Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding: Der Lockdown und wir
Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding
Der Lockdown und wir
»Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding, Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie eine Sanduhr.«
Hugo von Hoffmannsthal hat einer der Hauptfiguren des Rosenkavaliers, der resoluten und weisen Marschallin, durchaus wahre Worte in den Mund gelegt. Denn es ist tatsächlich so: Wenn man so hinlebt, wenn man im normalen Alltag steckt, wenn man seine Aufgaben erledigt, mit der Familie zusammen ist - dann ist die Zeit gar nichts. Wir blicken ab und an auf die Uhr, weil der nächste Termin drängt, aber die Zeit ist halt irgendwie da.
Und dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Denn dann gibt es auf einmal eine Pandemie und einen Lockdown. Der normale Alltag ist lahmgelegt. Menschen müssen von jetzt auf gleich ihr Leben umorganisieren, auf einmal stellen sich neue Herausforderungen. Für die Einen ist der Tag auf einmal kürzer als normal, weil sie Homeoffice und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen müssen - und das erstmal für die nächsten Wochen. Die Zeit rast auf einmal nur so dahin und man ist froh, wenn der Tag vorbei ist.
Andererseits scheinen die Tage im Lockdown ein einziger langer Sonntag zu sein. Sie gehen ineinander über als wären sie ein einziger Tag. Teils angefüllt mit Langeweile, denn die sonstigen Aktivitäten sind nicht mehr möglich - außer Spazieren gehen oder Joggen, aber so auf Dauer ist auch das nichts Spannendes. Was sonst die Zeit vertrieb, der Stammtisch, die Chorpobe, das Skatabend, das Fitness-Studio - fällt alles weg. Telefon und Videokonferenz nur ein unbefriedigender Ersatz.
Wobei: Endlich. Endlich einmal Zeit für die wichtigen Dinge haben. Ein gutes Buch lesen. Endlich die Lieblingsserie bingen. Endlich Zeit über sich selbst nachzudenken. Dazu kommt man ja sonst nicht, weil das Leben so hektisch ist. Die Entdeckung der Langsamkeit für den persönlichen Alltag. Sich in die Sonne setzen. Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Herrlich.
Halten wir es aber mit der umgekrempelten Zeit wirklich aus? Für den Einen beinhaltet sie viel Chaos, viel Unsicherheit, viel Vages. Für den Anderen scheint sich nichts zu ändern: Der hat vorher schon im HomeOffice gearbeitet, der hat keine Kinder, der muss sich nicht um eine Betreuung kümmern. Wenn für einen sich die Zeit im Lockdown verkürzt, verlängert sie sich für den Anderen.
In den Zeiten der Lockerungen - nicht in den Zeiten nach Corona, denn der Virus ist noch aktiv, ein Impfstoff ist derzeit nicht in Sicht - wird unser Zeitempfinden schon wieder auf den Kopf gestellt. Teilweise sind Dinge wie Schwimmen und Gesellschaftssport erneut möglich, wenn auch zu Konditionen, die alles andere als normal sind und uns auch Zeit kosten. Etwa, wenn wir ständig unsere persönlichen Daten an allen Ecken und Orten hinterlassen müssen. Teilweise können die Kinder wieder in den Kindergarten und die Schule, wenn sie auch nicht das Stundenkontingent erhalten, was normal wäre. Schon wieder müssen wir unser Zeitmanagement umstellen und überdenken.
Vielleicht ist die Konfrontation mit der Zeitgestaltung etwas, was uns dazu bringt unsere Bedürfnisse und unsere Wünsche unter die Lupe zu nehmen. Was wollen wir wirklich und wieviel Zeit haben wir. Bisher war es so, dass wir keine Zeit hatten - wir wollten eine neue Sprache lernen? Keine Zeit. Neues Fachgebiet kennenlernen? Keine Zeit. Sich selber weiterentwickeln? Keine Zeit. Diese Ausrede kann aber nicht mehr gelten. Nicht für alle, ja, aber dennoch. Auf einmal muss Zeit anders behandelt werden.
Ob die neue Zeit einem passen wird ist die Frage, die wir uns jetzt stellen müssen. Die Frage nach einem sinnvollem Gebrauch. Aber auch die Frage, ob nicht mehr Müßigkeit uns anstehen würde. Antworten darauf kann - wie treffend - dann nur noch die Zeit selbst weisen.