Der letzte Armignac
Réveil
Am Anfang war der Schmerz.
Und er begrüßte ihn. Denn vor dem Schmerz war gar nichts gewesen. Jetzt jedoch war da etwas. Es brannte wie ... wie etwas, das brennt ... und es breitete sich aus. Der Schmerz füllte ihn aus, rahmte ihn ein, grenzte ihn ab gegen das Nichts. Willkommen, Schmerz! Kennen wir uns? Ich bin ...
Oh.
Ich bin ich.
Immerhin etwas.
Dann kam zum Schmerz noch mehr. Er nahm wahr, wie jemand anders würgte und sich erbrach. Säuerlicher Geruch meldete sich, und mit ihm das Wissen über Nasen und Ohren. Und da war noch etwas anderes, richtig?
Augen.
Er schlug die Augen auf und kniff sie augenblicklich wieder zu schmalen Schlitzen zusammen. Flackerndes Licht aus mehreren Quellen. Er lag auf dem Rücken, umgeben von niedrigen Wänden aus kaltem Stein, und über ihm lag ein Anderer. Dieser Andere hatte ein wachsbleiches Gesicht mit einem spärlichen blonden Bartflaum, und wasserblaue Augen starrten geweitet in ein Nichts wie das, aus dem er selbst gerade zurückgekehrt war.
Von etwas weiter weg hörte er Geräusche. Zuerst dachte er an grunzende Tiere, aber dann ergaben die Laute auf seltsame Weise einen Sinn.
"Mein Gott. Was haben wir getan?" Erschüttert, weinerlich. Keine Gefahr, solange nicht ...
"Was wir tun mussten. Also reiß dich zusammen, Jean! Wir sind noch nicht fertig!"
Dieser Mann! Seine Stimme musste er ernst nehmen. Wer immer die Fremden waren, diese Stimme befahl ihnen.
Eine dritte Stimme. Jung, hoch, aufgeregt. "Hat es gewirkt, Vater?"
"Es hat das Blut aufgesaugt wie ein Schwamm. Aber vielleicht war es einfach nicht genug, und wir müssen uns noch einen Boche fangen."
Es. Sie sprachen von ihm als einem Ding. Das war beleidigend. Er würde diese Bauernlümmel lehren, so über den ... den ... Verdammnis, er war so nahe daran gewesen, sich zu erinnern!
Seine Schwerthand zuckte. Aber da war kein Schwert an seiner Seite. Er knurrte unwillkürlich voller Ärger, aber kein Ton kam über seine Lippen. Ächzend rang er nach Luft, und dann war plötzlich auch seine Stimme wieder da. "Helft mir hier heraus."
Ein Angstschrei, klappernd fiel etwas zu Boden, und plötzlich war es nur noch halb so hell. Die weinerliche Stimme betete zittrig einen Rosenkranz. Grobe, breite Hände packten den noch warmen toten Körper über ihm und hoben die Leiche heraus, und dann beugte sich ein junger Mann über ihn. Die Haare waren unter einem Barett verborgen, und sanfte braune Augen musterten ihn - "Kuhaugen", dachte er verächtlich.
Immerhin dachte der Junge daran, ihm eine zierliche kleine Hand zu reichen, und half ihm dabei, sich aufrecht hin zu setzen in seinem ...
Seinem Sarkophag.
Seine eigene Hand sah aus wie ein lederner Handschuh mit dürren Zweigen darin.
Er war tot gewesen?
Und das war er immer noch. Sonst hätte er wohl inzwischen wieder Luft holen müssen.
Das holte er jetzt nach, um fragen zu können: "Was wollt ihr, dass ihr es wagt, meine Ruhe zu stören?"
Das brachte den Anführer tatsächlich zum Lachen - ein kurzes, zorniges Lachen. "Unsere Vorfahren haben deinem Treiben ein Ende gemacht wie ehrliche Männer. Wenn es nur nach mir ginge, dann könntest du auch getrost bis zum Jüngsten Gericht da drin liegen, aber ... aber ..."
"Aber Frankreich braucht Euch," mischte der Junge sich ein. "Und es braucht Euch wirklich dringend, M'Sieur."
Der Anführer schluckte seinen Ärger hinunter. "Verdammt richtig. Die verdammten Boches haben unsere Armee zerschlagen und das halbe Land besetzt, und wenn sie nicht so viel Freude daran hätten, den verdammten Engländern das Leben sauer zu machen, hätten sie es ganz nehmen können!"
Er nickte. M'Sieur, immerhin. Vielleicht würde er sie nicht alle züchtigen müssen ...
"Es muss ja wirklich schlimm stehen um die Sache Frankreichs, wenn ihr die Toten zu Hilfe holt. Was tut der König? Wer ist eigentlich König?"
"Frankreich ist eine Republik, M'Sieur. Es gibt keinen König mehr." Der Junge schulmeisterte ihn, aber er machte es geschickt und mit ein wenig Respekt. "Wir hatten seither zwei Kaiser, und der erste von ihnen herrschte über den größten Teil Europas, aber heute haben wir einen gewählten Präsidenten. Versteht uns, M'Sieur ... wir wollen für die Freiheit Frankreichs kämpfen, auch gegen die Übermacht der Deutschen, aber wir sind Bauern, Fischer, Hirten und Handwerker. Dieses Land hat keinen bedeutenden Soldaten und Anführer mehr hervorgebracht seit - nun, seit Euch."
Der Junge zögerte, und das gab dem Wiedererwachten Zeit, sich zu korrigieren. Dies war kein Junge, sondern eine junge Frau. In Männerkleidung und mit kurzen Haaren. "Ihr wart Alain Michel Baron von Armignac und habt an der Seite von Marschall Turenne die Bayern vernichtend geschlagen, damals im Jahre des Herrn 1645 bei Alerheim. Und danach habt Ihr Trier eingenommen."
"Und dann bin ich gestorben ..." murmelte er. Alain Michel d'Armignac. Ein guter Name. Er fühlte sich richtig an.
"An der Auszehrung, ja, M'Sieur. Aber wenige Tage nach Eurer Beisetzung wurdet Ihr dabei gesehen, wie Ihr nächtens umgingt und das Blut der Bauernmädchen trankt. Also hat man Euch aufs Neue zur Ruhe gebettet, diesmal aber mit einer Knoblauchzehe im Mund und mit einem Pfahl im Herzen. Und Euren Sarkophag hat man in der Familiengruft eingemauert, um ganz sicher zu gehen."
Alain erhob sich aus seinem Gefängnis. Das Leichenhemd fiel in moderigen Fetzen an ihm herunter, und seine Lehrerin wandte verlegen den Blick ab. "Das scheint mir schon ein paar Winter her zu sein, Demoiselle. Welchen Tag ... oh. Welche Nacht haben wir heute?"
"Walpurgisnacht, 1941. M'Sieur."
Seine Beine konnten ihn nicht tragen. Der ehemalige Baron von Armignac fiel aufs Gesicht.
Sieh dich vor, ermahnte er sich. Sie glauben, du könntest ihnen nützen, nur aus diesem Grund haben sie das Werk ihrer Ahnen rückgängig gemacht. Sie wollen, dass du ihren Krieg für sie führst, Alain, und kannst du das nicht, dann werden sie dich zurück werfen ins Nichts. Also mach jetzt keine Fehler mehr!
"Das ist eine lange Zeit," nuschelte er und rollte sich auf den Rücken. "Ich werde mehr ... mehr Blut brauchen, bevor ich wieder bei Kräften bin." Und es konnte sicher nicht schaden ... "Was ist aus dem Haus derer von Armignac geworden in dieser langen Zeit?"
"Ihr seid der Letzte", grollte der Anführer seiner Befreier. Seine Tochter warf ihm einen Blick zu, der zugleich Vorwurf war und Warnung, dann kniete sie neben Alain nieder. "Euer Zweig der Familie ist ausgestorben. Vor hundertfünfzig Jahren."
Erneut meldete sich sein Verstand zu Wort. Wahr, aber nicht die ganze Wahrheit.
"M'Sieur, ich bitte Euch um Verständnis, dass wir Euch noch ein wenig vertrösten müssen. Wir können Euch zum Fuhrwerk tragen und an einen sicheren Ort bringen. Aber wenn jetzt einer von uns Euch trinken ließe, nur eben nicht so viel, dass er daran stirbt ... dann haben wir statt dessen womöglich zwei Körper zu tragen und nicht nur einen. Das versteht Ihr, nicht wahr?"
Alain nickte. "Ich verstehe Euch. Und Ihr werdet verstehen, dass ich Eure Hilfe brauchen werde. Ich muss in Erfahrung bringen, was sich verändert hat seit meinem Tod."
***
Es war nichts mehr da.
Der Anführer hatte sich Alain quer über die Schultern geworfen wie einen Sack Mehl und ihn die Stufen hinauf aus der Familiengruft getragen. An der Oberfläche konnte man im Licht des Vollmondes nur noch erahnen, wo sich unter dem Gestrüpp umgestürzte Grabsteine verbergen mochten. Ein niedriger Haufen Steine war alles, was von der Dorfkirche überdauert hatte. Das Dorf selbst mitsamt dem Herrenhaus war anscheinend spurlos verschwunden, und von der kleinen, alten Burg der Herren von Armignac hatte nur der unterste Teil des Wehrturms der Zeit die Stirn geboten. Hier lebten offensichtlich schon sehr lange keine Bauern und Hirten mehr.
Seit hundertfünfzig Jahren?
Wer hatte wohl damals die Armignacs und ihre Leibeigenen so vollständig ausgelöscht? Die Pest?
Alain schüttelte unwillkürlich den Kopf. Später würde er Zeit dafür haben, die Vergangenheit zu ergründen. Seine Augen tranken das Licht des Mondes, seine Nase sog die Nachtluft ein, und seine Ohren er konnte den Atem seiner Befreier hören und das Schlagen ihrer Herzen.
Sie trugen ihn zu einem niedrigen Fuhrwerk. Der eingespannte Ochse spürte, was er ziehen sollte, und muhte unbehaglich. Eine Hummel brummte ... eine Hummel? Nachts? Alain hob den Kopf und versuchte, den Ursprung des Geräuschs zu finden. Dann zischte er: "Was ist das, da oben am Himmel? Ich sehe ein Kruzifix vor der Mondscheibe?"
Die Schulmeisterin hob den Kopf und schaute zum Mond. "Das ist wahrscheinlich ein englisches Aufklärungsflugzeug unterwegs nach St. Nazaire. Dort haben die Deutschen jetzt ein paar Unterseeboote im Hafen."
Alain stöhnte innerlich auf und ergänzte die lange Liste der Dinge, über die er dringend noch mehr lernen musste, um Aufklärungsflugzeuge und Unterseeboote.
Der Anführer der Gruppe lud Alain auf der Ladefläche des Fuhrwerks ab und griff nach einer Blendlaterne, dann kümmerte er sich um den Ochsen. Er rieb dem Tier die Flanke und murmelte beruhigende Worte, ehe er ins Zaumzeug griff, um ihn den Weg entlang zu führen. Der Prediger nahm widerstrebend auf dem Kutschbock Platz, und die junge Frau setzte sich neben den wiedererweckten Baron von Armignac.
Alain betrachtete ihr Profil. Wenn er überhaupt jemanden aus dieser kleinen Gruppe zu einem Verbündeten machen konnte, dann sie. Und auch das würde nicht leicht werden.
"Demoiselle - Ihr wisst sehr viel von mir, und ich weiß nichts über Euch. Darf ich Euren Namen erfahren?"
"Guten Abend, Marie-Claire Tremonde. Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mich mit einem alten Veteranen zusammenbringen könntet. Ein einfacher Soldat, der im Krieg gekämpft hat, reicht mir schon aus. Ich muss einfach wissen, mit welchen Waffen man heute kämpft, und unser Vorgehen danach ausrichten, versteht Ihr? So wie man zu meiner Zeit Schlachten anders schlagen musste als im Hundertjährigen Krieg, um einen Sieg zu erringen."
(tbc)