Das Flimmern (Teil 6)
Zwar starrte Jerry schon seit geraumer Zeit angestrengt auf die beiden längst kalten Cheeseburger auf seinem Teller, aber er musste sich nicht umschauen, um das zu wissen. Normalerweise gingen die Leute ihm einfach nur aus dem Weg, machten einen Bogen um ihn, so wie die anderen Kinder es früher immer getan hatten. Sie sprachen nicht mit ihm, fragten ihn nicht nach der Uhrzeit, die meisten von ihnen nahmen ihn nicht einmal wahr oder ignorierten ihn einfach. Nur einmal war es anders gewesen. Damals im Heim. Da hatten die anderen Kinder ihn sehr wohl wahrgenommen. Ein paar hatten sogar Mitleid mit ihm gehabt, jedenfalls zu Anfang. Später hatten auch sie ihn ignoriert, dann gab es nur noch jene, die ihn quälten, ihn verprügelten oder ihn zwangen, abartige Dinge zu tun. Jerry hatte es einfach über sich ergehen lassen, vielleicht weil das, was vorher passiert war, ihn irgendwie gelähmt hatte. Seine Gefühle, seine Stimmbänder, sogar seine Angst. Nichts von dem, was die anderen Kinder (und ein paar der Erwachsenen) ihm gesagt oder angetan hatten, war so schlimm gewesen, wie die andere Sache, also hatte er einfach nur gewartet, bis es vorbei war und sich nicht gewehrt. Als er das Heim nach einem Jahr verlassen durfte, hatte er geglaubt, dass er all das was dort passiert war, einfach zurücklassen konnte, dass er es irgendwann einfach vergessen würde, aber zu seiner Überraschung konnte er das nicht.
Er musste sogar ziemlich oft daran denken. Was die anderen getan hatten und was er selbst nicht getan, was er versäumt oder sich nicht getraut hatte zu tun. Und dann war da plötzlich ein ganz neues Gefühl in ihm: Eine wilde, brodelnde unglaublich intensive Wut, die scheinbar in all der Zeit ganz tief in ihm verborgen gewesen war und erst jetzt an die Oberfläche kam und ihn beinahe noch mehr quälte, als die Menschen, die sie entfesselt hatten. Und das schlimme war, dass er einfach nicht wusste, wohin mit dieser Wut, wohin mit dem Hass. Die Menschen, die ihn bei sich aufgenommen hatten, waren gut zu ihm, auch wenn sie ihn nicht liebten oder sich für ihn interessierten, so wie dieser Nachbar sich damals für ihn interessiert hatte, bis er plötzlich von heute auf morgen verschwunden war. Also beließ Jerry es eine zeitlang einfach dabei, die Wut an sich selbst auszulassen, indem er den Kopf gegen Wände rammte oder sich ins Gesicht schlug. Aber das half ihm nicht, es sorgte nur dafür, dass er die Kontrolle verlor und sich extrem verloren und fremd im eigenen Körper fühlte. Was stimmt mit mir nicht, fragte er sich. Warum bin ich anders, wenn ich doch nicht anders aussehe oder mich anders benehme, als alle anderen. Warum hassen mich Menschen, die mich nicht kennen? Was sehen sie in mir? Und warum kann ich mich nicht gegen sie zur Wehr setzen? Vielleicht war das die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, am meisten quälte. Dabei kannte er die Antwort eigentlich. Er wollte gemocht werden, akzeptiert, anerkannt. Er wollte nicht auffallen, aber er wollte auch nicht anders sein. Warum war das so verdammt schwer?
Ein paar Jahre lang versuchte er, die Wut einfach zu ignorieren, so wie die Menschen um ihn herum ihn weiter ignorierten, aber während er damit früher ganz gut hatte umgehen können, glaubte er nun zu wissen, dass diese Ignoranz und das Nichtbeachten seiner Existenz nur eine Fassade war, und dass sich hinter dieser Fassade genau das verbarg, was in dem Heim, wo er auf engstem Raum mit ihnen leben musste, zum Vorschein gekommen war: Hass, Abscheu und das Wissen, ihm überlegen zu sein, in einer anderen Liga zu spielen, die so weit von seiner entfernt war, dass man sich nicht dazu herblassen konnte, ihn zu beachten oder ihn anzuschauen, während man ihm die Uhrzeit mitteilte.
Jeremy schaute auf seine Armbanduhr: Es war erst 17 Uhr 30. Um diese Zeit aß er noch nicht zu Abend, also warum saß er immer noch hier?
Er schaute sich vorsichtig um, sah die Leute ihre Hamburger essen und ihre Shakes trinken. Niemand sah ihn, niemand beachtete ihn, er hätte aufstehen und wie ein Irrer herumhüpfen und herumschreien können, die Leute wären dennoch nicht auf ihn aufmerksam geworden. Sie würden nur ganz kurz zu ihm rüberschauen, den Kopf schütteln und sich dann wieder ihren Burgern und Shakes zuwenden. Und plötzlich wusste er wieder, warum er heute hergekommen war. Weil er beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, auf sich aufmerksam zu machen. Weil er glaubte, dass heute der Tag war, an dem sie ihn sehen, an dem sie ihn wahrnehmen würden, völlig egal, ob sie ihn mochten oder verabscheuten. Jerry griff unter den Tisch und tastete nach der Ledertasche, die er mitgenommen hatte. Schließlich wusste er ja, dass es nicht ausreichte, wenn er einfach nur die Stimme erhob. Das allein würde noch niemanden beeindrucken. Ein paar gezielte Schüsse in die Decke möglicherweise schon.
Die Tasche hatte bis jetzt zwischen seinen Beinen geklemmt, er hatte sie mit seinen Füßen festgehalten, damit sie nicht umkippte. Jetzt holte er sie unter dem Tisch hervor und legte sie sich auf den Schoß. Dabei fiel sein Blick auf die Eingangstür, die gerade von außen geöffnet wurde. Bei den unzähligen Leuten, die hier ein und ausgingen achtete Jerry eigentlich gar nicht darauf, wenn jemand das Restaurant betrat, doch der Mann, der gerade zur Tür hereinkam, verhielt sich anders, als die anderen Gäste. Die meisten Leute (vor allem die jüngeren) stürmten lachend oder dummes Zeug plappernd durch die Tür, so als wären sie hier zu hause, aber der Mann verhielt sich anders. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blieb er im Eingangsbereich stehen und schaute sich suchend um, bis sein Blick auf Jerry fiel. Dann setzte er sich in Bewegung und marschierte langsam aber zielsicher auf seinen Tisch zu. Augenblicklich wurde Jerry nervös. Seine rechte Hand wanderte unwillkürlich in die bereits geöffnete Tasche. Der Mann blieb vor dem Tisch stehen, schaute ihn direkt an und lächelte. Plötzlich wusste Jerry, dass er den Mann kannte, er wusste nur noch nicht, wo er ihn unterbringen sollte. Dann fiel es ihm plötzlich ein. Nein, das konnte nicht sein. Er sah einfach nur jemandem sehr ähnlich. Jemand an den er komischerweise gerade eben noch gedacht hatte. Doch ganz tief in seinem Innern wusste er längst, dass er ihm nicht nur ähnlich sah, dass er es tatsächlich war. So als wäre er direkt aus seinem alten Leben in sein neues hineingetreten. Und er wusste auch, warum er hier war, warum er ausgerechnet jetzt zurückgekehrt war, auch wenn er es sich beim besten Willen nicht erklären konnte.
“Hallo Jerry”, sagte Howard. “Was dagegen, wenn ich mich setze?”
Howard
Aus irgendeinem Grund war Howards Angst vor der Begegnung mit seiner Frau und seinem Sohn wesentlich größer, als die Angst vor der Begegnung mit ihrem Mörder. Vielleicht lag es daran, dass der Kerl, der an jenem Tag (besser gesagt an diesem Tag) sechs Menschen getötet und vier schwer verletzt hatte, inzwischen kein Unbekannter mehr für ihn war, kein Name in den Nachrichten, sondern der Name eines Jungen, den er gekannt und den er - ob er nun wollte oder nicht - gemocht hatte.
Die vergangenen Monate waren ihm entsetzlich lang vorgekommen, im Nachhinein schien es ihm, als hätte er mehrere Jahre auf diesen gottverfluchten Tag X gewartet. Jahre, in denen er immer und immer wieder versucht hatte, sich auf diese Begegnungen vorzubereiten, in denen er sich zurechtgelegt, sich sogar akribisch notiert hatte, was genau er sagen würde. Doch als der Tag dann gekommen war und er sich um eine bestimmte Uhrzeit auf den Weg zu einer bestimmten Adresse machte, war sein Kopf einfach nur noch leer gewesen. Es gab nur einen einzigen Gedanken, der ihn begleitete, der ihn ausfüllte: Ich darf nicht zu spät kommen. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen, sonst war alles umsonst. Zwar konnte er eigentlich gar nicht zu spät kommen, da er ja wusste, wann es passieren würde, aber wie sicher konnte er sein, dass seine Manipulationen, sein Eingriff in den Verlauf der Dinge sich nicht auf den Zeitpunkt ausgewirkt hatten? Doch als er sein Ziel - etwa zwei Stunden vor dem ihm bekannten Zeitpunkt - erreicht hatte, konnte er zumindest diesbezüglich aufatmen. Die Straße war noch nicht abgesperrt, es wimmelte noch nicht vor Polizeifahrzeugen, es gab noch keine Schaulustigen, keine Presse. Alles war ruhig, ein Tag wie jeder andere, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als eine bestimmte, erstaunlich unscheinbar und unauffällig wirkende Person den Laden betrat.
Howard saß etwa zwanzig Meter von dem Laden entfernt auf einer Parkbank, von der aus er den Eingansbereich des Ladens gut im Blick hatte und erkannte ihn sofort. Trotz der Entfernung und trotz der Tatsache, dass er nun achtzehn Jahre älter war. Aus der Ferne sah Jerry immer noch so aus, wie ein großer, schlaksiger Junge, obwohl er jetzt Anfang dreißig sein musste. Er trug eine schmale Umhängetasche über der Schulter, etwas, das man inzwischen auch bei Männern sehr oft sah, auch wenn Howard fand, dass es idiotisch aussah. Allerdings wusste er, dass sich in dieser Tasche keine Bücher oder Hefter befanden, denn Jeremy Palmer war kein Student, der in seiner Pause ein paar Burger essen wollte. Vermutlich hatte er nicht mal vor, etwas zu essen oder zu trinken, aber das war auch gar nicht die Frage. Die Frage war, wie lange es dauern würde, bis er sein eigentliches Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Zwar wollte Howard jetzt nicht mehr allzu lange warten, bis er seinem alten Freund in den Laden folgte, allerdings gab es vorher noch etwas zu erledigen, das nicht weniger wichtig war.
Wenn man es zynisch betrachtete, war das, was er noch zu erledigen hatte im Grunde alles, was er tun musste, um seine Familie zu retten, aber Howard war kein Zyniker. Vielleicht war er auch kein Held, aber wenn er nun mal die Chance hatte, auch die anderen Menschen in diesem Restaurant zu retten, würde er sie nutzen. Er warf einen letzten Blick auf seine Armbanduhr, dann machte er sich auf den Weg zum Parkplatz des Restaurants, wo er etwa fünf Minuten lang vorgab, seinen Wagen zu suchen, bis er schließlich den hellblauen Buick sah, der von seiner lebendigen Ehefrau gesteuert und wie immer auf einem der hinteren Plätze abgestellt wurde. Howard brauchte nur eine halbe Minute, bis er den Wagen erreicht hatte. Als er durch das Seitenfenster schaute, war Janet noch damit beschäftigt, in ihrer Handtasche herumzukramen, während Carl sich gerade abschnallte und etwas zu ihr sagte. Vielleicht, dass er unbedingt das Kindermenue mit dem Spielzeug haben wollte.
Howard wollte nicht länger warten und klopfte an das Fenster. Janet wirbelte erschrocken herum und starrte ihn für ein paar unendliche Sekunden an. Dann erkannte sie ihn und ließ mit ihrem typischen, bezaubernden Stirnrunzeln die Scheibe herunter. Howard warf seinem Sohn, der ihn erstaunt anstarrte nur einen kurzen Blick zu. Er musste sich zusammenreißen, durfte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen, musste sich kurz fassen.
“Howard! Was machst du denn hier?” fragte seine Frau. “Ich dachte, du wärst noch bis sechs in der Firma!“ Sie unterbrach sich und schaute ihn skeptisch an. “Wie bist du überhaupt hierher gekommen?”
Howard schüttelte den Kopf. “Ihr müsst von hier verschwinden”, sagte er nur. “Fahrt wieder nach hause. Sofort!”
“Aber… warum, was ist denn…”
“Sofort!”, wiederholte Howard. Und mit einem weiteren kurzen Blick auf seinen Sohn: “Carl, schnall dich bitte wieder an.”
Sein Sohn schaute ihn einen Moment lang irritiert an, schien etwas sagen oder protestieren zu wollen, dann tat er wie ihm geheißen.
“Würdest du mir bitte erklären, was das soll?” fragte Janet.
Er schüttelte den Kopf. “Später. Ihr müsst jetzt fahren. Jetzt gleich!”
Howard unterdrückte den Impuls, seinen Sohn ein letztes Mal anzuschauen und trat von dem Wagen zurück. Janet starrte ihn noch ein paar Sekunden lang an, dann schüttelte sie den Kopf, startete den Wagen, setzte ihn zurück und fuhr vom Parkplatz herunter. Howard schaute dem Wagen nach, bis er auf die Hauptstraße abbog.
Was, wenn sie jetzt einen Unfall baut, fuhr es ihm durch den Sinn. Nach deinem merkwürdigen Auftritt gerade kann sie sich nicht auf den Verkehr konzentrieren und baut einen Unfall. Was, wenn ich sie gar nicht retten kann, nicht retten darf?
Howard versuchte, diese Gedanken abzuschütteln. Er musste jetzt einen klaren Kopf bewahren. Seine Arbeit war noch nicht beendet. Das war erst der Anfang gewesen. Der wirklich schwierige Part stand ihm noch bevor. Er drehte sich um, dann lief er mit zügigen Schritten über den halbvollen Parkplatz auf den Eingang zu. Vor der Tür blieb er kurz stehen, atmete noch einmal tief durch und betrat das Restaurant.
***
“Hallo Jerry”, sagte er lächelnd. “Was dagegen, wenn ich mich setze?”
Jerry schaute mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf, als hätte er einen Geist oder einen Marsmenschen vor sich und schien nicht imstande, seine Frage zu beantworten, also setzte Howard sich einfach und deutete dann auf die beiden Cheeseburger. “Keinen Appetit heute?”
Jerry warf einen kurzen, irritierten Blick auf seinen Teller und schüttelte den Kopf. “Was… willst du hier?” fragte er mit leicht zitternder Stimme.
Howard zuckte die Schultern. “Naja, was kann ich schon hier wollen? Ich wollte ne Kleinigkeit essen, und ich esse nun mal nicht gern allein.”
Jerry nickte. Howard sah ein paar Schweißperlen auf seiner Stirn.
“Und weißt du, was das komische ist? Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, diesen Laden nie wieder zu betreten, geschweige denn hier zu essen.”
Jerry runzelte kurz die Stirn, dann wandte er den Blick ab und starrte wieder seinen Teller an.
“Willst du gar nicht wissen, warum ich den Laden nie wieder betreten wollte?” fragte Howard. Jerry reagierte mit einem Achselzucken.
“Okay, ich glaube, ich habe noch keinen so großen Hunger, also kann ich es dir vorher noch erzählen”, sagte Howard. Jerry wirkte nervös, aber es sah nicht so aus, als ob er jeden Moment aufspringen und ausrasten würde, also fuhr Howard fort.
“Als ich das letzte Mal hier war, ist hier jemand Amok gelaufen”, begann er. Es entsprach nicht ganz der Wahrheit, weil er damals natürlich nicht dabei gewesen war, aber Jerry reagierte ohnehin nicht, er sah nicht zu ihm auf, wirkte wie versteinert.
“Ein unauffälliger, schmächtiger Kerl war das, ungefähr in deinem Alter. Der ist plötzlich aufgesprungen und hat ne Knarre gezogen. Zuerst hat er damit nur einmal in die Decke geschossen und dabei herumgeschrien. Frag mich nicht, was er da von sich gegeben hat, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls haben die Leute hier natürlich auch angefangen zu schreien, sind in Panik geraten. Ein paar haben es geschafft, abzuhauen, aber dann hat er einem Teenager in den Rücken geschossen und der hat dann die Tür blockiert. Danach sind alle wild durcheinandergelaufen und das Geschrei wurde noch lauter. Der Typ ist dann komplett durchgedreht und hat einfach nur noch wild um sich geschossen. Er hat sechs Menschen erschossen und vier weitere schwer verletzt. Ich erinnere mich noch, dass da drüben am Fenster zwei ältere Damen gesessen haben.”
Howard deutete auf das Fenster links von ihnen und Jerry warf einen raschen Blick dorthin. Zwei ältere Damen saßen dort nebeneinander und plauderten aufgeregt. Jerry starrte sie eine Weile an, dann wandte er sich wieder seinen Burgern zu.
“Die sind nicht mal in Deckung gegangen”, fuhr Howard fort. “Sind einfach sitzen geblieben und haben Händchen gehalten. Die haben den Amoklauf überlebt. Die schwangere Frau da drüben auf der anderen Seite”, Howard deutete nach rechts und Jerry schaute wieder in die entsprechende Richtung. An einem der Tische saß eine schwangere Frau und ihr gegenüber ein etwa 15jähriges Mädchen. Jerry starrte sie einen Moment an, dann wandte er den Blick ab. Diesmal starrte er nicht auf seine Burger, er starrte Howard an.
“Auch sie hat den Amoklauf überlebt. Aber sie hat ihr Baby verloren. Und eine Tochter im Teenageralter, die bei ihr war.”
Jerrys Augen wurden noch eine Spur größer. Howard sah, dass ihm der Schweiß nun in Strömen über das Gesicht lief. Jetzt musste er vorsichtig sein. “Du fragst dich sicher, warum ich dir das alles erzähle, oder Jerry?”
Sein Gegenüber nickte. Howard nickte ebenfalls. “Okay, und was glaubst du, warum ich es dir erzähle?”
Jerrys Lippen bebten, dann öffnete er den Mund, schloss ihn wieder.
“Wer bist du?” brachte er schließlich hervor. Es klang wie ein Würgen.
Howard nickte. “Schon klar, dass du dich das fragst. Du hast dich damals sicher gewundert, als ich plötzlich verschwunden bin, oder? Aber ich frage mich auch, wer du bist, Jerry. Und warum du heute hier bist…”
Eine oder zwei Sekunden lang reagierte Jerry nicht, schüttelte nur den Kopf, als versuchte er verzweifelt, zu verstehen, was hier gerade passierte. Dann ruckte sein Kopf plötzlich hoch und er starrte Howard wieder mit großen Augen an. “Die Seite!”, stieß er hervor. “Warum hast du damals diese Seite aus dem Buch rausgerissen?”
Howard nickte nur. “Du erinnerst dich also an das Buch. Hast du es denn auch gelesen Jerry?” Sein Gegenüber senkte nur den Kopf.
Howard seufzte. “Das dachte ich mir schon. Du hättest es lesen sollen, Jerry. Du hättest es wirklich lesen sollen.”
“Aber warum?” stieß er hervor. “Ich wusste nie, warum ich das sollte.”
Howard zuckte die Schultern. “Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Aber vielleicht erinnerst du dich noch an den Lyrikband, den wir zusammen gelesen haben.”
Jerry tat so, als würde er überlegen, dann zuckte auch er die Schultern.
“Natürlich erinnerst du dich daran”, sagte Howard. “Es gab einen Text in diesem Band, der dir so gut gefallen hat, dass du ihn abgeschrieben hast. Du hast ihn mit einem blauen Filzstift auf ein großes Blatt Papier geschrieben und das dann über deinem Schreibtisch aufgehängt.”
Jerry schaute ihn mit müden Augen an. “Warum ist das wichtig?”
“Es ist wichtig, wenn du den Text verstanden hast, Jerry. Und ich glaube, du hast ihn verstanden. Du kanntest ihn sogar auswendig.“
Howard beugte sich leicht zu ihm rüber. “Vielleicht erinnerst du dich ja wieder, wenn ich den Anfang aufsage.”
Jerry schaute ihn beinahe entsetzt an, dann senkte er den Blick.
“Und ist der Mensch auch nur ein Staubkorn”, begann Howard.
Jerry sah kurz auf, dann huschten seine Augen wieder nach unten.
“so reicht doch höher als die höchsten Gipfel, so leuchtet heller als die hellsten Sterne…” Er unterbrach sich. “Jetzt du, Jerry. Weißt du noch wie es weitergeht? Sein Tischnachbar schüttelte den Kopf.
“Ich glaube, du lügst, Jerry”, sagte Howard. “SO LEUCHTET HELLER ALS DIE HELLSTEN STERNE… na los sag es!”
Jerry schaute zu ihm auf. Howard sah Tränen in seinen Augen.
“Sag es!” zischte er.
Jerry wischte sich die Tränen aus den Augen, dann richtete er den Blick ins Leere und begann mit leiser Stimme zu rezitieren.
“Und ist der Mensch auch nur ein Staubkorn,
so reicht doch höher als die höchsten Gipfel,
so leuchtet heller als die hellsten Sterne
seine Einzigartigkeit.”
Howard nickte beifällig. “Na also, ich wusste doch, dass du es noch kannst. Und jetzt sag mir was es bedeutet, Jerry.”
Jerry presste die Lippen zusammen und nickte. “Ich weiß, was das bedeutet, Howard.”
“Wirklich?” fragte Howard. Jerry nickte.
“Okay, wenn das so ist, dann gibst du mir jetzt die Tasche, die du bei dir hast und verlässt das Restaurant. Die Burger kannst du liegenlassen. Ich schätze mal, dir ist der Appetit ohnehin vergangen, oder?”
Einen Moment lang sah es so aus, als würde Jerry nun doch noch in Panik geraten. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und schaute sich nach allen Seiten um, dann tastete er nach der Umhängetasche, die auf seinem Schoß lag, aber Howard schüttelte sofort den Kopf.
“Leg sie auf den Boden und schieb sie mir mit dem Fuß rüber”, sagte er.
Jerry nickte und tat wie ihm geheißen. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich langsam. Eine oder zwei Sekunden lang blieb er einfach stehen, wobei er leicht schwankte, als wäre er betrunken, dann sah er Howard zum ersten Mal direkt in die Augen.
“Danke”, flüsterte er.
Howard nickte nur. “Machs gut, Jerry. Es tut mir übrigens leid, dass ich damals einfach verschwunden bin. Ich habe es nicht freiwillig getan, das musst du mir glauben. Unsere Freundschaft war mir wirklich sehr wichtig.”
Jerry nickte nur, er öffnete den Mund um noch etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder und ging. Howard drehte sich um und sah ihm nach, bis er durch die Eingangstür verschwunden war. Dabei fiel sein Blick auf die schwangere Frau und ihre Tochter. Das Mädchen sagte etwas zu ihrer Mutter, die daraufhin lachte und ihren dicken Bauch streichelte. Dann standen die beiden auf und verließen das Restaurant.
Howard wartete noch zwei Minuten, bevor er die Umhängetasche an sich nahm. Er legte sich den Gurt über die linke Schulter, dann stand er auf, räumte das Tablett mit den kalten Burgern in ein fast volles Regal und verließ ebenfalls das Restaurant.
***
Als Howard Leary am Ende eines langen Tages und am Ende eines unendlich langen Wartens vor dem Haus stand, in dem seine Familie lebte, in das seine Frau und sein Sohn an diesem eigentlich schlimmsten Tag seines Lebens wohlbehalten zurückgekehrt waren, wusste er zwei Dinge. Er wusste, dass er etwas eigentlich unmögliches geschafft hatte und er wusste, dass er dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen.
Denn so glücklich er auch über die Heimkehr seiner Liebsten war, so gab es dort in diesem so vertrauten und doch nun fremden zu Hause noch einen anderen Menschen, der darüber glücklich war, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, dass dieses Glück eigentlich an diesem Tag hätte zerbrechen sollen. Und da Howard wusste, dass er diesen Menschen nicht einfach ersetzen, nicht einfach seinen Platz einnehmen konnte (ob er ihm nun zustand oder nicht) wusste er auch, dass jetzt er derjenige war, für den alles zerbrach. Er warf einen letzten Blick auf das Haus seiner Familie, das einmal sein Haus gewesen war, dann drehte er sich um und ging, ohne sich noch ein weiteres Mal umzudrehen. Vor diesem stillen Abschied hatte er sich sämtlicher Dinge entledigt, die er noch besaß. Alles was er jetzt noch hatte, waren die Kleider die er am Leib trug und die Umhängetasche seines Freundes Jerry. Und natürlich das, was sich in dieser Umhängetasche befand...
Ende
© by Stefan Robijn
Kommentare
Hoffe, es hat dem einen oder anderen gefallen...