Von der Freiheit des Moist von Lipwig - IV - Lord Vetinaris Sichtweise
Von der Freiheit des Moist von Lipwig
IV - Lord Vetinaris Sichtweise
Zwischen Bouffant und Fredegger: Lord Vetinaris Freiheits-Verständnis
Nachdem Lord Vetinari Gilt und den Rest des Trunks entlässt, hat er ein Gespräch mit einem Sekretär Drumknott. In diesem dekliniert er, was Gilt ihm vorgegeben hat und denkt im wahrsten Sinne des Wortes dessen Argument nach:
„(…) Bouffant says that the intervening in order to prevent a murder is to curtail the freedom of the murderer and yet that freedom, by definition, is natural and universal without condition. (…) Thus we might consider, for example, that taking a bottle from a man killing himself killing with drink is a charitable, nay, praiseworthy act, and yet freedom is curtailed once more.“
In der Tat: Ist es nicht lobenswert, wenn wir dem Alkoholiker die Flasche wegnehmen, damit dieser noch länger leben kann? Auch wenn wir seine Freiheit damit beschneiden? Ein heikles Argument. Ein gefährliches dazu. Wer so handelt, stellt sich auf eine höhere Stufe als sein Gegenüber. Er maßt sich an zu wissen was gut und was böse ist und wo und wann es nützlich ist die Freiheit des Anderen einzuschränken. Er schränkt den Anderen ein, obwohl dieser es vielleicht gar nicht möchte und verletzt damit seine Souveränität und seine Persönlichkeit. Gewiß, Regeln sind notwendig. Ohne Regeln wäre eine Gesellschaft nicht möglich. Aber diesen Regeln stimmen wir zu, weil wir die Freiheit des Zustimmens besitzen. Weil wir einsehen, dass es besser ist wenn man bei Rot nicht über die Straße geht - die Folge davon wäre der Tod und das Leben wiegt dann schwerer als die Tatsache einer Verletzung der Straßenverkehrsordnung. Es mag sein, dass wir nicht per se allen Regeln und allen Gesetzen zustimmen, dann aber wiederum ist das nur unsere eigene Entscheidung und damit haben wir die Freiheit der Wahl. Sicherlich können wir auch bei Rot über Straße gehen, wenn wir dann akzeptieren und uns bewußt sind, dass wir überfahren werden können.
Dies ist die Freiheit, die Reacher Gilt meint: Es gibt ein Entweder und ein Oder. Entweder ich nehme dem Alkoholkranken den Alkohol ohne seine Zustimmung weg und verstoße damit gegen dessen Freiheit. Oder ich lasse ihm seine Freiheit und sehe zu, wie er sich selbst ruiniert. Dass aber ist ein begrenzter Blickwinkel, da hier nur zwei Alternativen aufgezeigt werden, die in das Weltbild von Gilt passen. Was aber, wenn es noch eine dritte Wahlmöglichkeit gäbe? Wenn der Alkoholiker aus freien Stücken aufhören würde zu trinken? Oder wenn es für den Trunk eine Alternative wie die Post gäbe? Gilts Verständnis von Freiheit lässt diese Alternativen nicht zu und daher ist es kein Wunder, dass er später ein Feuer im Postgebäude veranlassen wird. Die Freiheit Botschaften langsamer als das Licht von A nach B zu bringen bedroht sicherlich auch seinen Profit. Oder wie Moist es sinngemäß ausdrückt: Für den Normalsterblichen ist eine Clacks-Mitteilung sicherlich in Zeiten von Krisen - „Opa tot. Begräbnis nächsten Donnerstag um 08:00.“ - eine sinnvolle Idee. Moist selbst sieht daher das Clacks-System auch nicht gerade als Rivalen, das tut er bis zur Mitte des Romans tatsächlich nicht beziehungsweise sieht er seine Rolle als marginal an.
Ebenfalls denkt Lord Vetinari auch weiter als Gilt: „Mr. Gilt has studied his Buffont, but, I fear, failed to understand it. Freedom maybe mankinds natural state, but so is sitting in a tree eating your dinner while it is still wiggling.“ Lord Vetinari glaubt durchaus an die Freiheit. Das macht er Moist zu Beginn des Romans auch klar. Etwas, was wir als Leser an dieser Stelle vielleicht schon wieder vergessen haben, aber Vetinari bekräftigt das gegenüber Moist mehr als deutlich:
„You see, I believe in freedom, Mr. Lipwig. Not many people do, although they will protest otherwise. And no practical definition of freedom would be complete without the freedom to take the consequences. Indeed, it is the freedom upon which all the others are based.“ (kursiv im Original)
Wir alle haben die Freiheit, die Konsequenzen in Kauf zu nehmen, so Lord Vetinari. Findet sich bei Gilts Definition von Freiheit wieder? Ja. Durchaus. Wer nicht das Clacks-System nutzen möchte, kann sein Pferd nehmen und die Botschaften selber von A nach B bringen. Insofern ist das eine Wahl und der zynische Gilt betont das ja auch noch selbst. Was aber sind wiederum die Konsequenzen aus dieser Konsequenz? Im Endeffekt: Die Botschaften kommen ja ans Ziel. Halt nur langsamer. Aber sie kommen an. Die Konsequenz daraus: Gilt entgeht der Profit. Deswegen - was schon erwähnt worden ist - kann Gilt nur die Konsequenz ziehen, Moist zu vernichten. Dass es auch eine andere Möglichkeit gäbe, das kommt Gilt nicht in denn Sinn.
Jedoch, so Lord Vetinari, Gilt mag seinen Philosophen gelesen haben - er habe ihn allerdings nicht verstanden. Bouffant scheint der Ansicht zu sein, dass Freiheit ein natürlicher Zustand des Menschen ist. Quasi ihm angeboren und nicht wieder entreißbar. Der trockene Kommentar von Vetinari daraufhin: Nun, natürlich ist es auch nackt auf einem Baum zu sitzen und sein Mittagessen, das noch zuckt, dort zu verzehren. Sicherlich ist das auch eine Art von Freiheit, aber mittlerweile haben wir als Menschen uns zivilisiert und können daher auch Bouffant in Frage stellen. Vetinari tut das auch direkt im Anschluss des Beinah-Selbstgesprächs:
„On the other hand, Freidegger in Mortal Contextities, claims that all freedom is limited, artificial and therefore illusionary, a shared hallucination at best. (…) true freedom is so terrible, that only the mad or the divine can facen it with open eyes.“
Neben der offensichtlichen Anspielung auf den Philosophen Heidegger - und den für deutsche Leser durchaus amüsanten Begriff „Vonallesvollkommenunverstandlichdasdaskeit“, mit dem Pratchett den Stil von Heidegger parodiert - könnte man auch noch eine Anspielung auf „Das verschleierte Bild von Sais“ von Schiller oder dem Mythos der verschleierten Isis erkennen. Zwar ist es nicht die Freiheit, die für den Jüngling bei Schiller zu einem frühen Tode führt sondern die Wahrheit, aber das Grundthema ist gleich. Die wahre Freiheit ist nicht wirklich erfassbar - jedenfalls nicht mit unseren Sinnen. Sagt Freidegger. Ob Lord Vetinari ebenfalls dieser Ansicht ist?
Eine gute Frage, weil wir Leser diese Frage nicht beantwortet bekommen. Denn zwar stellt Lord Vetinari diese Überlegungen an, aber abgesehen davon, dass er Bouffants Definition offenbar nicht schätzt - und damit im Gegensatz zu Gilt tritt - ist es auch nicht ganz klar, ob er wirklich mit Freidegger übereinstimmt. Schließlich richtet sich die Frage nach der Sichtweise der Freiheit an Drumknott, Vetinaris Sekretär. Und dieser holt Vetinari aus den philosophischen Gedanken auf den Boden der Tatsachen zurück.
„(…) what the world really needs are filing cabinets, which are not so flimsy.“
Auch eine Sichtweise, kommentiert Vetinari dann und das Kapitel endet. Ohne, dass wir als Leser jetzt eine definitive Sichtweise der Freiheit von Lord Vetinari hätten. Definitiv können wir aber feststellen: Lord Vetinaris Begriff der Freiheit geht über die Definition, dass Freiheit dem Menschen als natürlicher Zustand innewohnen würde, wohl doch etwas hinaus. Die Erkenntnis, dass die Freiheit der Konsequenzen als Basis jedes Freiheitsbegriffes fungieren sollte ist nun keine, die einem Steinzeitmenschen in den Sinn käme. Wir haben die Freiheit, uns zu entscheiden - wir tragen dann aber auch die Konsequenzen, so Vetinari. Wir müssen die Konsequenzen dann sogar tragen. Und dann auch die Konsequenzen der Konsequenzen. Etwas, was Gilt nicht in Betracht zu ziehen scheint. Zudem für ihn Freiheit an den Besitz geknüpft ist. Lord Vetinari kann tatsächlich nicht in die Belange des Trunks eingreifen - würde er das tun, würde er ein fundamentales Recht verletzen und das Gefüge von Ankh-Morpork auseinanderbrechen. Was er nicht riskiert, weil er genau weiß, dass er dann als Herrscher versagt hätte.
Letztendlich ist aber nicht genau klar, was Lord Vetinari von der Freiheit als solches hält oder welche Definition er selbst bevorzugt. Als „thinking tyrant“ weiß er jedenfalls, dass es mehr bedarf als Gewalt, um eine Stadt zu regieren. Gewaltmethoden würden dafür sorgen, dass er zwar heute ein Tyrann sein, dass er das aber kaum bis übermorgen bleiben würde. Insofern scheint Lord Vetinari eine Freiheit zu bevorzugen, die durchaus dem Bürger die Freiheit der Wahl lässt. Sofern sie in einem Rahmen von Gesetzen stattfindet und diese nicht verletzt. Er kann daher nicht eigentlich in die Belange des Trunks eingreifen, sofern er nicht die Beweise dafür hat, dass dort irgendwas nicht mit rechten Dingen vor sich geht. Diese hat er aber nicht - vorerst jedenfalls nicht.
Wie aber ist es jetzt mit der Freiheit des Moist von Lipwig bestellt? Das ist im nächsten Teil - oder die nächste Teile, denn Pratchett schildert die Entwicklung durchaus auch als Handlungsmotor vom Anfang bis Ende des Romans - eine Betrachtung wert.