Hölle ohne Rauch und Feuer
Hölle ohne Rauch und Feuer
Was danach kommt - eine neue Existenz oder der ewige Schlaf, das würde Alfred Anders in weniger als einer Stunde wissen.
Eine Stunde plus minus einige Minuten. So jedenfalls hatte es der Arzt gesagt. Auch wenn er seine Stimme gedämpft hatte, Alfred Anders war nicht schwerhörig und hatte genau mitbekommen, wann das letzte Sandkorn in seiner Lebensuhr durch das Stundenglas rieseln würde.
Eine Stunde also. Der alte Mann fragte sich, wann in seinem "Kopfkino" sein ganzes Leben noch einmal in kurzen Zusammenschnitten an ihm vorbeirauschen würde. Es gab so gewisse Szenen, die er da gern rausgeschnitten hätte.
Also noch eine Stunde leben. Keine Gedanken mehr an die unangenehmen Dinge der Abendnachrichten, ob es morgen regnen würde und was man demnächst an Geschenken zum Weihnachtsfest kaufen musste. Diese Dinge waren für Alfred Anders uninteressant geworden.
Er hatte nur noch einen einzigen Wunsch.
Ob das Schicksal es zulassen würde, dass ihm dieser Wunsch erfüllt würde? Oder ob Heinrich, sein Sohn, hier Erfüllungsgehilfe des Schicksals würde? Denn eins war klar: Heinrichs Frau, seine Schwiegertochter, war sicher in ihrer fanatischen Verbohrtheit in der Lage, mit den Waffen einer Frau zu verhindern, dass sein Sohn dem sterbenden Vater diesen letzten Wunsch erfüllte.
Aus dem Nebenraum vernahm Alfred, dass die Schwiegertochter ihren Mann und damit den ältesten Sohn des Sterbenden fragte, ob sie nicht den Pfarrer anrufen sollte. Vielleicht dass ein Diener Gottes dem alten Mann mit seinen Worten den Übergang in jene andere Welt oder Bewusstseinsebene erleichtere.
Im Bett winkte Alfred genau so ab, wie sein Sohn jetzt mit leiser Stimme antwortete. Heinrich Anders kannte seinen Vater viel zu gut, dass er jetzt nicht zum Telefonhörer griff, um irgendeinen Seelsorger herbeizurufen. Erstens wäre der vielleicht sowieso zu spät gekommen und zweitens wusste Alfreds "Ältester", dass salbungsvolle Worte am Gemüt des Sterbenden abgleiten würden, wie Wasser an einem gut eingeölten Körper.
Zwar glaubte Alfred Anders an Gott und war durchaus nicht das, was man einen Atheisten nennt. Doch auch wenn der Alte noch nicht aus der Kirche ausgetreten war, konnte er sich mit den Dingen, die man nach Meinung der Kirche als Christ zu glauben hatte, nicht anfreunden. Es war sicher besser, den Sterbenden mit belanglosen Gesprächen abzulenken, während derer er plötzlich hinübergleiten würde.
Alfred Anders hörte, wie der Arzt im Flur verabschiedet wurde. Aus Gesprächsfetzen, die aus der halb offenen Tür zu ihm herüberdrangen, hörte der Alte, dass der Arzt eben noch mal nach Hause wollte, weil bereits ein Fußball-Länderspiel lief. In ungefähr zwei Stunden würde der Arzt dann noch mal vorbeisehen, um den Totenschein auszustellen. Und er gab seinem Sohn auch die Karte eines Bestatters, der auch in der Nacht noch einen Toten aus der Wohnung holen und in die Leichenhalle auf dem Hauptfriedhof schaffen würde.
Der alte Anders musste lächeln. Er kannte diesen Bestattungsunternehmer und wusste, dass seine Leichenwagen grundsätzlich Mercedes-Modelle waren. Sein ganzes Leben lang hatte Alfred Anders über diese "Bonzenschleudern" gelästert und war nicht mal bereit gewesen, in ein Mercedes-Taxi einzusteigen. Jetzt würde er, der sein ganzes Leben aus "sozialdemokratischer Überzeugung" Volkswagen fuhr, die letzte Fahrt doch in einem Mercedes machen.
Der Gedanke belustigte den Alten, und so kam es, dass Heinrich und Martha Anders ein heiteres Lächeln auf den Lippen des Alten sahen. Und bevor der "Älteste" etwas sagen konnte, begann der schon reichlich zahnlose Mund zu reden. Nein - nicht einfach reden. Es wurden Anweisungen erteilt.
Alfred Anders wollte das Fußballspiel sehen. Die deutsche Nationalmannschaft stand auf dem Platz gegen einen der Gegner, bei denen das Ergebnis einer Begegnung immer offen war. Und der sein ganzes Leben lang fußballbegeisterte Alte bestand darauf, das Spiel wenigstens in seiner Endphase zu sehen.
Seine Worte klangen so befehlend wie damals, als sich der kleine Heinrich duckte, wenn der Alte die Ausführung seiner Anweisung durch das Sirren eines Rohrstocks in der Luft beschleunigte.
Dem Arzt hätten sicher die Haare zu Berge gestanden, hätte er gesehen, wie Heinrich Anders und seine Frau den nicht mehr sehr schweren Körper des Alten in eine Decke gewickelt aus seiner Einlieger-Wohnung im Keller des Hauses über die Treppe hinauf ins eigene Wohnzimmer trugen und dort in einen Sessel setzen.
Dieser Transport innerhalb des Hauses war kein großes Problem, weil der alte Mann durch die an ihm zehrende Krankheit nicht mehr viel Körpergewicht hatte. Heinrich und seine Frau Martha konnten den alten Mann bequem nach oben in ihre Wohnung tragen.
Denn der Alte wohnte im Haus seines Ältesten im Keller in einer Einlieger-Wohnung mit separatem Eingang. Das kam der Leidenschaft Alfred Anders für den blauen Dunst sehr entgegen. Mochte auch der Geist der heutigen Zeit gegen diese Leidenschaft stehen und das Rauchen überall verboten werden, Alfreds Wohnräume waren eine ausgewiesene "Raucherzone". Und es wurde alles gequalmt, was Nikotin enthielt und nicht mit irgendwelchen Hanf- oder Mohnprodukten verunreinigt worden war.
"Räucherware hält sich länger!", war einer von Alfreds bekannten Sprüchen. Und wenn man sein hohes Alter in Betracht zog, hatte dieser Spruch durchaus einen wahren Kern.
Am liebsten waren Alfred Anders natürlich die Zigaretten mit der etwas der heutigen Zeit angepassten Schreibweise eines honorigen britischen Adelshauses, für die man in der Werbung immer einen Cowboy reiten ließ. Reichte die Rente nicht für den täglichen Verbrauch fertiger Zigaretten, um den Nikotinspiegel im Gleichgewicht zu halten, wurden eben die Kippen selbst gedreht. Selbstverständlich hatte der Alte auch eine ganze Batterie Tabakspfeifen auf dem Regal und sogar eine Wasserpfeife, die er in Ägypten auf einem Basar erstanden hatte. Bei Zigarren wurden die dunklen Brasil bevorzugt.
Und für die für Indianer begeisterten Enkel wurde sogar nach altem Karl-May-Rezept aus dem ersten "Winnetou"-Band indianisches Kinnikinnick hergestellt. Den beiden Jungen brachte es drei Tage strenge Bettruhe ein; der alte Anders rauchte seelenruhig zu Ende, was von dieser Tabak- und Kräutermischung, angereichert mit getrockneten Eichenblättern und abgeschnittenen Fußnägeln noch übrig war. Es durfte ja nichts verkommen.
Um es in der neudeutschen Umgangssprache zu sagen - Alfred Anders war ein Hard-Core-Smoker.
Während sein Sohn durch den Einfluss seiner Frau nach der Hochzeit und die Söhne nach dem "Indianer-Tabak" zu Nichtrauchern geworden waren, paffte der "Opa" in seinen zwei Kellerräumen wie eine Lokomotive. Da der alte Mann in seiner Kleidung durch den kalten Rauch einen Duft verbreitete wie eine Berliner Eckkneipe am frühen Vormittag, hatte die Schwiegertochter die oberen Räumlichkeiten des Hauses für ihn zum Sperrgebiet erklärt.
Während Heinrich den Fernseher anschaltete und das Programm suchte, auf dem das Fußballspiel übertragen wurde, machte sich seine Frau an der Hausbar zu schaffen.
Gut, es war noch etwas Whisky in der Flasche drin, die der Alte vor einigen Jahre für sich selbst gekauft hatte. Ein fünfundzwanzig Jahre alter schottischer Single-Malt, der über zweihundert Euro gekostet hatte. Der Vater hatte ja nie was davon getrunken - und wenn besonders wichtig Gäste kamen, hatten Heinrich und Martha diesen natürlich etwas ganz Besonderes vorsetzen können. Hoffentlich trank der alte Mann nicht so viel davon - sonst konnte es auf den "letzten Metern" noch ein paar peinliche Fragen geben.
Doch der Alte nippte nur gelegentlich an dem Whisky, und seine Augen schienen mit dem Geschehen auf dem Bildschirm zu verfließen.
Dann sah Martha Anders entsetzt eine Handbewegung des Alten, die sie nur zu gut kannte. Der Griff in die Brusttasche des Hemdes, wo stets ein Feuerzeug und eine gut gefüllte Schachtel Streichhölzer zu finden war.
Nur jetzt war keine da. Natürlich, der Schlafanzug, den Alfred Anders trug, hatte keine solche Tasche.
" 'ne Marlboro!", mümmelte es aus dem Mund des Alten. "Ich will was zu rauchen!" Während auf dem Bildschirm die deutsche Mannschaft gerade den Ausgleich schoss und die Partie vermutlich in die Verlängerung ging.
"Muss das noch sein?" Die Stimme der Frau klang vorwurfsvoll. "Der Rauch hängt wieder wochenlang in den Gardinen und ..."
"Martha!" Heinrichs Stimme klang wie ein Peitschenknall. Er wusste, dass die Nikotinsucht seines alten Herrn unheilbar war. Wer auch nur durch seine kleine Wohnung ging, hatte danach so viel Nikotin in der Lunge, als hätte er bereits ein Tabakstäbchen durchgezogen.
Eine Zigarette. Es war sicher der allerletzte Wunsch des sterbenden Vaters. Und da war Heinrich Anders Manns genug, notfalls einen Ehekrach mit seiner Angetrauten zu riskieren.
Allerdings waren im ganzen Haus keine Zigaretten mehr aufzufinden. Triumphierend kichernd gestand Martha Anders, dieses ganze Teufelszeug schon vor drei Tagen in den Müll geworfen zu haben. Denn in dieser Zeit hatte der Alte fast durchgehend geschlafen und in den kurzen Wachperioden nur etwas Tee getrunken und einige Löffel Brei hinabgewürgt. Dann war er wieder eingeschlafen.
Vielleicht hätte ihn das Schicksal besser hinüberdämmern lassen sollen. Doch Alfred Anders war wieder zu sich gekommen und in seiner letzten Stunde bei vollem Bewusstsein.
Ganz klar, dass er was zu rauchen haben wollte.
Martha Anders schaffte es nicht, ihren Mann davon abzuhalten, mit dem Fahrrad den einzigen noch vorhandenen Zigarettenautomaten der ganzen Gegend anzusteuern und die gewünschte Marke dort zu ziehen. Natürlich knurrte er über den Preis dieser Zigarettenpackung - aber um seinem Vater die letzten Minuten seines Lebens noch schön zu machen, würde Heinrich auch viel mehr Geld ausgeben.
In den Räumen des Alten ein Feuerzeug zu finden war dann das geringste Problem.
"Danke, mein Junge!", lächelte der Alte und inhalierte den Rauch des ersten Zuges tief hinab. "Ein letztes Rauchopfer, bevor ich abtrete. In der Hölle haben sie ja genug Feuer. Und ganz bestimmt auch was zu rauchen ..."
Viel mehr sagte Alfred Anders dann nicht mehr. Denn die erste Hälfte der Verlängerung hatte begonnen. Und der Alte ging jetzt voll im Spielgeschehen mit. Zwischendurch wurde immer am Whisky genippt. Und natürlich, kaum dass die Glut seiner Zigarette bis zum Filter vorgedrungen war, wurde schon der nächste "Lungensturm" entzündet.
Heinrich Anders sah erleichtert, wie sein Vater mit seinen Gedanken jetzt voll im Spiel aufging und nicht an den Tod dachte, der unsichtbar bereits hinter ihm stand und die Sense hob. Da war das mehr als wichtige Spiel der deutschen Nationalmannschaft, da war der Whisky - und natürlich die Zigaretten.
Martha Anders fing warnende Blicke ihres Eheherrn ein, die an die Blitze erinnerten, die Göttervater Zeus zu schleudern pflegt. Wenn der Frau das nicht passte, sollte sie die Gardinen eben waschen - aber erst danach. Denn auch Anders junior begann der Fußball in seinen Bann zu ziehen. Und der Vater, nachdem er sich noch mal ins Glas mit dem goldbraunen schottischen "Lebenswasser" nachgeschenkt hatte, schob ihm die restliche Flasche zu. Entsetzt sah Martha Anders, wie sich ihr Ehemann und sein sterbender Vater mit Whiskyglas und Flasche ein letztes Mal zu prosteten.
Die Verlängerung war ebenfalls unentschieden gelaufen und der Inhalt der Zigarettenpackung neigte sich dem Ende zu. Die Blicke von Vater und Sohn schienen mit dem Bildschirm zu verschmelzen.
Es wurden von beiden Seiten Elfmeter getroffen - und vergeigt. Schließlich ging der letzte deutsche Spieler zum Punkt, um sich den Ball zurecht zu legen. Sein Schuss würde über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Kurz bevor der Spieler anlief, hörte Heinrich Anders ein entsagungsvoll gestöhntes Wort.
"Scheiße!"
Der Tod hatte wieder mal gezeigt, dass er auch Sadist sein kann. Drei oder vier Sekunden hätten vielleicht gereicht, dass Alfred Anders mit dem Wissen um das Ergebnis die große Reise angetreten hätte.
Das begeisterte Aufbrüllen und das Aufspringen seines Sohnes konnte Alfred nicht mehr wahrnehmen. Und als Heinrich Anders seinem Vater begeistert auf die Schultern klopfte - da berührte er einen Toten ...
***
Die große Reise ...
Sie war eigentlich recht schnell zu Ende. Ein endlos erscheinender Korridor und dahinter ein völlig schmuckloser Raum in Grau und schmutzigem Blau ohne jegliche Einrichtung. Im weiten Sinn erinnerte er Alfred Anders an einen Wartesaal, wie er ihn in seiner Kindheit auf allen Bahnhöfen erlebt hatte.
Ein fast durchscheinendes Wesen mit bläulichem Schimmer winkte ihm zu kommen und wies ihm einen Punkt in diesem "Wartesaal" zu, der so unscheinbar wie alles in diesem Raum war, falls man hier von einem Raum reden konnte.
"Hier bleibst du", vernahm Anders auf der dortigen Bewusstseinsebene die Worte des Astralwesens.
"Wo bin ich hier?", wollte Alfred Anders wissen.
"Im Jenseits!" Die Stimme des durchscheinenden Körpers klang spöttisch.
"Ist das hier der Himmel?", wagte es Anders zu fragen.
"Das kommt auf dich an!", gab das Wesen zur Antwort. "Was ist dein größter Wunsch?"
"Eine Zigarette. 'ne Marlboro!", kam es wie aus der Pistole geschossen.
"Du bist in der Hölle, mein Freund! Hier ist die Nichtraucher-Zone! Die Hölle ohne Rauch und Feuer!"
Und die Worte des Astralwesens endeten in einem dämonischen Lachen ...
Kommentare
Rolf Michaels Version könnte durchaus eine angemessene Strafe sein, denn bis in alle Ewigkeit keinen Rauch mehr einzuatmen - das muss für einen Kettenraucher womöglich schlimmer sein, als am Holzkohlengrill zu liegen, wenn der wenigstens raucht ...
Ich arbeite in einem Call Center (fast schon 12 Jahre)... da brauch ich dann nicht auf das "Nach dem Tode" zu warten.
Dass ich heute nicht mehr rauche liegt daran, dass mir mein Artz in der Lungenklinik erklärt hat, wenn ich weiter rauche wüsste ich spätestens in einem halben Jahr Konkretes über die Existenz Gottes.
Aber wenn mit mein Arzt mal sagt: "Junge, genieß den Sommer und mach dir keine Gedanken mehr um Weihnachtsgeschenke!" - dann ist mein erster Weg zu Automaten... na klar, dann heißt es "Feuer frei" und gibts wieder eine Marlboro. Und anschließend wird der ganze Whisky-Vorrat getrunken - damit es mit nicht so geht wie damals unserem Freund Kurt Brand. Am Tag seiner Beerdigung haben Hermann und ich nämlich am Abend seine letzten Zigarren geraucht und den letzten Whisky getrunken.