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Rabe Raphael Folge 5 - Kaltes Feuer

StoryKaltes Feuer
Rabe Raphael Folge 5

Raphael ist ein sogenannter Paraspürer, im weitesten Sinne ein Geisterjäger. Vor allem aber ist er ein Rabe, und eigentlich hat er nicht die geringste Lust, Geister oder übernatürliche Phänomene aufzuspüren. Partner und Sitzgelegenheit Frederic Berger ist nach dem Tod seines alten Herrn der Mann, der ihn füttert und sagt, wo es lang geht. Aber nur gemeinsam sind sie stark.

Als Berger sein Wohnzimmer betrat und das Telefon ihn ausnahmsweise einmal nicht mit einem roten Blinken begrüßte, seufzte er erleichtert. Zwar war heute Samstag, aber da seine Klienten offenbar glaubten, dass es so etwas wie einen geregelten Arbeitsalltag für jemanden wie ihn nicht gab, riefen sie auch schon mal sonntags an.

Der Tag an dem Patrizia Lorenz den Hexenzirkel seiner Freundin Helena verlassen hatte, um sich dem dunklen Magier Zacharias anzuschließen, lag nun etwa zwei Wochen zurück und Berger hatte es noch immer nicht überwunden, dass es ihm nicht gelungen war, sie davon abzubringen.

Auch Helena war nicht gerade begeistert gewesen, als er ihr seinen Misserfolg gebeichtet hatte, aber im Gegensatz zu Berger, der Patrizia erlebt hatte, schien sie ihre “Hexenschwester” noch nicht ganz aufgegeben zu haben. Berger wusste nicht, ob sie irgendetwas plante, um sie zurückzuholen, hatte ihr aber eingeschärft, sich unbedingt von Konstantins Haus fernzuhalten, in dem Zacharias nun residierte.

“Aber wir müssen doch irgendetwas tun können”, hatte Helena immer wieder gesagt. Berger hatte versucht, ihr zu erklären, dass es nicht nur aussichtslos wäre, Pat gegen ihren Willen dort rauszuholen, sondern auch viel zu riskant. Er wusste nicht, wieviele Anhänger Zacharias schon um sich geschart hatte, aber er wusste, dass schon der “Täuscher” allein ein sehr starker und gefährlicher Gegner war. Selbst wenn Pat jetzt doch noch zur Vernunft käme und aussteigen wollte, wäre es nun zu spät.

Bergers Laune war also auch nach zwei verhältnismäßig ruhigen Wochen nicht die allerbeste und sie wurde nicht besser, als das Klingeln des Telefons ihn aus seinen trüben Gedanken riss.

Er dachte kurz daran, einfach den Anrufbeantworter abzuwarten und im Bad zu verschwinden, um sich bei einem guten Buch und einem Glas Wein in die Wanne zu setzen, aber Raphael schien etwas dagegen zu haben, denn er krächzte zweimal.

“Ist ja gut, ich geh ja schon ran”, sagte Berger und nahm den Anruf entgegen.

Am anderen Ende war zunächst nur ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Dann räusperte sich jemand. “Hallo Herr Berger, hier ist Amelie Portmann. Ich… habe gehört, dass Sie so eine Art Detektiv sind, der sich mit ungewöhnlichen Fällen befasst. Ist das richtig?”

“Das ist in etwa richtig, ja” sagte Berger. Und am liebsten mache ich das zur Feierabendzeit an den Wochenenden, fügte er in Gedanken hinzu.

“Wie kann ich Ihnen denn helfen?” fragte er betont freundlich.

“Mein Sohn ist entführt worden”, sagte die Frau. “Er hat vor ein paar Tagen so eine… Frau kennengelernt und jetzt ist er verschwunden.”

Berger atmete tief durch. “Frau Portmann, ich bin mir nicht sicher, ob ich in einem solchen Fall der richtige Ansprechpartner bin…”

Die Frau seufzte. “Ich weiß, was Sie denken, aber er ist nicht einfach nur mit ihr durchgebrannt. Sie hat ihn wirklich entführt. Ich glaube, sie… hat ihn irgendwie verhext und dann hat sie ihn mitgenommen…”

Bergers Interesse stieg um ein paar Nuancen an. “Verhext? Meinen Sie das in dem Sinne, dass sie ihm den Kopf verdreht hat, oder…

“Nein, nein. Sie müssen wissen, dass mein Sohn sich schon immer für Magie und Zaubererei interessiert hat. Er experimentiert in seinem Zimmer ständig mit irgendwelchen… Feuertricks herum. Und diese Frau… also sie schien dieses Interesse zu teilen und…”

Jetzt war Berger mehr als nur interessiert. Er war alarmiert. “Was können Sie mir über die Frau sagen? Wissen Sie, wie sie heißt?”

Frau Portmann schien zu überlegen. “Ich glaube, er nannte sie… Patsy oder Patty, ich weiß es nicht mehr genau. Das war eine ziemlich schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren. Ich habe sie nur einmal kurz gesehen, kurz bevor sie mit ihm verschwunden ist, aber sie muss mindestens 25 sein. Und mein Florian ist doch erst siebzehn!”

Für Berger bestand nun kein Zweifel mehr, dass es sich bei der Entführerin um Patrizia handelte, und nach dem, was er bisher gehört hatte, schien auch relativ klar zu sein, was sie mit Florian vorhatte. Offenbar hatte sie sich Zacharias tatsächlich angeschlossen und dieser hatte sie gleich damit beauftragt, weitere Mitglieder für seine Gruppe magisch bewanderter Helfer zu rekrutieren. Ein junger Kerl wie Florian ließ sich von einer hübschen Frau natürlich viel leichter um den Finger wickeln als von einem seltsamen, kleinen Herrn mit Hut.

“Seit wann ist Ihr Sohn verschwunden?” fragte er.

“Er ist jetzt seit drei Tagen nicht mehr nach hause gekommen” sagte Frau Portmann. “Und er ist auch nicht mehr zu erreichen.”

“Haben Sie schon die Polizei benachrichtigt?”

“Noch nicht, ich… wollte das eigentlich längst, aber… naja, Sie wissen selbst, wie sich das angehört hat, was ich Ihnen erzählt habe. Und dann ist da auch noch eine andere Sache…”

“Ich höre…”, sagte Berger mit zunehmender Ungeduld.

“Ich sagte ja schon, dass mein Sohn in seinem Zimmer mit diesen… Zaubertricks herumexperimentiert, und nachdem diese Frau hier war und er mit ihr verschwunden und nicht wiedergekommen ist, habe ich dort nach dem Rechten gesehen und… also das klingt bestimmt verrückt, aber in seinem Zimmer brennt es…”

“Können Sie mir das etwas genauer erklären?” fragte Berger.

“Naja, es ist kein normales Feuer, das ist auch der Grund, warum ich Sie angerufen habe. Es ist… blau. Eine blaue Flamme, die keine Hitze ausstrahlt und sich nicht ausbreitet, aber es sieht irgendwie echt aus”

“Betreten Sie den Raum vorerst nicht”, sagte Berger. “Ich komme sofort zu Ihnen”.

***

Frau Portmann öffnete die Haustür und warf dem auf Bergers Schulter sitzenden Raben nur einen kurzen Blick zu, bevor sie ihn einließ. Die Frau war offenbar zu müde und niedergeschlagen, um sich über den Raben zu wundern. “Kann ich Ihnen irgendwas anbieten”, fragte sie.

Berger winke ab. “Nicht nötig. Zeigen Sie mir einfach das Zimmer Ihres Sohnes.”

Die Frau nickte erleichtert und Berger folgte ihr in das obere Stockwerk hinauf, wo sie vor dem betreffenden Raum stehenblieb und dann vorsichtig die Zimmertür öffnete, als befürchtete sie, das Feuer hätte nach Bergers Rat, dem Raum fernzubleiben, doch noch weiter um sich gegriffen. Das schien allerdings nicht der Fall zu sein, wie Berger nach einem ersten prüfenden Blick feststellte.

In dem Haus schien man sehr viel Wert auf Ordnung zu legen, und auch Florians Zimmer machte da keine Ausnahme. Es sah eigentlich gar nicht wie das Zimmer eines 17jährigen aus, das bei Teenagern übliche Chaos fehlte ebenso wie die Poster irgendwelcher Rockbands. Dafür hing über dem Bett ein recht großes Bild der brennenden Hindenburg.

Das hätte Berger unter normalen Umständen vielleicht irritiert, allerdings gab es etwas, das ihn von diesem Anblick ablenkte: Eine hell lodernde, kobaltblaue Flamme von der Größe eines Tennisballs, die etwa zwanzig Zentimeter über dem ebenfalls aufgeräumten Schreibtisch des Jungen zu schweben schien.

“Raphael?” fragte er leise. Der Rabe krächzte zweimal und Berger nickte bestätigend. “Richtig, mein Freund. Wir haben es hier eindeutig mit einem magischen Feuer zu tun, aber es scheint relativ harmlos zu sein.”

Er streckte vorsichtig die Hand aus und fuhr mit den Fingern durch die Flamme. Sie flackerte, aber Berger spürte keine Hitze, sondern Kälte.

Er drehte sich zu der Frau um, die noch immer im Türrahmen stand.

“Hat Ihr Sohn schon einmal eine solche Flamme entstehen lassen?”

Frau Portmann schüttelte den Kopf. “Nein. Er hat sich zwar schon immer für Feuer interessiert, schon als er noch ein kleiner Junge war, mussten wir immer Feuerzeuge und Streichhölzer vor ihm verstecken, aber gelegt hat er nie eins. Und sowas wie das hier… ist das überhaupt ein richtiges Feuer? Ich dachte, das wäre eine Art Zaubertrick…”

“Sie meinen sowas wie eine optische Täuschung? Nein, ich kann Ihnen versichern, dass es ein richtiges Feuer ist, wenn auch kein natürliches.”

Die Frau nickte, als ob sie verstehen würde, was er meinte, allerdings glaubte Berger das eher nicht. “Ist es denn gefährlich?” fragte sie. “Ich meine, es strahlt zwar keine Hitze aus und breitet sich nicht aus, aber löschen lässt es sich ja auch nicht…”

“Wenn es das ist, was ich vermute, ist es nicht ganz ungefährlich, auch wenn es so aussieht, als würde es keinen Schaden anrichten. Aber ich werde versuchen, es zu beseitigen.”

Er holte sein Handy aus der Jackentasche und griff auf seine Datenbank mit magischen Formeln zu, die er nach Konstantins Tod angelegt hatte, um in Fällen wie diesem nicht jedes mal nach hause fahren und Bücher wälzen zu müssen. Es dauerte eine Weile, dann glaubte er die passende Formel gefunden zu haben. Er drehte sich zu der Frau um.

“Haben Sie einen Feuerlöscher? Vielleicht reicht auch eine Decke.”

Frau Portmann schaute ihn erstaunt an und Berger rang sich ein Lächeln ab. “Die Sache ist die, es handelt sich hier um ein… sagen wir übernatürliches Phänomen. Ich kann die Flamme nicht einfach löschen, aber ich kann sie in ein normales Feuer umwandeln. Sozusagen Feuer mit Feuer bekämpfen. Das hat allerdings den Nebeneffekt, dass es zu einer kleinen Verpuffung kommen könnte, und natürlich müssen wir das normale Feuer dann sofort ersticken.”

Frau Portmann schien zu bezweifeln, dass Bergers Plan funktionieren könnte, aber sie verschwand kurz und kam nach ein paar Minuten mit einem kleinen Feuerlöscher und einer Decke zurück.

Berger hatte sich die Formel inzwischen eingeprägt. Er nickte der Frau zu, die sich ein paar Schritte vorwagte und sagte dann die Formel auf.

Die Flamme schien zunächst zu schrumpfen, dann blähte sie sich plötzlich auf und explodierte in einem blauen Funkenregen. Die Funken wechselten die Farbe und regneten in natürlichem Zustand auf den Schreibtisch herab. Berger schnappte sich die Decke und erstickte sie.

“Wir haben Glück gehabt”, sagte er. “Ihr Sohn übt scheinbar noch.”

Frau Portmann nickte, dann senkte sie den Kopf. “Ich danke Ihnen, aber… wie geht es jetzt weiter? Können Sie mir helfen, meinen Sohn zu finden und ihn nach hause bringen?”

Berger seufzte. “Ich kann es versuchen. Aber was das letztere betrifft, kann ich Ihnen nichts versprechen.”

Und das war nur die halbe Wahrheit. Wenn Patrizia den Jungen tatsächlich für Zacharias rekrutiert hatte, wie Berger vermutete, dann würde es schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, ihr diesen Wunsch zu erfüllen…

***

Berger fuhr kurz nach hause, um sich zu stärken und umzuziehen, dann stieg er schon wieder in den Wagen, wo Raphael nach wie vor auf seiner Stangenvorrichtung hockte und fuhr zu dem Haus, in dem Patrizia wohnte. Zwar war seine Hoffnung, sie dort anzutreffen gering, aber da er vermutete, dass sie Florian bei sich einquartiert hatte, bevor sie ihn Zacharias vorführte, auch nicht ganz unbegründet.

Berger parkte den Wagen in sicherer Entfernung zu dem Haus, gab Raphael ein Stück Trockenobst und beobachtete den Eingangsbereich.

Nach etwa zwanzig Minuten fuhr ein alter Fiat Punto auffällig langsam an dem Haus vorbei, wendete und hielt dann in einer Nebenstraße.

Ein paar Minuten später kam ein schmächtiger junger Mann um die Ecke und lief auf den beleuchteten Eingang zu. Vor der Haustür schaute er sich kurz um und klingelte dann. Trotz der Dunkelheit und der Entfernung von etwa fünfzehn Metern hatte Berger den Kerl sofort erkannt: Es war der angehende Illusionist, der ihn vor zwei Wochen zum Haus seines Freundes Konstantin gelockt hatte.

“Da haben wir anscheinend den richtigen Riecher gehabt”, sagte er an den Raben gewandt. Raphael krächzte bestätigend und tickte mit dem Schnabel an die Scheibe.

“Ich glaube, es wäre besser, wenn wir noch im Auto sitzen bleiben, mein Freund. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die sich länger als unbedingt nötig in der Wohnung aufhalten werden.”

Tatsächlich dauerte es nur knapp zehn Minuten, bis die Haustür wieder geöffnet wurde und drei Personen das Haus verließen: Der schmächtige Fahrer, die mit zwei Reisetaschen bepackte Patrizia und ein recht großer und kräftiger junger Mann, bei dem es sich nur um den vermissten Florian handeln konnte.

Berger zögerte nicht länger und stieg aus dem Wagen. “Raphael: Zu mir”, sagte er. Der Rabe landete auf seiner Schulter und sie folgten der kleinen Gruppe bis zu der Nebenstraße, wo der Schmächtige und Florian gerade in den Wagen einstiegen, während Patrizia noch damit beschäftigt war, die Taschen im Kofferraum zu verstauen. Als sie Berger sah, zuckte sie leicht zusammen, dann knallte sie den Kofferraum zu und starrte ihn mit in die Hüften gestemmten Fäusten herausfordernd an.

“Hallo, Patrizia”, sagte Berger lächelnd. “Haben Sie vor, zu verreisen?”

“Was willst du hier?”, giftete sie ihn an. “Verschwinde!”

Berger schüttelte den Kopf und deutete auf den im Wagen sitzenden Florian. “Wissen Sie, wie man das nennt, was Sie da gerade tun?”

“Was wir hier tun, geht dich gar nichts an, Berger.”

“Das sagten Sie schon mal, Patrizia, aber ich glaube, diesmal irren Sie sich. Der Junge wird vermisst. Ich habe keine Ahnung, wie ihr ihn gefunden habt, aber er hat in eurem Verein nichts verloren. Er ist übrigens noch minderjährig. Wussten Sie das?”

Pat wirkte für einen Moment irritiert. Offenbar hatte Florian ihr nicht ganz die Wahrheit gesagt, was sein Alter betraf. Dann fing sie sich wieder. “Und wenn schon. Der Junge hat sich uns freiwillig angeschlossen. Niemand hat ihn zu irgendwas gezwungen.”

Berger nickte bedächtig. “Und ich nehme an, Sie haben ihm genau erklärt, was ihn bei Zacharias erwartet? Oder… wissen Sie das selbst nicht so genau?”

Sie schüttelte wild den Kopf. “Ich habe ihm alles gesagt, was er wissen muss. Dass er jemandem begegnen wird, der sein Talent würdigt und es fördert. Jemand, der ihn anerkennt!”

Berger lachte. “Haben Sie bei unserer letzten Begegnung nicht richtig zugehört, oder sind Sie wirklich so dumm, das zu glauben?”

Er wandte sich von ihr ab und beugte sich in den offenen Wagen. “Zacharias ist ein Mörder, Florian. Ich schätze, das hat man dir verschwiegen, oder? Er hat nicht wirklich vor, dich zu fördern. Er hat etwas ganz anderes vor. Dafür braucht er deine Fähigkeiten und die der anderen.” Er wandte sich wieder an Patrizia. “Und wenn er das geschafft hat, könnte es sein, dass er euch nicht mehr braucht. Und was dann? Glaubt ihr, dass er euch dann einfach nach hause schickt?”

In diesem Moment wurde die Beifahrertür aufgerissen und der Schmächtige sprang heraus. “Halt endlich die Klappe, verdammt!” schrie er. Er lief um den Wagen herum und baute sich vor Berger auf. Dieser trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Raphael stieß ein warnendes Krächzen aus. Der Schmächtige warf ihm einen verächtlichen Blick zu. “Was weißt du denn schon von Zacharias oder seinen Plänen? Einen Scheißdreck!”

Berger zuckte die Schultern. “Ich weiß, wer er früher war, und vor allem, was er war. Und ich weiß, dass er sich seitdem nicht zu seinem Vorteil verändert hat.” Er wandte sich wieder an den im Fond des Wagens sitzenden Jungen. “Du musst ihnen nicht folgen, Florian. Du kannst einfach aussteigen, wir nehmen deine Sachen und dann bringe ich dich nach hause. Deine Mutter macht sich große Sorgen um dich!”

Florian starrte ihn nur an, dann lachte er. “Das wäre aber das erste mal.”

Der Schmächtige grinste ihn an. “Da hörst du es. Der will gar nicht nach hause zurück. Er bleibt bei uns. Und jetzt verpiss dich endlich!”

“Steig endlich ein, Benno”, sagte Patrizia. “Wir sind schon spät dran!”

“Einen Moment noch”, antwortete Benno. Er trat ein paar Schritte zurück und deutete grinsend auf den Raben. “Wir könnten dem Meister noch ein kleines Geschenk mitbringen. Raphael: Zu mir!”

Der Rabe reagierte nicht und Berger schüttelte den Kopf.

“Das solltest du lieber lassen, mein Junge”, sagte er nur.

Benno trat wieder vor und klatschte laut in die Hände. Raphael zuckte leicht zusammen, was den Kerl zu amüsieren schien. Er klatschte nochmal, wobei seine Hände dem Raben bedrohlich nah kamen.

“Raphael: Abwehr!”, rief Berger.

Der Rabe erhob sich, flog direkt auf Benno zu und zog dann dicht an seiner Nase vorbei im Senkrechtflug in die Höhe.

“Ich schnapp mir das Mistvieh!”, schrie Benno und sprang ein paar mal in die Luft, was nicht nur in Bergers Augen lächerlich aussah.

“Ich sagte, du sollst einsteigen, du Idiot!”, schrie Patrizia.

“Raphael: Zu mir!”, rief Berger und der Rabe landete auf seiner Schulter. Als der vor Wut rasende Benno sich ihm wieder näherte, trat Berger zurück und streckte die Hand aus.

“Stopp!” sagte er. “Das war gerade nur ein kleiner Schuss vor den Bug. Es gibt auch einen Angriffsbefehl. Dein Freund mit der Augenklappe ist leider nicht hier, sonst könnte er dir erklären, dass der ganz böse Folgen haben kann.”

Bennos Grinsen erstarrte zu einer hässlichen Grimasse. Er spuckte Berger vor die Füße und stieg dann fluchend in den Wagen ein.

Patrizia öffnete die Fahrertür, dann drehte sie sich nochmal zu Berger um. “Falls du vorhast, uns zu folgen… davon würde ich dir dringend abraten. Vielleicht solltest du lieber beim Haus deines alten Freundes vorbeischauen…”

Berger stutzte. “Soll das heißen, ihr fahrt nicht dorthin?”

Patrizia schüttelte den Kopf. “Dort ist es nicht mehr sicher. Der Boden wird uns da allmählich zu heiß…” Sie zwinkerte ihm zu, dann sprang sie in den Wagen, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen los.

Berger stand noch einen Moment wie angewurzelt da und dachte über ihre letzten Worte nach. Dann lief er mit Raphael zum Wagen zurück.

***

Schon von weitem sah Berger seine Befürchtung bestätigt. Das Haus seines alten Freundes Konstantin schien von innen her blau zu leuchten, oder besser gesagt schien es nicht nur so, es leuchtete definitiv. Fußgänger, die einen zufälligen Blick auf das Gebäude warfen, mochten das für eine technische Spielerei halten, aber Berger wusste es besser.

Da er nicht mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass Zacharias und die anderen wirklich verschwunden waren, hatte er den Raben zunächst im Auto sitzen lassen, doch als er sich jetzt dem Haus näherte, glaubte er nicht mehr, dass sich noch irgendjemand hier aufhielt, also lief er wieder zurück, befreite Raphael aus dem Wagen und schickte ihn mit einem knappen Befehl voraus.

Der Rabe flog einmal um das Haus herum, kehrte dann zu ihm zurück und krächzte dreimal. Berger, der bereits seinen kleinen Feuerlöscher aus dem Kofferraum geholt hatte, öffnete die nur angelehnte Haustür, trat vorsichtig ein und sah die Bescherung. Im Innern des Hauses brannte es.

Und wie er bereits erkannt hatte, handelte es sich nicht um ein normales, sondern um ein magisches Feuer. Überall im Haus züngelten kleine und größere blaue Flammen, wie er sie bereits in Florians Zimmer erlebt hatte, mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht mehr um eine harmlose, sondern durchaus gefährliche Variante handelte. Diese Flammen hier schienen zusehends zu wachsen, und von Konstantin wusste er, dass ihr Zweck darin bestand, Dinge “verschwinden” zu lassen. Was Opfer der Flammen wurde, verbrannte nicht, sondern es entmaterialisierte. Berger glaubte zwar zu wissen, dass dieser Prozess nur sehr langsam fortschritt, aber auch wenn es hier nicht mehr viel zu zerstören gab, wollte er das Ende dieser Entwicklung nicht abwarten, zumal die Flammen sich irgendwann über das Grundstück hinaus ausbreiten konnten.

“Okay, dann wollen wir mal”, seufzte er und wandte sich zunächst den größeren Flammen zu. Er sagte die Formel auf, die er noch auswendig konnte, ging dann in Deckung und zückte nach der Verpuffung sofort den Feuerlöscher. So verfuhr er mit allen Flammen, die er auf Anhieb fand. Jene, die irgendwo im Haus versteckt waren, ließ er von Raphael aufspüren. Auf diese Weise hatten sie nach etwa einer halben Stunde alle Flammen umgewandelt und gelöscht.

“Das war ein hartes Stück Arbeit, mein Freund”, sagte er erschöpft.

Die Frage war nur, was Zacharias damit bezwecken wollte. Dass er beschlossen hatte, das Haus als Domizil aufzugeben, war verständlich, aber war es ihm nur darum gegangen, es zu vernichten, nachdem Berger ihn vor seinen Leuten in Verlegenheit gebracht und ihn daran erinnert hatte, dass er hier schon damals unerwünscht gewesen war? Oder handelte es sich hier um das Ergebnis der Prüfung seines neuen Anhängers Florian?

Berger tippte auf die letztere Möglichkeit. Und er ertappte sich bei der Hoffnung, dass er sie auch dann bestanden hatte, wenn jemand seinem Feuerzauber ein vorzeitiges Ende setzte. Andernfalls hätte Berger den Jungen am Ende noch auf dem Gewissen, ein besorgniserregender Gedanke, selbst wenn er wusste, wer der wahre Schuldige war.

“Ich hätte dich retten können”, sagte er kopfschüttelnd. “Ich hätte dich einfach aus dem Wagen zerren und nach hause bringen sollen. Jetzt ist es zu spät…”

Berger hatte keine Ahnung, wie er der Mutter des Jungen beibringen sollte, dass ihr Sohn wohl in nächster Zeit nicht zurückkehren würde.
Wenn sie ihn überhaupt jemals wiedersah. Vor allem wusste er nicht einmal mehr, wo Florian sich nun befand. Ganz zu schweigen von Zacharias. Obwohl er sich ziemlich sicher war, ihm in absehbarer Zeit wieder zu begegnen.

ENDE

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Kommentare  

#1 Toni 2021-12-25 18:35
Wieder ein schöner Teil :-)
Die Zwei wachsen einem so langsam ans Herz und klasse Idee mit den blauen Flammen. Du hältst die Spannung weiter aufrecht.
#2 Cartwing 2021-12-25 19:53
Vielen Dank!
Mir sind sie auch schon ans Herz gewachsen... ;-)

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