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Bd. 4 - Kampf um das Drachenblut

                                                                       Kampf um das DrachenblutBoiling blood

                                                         In our veins burn our painful past

                                                         Boiling blood

                                                         We should turn them to dust…

Hocio, „Boiling blood“

1. Kapitel:

Bringt mir das Drachenblut

 


Ein Geräusch ließ Dr. Thomas Hartmann zusammenfahren, denn obwohl es kaum lauter war als das Rascheln von Seide, wirkte es in der umliegenden Stille wie ein Pistolenschuss.

Hartmann blickte auf, vergaß augenblicklich den soeben gelesenen Text und spürte, wie sein Herz wild in seiner Brust zu pochen begann.

An sich war der Wissenschaftler nicht sehr schreckhaft. Eigentlich war sogar das genaue Gegenteil der Fall, wie Dr. Hartmann bei zahlreichen Forschungsreisen durch Südamerika oder Asien bewiesen hatte.

Vor drei Jahren jedoch hatte sich einiges für den aufstrebenden Experten der Mikrobiologie und Biochemie verändert. Damals waren vier gut gekleidete Herren zu ihm nach Hause gekommen und hatten mit ernsten Mienen allerhand Lobhudeleien über ihn und seine Talente von sich gegeben, so dass es Hartmann bereits nach der dritten Minute sehr unangenehm geworden war. Danach waren sie dann konkret geworden und hatten ihm ein Angebot gemacht, exklusiv für sie zu arbeiten.

Hartmann, der damals einen kleinen Forschungsauftrag von der Universität Hamburg in Arbeit hatte, war zunächst skeptisch gewesen, zumal die Herren davon sprachen, aus der Stadt, in welcher er auch geboren worden war, wegziehen zu müssen und seine Arbeit eher im unauffälligen, ja eigentlich fast schon geheimen Rahmen fortzusetzen.Aber zweierlei hatte Hartmanns Bedenken wie einen störenden Fussel weggewischt:

Zum einen der großzügig dotierte Scheck, der ihm überreicht wurde und bei dem ihn die Anzahl der Nullen hinter der Eins schwindeln ließ. Zum anderen die Aussicht, mit wirklich interessanten Projekten gefordert zu werden und alleinverantwortlich daran arbeiten zu können.

Hartmann hatte sich einen Tag Bedenkzeit ausgebeten, doch in Wirklichkeit hatte der Scheck allein schon ausgereicht, um ihn eine positive Entscheidung treffen zu lassen. Und so hatte er zugestimmt und war bereits eine Woche später ‑ nachdem er ohne Probleme aus seinem Arbeitsvertrag bei der Universität herausgekommen war ‑ verzogen.

Es ging nach Norden und schon bald hatte der Wissenschaftler ein großzügig angelegtes Reetdachhaus in der Nähe eines kleinen, verschlafenen Ortes in Nordfriesland beziehen können.

Der Keller ‑ von immenser Fläche ‑ war ausgestattet wie ein hochmodernes Forschungslabor, in dem es Apparaturen und Gerätschaften gab, die sogar die Kollegen an der Universität vor Neid hätten erblassen lassen. Und hier wurde Hartmann tätig.

Er konnte sich seine Zeit meistens großzügig einteilen, hatte jedoch auch gelegentlich außerhalb ‚normaler’ Zeiträume zur Verfügung zu stehen, was für ihn jedoch kein Problem darstellte, denn er war alleinstehend und hatte auch sonst keine nachhaltigen Verpflichtungen.

Von dem mehr als großzügigen Gehalt ließ es sich gut leben und von Zeit zu Zeit gestattete er sich auch ausgedehnte Reisen in ferne Länder. Ja, so ließ es sich leben.

An sich wäre Hartmann also zufrieden gewesen, wären da nicht merkwürdige Umstände gewesen, die sein neues Leben begleiteten.

Zum einen die Proben, die ihm meistens durch Boten überbracht wurden, an denen er arbeitete, die er untersuchte und analysierte.

Es war eigenartiges Zellmaterial, das er da zu untersuchen hatte. Manchmal stieß Hartmann auf Erkenntnisse, die eigentlich nicht hätten sein dürfen. Verwunderliche Widersprüche taten sich auf und ließen ihn gelegentlich an der Korrektheit seiner Ergebnisse zweifeln.

Aber er ging seiner Arbeit weiterhin gewissenhaft nach, führte seine Tests und Untersuchungen durch und übertrug seine Ergebnisse handschriftlich auf Papier und speicherte sie natürlich auch auf Disc ab.

Die Unterlagen wurden zumeist abgeholt, sobald er eine bestimmte Telefonnummer anwählte ‑ zu der es aber offenbar keinen Anschluss gab. Dann erschienen Boten bei ihm, welche die Päckchen mit allen Erkenntnissen mitnahmen und nochmals prüften, ob all diese Daten aus dem Arbeitsspeicher seines Computers gelöscht worden waren.

Danach konnte es vorkommen, dass Hartmann drei oder vier Wochen lang nichts zu tun bekam und sich eigenen, eher persönlichen Forschungen und Tätigkeiten hingeben konnte.

Trotz dieser Freiheiten, die ihm eingeräumt wurden, fühlte Hartmann sich seltsam beengt, ja geradezu beobachtet, was natürlich Blödsinn war.

Dennoch, diese ganze Geheimniskrämerei, die Boten, das eigenartige Zellmaterial, das alles war schon komisch und spornte die Phantasie des 36jährigen an. Und es beunruhigte ihn auch im gleichen Maße, wie er just in diesen Augenblicken wieder einmal feststellen musste.

Hartmann, der eben noch bequem auf einem Sessel gesessen hatte, die Beine auf einem kleinen gepolsterten Bänkchen und ein Buch über Leben und Wirken Alexander von Humboldts vor den Augen, erhob sich langsam und lauschte in die Stille seiner Behausung hinein.

Was war das eben gewesen?

Draußen herrschte, wie zumeist in Nordfriesland, ein mittelstarker bis starker Wind. Auch in dieser Maiwoche, in der es ungewöhnlich kalt war. Der Wetterdienst hatte zwar zum Wochenende hin Besserung angekündigt, aber bislang zogen die grauen Wolken wie die Sendboten einer Schlechtwettergottheit über den Himmel und ließen auch jetzt, da es dunkel geworden war, weder Mond‑ noch Sternenlicht zur Erde durchdringen.

Hartmann ignorierte schon lange das Klappern einiger Bretter in der Wand des kleinen Schuppens, der hinter dem etwas abgelegenen Haus stand. Dieses Geräusch hörte er kaum noch, ebenso wenig wie das Quietschen der Gartenwindmühle, die noch aus der Zeit des Vorbesitzers stammte.

Aber das Knacken, welches sich genau in diesem Moment wiederholte, konnte er nicht ignorieren, denn es hörte sich an, als sei etwas gegen eine Scheibe geprallt.

Der hoch gewachsene, etwas korpulente Wissenschaftler mit dem schütter werdenden, dunklen Haar schritt, sich nach allen Seiten umblickend, vorsichtig in Richtung Haustür.

Er durchquerte den geschmackvoll eingerichteten Raum, in dem sich sehr viel nordfriesische Töpferware befand, zog den Kopf etwas ein, weil der Türrahmen doch ein bisschen zu niedrig für ihn war und blieb unschlüssig vor der Haustür stehen, in der vier kleine Glasscheiben eingefasst waren. Er blickte auf den steinernen Boden, in dem er eine andere Merkwürdigkeit seines neuen Lebens erkannte.

Die Symbole!

Hartmann kannte sich mit den alten friesischen Gebräuchen und Sitten sowie dem damit verbundenen Symbolismus nicht im Geringsten aus, doch er konnte sich nicht daran erinnern, dass Pentagramme und andere merkwürdige Zeichen, wie er sie jetzt hier im Stein eingraviert vorfand, etwas damit zu tun hatten.

Der Wissenschaftler hatte denjenigen der vier Herren, der ihn hierher gebracht und herumgeführt hatte, gefragt, was es mit dieser Gravur auf sich hatte, die auch an jeder anderen Fensterbank und Tür des Hauses zu finden war. Er hatte nur eine ausweichende Antwort bekommen, war aber darauf hingewiesen worden, dass diese Symbole nicht zu verdecken und nicht zu verändern seien.

Der Ernst, der in der Stimme des Mannes gelegen hatte, hatte Hartmann dazu angehalten, diesem Ratschlag Folge zu leisten. Deswegen putzte er die Stellen mit den Zeichen sehr ordentlich und passte auch immer gut auf, dass sie niemals durch Blumentöpfe oder Fußmatten verdeckt wurden.

Und nun stand er hier und blickte auf die Symbole zu seinen Füßen, als hätte er sie nicht alle beisammen.

Aufgeschreckt durch irgendein dämliches Geräusch!

Hartmann schüttelte den Kopf und beschloss, wieder in den Wohnraum zurückzukehren, sich ein Glas Rotwein einzugießen und seine Lektüre fortzusetzen,  als sich das merkwürdige Knacken wiederholte.

Jetzt genau neben ihm!

Hartmanns Blick flirrte herum und blieb auf einer der vier kleinen Scheiben in der Tür haften. Dort war etwas dagegen geschlagen, das war das Knacken gewesen.

Ein wenig unschlüssig blieb Hartmann stehen und ersparte es sich, in die Dunkelheit hinter der Scheibe blicken zu wollen.

Dort war sowieso nichts zu erkennen außer vielleicht… Da! Schon wieder!

Nur schemenhaft konnte der Wissenschaftler erkennen, dass etwas Kleines gegen die Scheibe prallte und dann zu Boden fiel.

Immer noch zögerte Hartmann, doch es war ihm einfach zuwider, unentschlossen zu sein. Also trat er vor, schaltete das Außenlicht ein, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür.

Er kam nicht einmal dazu einen Schritt nach draußen zu treten, da schon drang eine Stimme an sein Ohr.

„Hallo! Hier!“

Hartmann fühlte einen leichten Schwindel, doch er konnte ihn wieder abschütteln.

„Entschuldigen Sie, können Sie mir helfen?“, vernahm er abermals die Stimme. Sie stammte von einer Frau.

Hartmann ging vor, überschritt die Symbole und blieb vor der offenen Tür stehen, um sich zu orientieren.

Ein etwa hüfthoher Friesenwall umgab das gesamte Grundstück und eine schmale Straße führte vom Ortskern Schobülls direkt hierher zu dieser etwas abgelegenen, bewaldeten Stelle, an der das Haus lag.

„Wo sind Sie denn? Und wobei brauchen Sie Hilfe? Hatten Sie einen Unfall?“, fragte Hartmann, der trotz des eingeschalteten Lichts nichts erkennen konnte.

Da! Eine undeutliche Bewegung jenseitig vom Wall.

Tatsächlich! Da war jemand und winkte.

„Ich bin hier! Komm näher!“

Wieder packte der Schwindel zu, doch dieses Mal ungleich stärker.

Hartmann keuchte, denn es war ihm, als triebe ein Schlag seine Luft aus den Lungen.

‚Was ist nur mit mir?’, fragte er sich benommen und verspürte den Drang, sich einfach rückwärts ins Haus fallen zu lassen.

>Nein, nicht zurück ins Haus ... komm zu mir ...<, drängte nun eine Stimme in seinem Kopf, die von genau derselben Frau wie eben zu stammen schien.

>Komm! Komm! Komm!<, forderte die Stimme immer klarer und deutlicher werdend, als Hartmann seine ersten Schritte vom Haus fort lenkte.

Tatsächlich, er konnte sie immer klarer verstehen, je weiter er sich vom Haus entfernte, und ebenso vermochte er die Gestalt im Dunkeln jenseits des Friesenwalls immer genauer zu erkennen.

Es war wirklich eine Frau! Und was für eine!

Sie sah atemberaubend aus, war schlank und hoch gewachsen, hatte langes, rotes Haar, das seidig glänzend ihr elfenbeinfarbenes, schmales Gesicht umrahmte, in dessen Mittelpunkt zwei durchdringend blickende, grüne Augen saßen.

„Komm“, gurrte die Frau nun auch wieder mit ihrer richtigen Stimme und Hartmann kam der Aufforderung ohne Bedenken nach.

Es wunderte ihn nicht im Geringsten, dass hier mitten in der Nacht eine bildschöne Frau auftauchte und ihn problemlos aus dem Haus rief, sich aber andererseits nicht an das Haus heranwagte.

„Komm nur, komm!“, fügte sie hinzu und lächelte schmal.

Hartmann konnte nun ihre langen, spitz zulaufenden Augenzähne erkennen, die sie als Angehörige der Vampirrasse kennzeichneten.

Doch auch das störte ihn nicht mehr, da er sich schon längst in ihrem Bann befand.

Im Bann von Elena Tepescu!

 

***

 


Hinnerk unterhielt sich nun schon seit einigen Minuten mit dem Fremden.

Umgeben von riesigen Metallcontainern, die sich vor dem Be‑ oder Entladen des einen oder anderen Frachters, gewaltigen klotzartigen Ungetümen gleich in die Höhe stapelten, umfangen von den Lauten des Hafenbetriebs, die sich aus dem Kreischen der Kranmotoren, dem Weinen der Winden und Seufzen der Seilzüge und den Rufen der Arbeiter rekrutierten, fragte sich Mark Larsen zum wiederholten Male, warum sie eigentlich hier waren und worum es in dem Gespräch zwischen dem hünenhaften, kahlköpfigen, vollbärtigen Freund und dem nicht minder großen, aber drahtig gebauten Mann (der irgendwie so gar nicht wie ein Matrose oder Hafenarbeiter wirkte) eigentlich ging.

Aber die Geräuschkulisse war zu intensiv und die Entfernung zu den beiden Gesprächsteilnehmern zu groß, so dass Mark das Lippenlesen hätte beherrschen müssen, um etwas davon mitzubekommen.

Letztlich klopfte Hinnerk dem Fremden, der ein schmutziges, kariertes Hemd und ebenso schmutzige Jeans trug, wohlwollend auf die Schulter, drehte sich um und kehrte zum 7er BMW zurück, wo Mark und Sabrina Funke warteten.

„Na, alles geklärt?“, fragte der Hüter, betont gereizt klingend, was Hinnerk jedoch vollkommen ignorierte.

„Sabrina, würdest du bitte fahren?“, bat er stattdessen und versetzte Mark damit in Erstaunen.

Eigentlich nutzte Hinnerk Lührs jede Gelegenheit, sich selber hinter das Steuer eines Wagens zu klemmen, um dann mit atemberaubenden Tempo und waghalsigen Manövern loszujagen. Dass er jemand anderen bat, zu fahren, beunruhigte Mark, ehrlich gesehen, dann doch ein bisschen. Hinnerk schien diese Gedanken zu erraten und gab dem Hüter ein Zeichen, sich neben ihn in den Fond zu setzen. Mark warf Sabrina, die neben ihm stand, einen überraschten Blick zu, den sie wohl nicht vollständig zu deuten wusste, denn sie runzelte die Stirn, nickte dann aber und antwortete auf Hinnerks Frage.

„Aber natürlich. Wohin soll es denn gehen?“

„Erst mal weg vom Hafen. Meinetwegen kannst du uns zum Parkplatz eines Einkaufszentrums oder Möbelmarkts fahren.“

„In Ordnung“, murmelte die knabenhaft gebaute Sabrina, lächelte Mark, der immer noch ein verwundertes Gesicht machte, aufmunternd zu und tauchte in den Wagen.

Mark nahm, wie von Hinnerk erbeten, neben ihm Platz und die ersten Worte, die dieser an ihn richtete, machten den Hüter nun doch neugierig.

„Es war wohl doch gut, dass ich euch mitgenommen habe.“

„Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?“, wollte Mark wissen.

Er war ja schon einiges von seinem Freund gewöhnt. Es bereitete Hinnerk keine Schwierigkeiten, Geheimnisse vor ihm zu haben oder nur mit der halben Wahrheit einer Geschichte rauszurücken. Selbst der Umstand, dass Hinnerk ihm einmal einen Dolch in die Brust gestoßen hatte, um zu beweisen, dass sich in ihm die Prophezeiung des ‚letzten Hüters’ erfüllte, hatte Mark mittlerweile verdaut. Diese Worte aber setzten ihm doch ein wenig zu.

„Damit will ich nicht sagen, dass ihr beiden, selbst wenn dieser Auftrag nicht so vertrackt wäre, wie er sich mittlerweile darstellt, überflüssig wärt. Versteht mich da bitte nicht falsch, aber ich dachte zuerst wirklich, ich könnte ihn allein erfüllen.“

Mark erinnerte sich noch deutlich an das Telefongespräch, dass Hinnerk vor knapp acht Stunden in ihrem Haus in Hüll per Handy geführt hatte. Es war in lupenreinen Französisch erfolgt. Schon allein deshalb war Mark hellhörig geworden.

Er selber verstand diese Sprache besser, als dass er sie sprach, aber den ungefähren Sinn bekam er doch mit.

Am Ende versprach Hinnerk in jenem wohlklingenden Idiom, sobald als möglich aufzubrechen.

„Wohin denn?“, hatte Mark gefragt.

„Weg!“

„Ach wirklich? Wohin und worum geht es? Wieder Hüterzeugs und so?“

Hinnerk hatte den Kopf hin und hergewiegt, ehe er antwortete.

„Es hat zwar mit dem Orden zu tun, aber nicht direkt mit dir oder Christine.“

„Wer war denn am Apparat?“, setzte Mark seine Befragung fort.

„Nicolas Gainsbourg, ein Ordensmeister. Du wirst ihn bestimmt noch kennenlernen.“

Wieder so eine ausweichende Antwort!

Mark verdrehte die Augen und startete dann einen Frontalangriff.

„Worum geht es, verdammt? Lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen.“

Hinnerk hatte nochmals überlegt, dann aber genickt.

„In Ordnung, mien Jung. Es geht um einen kleinen Botengang, den ich zu erledigen habe. Etwas muss von Punkt A nach Punkt B gebracht werden.“

„Und was?“

Diese Frage hatte Sabrina Funke gestellt, die soeben aus der Küche gekommen war und sich nun neugierig ins Gespräch einmischte.

„Na, um eine Sache halt“, hatte die ausweichende Antwort Hinnerks gelautet.

„Hinnerk!“

In Marks Stimme muss wohl etwas nachgeklungen haben, was den bärtigen Mann mit dem beträchtlichen Bauch einlenken ließ.

„Nun gut, worum es genau geht, weiß ich auch nicht so recht, aber es ist wichtig und muss zu einem bestimmten Ort gebracht werden. Am besten gestern.“

„Und dieses Wichtige erfordert also einen Meister des Ordens als Boten?“, fragte Mark daraufhin schmunzelnd.

„Scheint so, Mark. Du bleibst am besten hier. Im Moment ist es ja ruhig. Wenn alles gut geht, werde ich morgen, spätestens übermorgen wieder zurück sein“, erwiderte Hinnerk schnell und machte so den Hüter nachdenklich.

Untätig herumzusitzen war Mark schon immer ein Gräuel gewesen und mit seiner Bemerkung, es sei im Moment alles ruhig, hatte Hinnerk auch Recht.

„Ich komme mit“, verkündete er nach einer kleinen Denkpause.

Hinnerk hatte seinen Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, doch Sabrinas Stimme kam ihm dazwischen.

„Ich auch. Sechs Augen sehen mehr als vier.“

„Hört mol to, Kinners“, drangen die Worte wieder in Platt aus dem Mund Hinnerks. „Ist ja nett gemeint, aber nicht erforderlich. Ich denke, ich kann diesen kleinen Auftrag problemlos alleine ausführen. Mark, dein Platz ist hier, beim Schatz. Und du Sabrina, du gehörst zu Mark. Also ist wohl klar, dass …“

„…wir dich begleiten, du alter Dickschädel. Hier im Glückshaus wird Christine wohl kaum etwas geschehen.“

Ein kleiner Seitenblick zum Fenster hinaus zeigte Mark, wie die Zwölfjährige im Garten auf einer bunten Decke im Gras lag und in einem Jugendmagazin blätterte, während Knut Ukena, eine Tasse Eistee vor sich, am Gartentisch saß und nach außen hin vollkommen entspannt wirkte.

In Wirklichkeit behielt Marks Freund Christine immer gut im Auge. Auf diesen Mann war eben Verlass.

Genau wie auch auf James, den Butler, der zwar im Moment in der Küche tätig war, sich aber dadurch in seiner Wachsamkeit Christine gegenüber nicht ablenken ließ.

„Die Kleine ist hier in guter Obhut. Wir kommen mit dir. Und damit basta“, verkündete  Mark und ließ Hinnerk einfach stehen.

Es wurde Zeit, dass der Haudegen lernte, gewisse Dinge zu akzeptieren.

Und so waren sie hierher gekommen, in diesen abseits gelegenen Bereich eines Piers am Hafen, der für den normalen Zustrom von Neugierigen, Touristen oder Unbefugten gesperrt war, wo die richtig schwere Arbeit von kernigen Kerlen erledigt wurde und wo ein schwarzer 7er BMW eigentlich auffiel wie ein Pickel im Gesicht eines Topmodels.

Sabrinas rasanter Start riss den Hüter aus seinen Erinnerungen.

‚Sie hat wohl schon zuviel von Hinnerk angenommen’, dachte der Hüter, während das Quietschen der Reifen verwehte.

***

 Der Bann hielt Thomas Hartmann fest im Griff.

Elenas hypnotische Kräfte waren selbst für Vampirmaßstäbe außerordentlich stark und es hätte entweder immense Willenskraft von Seiten des Wissenschaftlers oder aber eines magischen Bannbrechers bedurft, aus dieser geistigen Umklammerung herauszukommen.

Leider besaß Hartmann weder das eine noch das andere.

Und so entwickelte er noch in derselben Nacht, da Elena aktiv geworden war, eine fieberhafte, von ihr gesteuerte Aktivität.

Ohne das Portal zu seinem Haus zu überschreiten, war Hartmann an die Symbole nahe der Tür herangetreten und hatte eine dicke Decke, die von Elena stammte, darüber geworfen.

Danach hatte Hartmann eintreten können und dasselbe mit den anderen magischen Sicherungen getan.

Erst zu diesem Zeitpunkt hatte Elena sich herabgelassen, das geräumige Reetdachhaus zu betreten und sich in seinem Inneren umzusehen.

Besonders neugierig war sie auf das Labor und Hartmann führte sie ohne Zögern in sein Allerheiligstes, welches tief unter der Erde lag, durch Passwortschranken und eine dicke Panzertür geschützt und nur durch einen winzigen Lift erreichbar. Die klinische Sauberkeit in den weiß gekachelten und gut ausgeleuchteten Räumen, in dem es eine Vielzahl von Geräten gab, deren Namen Elena nicht einmal kannte, stieß die Vampirin in gewisser Weise ab.

„Und hier führst du deine Arbeit durch?“

Obwohl unter Bann stehend, nickte Hartmann als Antwort auf diese Frage. Elena sah sich noch einen Augenblick lang um und wandte sich dann wieder zu ihrem Diener.

„Gut, mein Lieber. Jetzt heißt es zuhören. Du wirst einiges tun müssen, damit die folgende Nacht zu einem wahren Triumph für mich wird, verstanden?“

„Ja, Gebieterin“, antwortete Hartmann mit tonloser Stimme und Elenas blutrote Lippen verzogen sich zu einem überheblichen Lächeln.

„Also, morgen wirst du ein Päckchen bekommen, und das, was sich darin befindet, will ich haben. Alles andere ist so ziemlich egal. Klar?“

„Ja, Gebieterin“, lautete auch diese Antwort.

Danach erläuterte Elena ihren Plan und gab Hartmann strikte Anweisungen, was er zu tun und wie er zu verfahren hatte.

Hartmann stimmte wieder zu und als Elena sich auf den Weg machte, war sie sicher, dass er alles, wie befohlen ausführen und umsetzen würde.

Das war nun schon einige Stunden her, und mittlerweile befand Elena sich in ihrem vor dem Tageslicht gesichertem Versteck: ein Wohnmobil, das am Rande von Schobüll auf einem Campingplatz stand und durch dessen stark getönte Scheiben niemand von außen erkennen konnte, dass sie zusätzlich mit Staniolpapier ausgekleidet waren, um Sonnenstrahlen abzuhalten.

Hier hielt Elena sich tagsüber auf, hatte sich auf die schmale Liege gelegt und zunächst einmal ausgeruht, wobei sie immer wieder kleine Kontrollen ihres hypnotischen Banns durchführte.

Man konnte nie wissen, ob Hartmann sich nicht doch irgendwie aus der Beeinflussung löste und hier stand einfach zu viel auf dem Spiel, als dass Elena irgendein Risiko eingehen wollte.

Irgendwann, es war früher Nachmittag, klingelte ihr Handy, das in Reichweite, auf einem ausklappbaren Tisch lag.

Elena öffnete die Augen und sofort drang der Lärm von draußen deutlicher zu ihr durch. Sie verzog angewidert den Mund. Der Aufenthalt hier auf diesem Campingplatz war notwendig, denn sie wollte sich nicht zu weit von Hartmann entfernen, doch das geschäftige und bisweilen vergnügte Treiben, welches sie jetzt, während der Tageszeit umgab, nervte sie doch gehörig. Sie sehnte sich nach der Ruhe einer abgeschiedenen Gruft oder zumindest einer versiegelten Kammer, in der sie meditieren und Kraft tanken konnte, doch das blieb‑ vorerst ‑ ein Wunsch.

Elena nahm das Handy beim dritten Zirpen (auch dieses Geräusch nervte sie und sie beschloss, sobald als möglich einen neuen Klingelton herunter zu laden) und klappte es auf.

„Ja?“

Am anderen Ende war ihr Informant. Elena konnte den unschätzbaren Vorteil eines Verräters innerhalb des Ordens nutzen.

Erst er war es gewesen, der sie auf die Spur dessen, das sie im Moment begehrte, geführt hatte.

„Ach, du bist es“, meinte sie nur kurz angebunden, denn im Grunde genommen hasste sie Verräter wie die Pest.

Schon Jaques Terriere, der dem vorherigen Hüter Connor Baigent und dem derzeitigen Blutspross als Fahrer gedient hatte, war ein Verräter gewesen, dem sie nicht die versprochene Entlohnung, sondern den Tod hatte zukommen lassen.

Am liebsten hätte sie es bei diesem, dem zweiten Verräter, auch getan, aber zum einen brauchte sie dessen unschätzbare Informationen und zum anderen war der von einem anderen Schlag als der eher einfältige und leicht beeinflussbare Terriere.

An diesen zweiten Judas war nur sehr schwer heranzukommen.

Aber wer weiß, vielleicht ergab sich ja mal eine Gelegenheit?

„Ja, ich habe Hartmann schon in meinen Bann schlagen können. Das war alles kein Problem“, sagte die Vampirin, nachdem sie den Worten ihres Gesprächspartners, der sie über eine absolut abhörsichere und nicht zurück verfolgbare Leitung anrief, gelauscht hatte.

Wieder sprach der Verräter.

„Ja, ja, ich weiß schon Bescheid. Verstärkung ist zugegen, obwohl ich nicht glaube, mit diesen Boten allzu große Schwierigkeiten zu bekommen.“

Am anderen Ende der Leitung wurde wohl etwas gesagt, das Elena eines Besseren belehrte, und wenn sie eine Sterbliche gewesen wäre, hätte es ihr wohl sämtliche Farbe aus dem Gesicht geschlagen.

„WER? Wer wird das Paket überbringen?“, fragte sie nach einer kurzen Pause.

Sie erhielt wohl Antwort, doch die gefiel ihr überhaupt nicht.

„Hättest du nichts tun können, um das zu verhindern? Ich meine…“

Wieder angestrengtes Lauschen. Dann nickte die Vampirin ergeben.

„Wenn es sich nicht ändern lässt. In Ordnung. Ich werde meine Getreuen zusammenrufen, sobald die Sonne untergegangen ist. Wir werden uns auf die Lauer legen und dann zuschlagen, um Verwirrung zu stiften. Damit dürfte sogar er Schwierigkeiten haben.“

Abermals sprach der andere Teilnehmer, doch dann unterbrach dieser wohl die Verbindung, denn Elena blickte wütend auf das Display des Handys und hätte es am liebsten zertrümmert.

„Scheiße“, fluchte sie laut auf Rumänisch.

Es war nicht zu fassen! Ausgerechnet ER musste hierher kommen, um das Päckchen zu überbringen. Das konnte alles kaputtmachen!

Aber andererseits, wenn die Falle gut gelegt werden würde, könnte sie sogar einen Bären und einen Tiger fangen.

Binnen eines kurzen Moments verflog die Wut im Inneren der Vampirin. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen legte sie sich wieder zurück und versuchte, sich zu entspannen. Sie beschloss, das Ganze als willkommene Herausforderung anzusehen. In wenigen Stunden würde sie alle Kraft brauchen, derer sie habhaft werden konnte.

 ***

Sabrina hatte, wie von Hinnerk gewünscht, eine Stelle ausgemacht, wo sie parken konnten. Es war der Kundenparkplatz eines international bekannten Möbelherstellers aus Skandinavien.

Mark konnte sich nicht mehr zurückhalten und stellte Hinnerk während der Fahrt einige Fragen.  Gleichzeitig bekam er mit, wie dieser unter seinem Mantel einen großen braungelben Umschlag hervorholte und nachdenklich betrachtete. Offenbar hatte der Fremde ihn unbemerkt an Hinnerk weitergereicht.

„Wer war das da am Hafen?“

„Ein Bote des Ordens. Er arbeitet für ‚Treasure Security’.“

„Den Sicherheitsdienst, der Christine in Schottland bewacht hat?“

Mark erinnerte sich deutlich an James’ Bericht über die Nacht, in der Vampire den vorherigen Hüter besiegt hatten. Ein Schauder überrieselte ihn leicht, als er an Connor Baigents Schicksal dachte.

Nach den Ereignissen jener schicksalhaften Nacht waren Untersuchungen in den noch qualmenden Überresten des Herrenhauses erfolgt, doch außer der verkohlten Leiche von Jaques Terriere war nichts gefunden worden. Was dem vorherigen Hüter passiert war, konnte man sich nun an den Fingern einer Hand abzählen.

Hinnerk nickte wortlos.

„Ja, die Leute übernehmen auch gelegentlich Botengänge und andere Aufträge für den Orden.“

„Warum hat er den Umschlag nicht an sein eigentliches Ziel gebracht?“

„Es war ursprünglich so vorgesehen, aber man hat ihn wohl als Boten des Ordens erkannt und ihm Schwierigkeiten bereitet. Er schmuggelte das Päckchen an Bord eines Schiffes ins Land und konnte sich nach dem Andocken hier im Hafen verbergen, musste das Päckchen aber loswerden, damit es sein Ziel doch noch erreicht. Er wird jetzt, wo wir es übernommen haben, die möglichen Verfolger wieder auf sich lenken.“

Als der BMW ausrollte und gleich darauf der Motor erstarb, wandte Mark sich erneut an Hinnerk.

„Was ist in diesem Päckchen?“

Zu Marks größter Überraschung öffnete der knorrige Alte den Umschlag und drehte ihn herum, so dass der Inhalt auf seinen Schoß fiel.

Es handelte sich um einen kleinen, silbrig schimmernden Zylinder aus Metall oder entsprechend gefärbten Kunststoff, zum anderen um einen beschriebenen Papierbogen, den Hinnerk sofort nahm und durchzulesen begann, sowie einen weiteren Umschlag, nur kleiner und weiß, der mit einem roten Siegel verschlossen worden war.

Hinnerks Augen flogen über den Brief und nach ein paar Augenblicken wurde das Papier brüchig und rieselte dann als weiße Asche auf den Bezug des Rücksitzes.

„Und?“, fragte Mark, und seine Ungeduld wurde immer größer.

„Also, es ist wohl so, Freunde, dass eine vom Orden finanzierte archäologische Ausgrabung in Irland einen sensationellen Fund nach sich zog“, erklärte der bärtige Ordensmeister mit ernster Miene.

Er griff nach dem Zylinder und drehte ihn zwischen seinen breiten Fingern.

„In einer Höhle, bei den Klippen von Donegal Bay, entdeckte man den geheimen Treffpunkt einer uralten, wohl längst vergangenen Sekte, die…“

Hinnerk machte es spannend, blickte aber nach wie vor auf den Zylinder.

„…die einen Drachen oder Drachengott anbetete.“

„Aha“, war Marks einzige Reaktion, denn so richtig waren Hinnerks Worte noch nicht bis in seine Großhirnrinde vorgedrungen.

„Die beteten einen Drachen an?“, fragte nun Sabrina ungläubig und erntete ein wohlwollendes Lächeln Hinnerks.

„Na ja, denk mal an die Geschehnisse im Kyffhäuser. Denk daran, was Marks Aufgabe ist. Diese Dinge alleine sind für einen normalen Menschen schon unglaublich. Drachen passen da wohl sehr gut hinein und erscheinen nicht weniger unglaublich, oder?“

„Drachen?“, fragte nun Mark.

„Ja, verdorrich. Drachen. Große, geschuppte Wesen mit Flügeln, gewaltigen Klauen und feuerspeiender Natur. Drachen halt. Du kannst sie auch Lindwürmer nennen, wenn es dir lieber ist.“

„Hat es die denn wirklich gegeben?“

In Sabrinas Frage lag eine gewisse Sorge, dass sie eine positive Antwort erhalten könnte.

„Aber selbstverständlich. Wenn es Vampire und Wiedergänger genauso gibt wie z. B. Werwölfe oder Ghouls oder Dämonen jedweder Art, dann kannst du auch davon ausgehen, dass es Drachen gab und womöglich noch gibt.“

„Womöglich?“

Hinnerk verzog seinen Mund etwas, wodurch sein dichter Vollbart in Bewegung geriet und nach oben zu rutschen schien.

„Nun, das ist etwas mysteriös, meine Lieben. Es gab Drachen in jedem Fall. Das könnt ihr als bewiesen und unumstößlich hinnehmen.“

„Du hast selber welche gesehen?“, fragte Mark nun vorsichtig dazwischen, doch Hinnerk überging diese Frage nur und fuhr fort.

„Aber eines Tages waren sie alle …WUSCH… verschwunden. Bislang ist nicht geklärt, wohin es sie verschlagen hat, aber es wird in gewissen Kreisen gemunkelt, dass sie sich irgendwo versteckt halten oder eventuell schlafen.“

„Und wo?“

„Das ist nur ein Gerücht, also quatscht nicht immer dazwischen, ja?“

Mark hob entschuldigend beide Hände und Hinnerk berichtete weiter.

„Diese Kultstätte diente jedenfalls als Treffpunkt für die Mitglieder eines alten Drachenkultes zur Durchführung ihrer Zeremonien und Rituale. Und dort haben die Archäologen etwas gefunden, was sie für…“

Wieder eine dieser theatralischen Künstlerpausen, die Hinnerk wohl so liebte.

„…Drachenblut halten.“

Jetzt waren Mark und Sabrina wirklich sprachlos. Diese Sprachlosigkeit nutzte Hinnerk sogleich und berichtete weiter.

„Sie fanden es in einem Tonkrug und sandten es zu einem sicheren Haus des Ordens, von wo aus eine Probe weitergeschickt wurde.“

„Hierher, nach Deutschland.“

„Genau, mein Lieber.“

Hinnerk hob den Zylinder empor, der etwa die Länge und den Umfang eines schlanken Männerzeigefingers besaß.

„Darin befindet sich die Probe, die ein Wissenschaftler des Ordens ‑ ein gewisser Dr. Thomas Hartmann ‑ genauer untersuchen soll.“

„Und wir sollen das Zeug dorthin bringen.“

„Du bist nicht nur nervig, du bist auch clever“, griente Hinnerk Mark an. „Genau richtig. Wir bringen dat Zeuchs zu ihm, er untersucht es und wir bringen es mitsamt den Ergebnissen in ein sicheres Haus in Hamburg. Fertig ist die Laube.“

Mark starrte auf den Zylinder.

„Wenn es denn Drachenblut ist…“, begann er, doch Hinnerk unterbrach ihn kurz.

„Also davon können wir ‑ fast hundertprozentig ‑ ausgehen.“

„Nun gut, wenn es Drachenblut ist, dann dürfte dem Orden damit ja ein vorteilhafter Fang gelungen sein, oder?“

„Du denkst an die Nibelungen-Sage?“, hakte Sabrina nach.

Mark nickte.

„Unverwundbarkeit für denjenigen,rder darin badet“, erwiderte der Hüter nur und bekam einen glänzenden Blick.

„Ja, aber du musst schon einige Dinge bedenken.“

Marks fragender Blick forderte eine Erklärung von Hinnerk.

„Zum einen hat der Orden lediglich einen kleinen Krug voll, und zum anderen wissen wir nicht, ob ein Mensch, der in diesem Kram badet, auch wirklich unverwundbar wird, oder ob das alles nicht doch nur eine Legende ist.“

„Was könnte denn sonst mit einem Menschen passieren, wenn er darin badet?“

Hinnerk antwortete und sein Tonfall war von tiefem Ernst erfüllt.

„Na ja, denkt an die Vampire. Vielleicht verwandelt sich ein Mensch nach einem Bad darin ja in einen Drachen.“

Sabrina schluckte und Mark wirkte sehr bedrückt. Das war natürlich wirklich möglich, genau wie eine Vielzahl anderer, unschöner Ergebnisse, die ein Bad im Drachenblut nach sich ziehen konnte. Die drei Freunde beschlossen, nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, sondern aufzubrechen.

„Wir müssen nach Nordfriesland in einen Ort namens Schobüll. Dort lebt Hartmann gewissermaßen undercover.“

Hinnerk griff nach dem zweiten Umschlag und steckte ihn in die Innentasche seines Mantels.

„Das sind Anweisungen für Hartmann, die nur von ihm persönlich gelesen werden können. Darin steht wahrscheinlich, wie man den Zylinder problemlos öffnet“, erklärte Hinnerk.

Sabrina startete den Motor. Als der BMW sich in Bewegung setzte, schaute Mark noch einmal zu seinem Freund herüber.

„Das hatte ich mir eigentlich schon fast gedacht. Aber trotzdem Danke für die Erklärung.“

Er grinste.

„Ich sagte ja schon: Du bist nicht nur nervig, sondern auch clever“, erwiderte Hinnerk zufrieden und lehnte sich zurück.

Sein Blick wurde aber wieder ernst, als er abermals auf den Zylinder schaute. Und Mark vermeinte sogar, ein klein bisschen Angst in seinen Augen erkennen zu können.

***

 Alles war nach dem Willen Elenas vorbereitet worden.

Hartmann hatte getan, was von der Vampirin verlangt worden war und sich dann ins Wohnzimmer begeben, wo er auf seinem Lieblingssessel Platz nahm und die folgenden Stunden an sich vorüberziehen ließ. Einmal klingelte das Telefon und Hartmann nahm ab, weil Elena ihm befohlen hatte, ganz normal zu reagieren.

Es war jemand, der in den Diensten seiner Auftraggeber stand. Zunächst nannte dieser ein nur Hartmann bekanntes Codewort, woraufhin auch der Wissenschaftler eines sagen musste, um sich zu erkennen zu geben.

„Guten Tag, Dr. Hartmann. Es ist mal wieder soweit. Sie werden innerhalb der nächsten Stunden eine weitere Probe per Boten erhalten. Eine umfassende Analyse muss schnellstens erfolgen und sie müssen alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Es ist gut möglich, dass die Probe eventuell unbekannte infektiöse Wirkungen besitzt.“

„Geht in Ordnung. Kein Problem. Wann werden die Boten ungefähr ankommen?“, fragte Hartmann, der nun so klang, als wäre alles bestens und er stünde nie und nimmer unter dem Einfluss einer Vampirin.

„Wir rechnen damit, dass die Boten zwischen 21 und 22 Uhr bei Ihnen ankommen. Es könnte sein, dass die Tests längere Zeit in Anspruch nehmen, weswegen die Boten bei Ihnen bleiben und ein Zimmer benötigen.“

Hartmann kannte das schon, auch wenn es bislang nur ein einziges Mal vorgekommen war.

„Kein Problem. Mein Gästezimmer ist zwar nicht allzu groß, aber es wird schon reichen.“

„Gut, dann bedanke ich mich. Auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören“, grüßte Hartmann noch freundlich, dann nahmen seine Gesichtszüge wieder einen teilnahmslosen Ausdruck an, während er die Verbindung unterbrach und sofort eine Nummer wählte, die ihm mittels des hypnotischen Banns praktisch eingeimpft worden war.

Kein Wunder, denn sie gehörte ja auch der Hypnotiseurin.

***

 Hamburg zu verlassen, stellte überhaupt kein Problem dar. An diesem Abend ging es gemäßigt und ruhig im Stadtgebiet zu und der BMW erreichte schon bald die Auffahrt zur A 23, von wo aus es nach Norden ging.

Doch leider erwies sich die Autobahn als ein ärgerliches Hindernis, da kurz hinter Pinneberg ein Schwertransporter einen heftigen Unfall ausgelöst hatte. Ein Pkw war wohl viel zu schnell unterwegs gewesen und dem Transporter voll in die Seite geschossen, woraufhin es zur Katastrophe gekommen war. Jetzt hatte sich eine annähernd vier Kilometer lange Stauschlange gebildet, in welcher auch der PS-starke 7er BMW nur im Schneckentempo vorankam.

Hinnerk wirkte auf den ersten Blick gelassen, doch Mark bemerkte, wie er immer wieder kurz zur Digitaluhr am Armaturenbrett schielte und dann auf seine eigene am Handgelenk. Der Meister des Ordens war etwas nervös, was auch ein wenig verständlich war.

Mark hatte noch einmal Gelegenheit seine Gedanken zu sortieren und die genannten Fakten durchzugehen. Sie transportierten also eine Probe des in Irland gefundenen Drachenbluts zu einem Wissenschaftler, der sie untersuchen und analysieren sollte.

Vor einem Jahr hätte Mark jeden, der ihm gesagt hätte, er würde eines Tages als Bote für einige Quäntchen Drachenblut fungieren, laut schallend ins Gesicht gelacht, obwohl er auch schon vor seiner Zeit als Hüter dem Okkulten und Übersinnlichen eher positiv gegenüber stand.

Nach einer guten Dreiviertelstunde hatte sich der Verkehr so weit voran geschoben, dass sie auf Höhe der beiden Unglücksfahrzeuge und des Rettungswagens ankamen.

Noch immer waren einige Techniker von der Feuerwehr damit beschäftigt den Fahrer des Pkws aus den verdrehten Trümmern herauszuschneiden und Mark überkam ein flaues Gefühl, wenn er daran dachte, wie sich jemand wohl fühlen musste, wenn er so etwas selber miterlebte und das Bewusstsein nicht verloren hatte.

Dann endlich war der Schauplatz des Unglücks passiert, die Strecke war wieder frei und Sabrina konnte Gas geben. Hinnerk hatte sie genau instruiert, wie sie fahren musste. In der nächsten Stunde verging die Fahrt auf der Autobahn recht ereignislos. Bei der Abfahrt Heide endete die Autobahn und ging in die B 5 über. Sabrina lenkte den Wagen souverän in Richtung Norden, wo Husum, die graue Stadt am Meer, lag.

Schobüll war wohl ein kleiner Ort, etwas außerhalb von Husum gelegen, praktisch auf halbem Wege zwischen der Kreisstadt Nordfrieslands und der Halbinsel Nordstrand. Dort lebte ein Wissenschaftler, der für den Orden tätig war.

Mark sprach Hinnerk darauf an, als sie Tönning, das Tor nach Eiderstedt, passiert hatten und durch immer flacheres Land fuhren, während sich das Sonnenlicht mehr und mehr zurückzog.

„Weiß dieser Hartmann eigentlich über den Orden Bescheid?“

Hinnerk lächelte schmal, während er hinaus auf weite, saftiggrüne Felder und üppige Waldgebiete blickte, die im Dämmerlicht dahin zogen.

„Nein. Er arbeitet zwar ausschließlich für den Orden, doch kennt er nur einen Bruchteil der Wahrheit, was manchmal auch besser ist. Männer und Frauen wie Hartmann sind wichtig für den Orden, aber zu viel sollte man ihnen nicht verraten, da sie nun einmal Wissenschaftler sind, und keine Zauberer oder Okkultisten.“

„Dann gibt es mehr Leute wie Hartmann?“

Hinnerk nickte.

Die Fahrt setzte sich ereignislos fort und schon bald hatten die drei Freunde Husum, die Stormstadt, erreicht.

„Wir müssen ans andere Ende der Stadt. Am westlichen Ende liegt die Straße, die zum Damm nach Nordstrand und somit nach Schobüll führt.“

Sabrina nickte und ordnete sich in einen Kreisverkehr ein, von wo aus es an der nördlichen Peripherie Husums weiterging und schließlich über eine große Kreuzung, an der die ersten Hinweisschilder Richtung Schobüll auftauchten.

Die Sonne sank hinter die Wolken hinab, die sich, als letzten Tagesgruß des Himmelsgestirns, lila verfärbten. Nur sehr wenige Menschen waren während dieser spätabendlichen Stunden unterwegs und als Husum hinter ihnen lag, hatten sie Schobüll schon fast erreicht.

„Hinter dem Ortschild musst du sofort rechts abbiegen“, erklärte Hinnerk und Sabrina kam seiner Aufforderung nach.

Der BMW gelangte so auf einen schmalen Wald- und Wiesenweg, der von der Ortschaft, die vereinzelte Lichter von Häusern und Laternen erkennen ließ, wieder fortführte.

Endlich, nach weiteren fünf Minuten, entdeckte Sabrina zwischen den Stämmen eines kleinen Forstes, der sich hier erhob, das Licht eines Hauses.

„Das muss es sein“, sagte Hinnerk und lächelte schmal.

Mark jedoch fühlte sich nicht wohl.

Da war etwas, dass ihn…

Er kam nicht dazu, das eigenartige Gefühl, welches ihn beschlich, näher zu benennen, denn Sabrina drückte zweimal kurz auf die Hupe und ließ den Wagen ausrollen.

Mark sah einen gepflegten Friesenwall, hinter dem ein gut erhaltenes Reetdachhaus einen einladenden Eindruck vermittelte.

„Dann wollen wir mal“, meinte Hinnerk nur und schwang sich in die kühle Abendluft hinaus.

Mark und Sabrina stiegen auch aus und das ungute Gefühl in dem Hüter verstärkte sich zusehends.

Hier war etwas faul!

Die Haustür öffnete sich und ein hoch gewachsener Mann mit schütteren Haaren trat ins Freie.

„Dr. Hartmann?“, fragte Hinnerk sogleich, während Mark Schwierigkeiten hatte, sich auf die beiden zu konzentrieren.

Sein Blick driftete immer wieder zu den Ausläufern des Forstes, die sich keine zehn Meter von ihnen entfernt, in den dämmrigen Nachthimmel erhoben.

„Ja, der bin ich. Obsidian-1-1-Hidalgo.“

„Melchior-3-21-Blau“, erwiderte Hinnerk und nickte zufrieden. Er trat auf den Wissenschaftler zu, reichte ihm sofort Zylinder und Umschlag und begann Sabrina vorzustellen, die sich direkt neben Hinnerk befand.

Ein unangenehmes Prickeln durchlief die Schädeldecke des Hüters und unwillkürlich spannte er alle Muskeln an.

„ACHTUNG!“, brüllte Mark, obwohl er keine Spur einer Bedrohung erkennen konnte.

Das Gefühl in ihm, aufgestaut wie Dampf in einem verschlossenen Kessel auf dem Herd, musste einfach raus.

Er wusste nicht, was die Bedrohung war oder woher sie kam, aber er fühlte sie und musste einfach darauf reagieren.

Ein wirbelnder Schatten fegte zwischen den Baumstämmen hervor, ließ ein aggressives Zischen erklingen und war blitzschnell heran.

Marks Ruf war gerade verklungen, als ihn auch schon ein harter Schlag unterhalb des Kinns traf und gegen den BMW schleuderte.

Der Hüter nutzte den Schwung, zog die Beine an und legte eine leicht verunglückte Rückwärtsrolle über die Kofferraumhaube hin.

Weiteres Zischen, Schritte, die schnell und gedämpft erklangen, und als Mark seinen Kopf wieder anhob, waren da noch mehr Gestalten.

„EINE FALLE!“, brüllte er nun wieder und verdrängte den Schmerz in seinem Unterkiefer, denn der Gegner, der ihn geschlagen hatte, setzte nach. Es war mehr eine Instinkthandlung, die Mark den Kopf einziehen ließ, doch die Faust des Gegners senste nur durch kühle Luft. Ein Aufblitzen und schon war der Gegner verschwunden, wobei er einen gellenden Schrei erklingen ließ.

Mark roch beißendes Ozon und schaute zu Hinnerk hinüber, der einen weiteren blauweißen Blitz aus seinen Fingern abfeuerte ‑ diesmal in Richtung der anderen Angreifer.

„Hartmann, Sabrina, rein ins Haus. Es ist gesichert. Mark und ich kümmern uns um die da“, rief der Ordensmeister laut und lief dorthin, wo sich die Gestalten zögernd aufgestellt hatten.

Mark erkannte einige bleiche Gesichter und überlange Augenzähne.

‚Vampire’, durchzuckte es ihn und automatisch holte er das etwa handgroße Kruzifix aus seiner Jackeninnentasche hervor.

Auf Anraten Hinnerks hatte er es immer bei sich, denn ein Kreuz stellte allein schon durch seinen Symbolgehalt eine schmerzhafte Waffe gegen Vampire dar.

Bei anderen Dämonenarten musste man andere Mittel ergreifen.

Der Angreifer, den Hinnerks Blitz umgeworfen hatte, erhob sich keuchend und mit schmerzverzerrtem Mund. Er war offenbar sauer und wollte sich nun auf den Hüter stürzen, doch das Kreuz, welches dieser ihm plötzlich entgegenhielt, verursachte ihm noch weitere Schmerzen.

Hinnerk war nun mit Mark auf einer Höhe und feuerte einen weiteren Blitz ab, der zwar keinen der Blutsauger traf, aber dennoch so in ihre Mitte fuhr, dass sie erschrocken auseinander stoben.

„Bleibt… bleibt und kämpft…“, schrie der, der Mark gerade eben noch umgehauen hatte ‑ offenbar der Anführer.

Doch als er erkannte, dass er sich allein mit Mark und Hinnerk auseinandersetzen musste, wirbelte auch er herum und stürzte in den Forst.

„Wir müssen sie packen, Mark. Los“, rief Hinnerk und rannte dem Vampir hinterher.

Der Hüter warf noch einen Blick zum Haus von Hartmann.

Es war geschützt und somit unzugänglich für Vampire. Sabrina und der Wissenschaftler waren dort gut aufgehoben. Weitere Gedanken machte Mark sich nicht, sondern folgte seinem Freund so schnell er konnte.

 ***

 Kaum war die Tür hinter ihnen beiden zugefallen, als Hartmann auch schon herumwirbelte.

Seine geballte Faust stach förmlich vor und krachte gegen den Kinnwinkel Sabrina Funkes, die nicht einmal mehr dazu kam, überrascht zu sein, sondern nur einen stechenden Schmerz in ihrem Schädel explodieren spürte und dann von den Beinen gerissen wurde.

Ja, Hartmann hatte knallhart zugeschlagen und Sabrina sofort des Bewusstseins beraubt.

Der unter Bann stehende Wissenschaftler blickte nur einen kurzen Moment lang auf die Bewusstlose zu seinen Füßen und öffnete dann mit schnellem Griff den Umschlag.

Nur er war dazu in der Lage. Hätte jemand anderer es versucht, wäre der Brief sofort in Flammen aufgegangen und hätte die Anweisungen, wie man den Zylinder öffnet, vernichtet. So aber konnte Hartmann diese lesen und sich merken, was zu tun war, um die Probe des Drachenbluts aus dem Zylinder herauszubekommen.

Danach drehte er sich mit unbewegtem Gesicht herum und fuhr mit dem kleinen Lift, dessen Zugang hinter einem massiv wirkenden Holzschrank lag, ins Labor hinab, wo er zu seiner Zentrifuge ging, in welcher zwei Dutzend kleine Fläschchen nebeneinander aufgereiht standen. In ihnen schimmerte eine farblose Flüssigkeit.

Hartmann stellte die Zeituhr auf 10 Minuten und aktivierte den automatischen Rücklauf.

Dann verließ er das Labor wieder ‑ zum letzten Mal.

Zurück blieb die Zentrifuge, deren Digitaluhr von 10 Minuten rückwärts zählte.

9:59 min

9:58 min

9:57 min

Und noch etwas blieb zurück.

Die Flüssigkeit in den Fläschchen, die er während der zurückliegenden Nachmittagsstunden hergestellt hatte und die in ihrer Wirkung und Empfindlichkeit dem bekannteren Nitroglyzerin in fast nichts nachstand.

9:46 min

9:45 min

9:44 min

Noch 9:43 min, bis die Zentrifuge ansprang…


                                             Fight fight fight

                                             Fighting the world every single day

                                             Fighting the world for the right to play…

Manowar „Fighting The World“

2. Kapitel:

Kampf um das Drachenblut

 

Detonation ‑ 9:43 min…

Mark Larsen rannte wie von Furien gehetzt zwischen den Bäumen dahin, obwohl er im Moment überhaupt nichts sehen konnte.

Schwer atmend ‑ denn die zwei- oder dreihundert Meter vom Ort des ersten Angriffs bis hierher hatte er in Rekordzeit zurückgelegt ‑ blieb er stehen und versuchte, sich irgendwie zu orientieren. Wo waren die Gegner? Wo war Hinnerk? Marks überreizte Sinne spielten ihm irgendwelche nicht vorhandenen Bewegungen in der Dunkelheit des kleinen Waldes vor und er hatte den Eindruck, als würde er seinerseits sehr genau beobachtet.

Die letzten Minuten hatten Spuren bei dem Hüter hinterlassen, was auch nicht verwunderlich war, denn sie waren schlicht und ergreifend nervenaufreibend gewesen.

Er umklammerte das Kruzifix, welches er seit einiger Zeit auf Anraten seines Freundes Hinnerk immer bei sich trug, etwas fester und war dennoch verunsichert. Sollte er den Freund rufen?

Noch zu keinem Ergebnis gekommen, vernahm er von rechts her Geräusche und wandte den Blick. Gleichzeitig erkannte er in genau dieser Richtung ein kurzes, helles Aufblitzen zwischen den Stämmen des kleinen Mischwaldes.

Dort entlang, raunte es in ihm.

Mark rannte los, erahnte Hindernisse wie umgestürzte Baumstämme und sperrige Äste mehr, als dass er sie sah, setzte mehr oder weniger gekonnt über diese hinweg und war sich darüber im Klaren, dass er mehr Lärm verursachte als ein Bulldozer, der quer durch eine Munitionsfabrik donnert.

Aber das war dem Hüter im Moment vollkommen egal.

Sein Freund befand sich höchstwahrscheinlich dort drüben und die grellen, kurz aufflammenden Lichter deuteten Mark an, dass Hinnerk sich mit seinen Blitzen gegen einen oder mehrere Gegner zur Wehr setzte.

Schneller, schneller, peitschte Mark sich vorwärts und tauchte unter einem tief hängenden Ast hindurch, an dem er sich beinahe…

Urplötzlich und vollkommen überraschend plumpste ein dunkler, schwerer Körper auf ihn herunter, riss ihn von den Füßen und rollte zusammen mit ihm über den nachgiebigen und von Tannennadeln bedeckten Boden.

Instinktiv rammte der Hüter seine Faust zwei‑, dreimal dorthin, wo er das Gesicht des Gegners vermutete. Der Erfolg ließ auf sich warten. Mark keuchte, spürte kräftige, kalte Finger an seiner Kehle und bekam schlagartig keine Luft mehr.

Das Kreuz, durchzuckte es ihn, doch durch den Aufprall des Gegners, der ihm anscheinend auf einem der Bäume aufgelauert hatte, waren seine Finger gefühllos geworden und das wertvolle Kleinod herausgerutscht.

Panik bemächtigte sich seines Innersten, denn der Druck um seine Kehle wurde noch verstärkt und das beträchtliche Gewicht des Feindes presste ihn erbarmungslos auf den Boden.

Ein Zischen peitschte Mark aus dem Schemen entgegen, in welchem er verschwommen die Umrisse eines Kopfes zu erkennen glaubte.

Mark versuchte sich aus dem Griff zu winden, umklammerte nun mit seinen Händen die Unterarme des Gegners, doch trotz der Tatsache, dass er bei weitem kein Schwächling war, konnte er diese genauso wenig bewegen wie irgendwelche massiven Gitterstäbe aus Eisen. Der Sauerstoffmangel machte den Hüter schwindlig, er riss seinen Mund auf, doch kein rettender Sauerstoff konnte eingesogen werden. Blutig rote Punkte tanzten vor Marks Augen und ein durchdringendes Pfeifen tobte in seinen Ohren. Er machte noch zwei Mundbewegungen ‑ ähnlich denen eines Fisches, der auf dem Trockenen gelandet ist ‑ dann füllte eine Schwärze, die noch vollkommener war als die des ihn umgebenden Waldes, seinen Blick aus.

Marks Gedanken begannen zu erlöschen…

Detonation ‑ 8:19 min…

***

 Elena Tepescu schritt gemächlich auf das Reetdachhaus des Dr. Thomas Hartmann zu. In diesem besonderen Moment kannte sie keine Eile, auch wenn sie innerlich vor Erregung so stark vibrierte, wie es einer Vampirin eben möglich war.

Sie war sich ihrer Beute sicher und wenn sie die schwach aus dem Wald zu ihr vordringenden Lichtblitze richtig deutete, war dieser verdammte Kerl vom Orden schwer mit ihren Gefolgsleuten beschäftigt.

Zehn Mann waren ihr hierher, nach Nordfriesland, gefolgt, die  rund um die Ortschaft postiert worden waren, ehe sie heute Abend zugeschlagen hatten.

Elena blickte zum Haus hinüber und streckte ihre übersinnlichen Antennen aus. Unsichtbare Tastorgane, ausgehend von der schönen Vampirin, drangen vor und suchten nach demjenigen, der ihren Ruf erhören sollte. Thomas Hartmann befand sich nach wie vor unter ihrer hypnotischen Kontrolle und würde jede ihre Anweisungen befolgen. Sie lächelte und in ihrem bleichen, nahezu makellos anmutenden Antlitz wurden zwei überlange Augenzähne entblößt. Hartmann befand sich schon auf dem Weg zu ihr.

Obwohl die Symbole, welche Vampire und Dämonen abhalten konnten, von dem Wissenschaftler abgedeckt worden waren, wollte Elena das Haus nicht noch einmal betreten, denn sie fühlte sich darin unwohl.

>Komm zu mir, Diener<, forderte sie gedanklich.

Hartmann konnte ihr zwar keine Bestätigung übermitteln, aber die Vampirin war sich sicher, dass er sogleich erscheinen würde. Wenige Augenblicke später trat er aus dem Haus. Elenas Lächeln wurde noch breiter und zufrieden sah sie dabei zu, wie der Doktor der Mikrobiologie und Biochemie sich ihr näherte und schließlich in zwei Schritten Entfernung stehen blieb.

„Du hast es, nicht wahr?“

Ihre Frage war eigentlich nur obligatorisch gemeint, denn es konnte gar nicht anders sein. Hartmann hielt ihr den kleinen, silbrig schimmernden Zylinder entgegen.

„Du weißt, wie man ihn öffnet?“

Hartmann nickte und wartete nun gar nicht auf einen direkten Befehl Elenas, sondern fing an, den Zylinder zunächst im Uhrzeigersinn zu drehen. Danach tat er dasselbe in entgegengesetzter Richtung und murmelte gleichzeitig einige für Elena unverständliche Worte, ehe er nochmals in ursprünglicher Weise verfuhr. Erst dann konnte er mit dem Daumen auf die obere Fläche des Zylinders drücken. Ein kurzer Pieplaut erklang sowie ein Geräusch, das an ein zischelndes Flüstern erinnerte.

Problemlos nahm Hartmann nun das obere Teil des Zylinders hoch. Achtlos warf er es beiseite und Elena erkannte nun, dass ein konisch geformtes Stück Glas aus dem unteren Teil des  silbrigen Behältnisses emporragte. Offenbar steckte ein kleines Fläschchen oder eine Phiole im Inneren des Zylinders.

Elena bekam leuchtende Augen.

„Das Drachenblut“, flüsterte sie erregt und wenn sie ein Mensch gewesen wäre, hätte sich jetzt ihr Atem beschleunigt.

Es juckte sie, die Phiole in die Finger zu bekommen, doch gleichzeitig spürte sie auch, dass vom unteren Teil des Zylinders eine beunruhigende Strahlung ausging.

War er etwa geweiht? Oder vielleicht magisch aufgeladen?

Elena traute den Mitgliedern des Ordens jegliche Vampire-verachtende-Gemeinheit zu und hielt sich damit zurück, Hartmann aufzufordern, ihr die Phiole zu überreichen. Man konnte nie wissen.

Er würde das begehrte Blut, das sich mit Sicherheit im Inneren der Phiole befand, in ihren Mund träufeln müssen. Ja, das war es!

Aber er musste sich beeilen, denn in wenigen Minuten würde die Zentrifuge in Hartmanns Labor anspringen und dessen zusammen gemixtes Sprengmittel hochgehen lassen. Sie wusste das sehr genau, denn immerhin hatte sie ihn angewiesen, dieses Teufelszeug herzustellen.

Sie wollte außerdem, dass Hartmann selber sich im Haus befand, wenn es explodierte, damit alle, wirklich alle Spuren beseitigt wurden.

„Brich die Phiole auf und träufle mir den Inhalt in den Mund. Beeil dich.“

Elenas Gier nach dem Drachenblut war deutlich in ihrer Stimme zu vernehmen. Sie hatte davon durch den Ordensverräter zu hören bekommen und hoffte nun, durch dessen Verzehr eine besondere Form von Unverwundbarkeit zu erlangen. Sie hoffte, durch das Drachenblut resistent gegen Sonnenlicht, Kruzifixe und Weihwasser zu werden.

„Einen Moment, ich muss es vorsichtig machen. Auch dafür gibt es bestimmte Vorkehrungen“, erklärte Hartmann kurz und machte sich an die Arbeit.

Inzwischen tickte im Labor die Uhr weiterhin rückwärts.

Detonation ‑ 7:02 min…

***

 Marks letzter bewusster Gedanke beschäftigte sich damit, dass es nun wohl aus mit ihm sei. Merkwürdigerweise war diese Erkenntnis aber nicht mit Furcht und Schmerz verbunden, sondern mit einem sanften, wohligen Rhythmus und einem aufkeimenden Gefühl von Frieden und Glückseligkeit.

Da flammte es grell vor seinen geschlossenen Augen auf und frischer Sauerstoff drang belebend in seine Lungen, woraufhin ihn sofort ein heftiger Hustenanfall durchschüttelte und die fast begrabenen Lebensgeister erweckte. Beinahe brutal wurde er aus der sanften Umarmung des Todes gerissen.

Mark hörte, wie etwas hart neben ihm aufschlug, begleitet von einem grauenhaften Schrei und dann schoss wiederum ein blauweißer Blitz haarscharf an ihm vorbei und traf einen weiteren Angreifer.

„Verflixt och, disse Burschen. Oder ick bün nich in Form“, schimpfte eine wuchtige Gestalt, die sich aus der Dunkelheit vor Mark schälte und dabei von einem bläulichen Schimmer umgeben war.

„Hinnerk“, krächzte der angeschlagene Hüter, der sich seinen schmerzenden Hals rieb.

Der Ordensmeister jedoch antwortete nicht, sondern richtete die gestreckten Zeige‑ und Mittelfinger in Richtung eines mächtigen Baumstammes, der neben ihm emporwuchs und sprach einige unverständliche, aber bittende Worte in dessen Richtung. Es lag ein bittender und gleichzeitig freundschaftlicher Ton in Hinnerks Stimme, als er zu dem Baum sprach.

Ja, tatsächlich sein eigenwilliger Freund sprach mit dem Baum.

Zu Marks größer werdenden Unverständnis knackste es verdächtig über ihm und ein armlanger Ast, blau schimmernd und in waagerechter Position schwebend, glitt langsam herab.

„Nimm di dat Ding, und denn wies disse Bastarde mol, wat du kanns“, schimpfte Hinnerk auf Platt. Instinktiv, den Schmerz verdrängend, rappelte sich Mark auf und packte den Ast, der am vorderen Ende spitz zulief.

Ein Pflock, dachte der Hüter erstaunt, Der Baum hat uns einen Ast als Pflock zum Geschenk gemacht!

Doch zum weiteren Wundern war keine Zeit mehr, denn schon fegte eine weitere Gestalt mit bleich schimmernden Gesicht auf Mark zu.

Der Hüter war vielleicht nicht vollkommen fit, aber ser tauchte mit einer blitzschnellen Bewegung nach links weg und rammte gleichzeitig den Pflock nach rechts.

Ein Bilderbuchtreffer, denn das Holz fuhr wohl tatsächlich seitlich durch die Rippen und traf das Herz des Vampirs, der nur noch gurgeln konnte, sich zusammenkrümmte und noch im selben Atemzug verdorrte.

Mark wirbelte herum, riss das dankbar empfangene Geschenk mit sich und stieß es mit einem heiseren Schrei vor, als er einen weiteren Schatten vor sich erkannte.

Wieder ein Schrei, diesmal brandete er direkt in Marks Ohr.

Der Hüter verzog sein Gesicht, stieß den Getroffenen von sich und zog dabei den Pflock mit sich.

Zwischenzeitlich ließ Hinnerk weitere Blitze leuchten und diese gewannen wohl langsam an Kraft, denn plötzlich entflammte eine der Blut saugenden Kreaturen und wurde rasend schnell zu Asche.

„Nu hev ick de Dreh wedder rut.“

Sein vollbärtiges Gesicht wandte sich Mark zu.

„Du machst, dass du zurückkommst. Vielleicht schleichen noch mehr von den Kerlen ums Haus.“

Sabrina, durchzuckte es Mark und ohne ein Widerwort zu starten, rannte er in jene Richtung, in der er das Haus von Dr. Hartmann vermutete. Hinnerk würde schon klarkommen, dessen war er sich sicher.

Detonation ‑ 5:21 min…

***

 Die Phiole war ebenfalls gesichert! Elena spürte dies deutlich, nachdem Hartmann sie aus dem unteren Teil des Zylinders gezogen hatte, und ein brennender Zorn stieg in ihrem untoten Körper empor.

Verdammt, wahrscheinlich würde es mir die Finger abbrennen oder mich komplett zum Verdorren bringen, wenn ich die Phiole anrührte, dachte die Vampirin wütend.

Hartmann musste noch einmal bestimmte Worte murmeln, die Phiole dabei fünfmal umwenden und zu guter Letzt noch mit dem Finger über das Glas streichen.

„Beeilung“, drängte Elena, die den Geschmack des Drachenblutes schon auf ihren Lippen zu spüren vermeinte.

Oh, was werde ich alles tun können, wenn ich mich tagsüber unter den Sterblichen bewegen kann.

Dieser Gedanke verfolgte sie, seit sie zum ersten Mal von der Existenz des Drachenblutes erfahren hatte.

Von wem das Blut stammte oder wie und weshalb es gefunden worden war, interessierte sie nicht. Auch, ob es möglich sein würde, noch mehr davon zu bekommen, damit auch andere Vampire jenen Segen zu erlangen vermochten, beschäftigte Elena im Moment nicht.

Als Abschluss all der vorangegangenen Handlungen drückte Hartmann nun den dünnen, gläsernen Hals des Behältnisses mit dem Daumen zur Seite, wie bei einem Fläschchen mit Injektionsflüssigkeit.

Es knackte und endlich, endlich! war es soweit. Er konnte das Drachenblut nun in ihren Mund gießen und sie würde unvorstellbare Macht erlangen.

„Los jetzt, los“, hechelte die Vampirin gierig und ihre Zunge huschte über die vollen, rot geschminkten Lippen.

„Ja, Gebieterin“, lautete die Antwort des Willenlosen und er trat vor, um Elena das Gewünschte zu geben.

Sie öffnete den Mund, legte den Kopf etwas in den Nacken und spürte gleichzeitig, dass keine bedrohliche Ausstrahlung mehr von dem kleinen Gefäß ausging. Die Banne und Zauber, von denen es umgeben gewesen war, waren erloschen und nun hinderte nichts mehr das Blut daran, in ihren Rachen zu rinnen.

Endlich ... endlich ..., dachte Elena zufrieden.

Detonation ‑ 4:17 min…

***

 „NEEEEEEIIIIIINNNNNN!“

Der Schrei war nur ein Umstand, der Elenas Versuch, Macht zu erlangen, zunichte machte.

Der zweite Umstand war ein kraftvoller Körper, der wie ein Derwisch zwischen sie und Hartmann fuhr und die Hand des hypnotisierten Wissenschaftlers zurückstieß.

Mark Larsen hatte vom Rand des kleinen Forsts erkennen können, wie Hartmann mit dem kleinen Fläschchen auf Elena Tepescu zutrat und diese ihren Kopf in den Nacken legte und ihren Mund weit öffnete.

Elena und Hartmann waren zu beschäftigt, um ihn überhaupt zu registrieren und deshalb gelang ihm auch der Überraschungsangriff. Die Vampirin wurde vom Körper des Hüters zur Seite gestoßen, wirbelte aber gleichzeitig geschmeidig herum und fletschte, begleitet von einem Zischen, ihre bedrohlichen Zähne.

Hartmann hatte vor Schreck die Hand, in der er das Fläschchen hielt, zusammengedrückt. Ein leises Knirschen ertönte, welches aber von keinem der Anwesenden wahrgenommen wurde, und das Glas zerbrach in der Mitte. Das Drachenblut sickerte hervor.

Hartmann selber ballte nun beide Fäuste noch stärker zusammen und wollte Mark angreifen. Eine der primären Anweisungen, die Elena ihm hypnotisch eingegeben hatte, war es, Angreifer zu attackieren.

Der Hüter jedoch sah die Bewegungen des Wissenschaftlers rechtzeitig und kreiselte auf der Stelle auf einem Bein um seine Achse.

Ein 1-A-Backspin-Kick traf den Hypnotisierten kurz unterhalb des Kinns und schleuderte ihn wuchtig zurück. Er krachte gegen den Friesenwall, kippte steif darüber hinweg und rollte auf der anderen Seite herunter. Dabei schrammte er sich die Stirn an einem Stein auf und eine unscheinbare Wunde entstand.

Mark hatte nun wieder nur Augen für Elena Tepescu, die von der Reaktionsfähigkeit des neuen Hüters sowohl beeindruckt, als auch verärgert war.

„Verdammter“, presste sie zornig hervor und duckte sich etwas zusammen.

Sie war versucht, es auf eine Auseinandersetzung mit Larsen ankommen zu lassen, doch irgendwo geisterte noch dieser elende Ordensmeister herum und …

Siedend heiß erinnerte sie sich an die Zentrifuge im Labor.

Wie lange würde es noch dauern, bis die Explosion erfolgte? Auch eine Vampirin musste sich vor so etwas in acht nehmen, denn Feuer vermochte sie durchaus zu vernichten. Elena sah ihre Felle davonschwimmen und erkannte keine Möglichkeit, dies nachhaltig und zu ihren Gunsten zu ändern.

Sie würde sich auf die Suche nach dem Rest des Drachenblutes machen und damit dann vielleicht Erfolg haben. Jetzt musste sie ihre Existenz retten.

„Später Hüter. Später einmal.“

Mit diesen Worten wirbelte sie herum und rannte, schneller als es ein Mensch hätte schaffen können, in Richtung Forst, in dessen Schutzmantel aus Dunkelheit, sie nach wenigen Sekunden verschwunden war.

Mark blieb wie angewurzelt stehen. Sabrina, dachte er besorgt und wandte sich zum Hause Hartmanns um.

Der Wissenschaftler bewegte sich zwar, aber nur sehr langsam. Von ihm ging im Moment keine Bedrohung aus, befand Mark und hetzte zur Eingangstür.

Eine Bedrohung ging von Hartmann vielleicht in diesem speziellen Moment wirklich nicht aus, aber dennoch erfüllte sich genau jetzt dessen Schicksal endgültig.

Detonation ‑ 2:01 min…

***

 Hartmann öffnete die Augen.

Langsam, ganz langsam klärte sich das Bild vor ihm und er erkannte einen Stein, an dem etwas Dunkles und Glänzendes klebte.

Schmerz drang durch den Bann Elena Tepescus, dessen Stärke jetzt, da sie floh und mit anderen Dingen beschäftigt war, etwas nachließ.

Hartmann wälzte sich herum und versuchte aufzustehen, als ein beißender Schmerz an seiner Stirn aufflammte. Instinktiv hob er die rechte Hand und befühlte die Wunde mit seinen Fingern, an denen kleine Glassplitter und das Drachenblut klebten.

Der Moment, in dem Menschen- und Drachenblut Kontakt bekamen, veränderte alles.

Hartmann riss seine Augen weit auf, öffnete seinen Mund und stieß ein Keuchen aus. Gleichzeitig schien es, als sauge etwas das Blut von seinen Fingern in die Schürfwunde hinein, bis auch der letzte Rest davon verschwunden war.

Das ging so schnell, dass ein Beobachter, den es nicht gab, überhaupt nichts, oder nur sehr wenig, davon mitbekommen hätte.

Die beiden Blutarten vermischten sich und es dauerte nur eine Sekunde, da der Lebenssaft des Drachen seine Stärke voll entfaltete.

Elena Tepescus Bann zerbrach förmlich, als wäre es der Bann einer elenden Stümperin, die keine Ahnung von diesen Dingen hatte.

Hartmanns Geist war frei!

„Aber…“, murmelte der Wissenschaftler kurz, wollte sich selber fragen, was er hier tat und warum er sich so elend fühlte, als es auch schon mit der Freiheit ein Ende hatte.

Das Drachenblut wirkte sehr schnell, legte nun etwas um Hartmanns Geist, das mehr war als ein hypnotischer Bann und das auf ewig mit ihm verschmolz und eins wurde mit ihm.

Hartmann stöhnte, doch im selben Augenblick richtete er sich rasch auf, blickte zum Haus hinüber, in dem just in diesem Moment der Angreifer, der ihn niedergeschlagen hatte, verschwand.

Zorn stieg in Hartmann ‑ dem neuen Hartmann ‑ auf und er fragte sich, ob er diesen unverfrorenen Kerl attackieren und töten sollte.

Doch dann kamen die Erinnerungen.

Der Sprengstoff! Die Zentrifuge!

Nur noch knapp zwei Minuten, dann flog das Haus in die Luft.

Dereinst würde er mächtig genug sein, um so etwas vollkommen unbeschadet zu überstehen, doch im Moment war er noch zu schwach und durfte nicht riskieren, getötet oder auch nur verletzt zu werden.

Hartmann federte auf die Beine. Ein entschlossenes Glitzern war in seinen Augen zu sehen, sein Wagen stand, etwa zwanzig Meter vom BMW der Ankömmlinge entfernt.

Den Schlüssel trug er in der Hosentasche bei sich und mit schnellen, kraftvollen Schritten war Hartmann bei seinem Audi A6 angekommen, hatte ihn per Funksignal geöffnet und stieg ein.

In seinem Inneren wogten und brausten viele verschiedene Empfindungen, alles schien sich zu überschlagen, doch seine Handlungen waren präzise.

Er startete den Audi, stellte die Automatik auf „Fahren“ und schoss davon.

Einem neuen Ziel entgegen!

Nein, einem neuen Leben entgegen!

Detonation ‑ 0:35 min…

***

 Mark hatte den Eindruck, graue Haare zu bekommen, als er Sabrina auf den Fliesen liegen sah.

Seine Freundin stöhnte leise, als er sich über sie beugte. Ihr Kinnwinkel hatte sich dunkel verfärbt und Mark erkannte sofort, dass dies nur durch einen harten Schlag bewirkt worden sein konnte.

Wut über Hartmann, der sie alle so geschickt getäuscht hatte, und letztlich auch über sich selber überkam Mark, weil er wie ein Idiot in die Falle gelaufen war.

Gleichzeitig war da auch noch ein anderes Gefühl. Es war ein Prickeln unter der Schädeldecke, ähnlich dem, das er empfunden hatte, als die Vampire sie vorhin überfallen hatten.

Wir müssen raus hier, schoss es dem Hüter durch den Kopf, während sein Blick umher flog und nach einer sichtbaren Bedrohung suchte.

Zu erkennen war nichts, aber Mark war sich über die bevorstehende Gefahr so klar, als hätte er ihr schon direkt ins Auge geblickt.

Schnell ging der Hüter neben seiner Freundin in die Hocke, erfasste sie etwas unsanft und wuchtete ihren Oberkörper über seine Schulter.

Obwohl Sabrina ein absolutes Leichtgewicht war, hatte Mark, der noch etwas unter den Nachwirkungen des Kampfes zu leiden hatte, Probleme, sich aufzurichten, doch er schaffte es und lief, so schnell es eben ging, zur Haustür.

Raus, raus hier, raus!, hämmerte es in seinem Schädel und er kam der Aufforderung nach.

Scheinwerfer flammten auf und lenkten seinen Blick auf sich. Ein Wagen röhrte los und jagte in die dunkle Weite hinaus, doch Mark dachte nicht weiter darüber nach.

Er stolperte fort, fort von dem Haus.

Detonation ‑ 0:30 min…

Mark erreichte die Höhe des Friesenwalls und stolperte nun richtig. Er konnte sich nicht mehr fangen und krachte auf den Boden direkt vor dem abgestellten BMW.

Detonation ‑ 0:25 min…

Schwerfällig rappelte der Hüter sich auf, packte Sabrina an den Armen und schleifte sie in Richtung des Forstes, der aber – trotz seiner Nähe – unerreichbar erschien.

Detonation ‑ 0:20 min…

Marks Lungenflügel arbeiteten wie Blasebälge, Schweiß rann salzig an Gesicht und Körper herunter und Schwindel versuchte, ihn in die Knie zu zwängen.

Gleichzeitig wurde das Prickeln immer stärker und spornte ihn an, nicht nachzulassen.

Er schleppte Sabrina ‑ einem männlichen Neandertaler gleich, der sein Weibchen hinter sich herzerrte (zumindest in den klischeehaften Vorstellungen) ‑ über den Boden und spürte, wie seine Beine allmählich ihren Dienst versagten.

Detonation ‑ 0:15 min…

„Mark!“

Die Laute seines Namens drangen wie eine Befreiung an seine Ohren, denn Hinnerk hatte ihn gerufen und stand nun, etwa fünf Meter hinter und seitlich von ihm entfernt, zwischen den Ausläufern des Waldes.

Detonation ‑ 0:10 min…

„Die Vampire sind alle erled…“, begann Hinnerk, doch Marks Schrei unterbrach ihn rüde.

„GEFAHR

Hinnerk stutzte und blickte in die Richtung des ausgestreckten Zeigefingers des Hüters.

Detonation ‑ 0:05 min…

Mit einer Geschmeidigkeit, die man einem dermaßen wuchtigen Menschen kaum zugetraut hätte, sprang Hinnerk vorwärts und stellte sich neben seinen Freund.

„Rünner, mien Jung“, meinte er nur und hob schon seine Arme mit gespreizten Fingern in die Höhe.

Detonation ‑ 0:03, ‑ 0:02, ‑ 0:01…

Die Gefahr wurde nahezu materiell.

Mark hörte zunächst einen gedämpften Knall, gerade so, als habe jemand einen Chinaböller in einiger Entfernung hinter einer verschlossenen Tür gezündet.

Doch dann folgten weitere Donnerschläge.

Mark starrte mit weit aufgerissenen Armen, während er neben Sabrina kniete, zum Haus herüber, in dem es nun aufflammte wie vorhin noch im dunklen Wald. Das Krachen schwoll an, wurde lauter, dröhnte nun wirklich; Scheiben wurden aus ihren Rahmen gestoßen, die wunderschöne Friesentür fegte über das Grundstück und die ersten Flammen schossen ins Freie. Mark stieß einen kurzen Schrei aus, zuckte zusammen, als der lauteste Knall ertönte und eine Druckwelle ihn beinahe umwarf. Steine, Glas, Holz und Metall wirbelten nun durch die Luft, Teilstücke der Wände wurden einfach pulverisiert.

Das Reetdach verwandelte sich in

Das Reetdach verwandelte sich in eine Fontäne aus rotgelben Funken. Rauch schoss nach allen Seiten davon.

Und Hinnerk?

Hinnerk stand unbewegt da, die Arme erhoben, die Hände gespreizt und mit geschlossenen Augen. Wenn Mark es nicht besser gewusst hätte oder wenn er etwas hätte hören können, hätte er schwören mögen, der Ordensmeister summe leise vor sich hin.

Dann kamen all diese Teile, die Flammen und der Rauch, wie eine übermächtige Wand auf die drei Menschen zugerast und umhüllten sie, begleitet von Knistern, vom Wummern und Krachen.

Mark presste die Kiefer fest aufeinander und zog sein schweißnasses Gesicht zwischen die Schultern.

Und dann… wurde es dunkel um ihn herum.

***

 Zur selben Zeit in einem Wohnmobil unweit des Geschehens:

Der Knall der Explosion rollte über das flache Land und ließ einige der Wohnwagen und Wohnmobile erzittern.

Elena Tepescu zerbiss einen rumänischen Fluch zwischen ihren Lippen und hatte Mühe, sich auf das Steuern ihres eigenen Wohnmobils zu konzentrieren.

Sie hatte es wütend vom Campingplatz bei Schobüll gesteuert und dabei fast einige der Menschen überfahren, die durch die Explosion aus dem Schlaf gerissen worden und nach draußen gegangen waren.

Der Versuch, das Drachenblut zu erlangen, war fehlgeschlagen. Und Fehlschläge konnte Elena nur sehr schlecht verwinden. Nach ihren letzten Unternehmungen, die ebenfalls nicht besonders gut verlaufen waren, gab es nun Unruhe innerhalb ihrer Sippe. Sie musste damit rechnen, dass sich bestimmt bald jemand erdreisten würde, sie herauszufordern, denn immerhin hatte sie auch all ihre getreuen Begleiter bei diesem Unternehmen verloren, was ihrem Ansehen enorm schadete. Sie musste auf der Hut sein.

„Sei verflucht, Ordensmeister“, knirschte sie angewidert.

„Und verflucht seist auch du, Hüter“

***

 Zur selben Zeit in einem Audi A6:

Auch Thomas Hartmann ‑ der neue Thomas Hartmann ‑ sah die Helligkeit, welche von der Explosion seines Hauses ausgesandt wurde. Er lächelte schmal.

Auch wenn er nicht genau wusste, ob sein Gegner bei der Detonation ums Leben gekommen war, so sah er die Vernichtung seines Hauses doch als Triumph an.

Er musste jedoch fort von hier, sein bisheriges Leben weit hinter sich lassen und sich auf neue Aufgaben konzentrieren.

In ihm begann bereits jetzt Macht zu erwachen. Und zwar in einer Art und in einem Umfang, wie er es niemals für möglich gehalten hätte. Hartmann spürte, dass ein langer Weg vor ihm lag.

Aber auch ein bedeutsamer!

***

 Detonation + 1:26 min…

Es schien ewig zu dauern, bis Staub, Rauch und Schutt zur Ruhe gekommen waren und sich senkten, wodurch sich die Sicht wieder etwas verbesserte.

Mark hob seinen Kopf und sah vor sich Flammen, die sich durch aufragende Holzteile fraßen. Das Haus war nur noch ein Krater, aus dessen Rändern Fragmente aus Stein, Metall und Holz emporragten.

Er atmete tief durch und fragte sich, wieso er überhaupt noch am Leben war. Vor ihm glomm die Luft leicht bläulich und obwohl dieses Flimmern sogleich in sich zusammenfiel, vermeinte der Hüter innerhalb eines Sekundenbruchteils eine Kugelform zu erkennen, die Hinnerk, Sabrina und ihn selber umgab.

Er öffnete den Mund, doch kein Laut drang aus seiner Kehle.

„Keine Fragen jetzt, mien Jung. Wir müssen weg.“

Ohne weiter zu zögern hob Hinnerk die bewusstlose Sabrina auf seine Arme und lief mit ihr zum BMW, der das ganze Geschehen offensichtlich auch unbeschadet überstanden hatte. Wie konnte das angehen? War der Wagen auch geschützt gewesen?

Marks Schritte stockten.

„Mit irgendwas müssen wir uns doch absetzen. Komm und hilf mir.“

Hinnerk schien Marks Frage wieder einmal geahnt zu haben, doch der Hüter zögerte nicht länger. Sein Freund hatte Recht. Er öffnet die hintere Tür und Hinnerk bettete Sabrina schnell auf dem Fond. Mark huschte auf den Beifahrersitz und Hinnerk nahm hinter dem Steuer Platz.

„Jetzt muss ich aber wirklich Gas geben“, sagte der Ordensmeister und es klang nicht einmal vergnügt.

Offenbar war Hinnerk von den Geschehnissen auch überrumpelt worden, doch wieder einmal hatte er Recht. Der Motor zündete problemlos und schon rasten sie in Richtung Schobüll, wo die Explosion längst bemerkt worden war. An einigen verschüchterten Einwohnern vorbei raste der BMW auf die Hauptstraße in Richtung Husum davon. Und merkwürdigerweise konnte sich später keiner mehr an dieses Fahrzeug erinnern.


                                                          A savage dragon in the dark cavern mouth

                                                          A rancid below pours from it

                                                          If you are spatterd with his venomous poison

                                                          Beware and protect from his swishing tail

                                                          Kill kill the dragon

                                                          Kill kill - the beast inside

                                                          Kill kill the dragon

                                                          Victory is by my side

                                                          He thrust the sword into the dragon's guts

                                                          Pierced his heart and shut his mouth

                                                          He tasted the blood and listened to the birds

                                                          Who told him about the liars words

                                                          Kill kill the dragon

                                                          Kill kill - the beast inside

                                                          Kill kill the dragon

                                                          Victory is by my side

(Grave Digger, Dragon)

3. Kapitel:

Der Atem des Drachen

 

War es nur ein Traum? War es Wirklichkeit? Thomas Hartmann vermochte es nicht eindeutig zu unterscheiden.

Obwohl er höchste Zufriedenheit empfand, wusste er doch, dass seine Tage eigentlich längst gezählt waren. Thomas Hartmann wurde immer kleiner, immer unbedeutender und immer schwächer in dem blutroten Strudel, der, gemeinsam mit dem Drachenblut, in sein Innerstes eingezogen war und sich nun nach allen Seiten hin ausbreitete.

War es ein Traum?

Nein, denn er hatte, geleitet durch einen untrüglichen Instinkt, seinen Weg gefunden. Fort von seinem Haus in Schobüll  ‑ das ohnehin nur noch ein qualmender Trümmerhaufen sein dürfte (dafür hatte sein Mix aus Ammoniak und Jod wohl gesorgt) ‑ fort aus Nordfriesland und letztlich auch fort aus Deutschland.

Hartmann konnte sich dem Sog, der von einem fernen Ort auszugehen schien, längst nicht mehr entziehen und ließ geschehen,  alsbald er Hamburg erreichte, wie selbstverständlich zum Flughafen fuhr und sich dort nach dem nächsten Flug nach London erkundigte.

Etwas Neues, Machtvolles war in sein Leben getreten und hatte mit einem gewaltigen Ruck das bisherige Sein von Dr. Thomas Hartmann auf den Kopf gestellt, nein, sogar beiseite gefegt.

Doch Hartmann störte sich nicht daran, denn mit Entstehen dieser neuen Macht waren die süßen und Glück verheißenden Eingebungen gekommen, die ununterbrochen in seinen Geist vordrangen und denen er sich nur zu gern hingab.

Er hörte kaum die Worte der freundlichen Dame am Terminal, bei der er das Ticket erwarb. 90 Minuten später betrat er das Flugzeug wie in Trance. Die Stewardessen und die anderen Mitreisenden während dieses nächtlichen Fluges in die englische Hauptstadt, sie alle waren uninteressant für Thomas Hartmann.

Die Eingebungen berichteten ihm von dem Schicksal, das er zu erfüllen hatte.

Nach außen hin war er immer noch ein hoch gewachsener, dicklicher Mann mit schütteren, dunklen Haaren.

Keiner störte sich daran, dass er manchmal seine Lippen bewegte, als führe er ein Gespräch mit einem unsichtbaren Begleiter und ebenso wenig hätte das schiefe Grinsen, welches sich gelegentlich in seine Mundwinkel kerbte, Aufsehen erregt.

Er war nur zu bereit, das Wachstum der fremden Macht zu unterstützen und alles Erdenkliche zu tun, um es eventuell sogar zu beschleunigen.

Hartmann nahm Platz, nachdem er seinen kleinen Aktenkoffer, den er im Wagen gefunden, und in dem sich auch sein Reisepass befunden hatte, im Gepäckfach über sich verstaut hatte. Er schüttelte abwesend den Kopf, als eine der Stewardessen ihn fragte, ob er etwas trinken wolle, und legte dann den Kopf gegen die hochgestellte Rücklehne. Seine Augen schlossen sich automatisch, jedoch nicht um zu schlafen, sondern um die Konzentration auf das zu verstärken, was ihn nach und nach ausfüllte. Er wollte es gebührend und respektvoll in sich willkommen heißen.

Als der Flieger abhob und Kurs in Richtung Süd-Westen nahm, sickerte die finstere Macht, die in den wenigen Tropfen des Drachenblutes gelauert hatte, immer mehr in ihn ein.

***

 Das Abseilen war immer der kniffeligste Teil, wie Dr. Eliot Greene meinte.

Da hing man also in einem Gurtgeschirr, vor sich eine zerklüftete Felswand, die scheinbar nach oben hin wanderte, fünfzig Meter unter sich die von Gischtkronen besetzten Wellen des Atlantischen Ozeans, die sich an scharfkantigen und hoch aufragenden Felsspitzen brachen, umgeben von wildem Rauschen des Meeres und in den Ohren das Pfeifen des scharfen Windes.

In Anbetracht dieser Ausgangssituation, durfte einem schon ein wenig flau im Magen werden, wie Greene fand.

Das Ziel befand sich zwar „nur“ 20 Meter unterhalb des oberen Klippenrandes, doch für ihn, und wahrscheinlich jeden anderen, der diese Winde regelmäßig benutzten musste, war es so, als läge es Kilometer weit unter der Erde, in einer schier unerreichbaren Entfernung.

Ian Shakleton, der erste Assistent des Doktors, hatte ihn an diesem Morgen bei der Felsöffnung erwartet und war ihm mit geröteten Wangen entgegengetreten.

Der 28-jährige Shakleton war es auch gewesen, der ihn vorhin via Walkie-Talkie gerufen hatte, weil sich hier etwas aufsehenerregendes ergeben hatte.

Greene schätzte den dunkelhaarigen, sportlichen Mann, der schon als Student für ihn gearbeitet, und große Zuverlässigkeit und immensen Eifer bewiesen hatte.

Während Greene und Shakleton den Höhleneingang hinter sich ließen, schoben sich Wolken. grauen Gebirgen am Himmel gleich. der Küste entgegen und kündeten von einem bald einsetzenden Unwetter.

„Das, was wir Ihnen zu zeigen haben, Sir, ist zwar bemerkenswert, aber ich denke, wir sollten heute nicht länger in der Höhle bleiben, als unbedingt notwendig.“

Greene war derselben Meinung, gleichzeitig aber auch enorm gespannt, was ihn hier erwartete.

Aus den Unterlagen eines längst verstorbenen Kollegen, eines Amerikaners namens Dr. Henry Jones jr., hatte Greene vor ungefähr fünf Jahren entnehmen können, dass sich irgendwo an der Westküste Irlands eine uralte und geheime Kultstätte befinden musste. Der Begriff Khar’Aagan war in den Aufzeichnungen Jones’ aufgetaucht, die noch aus den späten Vierzigern stammten, und hatte Greenes Neugier geweckt.

Zunächst hatte Greene sich darunter nichts vorstellen können. Forschungen und lange, erfolglose Suchen waren dieser ersten Neugier gefolgt und erst vor knapp drei Jahren hatte Greene in einem Geheimarchiv die entscheidenden Hinweise finden und richtig deuten können. Danach war es fast einfach gewesen, die Kultstätte zu finden, jedoch erwies sich der Zutritt als schwierig. Nur mit großer finanzieller Unterstützung war es überhaupt soweit gekommen, dass man den Grund in der Nähe der Klippen hatte betreten dürfen und ein Forschungscamp errichtet werden konnte. Diese Unterstützung erfolgte durch den Orden, worüber – natürlich ‑ nur Dr. Greene eingehend informiert war.

Greene folgte seinem Assistenten in den Kernpunkt des alten Kultes. Eine riesige Höhle. Doch es war noch viel mehr. Nämlich eine ‑ beinahe perfekt ausgeformte ‑ Kuppel inmitten des Felsgesteins von Donegal Bay. Ihre Wände bestanden nicht aus unbearbeiteten, schroffen Felsen, sondern waren bearbeitet und geformt worden. Unter unsäglichen Mühen mussten in der Vergangenheit zahllose Vorsprünge, Rillen, Mulden und Ecken abgeschliffen worden sein ‑ und zwar in ebenso zahllos erscheinenden Arbeitsstunden.

Die Anhänger des hier ansässigen Kultes waren womöglich über einen Zeitraum von mehreren Generationen auf, den Forschern bislang unbekannten, Wegen hierher gekommen und hatten mit ihren primitiven Werkzeugen, erfüllt von unbeirrbarem Glauben, jenes unglaubliche kuppelförmige Höhlenkonstrukt geschaffen.

Greene verharrte einige Minuten und genoss das Bild, das sich ihm zum wiederholten Male bot. An verschiedenen Stellen waren batteriebetriebene Laternen aufgestellt worden, die helle, aber kleine Kreise aus Licht schufen und das Höhleninnere aus trister Dunkelheit erhoben. Doch es war nicht nur so, dass diese Höhle einer fast perfekt geformten Kuppel glich. Viel atemberaubender waren die Bildnisse der Vergangenheit, die überall verteilt auf der glatten Oberfläche des Felsens aufgezeichnet, eingeritzt und eingraviert zu erkennen waren. Die Sprache, die die Darstellungen der beinahe lebendig wirkenden Fabelwesen betitelte, war dem Archäologen zum Teil unbekannt, denn hier hatte man sich verschiedener Dialekte bedient, die wohl noch aus einer Zeit noch vor den alten Kelten stammten.

Raubtierhafte Gestalten mit langen Zähnen und Klauen, behaarte Geschöpfe, die merkwürdig verkrüppelt zu sein schienen, offenbarten sich dem Archäologen.

Und natürlich - ER!

Greene traute sich kaum hinzusehen, doch gleichzeitig zog das scheußliche und überragende Abbild über dem einfachen Steinaltar beinahe magisch den Blick des Archäologen an.

Derjenige, der es in den Stein geschlagen hatte, musste ein wahrer Meister dieser Kunst gewesen sein, denn dieses Wesen wirkte dermaßen echt, dass Greene die stille Angst in sich spürte, es könne sich aus der Wand lösen und sie angreifen.

Glühende Augen mit geschlitzten Pupillen, ein schuppiger, lang gezogener Leib, der in einem gigantischen, mit Stacheln versehenen Schwanz auslief, riesige Schwingen, die das ganze kraftvoll in den Himmel hinaufzubefördern vermochten, ein überdimensionales Maul mit mannshohen Reißzähnen, das ihm weit aufgerissen entgegen gestreckt wurde und dazu…

Greene stockte, denn etwas, das bislang noch nicht da gewesen war, sprang ihm nun förmlich ins Auge.

„Träumst du?“

Diese beiden Worte rissen Greene aus seiner Erstarrung und mit wild pochendem Herzen wirbelte er herum.

„Oh Gott! Petula.“

Petula Greene, Eliots Ehefrau und Partnerin bei Untersuchungen, grinste ihn breit an. Sie war von schlanker, fast zierlicher Gestalt und sah überhaupt nicht aus wie eine Frau von Anfang Fünfzig. Ihr dunkles, dichtes Haar trug sie als Pferdeschwanz zusammengebunden, wodurch ihr Gesicht noch schmaler wirkte, als es ohnehin war.

„Wann ist es…“

„… entstanden?“, half ihm Petula aus, weil ihm die richtigen Worte fehlten.

Wieder fiel sein Blick auf den schlicht gehaltenen Altarblock, der sich eigentlich nicht verändert hatte und genauso aussah, wie am Abend zuvor, als er die Höhle verlassen hatte.

Und doch bot sich ihm ein anderer Anblick. Genau in der Mitte der Felsplatte, dort, wo ein kreisförmiges unidentifizierbares Symbol zu sehen gewesen war, flackerte nun eine gelbrote, kräftige Flamme der Kuppeldecke entgegen. Greene schauderte. Sein Blick glitt an der Flamme empor zu den Augen der Drachenabbildung, die direkt darauf gerichtet zu sein schienen. Glitzerten sie nicht auf… begierige Weise? Schienen sie nicht irgendwie mit Leben erfüllt?

„Das wissen wir nicht. Vermutlich irgendwann in der Nacht. Mir scheint, diese Höhle wird immer interessanter“, murmelte Petula.

Auch wenn Greene den Klang ihrer Stimme liebte, so kamen ihm diese Worte wie ein unheilvolles Omen vor. Während er noch darüber nachsann, näherte sich, 20 Meter über ihnen, ihrem Camp der Tod.

 ***

 Das „Claridge’s“ in London war ein Hotel der gehobenen, sprich Luxusklasse.

Mark Larsen fühlte sich, umgeben von Zierrat und Prunk, nicht sonderlich wohl. Er hätte es vorgezogen, in einem weniger auffälligen Haus abzusteigen. Doch Hinnerk hatte sich ‑ wie schon so oft ‑ in dieser Angelegenheit durchgesetzt und sie alle hier einquartiert.

‚Sie alle’ bezog sich auf Mark, Sabrina Funke und ihn selber.

Die drei Freunde bewohnten eine Suite, in der ohne Probleme eine mehrköpfige Dreigenerationen-Familie Platz gefunden hätten.

„Nu bliev mol op de Bödn, mien Jung“, hatte Hinnerk Lührs nach ihrer Ankunft in diesem Londoner Feudalschuppen gemeint und unter seinem buschigen Vollbart ein breites Grinsen angeknipst.

„In düsse Angelegenheitn bün ick ’n beten better bewandert as du.“

Mark hatte das Maulen eingestellt, seine Sachen in dem Teil der Suite untergebracht, in dem er zu nächtigen gedachte, und war dann erfüllt von Tatendrang zu Hinnerk zurückgekehrt, der in diesem Moment begonnen hatte, zahlreiche Telefonate zu führen.

Sie waren einem Mann auf den Fersen. Sein Name: Dr. Thomas Hartmann. Bislang waren viele Dinge nicht eindeutig geklärt, aber die wenigen Fakten, die sie tatsächlich besaßen und die Theorien, die sich daraus entwickeln ließen, waren allesamt besorgniserregend und machten die Verfolgung dieses bislang als unbescholten geltenden Mannes dringend erforderlich.

Noch immer schwirrte Mark der Kopf, denn immerhin war er Zeuge geworden, wie das Reetdachhaus von Dr. Hartmann in die Luft geflogen war und dieser sich kurz zuvor abgesetzt hatte. Ganz offenkundig hatte Hartmann unter dem Bann einer Vampirin gestanden, die jene Probe stehlen wollte, die Hinnerk, Sabrina und er Hartmann überbringen sollten.

Als Experte für Mikrobiologie und Biochemie im Dienste des Ordens hatte er die Probe eigentlich untersuchen sollen. Eine Probe bestehend aus… Drachenblut.

Noch immer weigerte sich ein Teil des Hüters, diesen Begriff auch nur gedanklich formulieren zu wollen, doch die Tatsachen sprachen einfach dafür, dass es wohl wirklich der Lebenssaft einer solchen Schreckensgestalt gewesen war, den sie da von Hamburg nach Nordfriesland transportiert hatten.

Mark blickte zu Hinnerk, der schnell und gewandt die englische Sprache nutzend telefonierte, dabei aber zu leise war, als dass der Hüter etwas verstehen konnte.

Mit wem er wohl telefoniert?

Als sich Mark diese Frage stellte, betrat der dritte Bewohner der Suite den Raum und lenkte den Blick des Hüter problemlos auf sich. Sabrina Funke stand im Türrahmen, in eine einfache Jeans und ein ärmelloses Shirt gekleidet, ihre natürliche und frische Ausstrahlung versprühend, und sandte eine stumme Frage an Mark. Der Hüter lächelte der jungen Frau mit dem grazilen Körperbau und den dunklen, kräftigen Locken zu und machte eine einladende Bewegung. Sie kam barfüßig auf die Couch zu, auf der Mark es sich bequem gemacht hatte.

Seit den Erlebnissen im Kyffhäuser waren einige Tage vergangen, ehe jener Anruf erfolgt war, der sie in dieses Abenteuer gestoßen hatte. Mark und Sabrina hatten sich viel unterhalten und der jungen Frau hatte es sichtlich gut getan, sich die erlebten Schrecken von der Seele reden zu können. Immerhin hatte sie mit ansehen müssen, wie ihre beste Freundin von einem Wiedergänger ermordet worden war, und war danach noch bei anderen aufreibenden Erlebnissen im Felsenlabyrinth des Kyffhäusers Zeugin geworden.

Während der Gespräche, die Mark mit Sabrina geführt hatte, war klar geworden, dass sie sich von nun an aktiv in den Kampf gegen die Schwarze Familie einbringen wollte und Mark hatte einsehen müssen, dass sie von diesem Entschluss nicht abzubringen war. Also hatte er zugesagt, sie zu unterstützen und zu unterweisen, mit Hilfe von Hinnerk, verstand sich.

Hart im Nehmen war Sabrina schon, denn davon, dass Dr. Hartmann sie in seinem Haus brutal niedergeschlagen hatte, merkte man kaum noch etwas. Zum einen lag das wohl an ihrer eigenen Widerstandskraft, und zum anderen an der Hilfe, die ihr Hinnerk kurz nach der Rückkehr nach Hüll hatte angedeihen lassen. Die bemerkenswerte Schwellung und die damit verbundene Blauverfärbung ihres Kinns (dort wo Hartmanns Faust sie getroffen hatte) ließen nach einer kurzen, aber intensiven Behandlung durch den vollbärtigen und bauchlastigen Hünen merklich nach und waren nun kaum noch erkennbar. Der Einsatz von abdeckender Camouflage half ebenfalls noch etwas nach.

Sie hatte allen gut gemeinten Argumenten von Marks Seite getrotzt und war im Lear-Jet des Ordens mit nach London gekommen, wohin die einzige verwertbare Spur führte, die Hartmann hinterlassen hatte. Als sie von seinem Flug nach London gehört hatten, hatten sich ihnen einige Fragen aufgedrängt. Was hatte den Wissenschaftler bewogen hierher zu kommen? Warum war er einfach so untergetaucht? Und was war aus der Drachenblutprobe geworden?

„Mit wem telefoniert er?“, wollte Sabrina wissen, als sie sich neben Mark auf dem Sofa niederließ.

Sie zog ihre Beine an und umschloss sie mit ihren Armen, wodurch sie einen verletzbaren und ungeheuer zarten Eindruck vermittelte. Der Anblick behagte Mark, der, bevor er antwortete, ein sanftes Lächeln auf seine Lippen zauberte.

„Keine Ahnung. Und wie ich den alten Haudegen kenne, wird er es uns auch nicht erzählen, wenn er zu Ende telefoniert hat.“

„Falsch geraten, mien Jung“, ertönte die tiefe Stimme hinter Mark, der sofort den Kopf drehte und Hinnerk in die Augen blickte.

„Das war ein alter Freund von mir, der hierher kommt, um uns mit notwendigen Unterlagen zu versorgen, von denen ich hoffe, dass sie uns weiterbringen.“

„Was für Unterlagen?“, wollte Sabrina wissen.

Hinnerk lächelte, ließ sich auf einem gemütlichen Ledersessel nieder und begann sich eine seiner furchtbaren Zigaretten zu drehen.

„Das Material der Archäologen, die das Drachenblut gefunden haben. Es gab vor Ort zahlreiche Inschriften und Zeichnungen, von denen sogar einige gedeutet werden konnten.“

Er befeuchtete das Blättchen.

„Einige, aber nicht alle. Du bist Anthropologe, Mark. Also wäre es doch möglich, dass du vielleicht das eine oder andere mit Dr. Greenes Unterlagen anfangen kannst, oder?“

Marks Augenbrauchen hoben sich.

„Dr. Greene? Dr. Eliot Greene?“

Hinnerk nickte und entzündete den Tabak in seinem gedrehten Luftverpester.

„Eben dieser.“

Mark pfiff leise durch seine Zähne.

„Greene gilt als einer der bedeutendsten Archäologen unserer Tage. Er hat schon bemerkenswerte Funde gemacht, hat in zahlreichen Fachbüchern sein immenses Wissen über frühe Kulturen verewigt, wirft immer neue Fragen auf…“

„… und arbeitet für den Orden“, beendete Hinnerk den von Mark begonnenen Satz.

„Ach, tatsächlich?“

Hinnerk nickte grinsend, produzierte einige neue, übel riechende Wolken und stieß blaugrauen Dunst in den Raum.

„Er ist ein Forscher wie Hartmann. Unabhängig und dezentral arbeitend, wobei dieses Konzept wohl nach den jüngsten Ereignissen eventuell einer Umstrukturierung bedarf, wie ich finde.“

Mark fand das alles sehr interessant, doch gleichzeitig spürte er, dass ihnen die Zeit unter den Fingern verrann.

„Es würde mich wahnsinnig interessieren, weshalb Hartmann sich so einfach abgesetzt hat. Was hat er mit dem Drachenblut vor?“

„Vielleicht will er es in dieses sichere Ordenshaus bringen. Am Hamburger Hafen hast du uns doch davon erzählt.“

Hinnerk schüttelte auf diese Vermutung Marks hin nur ernst den Kopf.

„Neeeee, mien Jung. Von diesem Haus weiß Hartmann gar nichts. So tief ist er nicht in die Geheimnisse des Ordens eingeweiht worden.“

Diese Sache mit den dezentral arbeitenden Wissenschaftlern scheint wirklich nicht besonders gut zu funktionieren, dachte Mark.

Doch er konnte keine dementsprechende Bemerkung machen, da es an der Tür zur Suite klingelte.

„Ah, das wird er sein. Würdest du bitte öffnen, Mark?“

Der Hüter erhob sich vom Sofa, durchquerte den Raum, eilte durch einen riesigen Flur und gelangte zur Tür. Er schielte durch den Spion und erkannte lediglich, dass ein älterer Mann vor der Tür stand. Mark kannte ihn nicht, aber er öffnete dennoch.

Der Mann, der vor ihm stand, war kleiner als er oder Hinnerk, doch er strahlte vom ersten Moment an eine deutliche Autorität aus. Der Fremde war ca. 60 Jahre alt, hatte kurzes, eisgraues Haar und einen ebenfalls grauen, dichten Schnurrbart. Stahlblaue Augen blickten Mark durchdringend an und das kurze Zucken im rechten Mundwinkel sollte wohl so etwas wie ein unverbindliches Lächeln sein.

„Mark Larsen?“

Mark war offen gestanden überrascht, dass der Fremde ihn mit seinem Namen ansprach, aber unreflektiert nickte er zur Bestätigung.

„Ah, Wally. Bitte tritt ein“, dröhnte es hinter Mark aus dem Gesellschaftsbereich der Suite, wo Hinnerk saß.

Der Fremde kam der Aufforderung nach, trat ein und richtete seinen Blick auf Hinnerk. Ein leichter Hauch von Ärger war darin zu erkennen.

„Ich habe dich schon häufiger gebeten, mich nicht Wally zu nennen“, knurrte der Fremde.

Erst jetzt nahm der Hüter wahr, dass er einen breiten Pappkarton bei sich trug, den er in einer abwesend wirkenden Geste an Mark reichte.

„Nicht fallen lassen, junger Mann“, murmelte der Fremde und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung aus seinem Mantel, der dann geschickt an einen der Wandhaken geworfen wurde.

„Äh…“, machte Mark nur, doch der Ankömmling schien ihn nicht beachten zu wollen.

„Oh, ich bitte sehr um Vergebung, Sir Wallace“, entgegnete Hinnerk mit spitzbübischem Grinsen, als Mark den Wohnraum betrat, versehen mit dem schweren Karton.

Mit einem strahlenden Lächeln trat der mit ‚Sir Wallace’ und ‚Wally’ betitelte Mann an Sabrina Funke heran und ergriff galant ihre rechte Hand.

„Es ist mir eine Ehre, Madam.“

Und dann hauchte er der sichtlich erstaunten Sabrina einen Kuss auf den Handrücken.

„Wally, du hast es wirklich drauf.“

Den zornigen Blick, den der Ankömmling auf ihn abschoss, übersah Hinnerk lachend. Mark und Sabrina wechselten Blicke, die Verständnislosigkeit ausdrückten, denn sie wussten mit dem Fremden so gar nichts anzufangen.

„Leute! Das ist Sir Wallace T. Burke, der Leitende Direktor von ‚Treasure Security’, dem ordensinternen Sicherheitsdienst.“

Hinnerks Stimme dröhnte durch den Raum und drückte aus, dass er sich wohl wirklich sehr freute den Ankömmling zu treffen.

„Oh“, machte Mark nur, der den stabilen Karton in seinen Händen betrachtete und dann fragend auf Sir Wallace blickte.

„Das sind die Unterlagen von Dr. Greene“, erklärte Hinnerk schnell.

Sir Wallace nickte und bedachte Mark wiederum mit einem durchdringenden Blick, der dem Hüter sehr unangenehm war.

„Das ist also der neue Hüter?“

Obwohl als Frage gestellt, hörte Mark sehr deutlich heraus, dass es sich eigentlich um eine Feststellung handelte. Der Blick von Sir Wallace war nicht einfach nur durchdringend, nein, viel eher taxierend und skeptisch.

„Allerdings.“

Burke trat einen Schritt auf Mark zu, der immer noch den Karton in Händen hielt.

„Connor Baigent war ein persönlicher Freund von mir, Mr. Larsen. Ich würde also jedwedem Menschen, der als sein Nachfolger eingesetzt wird, skeptisch gegenüberstehen.“

„Verstehe“, meinte Mark nur, der in diesen Augenblicken das Gefühl hatte, in einer unlustigen Komödie die Hauptrolle zu spielen.

„Ich muss mich Mal kurz mit Wally unterhalten. Könntet ihr beiden schon anfangen das Material zu sichten?“

Mark blickte zu Hinnerk, der mit diesen Worten die aufkommende, unangenehme Stille unterbrach.

„Unterhalten? Worum geht es denn?“

„Um Angelegenheiten, die nur einen Ordensmeister betreffen, das versichere ich dir. Diesbezüglich keine Geheimnisse. Es geht um Anweisungen für die ‚TS’.“

Mark lag eine Frage nach Einzelheiten zu diesen Anweisungen auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter und nickte dann gezwungen, als er zu Sir Wallace hinüberschielte.

Der kann mich nicht ausstehen!, ging es ihm durch den Kopf.

„In Ordnung Hinnerk.“

„Danke.“

Hinnerk machte eine einladende Geste zu Sir Wallace, der vortrat, dann jedoch kurz vor Mark verweilte.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, junger Mann. Ich wollte nicht unfreundlich wirken, aber…“, Burke zögerte einen Moment und senkte dabei den Blick, „… Connor war wirklich ein guter… ein sehr guter Freund von mir. Und die sind leider selten.“

Der Hüter merkte deutlich, dass es Sir Wallace schwer fiel darüber zu reden.

„Da haben Sie Recht, Sir Wallace. Ich werde alles nur Erdenkliche tun, um Connor Baigent würdig nachzufolgen. Das versichere ich Ihnen.“

Burke richtete den Blick auf und streckte seine rechte Hand aus. Mark klemmte sich den Karton etwas umständlich unter den linken Arm, was Burke mit einem schmalen Lächeln quittierte, und schlug ein.

„Natürlich können Sie sich auch auf die ‚TS’ verlassen, Sir.“

„Vielen Dank, Sir Wallace.“

Burke presste seine Lippen kurz aufeinander und betrat dann den Nebenraum, in den ihm Hinnerk folgte, der noch ein aufmunterndes Lächeln an Mark sandte. Mark und Sabrina blieben zurück. Die beiden sprachen kein Wort, sondern machten sich sofort daran die peinliche Stille mit eifriger Geschäftigkeit auszufüllen. Und so begannen sie, Dr. Eliot Greenes Unterlagen zu sichten.

***

 Tom Everett hob erstaunt seine Augenbrauen, als er den Geländewagen über das unebene Gelände auf das Camp zufahren sah. Hatte der Führer des Fahrzeugs die Verbotstafeln nicht gesehen?

Der Grund, der zu den Klippen führte, in denen die Höhle der alten Kultstätte zu finden war, war mit gütiger Erlaubnis der Bezirks- und Landesregierung abgesperrt worden, damit das Forscherteam problemlos seine Untersuchungen durchführen konnte. Everett selber hatte ein Dutzend Schilder aufgestellt, die es ausdrücklich untersagten, die dahinter beginnende, unsichtbare Linie zu überschreiten.

Nun gut, Everett war Realist genug, um zu wissen, dass Schilder im Grunde genommen niemanden aufzuhalten vermochten und genau deswegen waren er und Dennis Langdon ja hier. Für die meisten Mitglieder des Teams von Dr. Greene waren die beiden freundlichen Männer nichts weiter als fähige Techniker, die den Zustand der Seilwinde überwachten und auch für die anderen Gerätschaften zuständig waren. Tatsächlich verfügten Everett und Langdon auch über umfassende Kenntnisse diesbezüglich, doch in Wirklichkeit waren sie viel mehr.

Everett und Langdon waren Agenten der ‚TS’, die gewissermaßen Undercover mitarbeiteten (nur Greene war über ihre wirkliche Funktion informiert) und nebenher noch für den Schutz und die Sicherheit vor Ort zuständig waren.

Everett wandte sich leicht nach links, wo Langdon über den Motor der Seilwinde gebeugt stand und die Kontakte überprüfte. So nahe am Meer konnte es schon mal geschehen, dass Feuchtigkeit die Stromleitfähigkeit beeinträchtigte.

„Hey, schau mal“, rief Everett und stellte den Kragen seiner Windjacke hoch.

Obwohl der Sommer allmählich Einzug hielt und sich die Sonne in den letzten Tagen öfters gezeigt hatte, war es immer noch lausig kalt. Langdon schraubte sich zu seiner beeindruckenden Größe von einem Meter fünfundneunzig empor und blickte dorthin, wohin Everett mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand wies. Der Geländewagen peitschte in atemberaubendem Tempo näher und die beiden Männer hörten, trotz des pfeifenden Windes, den gequälten Lauf des Motors.

„Ein Bote vom Orden vielleicht?“

Auf diese Frage Langdons hin schüttelte Everett nur den Kopf.

„Nein, wenn die einen Boten geschickt hätten, hätten wir über das Satellitentelefon Mitteilung darüber erhalten. Ich schätze eher, dass ist ein armer Spinner, der entweder neugierig oder zu blöd ist, die Schilder zu lesen.“

„Oder er ist gefährlich“, fügte Langdon eine dritte Möglichkeit hinzu.

Der Wagen wurde langsamer und rollte nun im Schritttempo auf das Camp zu, welches aus drei großen Zelten bestand, in welchen die Forscher nicht nur schliefen und aßen, sondern auch mit teuren und empfindlichen Gerätschaften ihre komplizierte Arbeit erledigten.

„Gib mir Deckung, Dennis. Ich werde ein paar Worte mit dem Fahrer wechseln. Ein Vampir wird es schon nicht sein.“

Da die Sonne immer wieder zwischen den dahin ziehenden Wolkenbergen zum Vorschein kam und ihre hellen Strahlen erdwärts sandte, lag Everett mit dieser Bemerkung wohl vollkommen richtig.

Dennis Langdon schob sich etwas seitlich an die Wand eines der Zelte heran und lockerte unauffällig den Sitz seiner Smith & Wesson Sigma 40 im Schulterhalfter unter seiner Jacke. Everett trat, mit einem freundlichen Lächeln versehen, auf den Wagen zu, der just in diesem Moment zum Stillstand kam. Noch ehe der breitschultrige Mann mit der auffälligen Kerbe im Kinn näher herankommen konnte, wurde die Tür auf der Fahrerseite aufgestoßen. Everett und sein Kollege zuckten bei dem metallischen Knall förmlich zusammen.

Dann federte eine hoch gewachsene Gestalt ins Freie. Es war ein Mann mit schütterem Haar und deutlichem Bauchansatz über dem Gürtel. Dr. Thomas Hartmann.

„Guten Tag, Sir“, grüßte Everett, der stehen geblieben war und den Fremden musterte.

„Ich schätze, Sie haben sich verfahren. Dies ist archäologisches Sperrgebiet.“

Ohne etwas zu erwidern, umrundete Hartmann den Geländewagen und schritt kraftvoll und zielsicher auf Everett zu, der mit solch einem Verhalten nicht gerechnet hatte.

„Sir?“

Hartmann zögerte keine Sekunde, schritt weiter selbstsicher aus und näherte sich weiterhin Everett. Dessen rechte Hand fuhr unter die Jacke, unter der er die gleiche Pistole wie Langdon trug, und umklammerte den Griff.

„Stehen bleiben!“, herrschte er Hartmann nun überhaupt nicht mehr lächelnd und freundlich an.

Doch Hartmann blieb nicht stehen. Im Gegenteil! Er wurde zu einem rasenden Schatten, wirbelte plötzlich um seine eigene Achse und federte um Everett herum. Die Worte aus dessen Mund waren noch nicht einmal richtig verklungen, als Hartmann sich hinter ihm befand und blitzschnell mit seinem Ellenbogen zustieß.

Es lag eine immense Kraft in dem Stoß und Hartmann traf höllisch genau einen Bereich in Höhe des zweiten Halswirbels. Everett hörte noch das Bersten des Wirbels, registrierte aber keinen Schmerz mehr. Tot sackte er zu Boden.

Langdon stieß einen Schrei aus, riss die Sigma hervor und wollte feuern, doch da war Hartmann schon bei ihm und stieß dem ‚TS’-Agenten Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Kehle. Es gab ein ekelhaft schmatzendes Geräusch, als Hartmann die Luftröhre von Langdon zerfetzte, und während sich dessen Mund mit Blut füllte und nur noch ein Gurgeln erklang, fiel die Pistole zu Boden.

Fast beiläufig zog Hartmann seine Finger aus dem Loch in Langdons Hals, aus dem sich nun Blut wie ein rotes Rinnsal über die Kleidung und den Boden ergoss. Er trat an dem schwankenden ‚TS’-Agenten vorbei und kümmerte sich nicht weiter um ihn, denn er würde schon umfallen.

Und tatsächlich. Als Hartmann die Seilwinde erreicht hatte und eine kurzen, unbeeindruckten Blick in die steile Tiefe der Klippenwand warf, brach Langdon zusammen und regte sich nicht mehr. Ein kurzes Lächeln umspielte die Lippen Hartmanns. Er war so gut wie am Ziel und bald würde er seiner Bewährungsprobe entgegentreten können.

„Bald“, hauchte er und ein goldener Schimmer legte sich für einige Sekundenbruchteile über die dunkle Farbe seiner Augen.

Deutlich fühlte er die Nähe der Flamme und wusste genau, dass die letzte Prüfung, der er sich stellen musste, kurz bevorstand. Ohne weiter zu zögern, machte Hartmann sich daran, in die Tiefe zu steigen.

 ***

 Baile Atha Cliath hieß übersetzt „Ort an der Furt an der Schilfhürde“. In der Gegenwart war er allerdings besser bekannt unter dem Namen Dublin, abgeleitet vom alten Dubh Linn, was so viel bedeutete wie "Schwarzer Tümpel" oder "Sumpf". Doch wie auch immer man ihn nannte: Er war ein Ort von besonderem Reiz.

Zahlreiche altertümliche Bauten, wie z. B. die St Patrick’s Cathedral, warteten hier darauf, erforscht und bewundert zu werden. Es gab vieles zu sehen in der Hauptstadt der Republik Irland, doch leider war es den drei Besuchern aus Deutschland nicht vergönnt, sich diesen Reizen hinzugeben. Sie würden nicht dazu kommen, das "Guinness Store House" oder das "National Wax Museum" zu besuchen. Auch ein Gang über die berühmte „Half Penny Bridge“, würden sie nicht unternehmen können. Eine von Dringlichkeit geprägte Reise hatte sie von London hierher in die knapp 500 000-Einwohner-Metropole geführt, denn vor wenigen Stunden hatten sie erkennen müssen, wie brandgefährlich jener Dr. Thomas Hartmann werden konnte.

Etwas über eine Stunde, nachdem Sir Wallace das Hotel verlassen hatte, war Mark auf einen von Dr. Greene übersetzten Text gestoßen, der ihm buchstäblich die Augen geöffnet hatte. In diesen Minuten, als er aus dem Taxi stieg, das sie direkt vom Dubliner Flughafen hierher auf dieses abgelegene Flugfeld gebracht hatte, ging ihm die Szene im Hotel noch einmal durch den Kopf.

Er hatte in einer dunkelgrünen Kladde geblättert und einige handschriftliche Notizen Greenes überflogen, die darin als Kopien abgeheftet worden waren. Der Text hatte sich auf eine in den Fels gravierte Inschrift bezogen, die für den Archäologen und dessen Leute vor Ort keinerlei Bedeutung zu haben schien, Mark und seine Freunde im Hotel aber in höchste Alarmbereitschaft versetzte.

„Hört euch das mal an“, hatte Mark gerufen und unter Sabrinas und Hinnerks aufmerksamen Blicken begonnen, laut zu lesen.

„Und dem letzten großen Hohepriester wird folgen eine lange Zeit der Stille, in der der Name unseres Höchsten und lebendigen Herrn Khar’Aagan nicht oder nur flüsternd ausgesprochen werden soll. In dieser Zeit wird der lebendige und kraftvolle Glauben unserer Vereinigung unter dem Staube der Epochen, die da kommen mögen, verborgen, ja sogar vergessen werden. Doch untergehen wird er nicht, denn das letzte Erbe des Höchsten wird unvergänglich ruhen und warten auf den Tag, an dem ein Auserwählter kommen mag und den Geist, den Willen und die Kraft Khar’Aagans in sich aufnimmt. Wenn das Blut des Höchsten sich mit dem des Auserwählten vermischt, wird unser Glauben zu neuer Blüte gelangen können.“

Dieser Text bot zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten, doch für die drei Freunde war eines ziemlich gesichert. Hartmann befand sich im Bann des Drachenblutes und folgte nun einer damit verbundenen Bestimmung. Der Text war noch weitergegangen:

„Der Weg wird den Auserwählten zum Herz unseres Glaubens, zum Kern unserer Zusammenkünfte führen und dort wird er die Zeichen sehen, welche ihm helfen sollen, weitere Gläubige zu finden und würdige Hilfe zu erlangen.“

„Der Weg wird ihn zur alten Kultstätte führen“, hatte Hinnerk gemutmaßt.

„Wenn das Blut irgendwie in ihn hineingelangt ist“, hatte Mark mit bekümmerter Miene präzisiert.

Aber trotz dieser Worte, war keiner im Raum noch skeptisch gewesen. Keiner von ihnen hatte zwar mitbekommen, dass sich das Blut aus der Probe mit dem von Hartmann gemischt hatte, aber der Ablauf der zurückliegenden Geschehnisse, bot zahlreiche Möglichkeiten, genau das zu vermuten.

Eine gewisse Hektik war ausgebrochen, nachdem der Text vorgelesen worden war. Während Sabrina und Mark das allernotwendigste Gepäck zusammengesucht hatten, hatte Hinnerk erneut zum Telefon gegriffen und einige Gespräche geführt, die jedoch alles andere als erfreulich gewesen waren.

„Es ist niemand im Camp von Dr. Greene zu erreichen.“

Mark hatte tief Luft geholt.

„Das hat nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Ihre Handys…“

Hinnerk hatte energisch mit dem Kopf geschüttelt.

„Die sind da draußen im Feld besser ausgerüstet, als manche Dienststelle des Geheimdienstes hier in London. Nein, nein, der Grund dafür, dass sich dort keiner meldet ist der,…“

Hinnerk hatte kurz innegehalten und ein trauriges Gesicht gemacht.

„… dass sie sich wohl nicht mehr melden können.“

„Du meinst  …

Hinnerk hatte unschlüssig den Kopf gewiegt, als Sabrina ihre Frage unausgesprochen ließ, doch für Mark hatte es eher wie ein verunglücktes Nicken ausgesehen.

Und nun waren sie hier, irgendwo außerhalb von Dublin, und näherten sich einer windschiefen Wellblechbaracke, die das Zentrum des inoffiziellen Flugfeldes bildete. Wie ein solches sah es eigentlich gar nicht aus. Viel eher hatte Mark den Eindruck, er würde einen Schrottplatz betreten, auf dem überwiegend alte Flugzeugteile und ‑überreste herumgammelten.

„Wie heißt der Kerl noch mal, den wir hier treffen sollen?“, fragte Mark zum wiederholten Male und ließ seinen misstrauischen Blick umherwandern.

„Steven Curleigh“, lautete die eintönige Antwort Hinnerks, der entschlossen auf die verbeulte Metalltür zutrat und seine breite Faust wuchtig dagegen schlug.

Es dauerte nur einen Moment, da öffnete sie sich quietschend und einer der seltsamsten Männer, die Mark bis dahin gesehen hatte, trat ins Freie. Er trug eine lederne Fliegerjacke mit Fellkragen, welche über und über mit Anstecknadeln und Abzeichen versehen war. Curleigh ‑ und Mark ging einfach davon aus, dass es sich um eben diesen handelte ‑ war spindeldürr und von enormer Körperlänge. Sein Gesicht war lang und hager und am Kinn erkannte Mark einen dünnen, gezwirbelten Bart von graublonder Farbe. Curleigh trug eine eng anliegende, englische Reiterhose und dazu passende Lederstiefel und hatte eine Fliegerkappe auf dem Kopf, wie sie auch Bomberpiloten während des Zweiten Weltkriegs getragen hatten. In seinem Mundwinkel steckte eine Zigarettenspitze, an deren Ende noch ein verkümmerter Stummel qualmte.

„Wer macht hier solch einen Lärm, zu dieser nachtschlafenden Zeit?“ polterte Curleigh und baute sich bedrohlich (wie er nun überhaupt nicht wirkte) vor Hinnerk auf, der dennoch einen Schritt zurückwich.

Sowohl Hinnerk als auch Mark mussten ihre Köpfe in den Nacken legen, um in das blasse Gesicht des Piloten zu blicken, der ihnen wärmstens von James, dem Butler, empfohlen worden war.

„Wenn es jemanden gibt, der Sie schnellstmöglich nach Donegal Bay bringen kann, dann ist es Steven Curleigh“, hatte der Butler gemeint, als Mark in Hüll angerufen hatte, um sich zu erkundigen, wie es Christine ging und einen kleinen allgemeinen Bericht zu liefern.

„Curleigh?“

„Ja, Sir. Ein alter Kamerad aus meinen Zeiten bei der Royal Air Force. Wenn Sie tatsächlich einen Piloten brauchen, der Sie ohne viel Aufsehens zu den Klippen bringen soll, dann würde ich empfehlen, ihn aufzusuchen. Er ist zwar etwas  … gewöhnungsbedürftig, aber er ist zuverlässig und ein echtes Flieger-As.“

Mark hatte nicht nachfragen können, was James mit "gewöhnungsbedürftig" meinte, aber jetzt, da er vor Curleigh stand und dieser aus dunkel umränderten Augen auf ihn und seine Freunde hinabstarrte, ahnte er es zumindest.

„Sind Sie Mr. Steven Curleigh?“

Ein breites Lächeln zeigte sich auf den dünnen Lippen des Piloten und ein verträumter Ausdruck entstand in seinen Augen.

„Oh ja, genau: Der Meister der Lüfte, der Baron des Fliegens, der Tausendsassa weit über der Erde, der Reiter des Himmels…“

„Sind Sie Steven Curleigh, oder nicht?“

Mark unterbrach Curleighs Intonation über sich selber und ein strafender Blick war die Folge.

„Natürlich. Aber wer fragt das?“

Hinnerk trat wieder einen Schritt nach vorne und stellte sich und seine beiden Begleiter vor. Außerdem erklärte er, wer sie schickte.

„Ach, der gute alte James, tss, tss, tss“, meinte Curleigh nur und sog an seiner Zigarettenspitze, in der sich nur noch der mittlerweile erkaltete Rest einer Zigarette befand.

„Er war mir immer ein guter Freund und ein bemerkenswerter Kamerad. Ein hervorragender Flieger, aber…“

Das letzte Wort grollte aus seinem Mund.

„… er schuldet mir immer noch 10 Pfund. Die habe ich nie von ihm zurückbekommen.“

Mark seufzte. Er bezweifelte ernsthaft, dass mit Curleigh etwas anzufangen war, und die Sekunden verstrichen unbarmherzig. Sie mussten los! An den Klippen von Donegal Bay braute sich schlimmes Unheil zusammen.

„Die können Sie von uns erhalten und zusätzlich noch so viel Geld, wie sie verlangen, wenn Sie uns nach Donegal Bay fliegen.“

Hinnerks Erklärung ließ erkennen, dass sogar er nicht mehr bereit war, weiteren Schabernack zu dulden.

„Zahlende Kunden sind Sie?“, fragte Curleigh plötzlich und alle Verspieltheit und Träumerei war aus seinen Augen verschwunden.

„Ja, allerdings, aber nur, wenn Sie uns schnellstmöglich nach Donegal Bay bringen.“

Hinnerk kramte ein zerknittertes Blatt Papier aus der Tasche. Es war eine kleine Karte mit Zahlenangaben.

„Genau hierhin müssen wir.“

Curleigh schnappte sich das Papier und studierte es eine halbe Minute lang konzentriert. Dann blickte er auf und musterte die drei Freunde eingehend.

„Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?“

Vorwurfsvoll waren diese Worte an sie gerichtet.

„Abflug in fünf Minuten. Und nicht trödeln.“

Mit diesen Worten verschwand Curleigh und verfiel in hektische Aktivität. Es galt einen Flug vorzubereiten. Verdutzt blieben Mark und seine Freunde zurück.

„Scheint ein ziemlicher Spinner zu sein“, meinte Sabrina lächelnd und kopfschüttelnd zugleich.

„Allerdings, aber wenn James meint, dass er zuverlässig und ein sehr guter Flieger ist, dann glaube ich ihm natürlich.“

Mark schloss sich Hinnerks Meinung an. Wohl fühlte er sich trotzdem nicht. Auch wenn Curleigh wohl ein hervorragender Pilot war. Auch wenn sie jetzt nach Donegal Bay aufbrachen. Die Vorstellung, was sie dort vorfinden konnten, machte ihm wirklich Angst. Schreckliche Angst sogar!

***

 Plötzlich hatte er da gestanden!

Eliot Greene hatte fasziniert in die flackernde Flamme geblickt, die anscheinend ohne jeden Grund über der steinernen Fläche des Altars schwebte. Die anderen hatten einen Halbkreis um den Archäologen und den Altar gebildet und dabei zugesehen, wie Greene seine ersten Untersuchungen durchführte. Doch die waren im Sande verlaufen, denn Greene konnte nichts finden, was der Flamme als Nahrung diente.

Wieso brannte sie dennoch? Und warum war sie erst jetzt entstanden?

Greene dachte an den Text, den er übersetzt hatte, und aus dem hervorgegangen war, dass dereinst ein Auserwählter kommen würde, um den alten Kult neu zu beleben. Konnte das alles damit zu tun haben?

Natürlich wusste der Archäologe um die besondere Bedeutung des Ordens, in dessen Auftrage er hier tätig war, doch so richtig hatte er sich nie mit den Möglichkeiten von Magie oder Okkultismus abfinden können. Zugegeben, er war schon Zeuge von Merkwürdigkeiten geworden, die sich nicht auf Anhieb hatten erklären lassen, aber dahinter sogleich etwas Übernatürliches zu vermuten, wäre Greene niemals in den Sinn gekommen.

Und nun? Wie verhielt es sich mit diesem Phänomen?

Eben noch hatte er sich erhoben und einige Worte an seine Mitarbeiter richten wollen, als er die Gestalt aus der Richtung des Höhleneingangs hatte kommen sehen. Everett oder Langdon? Nein, denn als die Gestalt weiter vortrat, hatte er erkennen können, dass es sich um einen Fremden handelte, der da mit geschmeidigen Bewegungen ins Innere der Höhle vordrang.

„Wer…

Weiter kam Greene nicht, denn schon umklammerte der Fremde den Nacken einer jungen Frau aus dem Team namens Tanya und brach ihr Genick lediglich durch Zusammendrücken der Finger!

Ian Shakleton wirbelte herum, sah wie die zierliche Tanya tot zusammenbrach und stieß einen lauten Schrei aus, der nun auch die anderen Mitglieder des Teams warnte und aktivierte. Thomas Hartmann reagierte wiederum blitzartig.

Seine geballte Faust stieß vor, traf den Mann, der neben Petula stand, direkt am Kinn und riss ihm den Schädel vom Hals. Mit schockgeweiteten Augen erkannte Greene, wie Knochenfragmente und Blutstropfen durch die Luft rasten und seine Frau seitlich am Kopf trafen und in schauerlichem Rot nässten. Petula selber wurde durch den Stoß von Hartmanns flacher Hand mehrere Meter weit durch den Höhlenraum geschleudert und prallte mit markerschütterndem Laut gegen den verarbeiteten Fels. Reglos blieb sie liegen, während Shakleton keuchend zu Boden gerungen wurde, als Hartmanns Linke seine Kehle umklammerte.

Endlich löste sich die Starre aus Greenes Leib und er sprang vor, doch nur, um sich einen Sekundenbruchteil später auf dem Boden wieder zu finden, wohin ihn ein schwungvoller Hieb des Angreifers verfrachtet hatte. Benommen musste Greene aus seiner liegenden Position am Fuße des Altars erkennen und miterleben, wie Shakleton mit zerfetzter Kehle in einer Lache aus seinem eigenen Blut liegen blieb und wie der Fremde den letzten noch aktiven Angreifer ‑ er hieß Sullivan ‑ mit seiner Hand in der Leibesmitte durchbohrte.

Greene keuchte entsetzt, als er die blutige Faust des Fremden seitlich von Sullivans Wirbelsäule aus dem Rücken staken sah und versuchte verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen. Doch der Schmerz ließ das nicht zu. Greene war kaum in der Lage einen Finger zu rühren und obwohl die Wucht des Schlages, der ihn niedergestreckt hatte, groß gewesen war, spürte er dennoch, dass da noch etwas Anderes in ihm wirkte und jene Lähmung hervorrief.

Der Fremde trat an dem toten Sullivan vorbei, den er wie einen überflüssigen Handschuh abgestreift hatte, und schaute nun auf die Altarplatte, auf der immer noch die Flamme tanzte. Ein zufriedenes, breites Lächeln entstand auf seinen Mundwinkeln, und ein begehrliches Leuchten war in seinen Augen zu erkennen. Greene kam es sogar vor, als würden die Augen des Fremden regelrecht golden schimmern, aber das konnte auch täuschen. Der Fremde blickte zu Greene herab, der ihn stumm anblickte.

„Sie werden sich sicher fragen, was ich hier will, oder weshalb diese Flamme entstanden ist, nicht wahr?“

Greene hätte den Kopf geschüttelt, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, doch so konnte er nur wortlos zurückstarren.

„Hier und heute findet etwas ‑ aus Ihrer Sicht zumindest ‑ sehr Altes seinen Abschluss. Und gleichzeitig ist es der Beginn für etwas vollkommen Neues.“

Hartmann grinste den zur Unbeweglichkeit verdammten Archäologen kalt an.

„Und Sie sollten stolz darauf sein, Zeuge davon zu werden.“

Nach diesen Worten trat Hartmann vor und stieß ein durchdringendes Brüllen aus, wie es eigentlich unmöglich von einem Menschen erzeugt werden konnte. Im selben Moment vergrößerte sich die Flamme auf dem Altar, wie Greene aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Sie wurde mannshoch, wurde dunkler und strahlte nun ein blutiges Rot nach allen Seiten hin aus, das die Erscheinung von Thomas Hartmann noch unheimlicher wirken ließ. Dann bog sie sich in der Mitte vor und stob dem Besessenen mit einem aggressiv anmutenden Fauchen entgegen!

Hartmann schrie vor Begeisterung auf, als sein Körper im Nu von Flammen umgeben war und er wie eine Fackel zu brennen begann.

***

 Zumindest in einer Hinsicht hatte sich das ungute Gefühl verzogen. Mark erkannte sehr schnell, dass Steven Curleigh ein begnadeter Pilot war und man sich vollkommen auf ihn verlassen konnte. Souverän lenkte Curleigh den großen Hubschrauber von Dublin aus in Richtung Nord-Westen. Hinnerk, Sabrina und der Hüter nutzten die Gelegenheit sich noch einmal zu besprechen und ihr weiteres Vorgehen zu planen.

„Wir sondieren erst einmal die Lage im Camp“, schlug Hinnerk vor, der, versehen mit dem wuchtigen Kopfhörer auf seinem Kopf, irgendwie völlig fremd wirkte.

„Gute Idee. Immerhin kann es ja sein, dass Hartmann noch nicht da ist, und dann wäre es nicht sehr klug, die Pferde scheu zu machen“, erwiderte Mark.

„Gut, wenn wir Gelegenheit erhalten, uns mit Greene zu besprechen, können wir vielleicht Vorkehrungen treffen, die Hartmann daran hindern, in die Höhle zu gelangen.“

Sabrina und Mark waren derselben Meinung.

„Okay, aber wenn Hartmann schon da ist und vielleicht sogar gegen die Forscher vorgegangen ist, dann…“

„Aber du sagtest doch, zwei Agenten der TS wären dort“, unterbrach Sabrina die Ausführungen Hinnerks.

„Schon richtig, aber auch, wenn diese Leute gut sind, so sind sie nicht unbesiegbar. Ich habe mit Sir Wallace telefoniert, ehe wir abgeflogen sind. Die Zentrale der TS erhält keine Verbindung zu den beiden Agenten vor Ort. Man befürchtet das Schlimmste.“

„Schicken sie Verstärkung?“

Hinnerk nickte.

„Aber die wird nicht vor uns ankommen, eher einige Stunden später. Wir sind die einzigen, die noch die Möglichkeit haben, etwas zu erreichen.“

Mark blickte aus den seitlichen Sichtöffnungen. Unter ihnen zog die bisweilen wildromantische Landschaft Irlands dahin. Laut Curleigh würden sie ihr Ziel in knapp einer Stunde erreicht haben.

„Also wenn Hartmann das Zepter übernommen hat und tut, was immer er tun muss, so werden wir wohl nachhaltig und vielleicht sogar unter Einsatz von Gewalt eingreifen müssen“, vollendete Hinnerk seine vorhin begonnene Erklärung.

Mark nickte düster und dachte an seine Makarov-Pistole, die er im Schulterhalfter unter seiner Sportjacke bei sich trug. Ob deren Kugeln bei Hartmann etwas erreichen konnten? Irgendwie bezweifelte Mark das gründlich. Und auch dem Kruzifix, dass er als Ersatz, für das im Schobüller Wald verlorene bei sich trug, traute er nicht zu, tatsächlich nachhaltigen Eindruck bei dem Wissenschaftler zu hinterlassen. Immerhin war er kein Vampir, sondern ein Mensch, den magisches Drachenblut verändert hatte. Mark setzte seine Hoffnungen insgeheim auf Hinnerk, der wohl mehr als ein normaler Mensch war.

„Könntest du Hartmann in einer direkten Auseinandersetzung stoppen?“ fragte Mark seinen Freund.

Hinnerk atmete tief durch, wandte kurz den Blick in die andere Richtung und sah nach draußen.

„Das kann ich dir wirklich nicht sagen, Mark. Wie ich ja schon erwähnt habe, waren Drachen sehr, sehr mächtige Geschöpfe. Gewaltige magische Energien machten sie nahezu unverwundbar. Herkömmliche und auch sehr viele magische Waffen erzielten nur geringe Effekte bei ihnen und vermochten sie kaum aufzuhalten.“

Mark schluckte hart und auch Sabrina wirkte sehr besorgt nach diesen Worten.

„Wenn Hartmann tatsächlich vom Drachenblut gelenkt wird und dieses Blut auch nur einen Bruchteil der Kraft eines wirklichen Drachen in sich trägt, dann werde ich es sehr, sehr schwer haben. Wir werden vielleicht improvisieren müssen.“

„Oder sogar untergehen, was?“

Mark wollte wahrhaftig nicht unken, aber die Aussicht, mit einem Mann kämpfen zu müssen, der seine Kraft von etwas so Starkem bezog, schuf einen unangenehmen Kloß in seinem Magen.

„Auf jeden Fall müssen wir in die Höhle. Das ist erst einmal unsere wichtigste Aufgabe“, erklärte Hinnerk.

In der nächsten halben Stunde sprachen die drei Freunde kaum noch miteinander.

Irgendwann erreichte der Hubschrauber die westliche Küstenlinie und bog scharf nach rechts ab, um sich dem eigentlichen Zielpunkt von Süden her zu nähern. Mark entdeckte die gezackt verlaufenden Felsformationen unter sich. Aus dieser Höhe wirkten sie nicht so gewaltig hoch und bedrohlich, sondern nur eben grau und unregelmäßig, ja fast sogar ein wenig unscheinbar. Aber weder der Hüter, noch seine Freunde ließen sich darüber hinwegtäuschen, dass von diesen steilen Klippen eine immense Gefahr ausging.

„Ich schätze, wir werden unseren Zielpunkt in knapp zehn Minuten erreicht haben, Leute“, meldete sich Curleigh aus dem Cockpit über die interne Funkverbindung.

Marks Mund trocknete scheinbar schlagartig aus. Er fühlte sich elend, denn das Aufeinandertreffen mit Hartmann stand wohl nun unmittelbar bevor. Sofern sie sich mit all ihren Theorien und Hypothesen nicht geirrt hatten. Und daran wollte Mark, auch wenn er es gern getan hätte, nicht glauben.

Curleigh hielt den Hubschrauber in einer Höhe von knapp dreißig oder vierzig Metern über den Formationen, die die tosenden Gewalten des Meeres über Jahrmilliarden in den Felsen geschlagen hatten. Mit Sicherheit waren die Klippen von Donegal Bay sehenswert und eine Reise hierher hätte sich wohl in jedem Fall gelohnt, doch leider war es weder Mark noch seinen Freunden vergönnt sich privat umzusehen.

„Ich kann da das Camp, von dem Sie berichtet haben, erkennen.“

Hinnerk blickte nun konzentriert durch die Sichtscheibe der Seitentür. Auch Mark lugte hinaus, wobei er sich dicht an seinen Freund heran schieben musste.

„Sieht unbelebt aus“, meinte Mark nach einem ersten Überflug.

„Unbelebt ist gut“, brummte Hinnerk ernst. „Hast du die beiden  Gestalten nicht gesehen, die da liegen?“

Obwohl Mark gute Augen hatte, waren sie ihm tatsächlich entgangen, und er schüttelte den Kopf.

„Gehen Sie runter, Curleigh, aber halten Sie den Rotor am Laufen, ja?“

„In Ordnung, Mr. Lührs, aber bedenken Sie, dass sich eine massive Schlechtwetterfront landeinwärts schiebt.“

Auch Mark hatte von Westen her schon die monströsen Wolkenmassen entdecken können und bemerkt, dass der zunehmende Wind den Hubschrauber oft erfasst und geschüttelt hatte. Gekonnt drehte Curleigh eine Runde und landete knapp zwanzig Meter abseits des Zeltlagers, auf dem Plateau, welches zu den Klippen führte. Mit einem leichten Ruck kam die Maschine auf und Hinnerk zog sofort die Schiebetür zur Seite.

„Du wartest hier und gibst uns Deckung“, wies er Sabrina an, die, wenn sie etwas hätte erwidern wollen, bemerkenswert ruhig blieb.

Sie nickte schnell und Mark war erleichtert, dass sie in diesem Fall vernünftig reagierte. Hinnerk und er sprangen ins Freie, zogen den Kopf unter dem Dröhnen des gewaltigen Rotors zwischen die Schultern und sprinteten, so gut sie konnten, dem Lager entgegen. Jetzt war es für Mark kein Problem mehr die beiden reglos am Boden liegenden Personen zu entdecken. Es waren zwei Männer und sie waren offenkundig tot. Bei dem einen war der Kopf in absurd erscheinender Weise verdreht und glanzlose Augen starrten Mark entgegen, und der andere hatte ein erschreckendes Loch im Hals.

„Das sind die beiden TS-Agenten, ich erkenne sie“, rief Hinnerk gegen den Lärm des Hubschraubers an.

„Sieh mal, eine Stahlseilwinde“, brüllte Mark und deutete auf das am Klippenrand verankerte Gerät.

Sie huschten hinüber, passierten dabei die Zelte, deren Bahnen im künstlich erzeugten Wind knatterten. Mark registrierte nur unbewusst die zahlreichen Gerätschaften im Inneren, die in ein gut ausgerüstetes Labor gepasst hätten. Dann standen sie bei der Winde, deren Seil eingerollt war, und an deren Ende sich ein Gurtgeschirr befand, in das man hineinsteigen konnte.

„Damit lassen sich die Forscher wohl zur Höhle herunter.“

Mark nickte stumm.

„Ich schätze, Hartmann hatte das Gerät nicht nötig, um dort herunter zu kommen“, mutmaßte er.

„Er ist wohl doch gefährlicher, als ich dachte. Das wird kein leichter Ritt, mien Jung.“

Mark war derselben Meinung.

„Das Problem ist, wie wir beide zusammen in die Höhle kommen. An der Winde kann man nur einen einzelnen Menschen herunterlassen. Aber allein hat wohl keiner von uns beiden eine gute Chance gegen Hartmann, vermute ich mal.“

„Ändert aber nichts, Mark. Ich werde mich als erstes herunterlassen. Ich kann Hartmann höchstwahrscheinlich länger aufhalten als du.“

Mark blickte für einen Moment zum Hubschrauber herüber. Ein alter Hubschrauber der Küstenrettungswacht, dachte er. Und dann hatte er einen Einfall!

***

 Greenes Lähmung hatte langsam etwas nachgelassen und unter unsäglichen Mühen war der Archäologe zu seiner reglosen Frau gekrochen - fort von dem brennenden und irrsinnig lachenden Mann. Scheinbar nach einer Ewigkeit war er bei Petula angelangt. Ein Blick in ihre glasigen, weit aufgerissenen Augen hatte ihm jedoch gezeigt, dass jedwede Hoffnung umsonst gewesen war. Sie war tot!

  Er hatte durch die bitteren Tränen, die er weinte, nicht sehen können, wie das flammende Bündel mit entfernt menschlichen Umrissen zu einem glutroten Kokon umgeformt wurde, der nach endlos erscheinenden Minuten in sich zusammenfiel und sich auflöste.

Hervor trat eine hoch aufgerichtete Gestalt, die von einem leicht goldenen Schein umgeben war.

Es war Thomas Hartmann, doch wie sehr hatte er sich verändert. Er war immer noch hoch gewachsen, doch die verweichlichte Dickleibigkeit war von ihm abgefallen und sein nackter Körper wirkte muskulös und drahtig wie bei einem Spitzensportler. Das Haar war nun dicht, schulterlang und von pechschwarzer Farbe, sah man von dem goldenen Schimmer einmal ab.

„Ahhhhhhh“, stöhnte Hartmann und ein zufriedenes Lächeln gab seinen neuen, schlanken Gesichtszügen einen diabolischen Unterton.

Während Aschereste, die wohl Überbleibsel seiner Kleidung waren, zu Boden rieselten, trat Hartmann auf den Archäologen zu, dessen Klagelaute in dem lauter werdenden Tönen des heraufziehenden Unwetters untergingen.

„Ich danke Ihnen sehr. Mit Ihrer Expedition hierher haben Sie es ermöglicht, das Erbe von Khar’Aagan zu reaktivieren.“

Während Hartmann sprach, begannen die Felswände der Kuppel golden zu leuchten und einen gespenstischen Schimmer auf die beiden Männer und die Leichen zu werfen.

Die Gravuren und Zeichnungen verformten sich im Licht und bildeten nun Symbole und Schriftzüge, die Greene selbst unter normalen Umständen niemals hätte identifizieren und lesen können.

Nicht so aber Thomas Hartmann ‑ der neue Erwählte des Götzen Khar’Aagan.

Seine Augen, die ebenfalls in Gold getaucht zu sein schienen, tasteten die neuen Formationen, die ihn umgaben, in rasender Geschwindigkeit ab und lasen darin Informationen, die hilfreich für ihn sein würden. Hartmann nahm sie in immer schneller werdendem Tempo in sich auf und sein Lächeln wurde schon bald zu einem fast verzerrt anmutenden Grinsen. Dr. Greene interessierte ihn schon längst nicht mehr.

Der hockte immer noch zusammengesunken neben seiner toten Frau und schüttelte den Kopf in fassungsloser Trauer. Und dann erlosch das Licht, der Schein der aufgestellten Laternen übernahm wieder die Herrschaft über die Höhle und der muskulöse Brustkorb Hartmanns hob und senkte sich schnell und voller Zufriedenheit.

„Ich werde jetzt gehen“, sprach Hartmann, der neue Verkünder des Drachenkults.

„Ich werde gehen und die Getreuen aus dieser Zeit um mich scharen und Khar’Aagans Worte in die Welt tragen.“

Greene hörte kaum zu. Er weinte, weinte bitterlich und herzzerreißend ob der einzig wahren Liebe, die ihm genommen worden war.

„Seien Sie nicht traurig, mein Lieber. Ich werde Sie wieder mit ihr zusammenbringen!“

Hartmanns letzter Satz wurde von einem hässlichen Lachen abgeschlossen und gleichzeitig hob er seine rechte Hand, an der die Fingernägel in schauriger Weise zu wachsen begannen. Sie wurden zu langen, leicht gebogenen Krallen, in denen auch etwas von dem unheilvollen Goldschimmer zu erkennen war. Doch Hartmann kam nur zum Ausholen, nicht zum wirklichen Schlag. Im nächsten Moment funkte es bläulich-weiß und ein strenger Ozongeruch erfüllte die Luft in der Kuppel.

Hartmann spürte einen harten Schlag zwischen seinen Schulterblättern, dann ein Stechen und als nächstes einen übermächtigen Schmerz, der ihm sogar einen Schrei von den Lippen riss. Von brutaler Wucht getroffen wurde er vorwärts geschleudert, prallte hart gegen die Wand und kreiselte noch im selben Moment angriffslustig herum. Seine Augen fixierten den Zugang zur Kuppel, wo zwei Männer standen. Der eine war von einer sanft schimmernden, bläulichen Aura umgeben und funkelte ihn aus dunklen Augen an. Er war groß und wuchtig mit gewaltigem Bauchumfang. Hinnerk Lührs. Und neben ihm stand ein Mann, der wie das Idealbild eines Wikingers aussah.

Der letzte Hüter des Ordens. Mark Larsen.

Sofort erkannte Hartmann in ihm den Mann aus der Nacht in Schobüll wieder und ein wildes Fauchen drang aus seiner Kehle. Nun würde er doch noch eine Gelegenheit erhalten, der Verlockung einer Herausforderung von vor knapp drei Tagen nachgeben zu dürfen. Er würde sich diesem Mann und seinem Freund stellen.

Die letzte Prüfung, um Khar’Aagans Geist zu empfangen, die Feuerweihe, war vielleicht bestanden worden, doch jetzt ging es gegen die erste wirkliche Herausforderung.

Hartmann nahm sie gerne an.

***

 „Vorsicht!“

Mark spürte wieder jenes Reißen und Kribbeln im Nacken und wusste daher, dass eine unmittelbare Gefahr kurz bevor stand. Hinnerk nickte kaum merklich. Die beiden Männer hatten sich gleichzeitig abgeseilt und waren kurz hintereinander ins Innere der Höhle vorgedrungen. Mark war mit der Seilwinde der Forscher in die Tiefe geglitten, während Hinnerk durch die alte Abseilvorrichtung des Hubschraubers von Steven Curleigh hierher gelangt war. Mark hatte Recht gehabt, als er vermutete, dass der zum Teil umgebaute Hubschrauber noch über eine entsprechende Gerätschaft verfügte. Und nun standen sie Hartmann gegenüber.

Mark stockte kurz der Atem, als er die Veränderungen des Mannes wahrnahm. Vor ihnen stand nicht mehr der etwas verweichlicht wirkende Wissenschaftler aus Deutschland, sondern ein Gefahr verströmender, sehniger Krieger mit funkelnden Augen.

Der blitzartig handelte.

Mark kam es so vor, als blase Hartmann seine Wangen auf, doch er hörte das Brodeln aus den Tiefen des Mundes und seine Kopfhaut spannte sich schmerzhaft.

„Vorsicht“, rief er noch einmal in Richtung seines Freundes.

Im nächsten Moment stach eine lange Feuerlanze aus dem Mund Hartmanns und brandete, begleitet von einem widerhallenden Fauchen, den beiden Männern entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Mark ein Erschrecken in den Augen Hinnerks, doch gleichzeitig startete er eine Gegenaktion. Er hob seine Hände empor und streckte sie mit den Flächen dem Gegner entgegen, wobei ein einzelnes, hart ausgestoßenes Wort über seine Lippen drang.

Mark verstand das Wort nicht, wusste nicht genau, was diese Geste bedeuten sollte, doch schon im nächsten Moment stieß die senkrecht vorschießende Lohe gegen einen unsichtbaren Widerstand und zerstob nach allen Richtungen hin, wobei Mark vielfarbige Funken um die Ohren schwirrten.

Unwillkürlich wich der Hüter einen Schritt zurück, hob schützend seinen rechten Arm empor und spürte die immense Hitze, die von der vergehenden Flamme in den Raum wogte. Schweiß brach ihm aus den Poren und sogleich fiel das Atmen schwer. Hartmann schien ein unerschöpflicher Quell des Feuers zu sein, denn die Lohe brach einfach nicht ab, peitschte gegen den unsichtbaren und von Hinnerk geschaffenen Widerstand und verging.

Deutlich erkannte Mark im Flackern des Lichtes, wie Hinnerks Gesicht vor Anstrengung verzerrte und er bekam  gehörig Angst um seinen Freund. Das Duell der beiden Männer dauerte mindestens eine ganze Minute lang an, ehe das Feuer aus dem Rachen Hartmanns versiegte und Hinnerk die Hände langsam sinken ließ.

Er war nun ebenfalls in Schweiß gebadet und atmete schwer. Tatsächlich vermeinte die Hüter sogar erkennen zu können, dass sein Gefährte leicht wankte und blasser wirkte. Diese Auseinandersetzung hatte ihm offenkundig zugesetzt.

Hartmann war auch nicht mehr ganz frisch, funkelte seine beiden Gegner jedoch zornig an und holte abermals tief Luft. Doch kein weiteres Feuer schoss Mark und Hinnerk entgegen. Er sprach zu ihnen.

„Ihr werdet mich nicht aufhalten können. Ich trage den Geist des Khar’Aagan in die Welt hinaus. Der Kult des Drachen wird neu belebt. Ich werde dafür sorgen.“

„Nu red man keen Gedöns“, versetzte Hinnerk, obwohl er wirklich Schwierigkeiten hatte, auf den Beinen zu bleiben. Mark musterte ihn besorgt.

„Mit dem Wissen, welches mir durch die Höhle eingegeben wurde, werde ich das große Ziel vollbringen und eines Tages wird der Höchste zurückkehren. Ich habe die Flamme des Drachen empfangen.“

„Aber alle Drachen sind vom Antlitz der Erde verschwunden“, rief nun Mark, der sich an Hinnerks Worte erinnerte.

Hartmann lächelte diabolisch.

„Mag schon sein, aber dass heißt nicht, dass sie ewig verschwunden bleiben müssen. Unter Khar’Aagans Herrschaft, werden sie zurückkehren. Und ich…“, Hartmann streckte seinen rechten Arm weit von sich und Mark vermeinte einige wenige, winzige goldene Schuppen auf der Haut erkennen zu können, „… werde meinem Meister den Weg bereiten.“

Noch ehe Mark etwas erwidern konnte, holte Hartmann schon wieder Luft. Dieses Mal jedoch, um ihnen weiteres Feuer entgegenzuspucken. Mark blickte schnell zu Hinnerk, der den Blick erwiderte und schwach den Kopf schüttelte. Einen weiteren kraftvollen Angriff wie eben, konnte er nicht noch einmal stoppen. Die Magie des Drachen war zu mächtig!

Verzweifelt sann Mark nach einer Möglichkeit sich und seinen Freund zu retten, doch der Bereich der Höhle, in der sie standen, bot keinen Schutz. Ein Ausweichen schien unmöglich! Hartmann spie das flammende Verderben aus und traf… Dr. Greene, der sich von seiner Starre hatte lösen können. Er prallte gegen den Feind, der seine Frau ermordet hatte, wobei das Feuer ihn prasselnd umschloss und er einen lauten Schmerzensschrei ausstieß.

Mark sprang zur Seite und riss Hinnerk mit, während die beiden Männer, die ineinander verschlungen waren, an ihnen vorbeiwankten und den Kuppelbereich der Höhle verließen.

„Oh Gott“, entfuhr es Mark, als er sich von Hinnerks voluminösem Körper erhob.

Unschlüssig starrte er einen Moment dorthin, wo die Rufe Greenes und die Laute der ablaufenden Auseinandersetzung zu vernehmen waren.

„Mog di man keen Sorgen um mi“, flüsterte Hinnerk mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.

Mark nickte nun entschlossen, zog die Makarov aus dem Halfter und stürmte in die Vorhöhle, wo er gerade noch Zeuge wurde, wie der muskulöse Hartmann den brennenden und zuckenden Leib Greenes beinahe mühelos empor wuchtete und dann mit einer schwungvollen Bewegung durch die Höhlenöffnung nach draußen beförderte.

„NEEEEEIIIIINNNNNN“, brüllte Mark entsetzt.

Greene flog als brennendes Bündel ins Freie und stürzte dann in die Tiefe hinab. Blitzartig hob Mark seine Waffe hoch, Hartmann kreiselte herum und wollte wiederum Feuer spucken, als bereits Kugel auf Kugel aus dem Lauf raste und in den Körper des von Khar’Aagan Gesandten jagte und deutliche Einschusslöcher hinterließ.

Die Wucht der Treffer schüttelte Hartmann durch und er machte  einen Schritt zurück, um sein Gleichgewicht zu halten.

Einen Schritt zu viel! Verwunderung und leichtes Erschrecken waren in seinen schimmernden Augen zu erkennen, dann kippte er, getrieben von der Kraft der Kugeln nach hinten und stürzte ebenfalls in die Tiefe.

Mark atmete schwer, sah den sich kräuselnden Rauch vor der Mündung seiner Waffe und ließ langsam seinen Arm sinken. Benommenheit bemächtigte sich seiner und nur langsam wurde ihm bewusst, dass er Hartmann wohl kaum endgültig besiegt hatte.

Er hatte ihn lediglich vertrieben. Mit den Kugeln war er nicht einmal zu verletzen gewesen.

„Shit“, presste der Hüter wütend hervor.

„Man kann nicht immer gewinnen, mein Freund.“

Mark drehte den Kopf. Hinnerk stand im Durchgang zur Kuppelhöhle und wirkte noch ziemlich angeschlagen.

„Er ist entkommen!“

Hinnerk schüttelte den Kopf. Und dann sagte er etwas, dass Mark noch im Nachhinein Angst machte.

„Oh nein, ich denke, wir sind ihm entkommen

***

 Es dauerte noch etwas, bis Mark und Hinnerk  zu Sabrina und Steven Curleigh zurückkehrten.

Hinnerk hatte eine Pause notwendig, ehe sie sich dranmachten, mit der Seilwinde hoch geholt zu werden. Mit dem Telefon aus dem Forschercamp riefen sie die örtlichen Behörden an und informierten auch die zuständigen Stellen beim Orden, die dafür sorgen sollten, dass ihnen keine weiteren Hürden in den Weg gelegt wurden. Mark war wegen vielerlei nachdenklich. Zum einen bedauerte er den Tod der Forscher und der beiden TS-Agenten sehr.

Das Schicksal von Dr. Greene ‑ genauer dessen Opfer­ rührte ihn.  Er nahm sich vor, es nicht zu vergessen. Doch am meisten fragte er sich, welchen Weg Thomas Hartmann zu beschreiten begonnen hatte. Irgendwann trat Hinnerk zu ihm.

Mark saß nahe am Klippenrand und starrte auf das Meer hinab, Sabrina hockte dicht neben ihm.

„Wir brechen in ein paar Minuten auf, Freunde“, erklärte Hinnerk, der schon wieder etwas kräftiger wirkte.

„Ach übrigens…“

Mark und Sabrina blickten den Freund fragend an, vielleicht konnte er ihnen ja etwas Tröstendes sagen.

„Ich habe eine Mitteilung aus London erhalten. Sir Wallace lässt ausrichten, dass der Rest des Drachenblutes zu Staub geworden ist. Anscheinend in dem Moment, da Hartmann die Feuerweihe bestand.“

Das war leider kein Trost. Eher das Gegenteil. In Mark erwuchs in diesen Sekunden ein anderes Gefühl, das stärker und stärker wurde. Sehnsucht!

Sehnsucht nach Hüll, nach James und seinem hervorragenden Essen und – nach Christine, die er zu beschützen hatte und die ihm mittlerweile schon so sehr an Herz gewachsen war.

Und wenn auch Hinnerks letzte Worte ihm keinen Trost gespendet hatten, so fand er den wenigstens bei den Gedanken an den Schatz, seine Freunde und seine Heimat…


Wird fortgesetzt

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