Ganz gut, die Schmerzen sind schon recht weit abgeflaut“, antwortete sie.
Nach fünf Tagen versuchte Holly, leicht mit dem rechten Fuß aufzutreten, was wieder funktionierte. Nach einem Monat konnte sie fast wieder so gehen wie früher, nur ein ganz leichtes Hinken war geblieben.
In den kommenden drei Monaten näherten sich die Fronten der Bürgerkriegsparteien dem Haus, in dem Holly und Lennart lebten. Auch nahmen die Kämpfe an Intensität zu, die Schusswechsel waren länger, mehr Projektile wurden verschossen. Sie fanden geradezu in der Nachbarschaft statt. Mörsergranaten wurden nun eingesetzt. Zunehmend surrten Drohnen im Himmel, nicht bewaffnet, sondern mit Kameras zur Aufklärung versehen. Zudem war der Brunnen, der am nächsten dem Wohnhaus von Lennart und Holly liegt, endgültig versiegt, der nächstnähere ist zirka achthundert Meter weiter entfernt. Der Weg zu ihm und wieder zurück war sehr gefährlich, doch wer kann ohne Wasser leben? Natürlich kann niemand ohne Wasser leben, aber man kann seinen Verbrauch einschränken, was Holly und Lennart auch taten.
Dann erkrankte Lennart an einer fürchterlichen Diarrhö. Es war nichts Schlimmeres wie beispielsweise Ruhr oder Typhus, aber es war schlimm genug. Kein Wasser für das Klosett und kein WC-Papier mehr verfügbar zu haben war noch das Geringste. Schwerwiegender war, dass Lennart nun viel trinken musste, um nicht auszutrocknen und ein Versagen der Nieren zu erleiden. Es lag für diese einigen Tage nur an Holly, mehr Wasser als üblich vom weiter entfernten Brunnen zu holen. Lennart hatte sehr viel Angst, wenn sie unterwegs war, aber Holly schaffte es jedes Mal. Bald erholte Lennart sich wieder, und nun übernahm er meistens das Herschaffen von Vorräten, wofür er jetzt weitere Strecken zurücklegen musste, da sich die Versorgungslage verschlechtert hatte. Die Lebensmittel in ihrer Nähe waren, wenn nicht aufgebraucht, dann nicht mehr genießbar geworden.
Bei einer dieser Touren zur Beschaffung von Proviant findet Lennart in einer verlassenen Wohnung ein Plastiksäckchen mit rosafarbenem Aufdruck und dem Schriftzug „VICHY“ und klein darunter „Laboratoires“. Darin sind Schminkutensilien. Holly schminkte sich nur zu Beginn des Bürgerkrieges noch. Mittlerweile hatte sie gar keine Schminksachen mehr.
Die Schminkutensilien in diesem Plastiksäckchen sind umfassend, es ist eine Palette Rouge, unterschiedliche Lidschatten, verschiedene Pinsel zum Auftragen von Schminke, schwarzer Kajalstift, Wimperntusche, Nagellacks in Rot und Rosa sowie durchscheinender, Lippenstifte ebenfalls in Rot und Rosa, aber in anderen Farbtönen als die Nagellacke, sogar ein Konturenstift ist dabei, dazu Wattepads, Nagellackenterferner, eine Lotion zum Abschminken. Es sind nicht nur Produkte von Vichy, sondern von verschiedenen Firmen. Sie wurden erst einige wenige Male gebraucht. Das Plastiksäckchen ist nun herrenloses Gut, das Lennart an sich nimmt.
Holly freut sich sehr darüber. „Wunderbar, so schöne Sachen, mein lieber Lennart, was du mir diesmal Tolles mitgebracht hast“, sagt Holly mit weit offenem Mund und strahlenden Augen. „Und?“, fragt Lennart. „Was und?“, fragt Holly zurück. „Willst du es nicht ausprobieren?“, fragt Lennart weiter. „Ja, weißt du, Schatz, eine Kleinigkeit fehlt: Ich brauche einen Spiegel, etwas, was mein Bild zurückwirft“, sagt Holly. „Gut“, sagt Lennart, „ich werde etwas Passendes für dich finden.“
Bei seinen Ausflügen zur Beschaffung von Proviant und Wasser machte Lennart nun Umwege und suchte verlassene Häuser und Wohnungen auf, aber er fand keinen großen Wandspiegel, auch keinen Handspiegel, er fand überhaupt keinen Spiegel, Spiegel waren hier anscheinend sehr begehrt. Am vierten Tag stieß er auf die Scherbe eines Spiegels, die am Rand geradlinig war und spitz zulaufend dreieckig. Die Länge der Geraden betrug ungefähr fünfzehn Zentimeter, die gesplitterten Seitenkanten des Dreiecks waren zirka zwanzig und siebzehn Zentimeter lang.
Diese Scherbe brachte er Holly. Das ist zwar kein richtiger Spiegel, aber er ist als einer verwendbar, dachte Holly wohl. „Danke, Lennart, das hast du gut gemacht“, sagte sie, als sie die Scherbe in Empfang nahm.
Sie legte die Spiegelscherbe in die Mitte des einzigen Tisches, der in ihrer Wohnung war. Sie nahm die Schminkutensilien aus dem Plastiksäckchen und breitete sie auf dem lädierten Tisch aus. „Ich fange gleich an, Schatz. Dreh dich bitte um.“ Lennart setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und sah aus einer Fensteröffnung. Er hörte nicht viel, am meisten noch, wenn Holly die Kappe eines Nagellacks auf den Tisch stellte, das eigentliche Lackieren, das Pinseln, das Auftragen von Kajal, das Tuschen der Wimpern ist quasi geräuschlos. Nach zirka etwas über einer Stunde sagte Holly: „Du kannst dich umdrehen!“
Lennart drehte sich um. Holly sah umwerfend aus, sie sah aus wie Kleopatra, beziehungsweise wie man sich Kleopatra vielleicht vorstellt, wie Elizabeth Taylor als Kleopatra. Dunkles Rouge an den Wangen, violetter Lidschatten, roter Lippenstift, etwas heller rote Fingernägel und rosafarbene Zehennägel – ob Mistress Taylor in Cleopatra die auch hatte?, eher nicht, dachte Lennart. „Du siehst wunderschön aus, mein Liebes“, sagte Lennart zu Holly. „Findest du?“, fragte Holly. „Doch, ja, ich bin jetzt auch zufrieden mit meinem Aussehen.“
Sie schminkte sich erst am nächsten Morgen ab. Der Kajal brannte schon ziemlich in ihren Augen.
Immer heftiger werden die Kämpfe um die Stadt. Das Rattern von Maschinengewehren ist nun noch häufiger zu hören, dazu Detonationen, nach denen Rauch aufsteigt. Gelegentlich brechen Feuer aus, die niemand löscht. Sie brennen weiter, bis sie aus Mangel an Brennmaterial ausgehen. Auch explodierende Minen sind akustisch auszumachen. Sie weisen ein eigenes Geräusch von Krach auf. Gesehen haben Holly und Lennart noch keinen Unglücklichen, den es zerrissen hat. Eine Bürgerkriegspartei, die sich zurückziehen musste, legte diese Minen. Was, bitte, denkt jemand, wenn er Teile einer Stadt vermint?
„Wenn wir weiterleben wollen“, sagt Lennart, „müssen wir bald gehen, meine Liebe. So bald wie möglich“ „Gut, mein Schatz“, antwortet Holly, „ich bin einverstanden. Wann schlägst du vor?“ „Morgen nach Einbruch der Dunkelheit“, sagt Lennart. „Bis dahin beobachten wir die Kämpfe, dann wählen wir den sichersten Weg.“
Am Abend des nächsten Tages haben sie den Fluchtweg gewählt. In den Rucksäcken, von denen je einer einen auf dem Rücken trägt, sind je zwei Eineinhalb-Liter-Flaschen mit Wasser und etwas Nahrung, der jeweilige Reisepass und je eine Taschenlampe. Holly hat zudem die Schminkutensilien zurück in das rosarote Plastiksäckchen mit dem VICHY-Laboratoires-Aufdruck gegeben und dieses Plastiksäckchen in ihren Rucksack. Holly und Lennart haben sich entschlossen, nach Norden zu fliehen, erst einmal hinaus aus der Stadt und dann immer weiter, mit dem Ziel, die Grenze zum friedlichen Nachbarland zu überqueren. Sie warten nur noch, bis es endgültig dunkel ist
Sie sehen aus einem Fenster, ohne zu sprechen. Der eine neben dem anderen sitzend, ohne Berührung. Konzentriert und gefasst.
Nach zwei Stunden ist es soweit. Das Mondlicht sollte für genügende Sicht ausreichen. Lennart und Holly schnallen die Rucksäcke auf ihre Rücken. Es geht los, ihre Flucht beginnt. Sie gehen abwärts, sehen sich um, bevor sie das Haus verlassen. Sie bemerken keine Gefahr. „Ich laufe als Erster“, sagt Lennart. Holly nickt. Lennart läuft los, vielleicht hundertfünfzig Meter geradeaus. Holly folgt. Nach diesen hundertfünfzig Metern hat sie ungefähr zwanzig Meter Rückstand. Sie lehnen sich gegen eine Hausmauer. „Ich schlage vor, wir laufen jetzt bis zu jenem Haus mit dem eingestürzten grünen Dach“, sagt Lennart. Er weist in die Richtung. „Siehst du es?“, fragt er Holly. „Dass das Dach grün ist, sehe ich nicht in der Dunkelheit, aber ich glaube, ich weiß, welches Haus du meinst“, gibt Holly zurück. „Es ist ja einfach“, sagt Lennart, „du musst mir nur möglichst schnell nachlaufen“. „Okay“, sagt Holly. Lennart startet in Richtung schräg rechts. Holly folgt, aber jetzt ist sie weit langsamer. Ihr damals gebrochenes Bein schmerzt.
Plötzlich macht es Bumm!, es klingt mehr wie Pupp!, dieses eigene Geräusch, wenn eine Mine explodiert. Lennart ist auf eine Mine getreten und hat sie ausgelöst. Seine Beine fliegen in verschiedene Richtungen, sein Geschlechtsteil ist zerfetzt, in seinen Bauch hat es Löcher gerissen. Er hat sofort die Besinnung verloren und stirbt schnell.
Der Abstand der Explosion zu Holly ist so groß, dass sie nur von Erde und einigen Steinen getroffen wird, aber die Detonation hat wohl den Schützen eines Maschinengewehrs aufgerüttelt, der Holly jetzt ins Visier nimmt. Rattattatt – Rattattatt – Rattattatt. Holly wird vielfach in den Rücken getroffen. Sie spürt den Schmerz, im Gegensatz zu Lennart. Bäuchlings liegt sie auf der Erde und verblutet. Weniger als zehn Minuten nach den Treffern ist Holly tot.
Lennart und Holly sehen sich im Paradies wieder. Ihre Körper sind unversehrt. Lennart war schon einige Minuten hier. Er saß im hohen Gras, als Holly auftauchte. „Schön, das du gekommen bist, meine Liebe“, sagte Lenart zu ihr. „Ich befürchtete schon, alleine hier bleiben zu müssen.“ „Nein, das musst du nicht“, sagte Holly und küsste Lennart auf die Stirn.
Beide sind nackt. Vereinzelt stehen Bäume. Die Temperatur ist optimal. Viele Tiere sind im Paradies. Alle sind friedfertig. Die Antilope ist nicht des Löwen Futter, sondern lebt gleichberechtig neben ihm.
Andere Menschen gibt es nicht. Dieses Paradies ist Lennarts persönliches. Jedes Paradies ist persönlich. Selbst Hollys Paradies ist ein anderes. Im persönlichen Paradies halten sich die geliebten Menschen auf, denn ohne sie der Mensch, um dessen persönliches Paradies es sich handelt, ja nicht glücklich.
Dann erscheint Gott Lennart und Holly. Er sieht aus wie ein gütiger alter Mann. Er schwebt über dem Boden. „Hallo Kinder, wie geht es euch?“, fragt er. „Habt ihr euch schon eingelebt? Ich hoffe, schon. Gut, meine Lieben“, fährt er fort, „ich muss weiter. Ich komme euch in fünfhundert Jahren wieder besuchen.“ Und weg ist er.
Wieso fünfhundert Jahre?, überlegt Lennart. Ich dachte immer, nach dem Tod gäbe es keine Zeit mehr. Das ist verwunderlich.
Die Zeit, oder was es auch war, verging im Paradies. Es war nicht nur unmöglich, zu sterben, weil man ja schon tot war, man konnte sich auch nicht verletzen. Für größtmöglichen Komfort war gesorgt, überall standen Toilettenzellen, um sich zu erleichtern, ebenso wie Betten mit dicken Decken und Pölstern. Es war wirklich himmlisch hier.
Die Nahrung war vitaminreich, allerdings recht eintönig, sie bestand ausschließlich aus Obst. Und dann war da noch etwas, was eigentümlich war. Lennart sprach Holly darauf an: „Stell dir vor, Liebes“, sagte er, „ich hatte hier im Paradies noch niemals eine Erektion.“ „Das ist deshalb, weil die nicht notwendig ist“, gab Holly zurück. „Nicht notwendig?“, fragte Lennart. „Genau“, sagte Holly, „ich hatte hier auch noch keine Monatsblutung. Ich habe dann an einem von diesen Terminals nachgesehen, was es damit auf sich hat?“ „Terminals?“, fragte Lennart. „Ja, diese silbrigen Dinger, so wie der hier“. Holly zeigte auf einen. „Die Sache ist die, mein Schatz“, sprach sie weiter, „dass wir uns hier über Mitose fortpflanzen“, „Mitose?“, fragte Lennart wieder. „Zellteilung“, sagte Holly, „Sex ist hier nicht vorgesehen.“ „Fuck!“, rief da Lennart. Er hörte noch leise, wie Holly: „Eben nicht“ sagte, dann war plötzlich alles weiß.
Lennart hatte das Gefühl, als ob er fallen würde, vom Himmel auf die Erde. Er wachte auf.
Es war Nacht in der umkämpften Stadt. Er lag ausgestreckt vor einer Fensteröffnung. Holly war weg. Auch ihr Rucksack war fort. Lennart rief sie. Keine Antwort. Er suchte sie. Sie war unauffindbar. Holly war ohne ihn gegangen.
Das war nun eine neue Situation. Lennart überlegte. Sollte er alleine fliehen oder sich in der Stadt eine Frau rauben?
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