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... Richard Lindberg über das Schreiben über Chicago, Historie und Serienmörder

Richard Lintberg... Richard Lindberg ...
... über das Schreiben über Chicago, Historie und Serienmörder

to the English originalEs ist faszinierend ein Buch oder Teilstücke von Geschichten von Richard zu lesen - man bekommt mehr, als man erwartet.

Er schreibt leidenschaftlich und mit viel Wissen über geschichtliche Fakten, Menschen und Schicksale. Sein Buch "Heartland - Serial Killers" (nur in Engl. verfügbar) war besonders interessant ... es erzählt die Geschichte zweier europäischer Emigranten, männlich und weiblich, deren Taten ein faszinierendes Bild der Gaslight-Ära in den USA darstellen.


Sich mit ihm (via Email) zu unterhalten war eine Freunde, und ich hoffe, ich treffe ihn eines Tages persönlich und kann mich mit ihm stundenlang unterhalten - über Geschichte und die Menschen, die diese gemacht haben.

Heartland Serial Killers

Zauberspiegel: Ich habe das erste Mal von dir erfahren, als ich zum Thema Serienkiller in den USA recherchierte, vor allem wurde das Buch "Heartland - Serial Killers" errwähnt, in dem es um zwei Serienkiller aus der viktorianischen Zeit ging: Belle Gunness und Johann Hoch. Wie kamst du auf die Idee, dieses Buch zu schreiben?
Richard Lindberg: Ich lebe schon mein Leben lang in Chicago und habe Bücher über diese Stadt geschrieben und seit 1978 veröffentlicht. Ich habe oft gehört, dass ein Autor Geschichten über das schreiben sollte, was er am Besten kennt, und ich habe diesen Rat immer befolgt. Ich schreibe über Chicago, da es eine wundervolle “Leinwand” ist, auf der ich malen kann.
Die Stadt ist farbenprächtig, oft bevölkert von historischen korrupten Politikern, Gangstern, Bösewichten und einer Auswahl von Tunichtguten aller Art, die mir genug interessantes Material liefern, um hundert Bücher zu entwerfen und zu schreiben. Das Schreiben von Sachbüchern ist für mich weniger ein Hobby als vielmehr Leidenschaft und eine Berufung. Ich habe bisher 16 Bücher geschrieben. Meinen Vollzeitjob habe ich, unabhängig von den Buchprojekten oder Veröffentlichungen immer behalten. 1978, als mein erstes Buch erschien, verkaufte ich Herrenschuhe in einem Sears Roebuck Geschäft in Chicago. Heute bin ich Vize-Präsident in der Marketing-Abteilung von UGL-Services, einer kommerziellen Grundstücksfirma. Ich schreibe, weil ich muss. Es ist etwas, das ist seit meinem 11. Lebensjahr mache, als ich damit anfing Tagebuch zu schreiben; eine Gewohnheit, die ich bis heute beibehalten habe. Ich schreibe meine Bücher um meine Vollzeitarbeitstätigkeit herum. Das heißt, dass ich wenig Zeit habe um mich zu entspannen, Urlaub zu machen oder mich anderen Hobbys zu widmen. Wie auch immer, ein Ergebnis der Tatsache, dass ich so viele Bücher über Verbrechen, Geschichte, Politiker und Sport in Chicago geschrieben habe, ist es für mich ziemlich schwer geworden, aus der Rolle eines “Regionalen Schriftstellers” auszubrechen. Es ist mir nicht gelungen meine Bücher in einem der großen Verlage in New York unterzubringen. Wie oft habe ich ihnen Exposés geschickt – nur um von ihnen den Hinweis zu erhalten, mich an regionale Verleger vor Ort im Mittleren Westen der USA zu wenden? Ich habe aufgehört es zu zählen. “Heartland Serial Killers” führt mein Interesse an den berühmt-berüchtigten Aspekten Chicagos weiter. Ich kannte beide Personen schon lange. 2007 kam dann eine britische Firma für Dokumentarfilme nach Chicago und interviewte lokale Experten zu den Kriminellen Chicagos. Sie baten mich um einen Kommentar zu John Wayne Gacy und Belle Gunness. Es gab unendlich viele Presseberichte über Gacy, einen Serienkiller der 1970er Jahre, aber sehr wenig über Hoch und Gunnes – das waren die Wurzeln der Idee zu dem Buch. Johann Hoch war eine Figur, die in dem Nebel der Geschichte verloren ging. Es hat bisher noch nie ein Buch über diesen aalglatten, körperlich kleinen Heiratsschwindler und Serienbigamisten aus Horrweiler in Deutschland gegeben, der von sich behauptete, eine “wissenschaftliche Methode” erfunden zu haben, wie man Frauen verführt und heiratet. Seine kriminelle Karriere war bizarr und surreal, und die Idee für ein Buch nahm Gestalt an. So entschied ich mich dazu, die bekanntere Geschichte von Belle Gunness mit der Hoch zu verbinden. Ich interessiere mich auch sehr für die “Gaslicht-Ära” (oder viktorianische Ära) unserer Geschichte, und Belle und Johann lebten zu jener Zeit – und das auch noch nur unfassbare 60 Meilen voneinander entfernt! Ich ging sofort an die Arbeit und begann mit meinen Recherchen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, dass ein Film über Johann Hoch unwiderstehlich sein könnte, sollte sich eine Filmgesellschaft dazu entschließen. Es würde ein Stück über die damalige Zeit sein, vermutlich ein teurer Kostümfilm, aber die Geschichte hat noch einen besonderen Kick. Meine Recherchen haben ergeben, dass Horch für einen Serienkiller aus Chicago namens H.H. Holmes arbeitete. Dieser war das Thema in dem Buch von Eric Larson „The Devil in the White City“, das ein internationaler Bestseller war. Und das ist etwas, das bis zur Veröffentlichung meines Buches unbekannt war.

Zauberspiegel: Warum hast du gerade diese beiden Killer ausgewählt? Was ist so besonders an ihnen?
Richard Lindberg: Wie schon gesagt, begingen sie ihre Verbrechen in einer meiner Lieblingsepochen. Wichtiger ist jedoch, dass ihre Verbrechen ein Spiegel für die Zeit sind, in der sie lebten. Die Misere unverheirateter Frauen, die in einer Zeit mit nur begrenzten Möglichkeiten lebten, und die Verzweiflung von Witwen mittleren Alters, die keine Absicherung gegen Armut hatten. Dies machte letztere verwundbar gegenüber den Avancen eines höflichen, schmeichlerischen Meistergauners mit teuflischen Absichten, wie Johann Hoch einer war. Wenn man diese Frauen sich selbst überließ, oder wenn sie plötzlich Witwen wurden und mittellos waren, zwang sie diese wirtschaftliche Notlage dazu, sich in “Marriage Bureaus” (Partnervermittlungen) zur Vermittlung aufnehmen zu lassen. Die immer in der Hoffnung, einen geeigneten Junggesellen mit einem größeren Einkommen kennenzulernen, den sie heiraten konnten. Die damals üblichen Beschwernisse boten Hoch quer durch die USA ausreichend willige, aber tragischer Weise naive und vertrauensseelige Matronen, die man heiraten, finanziell ausbeuten und unmittelbar danach ermorden konnte. Dies übrigens auch in Europa, wo er mit seiner schändlichen Arbeit begann.
Belle Gunness, eine Zeitgenossin Hochs, steht für die Kehrseite der Medaille – sie war das, was wir als eine, ihre Netze spinnende “Schwarze Witwe” bezeichnen würden. Hoch reiste auf seiner Suche nach neuen Opfern quer durch das Land. Währenddessen lockte Gunness, eine norwegische Einwanderin, ihre etwa 30-40 männlichen Opfern mit der Veröffentlichung von Anzeigen in skandinavischen Zeitungen auf ihre Farm in Indiana, etwa 60 Meilen von Chicago entfernt. Dort nahm sie ihnen ihr Geld ab, vergiftete sie, und begrub ihre Leichen auf ihrer großen Farm.
Amy Archer Gilligan (1873-1962), die bekannt ist als die “Arsenic and Old Lace” Mörderin (“Arsen und alte Spitze”) und aus dem Staate Connecticut stammte, ist die einzige weibliche Serienkillerin jener Zeit, die mit mehr Toten aufwarten kann als Gunness. Übrigens ist es Gillian, die den berühmten Hollywood-Film (dt “Arsen und Spitzenhäubchen”) mit Cary Grant unter der Regie von Frank Capra aus dem Jahr 1944 inspiriert hat. Gilligan stapelte die Särge mit den Überresten ihrer Opfer im Keller ihres Boarding Houses. Die Paralellität der Leben von Gunness und Hoch waren Treibstoff für den sensationshungrigen "Tabloid Journalism" (dt.. Regenbogenpresse), jenen Schreibstil, den William Randolph Hearst im frühen 20. Jahrhundert meisterhaft beherrschte. Er betonte stark Skandale, Verbrechen und die sensationslüsterne Schattenseite des amerikanischen Lebens. Etwas, das bei uns auch heute noch sehr stark ist.
Zauberspiegel: In deinen Büchern fand ich haufenweise Informationen, Vieles ist eingewoben, das – auf den ersten Blick – reichlich wenig mit dem Thema selbst zu tun hat, z.B. Einwanderungsthemen, die wenig Verbindung zu den beiden Killern sebst haben, oder andere Information, die für die Geschichte selbst unwichtig sind (z.B. die Geschichte der Heimatregion on Belle). Bläht dies die Geschichte nicht auf und läuft man nicht Gefahr, den Leser mit zu vielen Informatinen abzulenken?
R. Lindberg: Ich halte mich selbst für einen Historiker – nicht nur für einen Autoren von grausigen Kriminalgeschichten. Ein großer Teil meiner Arbeit deckt auch Politik und politische Korruption ab. Was das Schreiben der Kriminalgeschichten angeht, ziehe ich es vor, mein Thema um breitere, wichtige historische Themen herum zu formen, und das Thema in den Kontext der Zeit zu stellen, in der er oder sie lebte. Wenn ich die Arbeiten anderer Krimiautoren lese, dann sind die Mittel und Wege, mit denen ihre Killer ihre Taten begehen, für mich weniger interessant als die Fähigkeit des Autors, Fleisch an den Hintergrund des Kriminellen und die Umstände zu packen, die wo und wann sie lebten, die Zeiten, in denen sie lebten; wie sie aufwuchsen und was ihre Motivation war. Die kleinen Leckerbissen der persönlichen Information, die ein Autor dem Leser nahe bringen kann, sind der "Mörtel zwischen den Bauzegeln", die eine Geschichte mit Leben füllen. Ich hatte viel Spaß an den Details der Zeitperiode – die ist zum Beispiel ein Kennzeichen der Arbeit von Harold Schechter vom Queens College in New York und Author des Buches “The Devil’s Gentleman”, die faszinierende Geschichte um de Anklage eines Giftmörders aus dem Jahr 1899, Roland Molineaux. Ein anderer großartiger Autor von historischen Tatsachenkriminalfällen in den USA ist Rose Keefe, Autorin von “The Starker: New York City’s First Gangster Boss". Rose ist eine der wenigen Frauen, die sich gerade auf dieses Genre spezialisiert hat. Sie ist aber auch eine historische Forscherin von großer Güte.

Zauberspiegel: Ich fand es besonders interessant, wie bereitwillig die Frauen Johann Hoch folgten. Sie waren so bestrebt zu heiraten, dass sie praktisch alles taten, ihm all ihr Geld anboten, sogar noch bevor sie verheiratet waren. Ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es damals für das Überleben einer Frau war, nicht nur Geld zu haben, sondern auch einen männlichen "Beschützer". Du hast sie als eine Besonderheit jener Epoche beschrieben.
Richard Lindberg: Es gab nur wenig Schutzmechanismen für die ungebundenen Frauen des 19. Jahrhunderts, wenn sie unverheiratet sind oder allein lebten. Welche Wahl hatten sie? Es gab keine staatlichen sozialen Sicherungsmechanismen, um den Frauen eine Rente zu bieten, oder sie finanziell in jenen Jahren abzusichern, in denen sie weniger leistungsfähig sind. Wenn Frauen überhaupt arbeiteten, waren sie als gering bezahlte Dienstboten im Haus tätig, Köchinnen, Fabrikarbeiterinnen oder Verkäuferinnen in Kaufhäusern. Die Bezahlung war geringer als jene, die Männer üblicherweise erhielten – und jene, die keine Arbeitsgeschichte (Ergänzung: mit entsprechenden Nachweisen als Referenz) hatten oder keine Möglichkeit, eine einträgliche Arbeit zu finden, endeten oft auf der Straße. Ein gewisser Prozentsatz dieser unglücklichen Frauen wurden zur Prostitution in jenen kommerziellen Stadtteilen des Lasters gezwungen. Die Alternative war es natürlich, einen willigen Freier und zukünftigen Ehemann mit Hilfe von Anzeigen in Zeitungen und Listen in Heiratsvermittlungsbüros zu finden. Im Bereich Chicago wurden diese Vermittlungsbüros nach der Aufdeckung der Belle Gunness-Geschichte zumeist geächtet.

Zauberspiegel: Wie ich schon erwähnte, handeln die meisten deiner Bücher von Serienkillern. "The Chicago Child Murders" zum Beispiel oder andere mehr. Was ist so faszinierend daran, Bücher über Mord und Verbrechen verbunden mit Geschichte zu schreiben? Worum geht es dir beim Schreiben solcher Bücher?
Richard Lindberg: Ich habe auch Bücher über die ethnische Besiedelung der Stadt Chicago geschrieben; eine bildhafte Erzählung über die moderne und historische Stadt; eine politische Geschichte der Polizei von Chicago von 1855-1960; der erste, der jemals eine Biografie über Michael C. McDonald geschrieben hat, den mächtigen Spieler des 19. Jahrhunderts, der die Grundlage für die moderne "Maschine" der Democratic Party gelegt hat. Diese hat Chicago ohne Unterbrechung seit 1931 verwaltet, und jetzt arbeite ich an der Arbeit an einer authorisierten Geschichte der Northeastern Illinois University, meiner Alma Mater. Ich bemühe mich sehr darum, kein Typecast-Autor zu werden, der dafür bekannt ist, sich nur für ein Thema zu interessieren. Aber es ist schon so, dass die meisten meiner Projekte damit enden, irgendwie in Beziehung zu Verbrechen zu stehen. Ich habe durch Erfahrung gelernt, dass die Öffentlichkeit von wahren Kriminalgeschichten fasziniert ist. Ich werde jedes Jahr dazu eingeladen in einigen Bibliotheken, Vereinen oder anderen Gruppen zu sprechen. Meistens besteht mein Publikum aus Menschen über 60, und sie lieben es, diese alten Geschichten zu hören. Mein Buch “Return to the Scene of the Crime: A Guide to Infamous Places in Chicago” wurde inzwischen über 21.000 Mal verkauft und ist seit seinem Ersterscheinen 1999 inzwischen in der 7. Auflage erschienen. Ich bin auch Führer bei Bustouren zu Schauplätzen berühmter Verbrechen in der Stadt und den Außenbezirken im Auftrag des Historischen Museums von Chicago. Alle Touren warn bisher ausgebucht ... jede einzelne, ein anderer Beweis dafür, dass es ein anhaltendes Interesse an diesem Thema gibt. In akademischen Zirkeln wächst die Wahrnehmung, dass die Forschung im Bereich krimineller Pathologie und Muster kriminellen Verhaltens zu einem tieferen Verständnis unserer Kultur und ihrer Menschen zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte beitragen. Themen, die vor dreißig oder vierzig Jahren von akademischen Autoren nicht für bedeutsam gehalten worden waren, werden nun wärmstens angegangen. Wenn ich in Deutschland leben würde, wäre die kritische Auseinandersetzung mit dem Verbrechen zur Zeit des Dritten Reiches das Buch, das ich am liebsten schreiben würde. Blühten Straßenkriminalität und die so genannten “opferlosen” Verbrechen wie Prostitution und Glücksspiel oder wurden sie rücksichtslos unterdrückt? Wie hoch waren die Zahlen der Morde in den Jahren? Nahmen sie beispielsweise ab oder stiegen sie im Zuge von Hitlers Herrschaft im Vergleich zu den Jahren der Weimarer Republik? Wie wurden Kriminelle in jener Zeit von den Gerichten behandelt? Ich denke es wäre ein faszinierendes Forschungsgebiet und würde eine Brücke zwischen dem akademischen und dem belletristischen Büchermarkt schlagen. Meine letzten Bücher, “Heartland Serial Killers,” “Shattered Sense of Innocence: the Chicago Child Murders of 1955,” und “The Gambler King of Clark Street: Michael C. McDonald and Rise of Chicago’s Democratic Machine”, wurden alle durch Universitätsverlage hier in Illinois veröffentlicht. Jedes Buch hat umfangreiche Fußnoten zu diesen schwerwiegenden Verbrechensfällen, die nicht nur Aufsehen erregend sind, sondern hoffentlich auch erfolgreich dazu beitragen, die Epoche in der Geschichte der Stadt zu berühren, Muster der Heimatlosigkeit von Einwanderern und der Besiedelung (der Region), mit einer kritischen Analyse der sozio-ökonomischen Faktoren.

Zauberspiegel: Siehst du Unterschiede in der Art wie Frauen und Männer morden? Oder bei unterschiedlichen Ethnien?
Richard Lindberg: Es ist einfach so, dass Frauen in der Art und Weise wie sie morden weniger gewalttätig sind als ihre männlichen Gegenparts. Gift war zu allen Zeiten die bevorzugte Waffe weiblicher Mörder, auch wenn eine größere Anzahl von Frauen heutzutage bei Gewalttaten im Bereich häuslicher Auseinandersetzungen Handfeuerwaffen benutzen – zumindest scheint mir dies in den USA so zu sein. Im frühen 20. Jahrhundert benutzte Belle Gunness Arsen und eine Vielzahl pflanzlicher Gifte um ihre männlichen Opfer in eine andere Welt zu befördern. Nachdem sie tot waren, benutzte sie ein Metzgermesser aus ihrer Küche, um sie aufzuschneiden und die abgetrennten Körperteile im Schweinestall hinter ihrem Haus begraben.

Zauberspiegel: Gab es zu jener Zeit speziell in den USA besondere Faktoren, „notwendig“ waren, um solche Serienkiller erst zu ermöglichen?
Richard Lindberg: Die enorme Größe der Vereinigten Staaten zu einer Zeit als die Kommunikationsmöglichkeiten unterentwickelt waren, und eine U.S.-Regierung, die keine Registrierung ihrer Bevölkerung hatte; anders als heute (die Social Security Karte ist auch unsere inländische Identifikationskarte) – beides bot eine perfekte Deckung für Kriminelle, die quer durch das Land reisten, von Ost nach West, von Norden nach Süden. Jeder konnte einfach seine oder ihre Identität wechseln, andere Namen annehmen und von einem Ort zu anderen umziehen wie es Johann Hoch tat. So konnte man eine Entlarvung über Jahre hinweg vermeiden. Es gab keine wissenschaftlichen Kriminallabore, forensische Ermittler und Fingerabdrücke wurden erst nach 1904 in den meisten der großen städtischen Regionen eingeführt. Es gab zu jener Zeit wenig Zusammenarbeit und Austausch von Informationen zwischen den Polizeistationen unterschiedlicher geographischer Regionen des Landes. Die Büros der Kriminalbeamten in den großen Städten waren oft durchsetzt von Bestechung, Korruption und inkompetente Männer, die ihre Position dank politischer Verstrickungen erhalten haben. Das heißt, man hatte einen Deal mit jemandem in einer öffentlichen Position, der dazu in der Lage war, einen in den angestrebten Job als Kriminalbeamter zu hieven. Als Kriminalbeamter hatte man die Erlaubnis, sich während der Arbeitszeit nach eigenem Gutdünken auf den Straßen herum zu treiben und musste sich hierfür nicht rechtfertigen. Man war nicht auf einen bestimmten Bereich der Ermittlungen eingeschränkt und musste keine Uniform tragen. Es war, wie man in den alten Tagen über die Polizei in Chicago zu sagen pflegte, ein „soft snap“, das bedeutet, es war eine lockere Arbeit. Sogar heute ist der Serienkiller der Kriminelle, der am schwersten zu entlarven und zu fassen ist – einfach weil sie die Menschen, die sie töten, nicht kennen. Stell dir mal vor wie es damals war bevor die DNA bekannt wurde und technisch ausgefeilte Technologien existierten.

Zauberspiegel: Diese Bücher erfordern jede Menge Recherchen, regelrechtes Graben. Wie lange brauchst du um die Hintergrundinformationen zu bekommen, die du für die Bücher brauchst? Kamst du mal in die Konflikt mit den Familien der Menschen, über die du schreibst?
Richard Lindberg: Die Recherchetechniken sind unterschiedlich, je nach Projekt, je nach Zeit über die ich schreibe. Als ich “Shattered Sense of Innocence” schrieb, über den Missbrauch und die Ermordung von drei halbwüchsigen Jungen, die nach einem Kinobesuch in der Innenstadt Nachmittags auf dem Weg zurück in ihr Zuhause in der Northwest Side von Chicago, war dies noch frisch in der Erinnerung von Menschen, die damals 1955 vor Ort waren. Es fiel mir nicht sehr schwer, verrentete Polizeibeamte zu finden, Kriminalbeamte, Freunde und Familien der Opfer oder andere, die mit dem Fall zu tun hatten, zu finden.
Ich drehte jeden Stein um, wie man so sagt, und fand sogar einen neuen Verdächtigen, der damals von der Polizei und den Ermittlern völlig übersehen worden war – dabei handelte es sich um einen zwingend Verdächtigen, der einfach an der Strafverfolgung vorbeigerutscht war.
Ich habe für dieses Buch viele Leute interviewt – die Eltern eines der Jungen, die 2003 noch lebten, weigerten sich über das Thema zu sprechen, und ich respektierte ihre Wünsche. Ich wuchs in der gleichen Gegend der Stadt auf wie diese drei Jungen, auch wenn sie zehn Jahre älter waren als ich. Ich ging mit dem jüngsten Brüder eines der drei zur Schule. Du musst wissen, dass dies damals, als wir aufwuchsen und davon hörten, in unserer kleinen Ecke der Welt ein sehr schockierendes Verbrechen war, und es dauerte 40 Jahre, bis eine der Anklageschriften letzten Endes übergeben werden konnte.
Bei historischen Verbrechen, aus der Zeit vor der Erinnerung (noch lebender Menschen), muss man anders vorgehen. Zeitungen sind die beste Originalquelle, die man benutzen kann. Sie bieten eine genaue Zeitlinie darüber was, wann und wem geschah. Die Zeitungen von Chicago sind in unserer Hauptbibliothek auf Mikrofilm katalogisiert und leicht zugänglich. Die Chicago Tribune geht zurück bis 1847 und ist per Online-Bestellung verfügbar. Zu diesem Zeitpunkt beginne ich damit, den Rahmen der Geschichte zu entwickeln. Als nächstes stelle ich fest, welche Bücher es schon über dieses Thema gibt, sowohl verfügbar als auch Out of Print – manche von ihnen sind wirklich sehr verworren. Danach versuche ich an die Gerichtsunterlagen zu kommen, das bedeutet, wenn sie zugänglich sind und noch existieren. Gerichtsfälle in Chicago, die älter als 45 Jahre sind, sind nicht katalogisiert. Das Internet ist eine Quelle, aber in der Regel ist im Internet alles das zu finden, das ich zu diesem Moment bereits weiß, und oft ist die Person, die da „blogt“, nicht sehr erfahren in Recherchetechniken und keine ernsthaften Historiker. Oft treten bei ihnen viele Fehler auf, oder sie veröffentlichen substanzlose Gerüchte oder Hörensagen. Ich scheuer die Forschungsbibliotheken förmlich – das historische Museum von Chicago, das Newberry, die Staatsbibliothek von Illinois. Ich versuche jeden Stein umzudrehen. Für mich ist dieser Entdeckungsprozess jener Aspekt des Schreibens eines Buches, der mir am Besten gefällt.

Zauberspiegel: Gibt es ein Buch, das dir besonders gut gefällt? Wenn ja, wovon handelt es und warum schätzt du es besonders?
Richard Lindberg: Das Buch, das mir am Meisten bedeutet (und auf mehrere Weisen besonders schmerzvoll war), ist eines, das mit echtem Verbrechen nichts zu tun hat. Es ist meine Erinnerung an meinen schwedischen Vater, einen Einwanderer, ein tragisches Familiengeheimnis, das er mit sich ins Grab genommen hat, und das Aufwachsen als ein Schwedisch-Amerikaner der ersten Generation in einer Scheidungsfamilie in Chicago. Es heißt “Whiskey Breakfast: My Swedish Family My American Life,” und erschien im September 2011 im Verlag der University of Minnesota Press als Taschenbuch. Es ist ein Buch, das 22 Jahre brauchte um geschrieben zu werden, und es ist ein schmerzvoller Blick zurück auf die Alkoholerkrankung meines Vaters Oscar Lindberg, seine zerbrochenen Ehen und die zerstörten Leben der Menschen, die er hinterlassen hat. Oscar wurde 1897 geboren. Ich selbst bin 1953 geboren, um dir einen Anhaltspunkt zu geben – eine Generation liegt zwischen uns. Auf den Titel des Buches bin ich 1989 gekommen, und er bezieht sich auf die Cocktails, die er um 11 Uhr morgens trank, um seinen Arbeitstag zu beginnen. Ein eingeschworener Sozialist und linksradikaler Gewerkschafter zuhause in seinem Vaterland Schweden, kam er 1924 nach Amerika und wurde ein wohlhabender Bauunternehmer luxuriöser Häuser und ein erfolgreicher Kapitalist, aber er hatte nur wenig Zeit für seine beiden in Amerika geborenen Kinder, meinen Halbbruder Charles und mich. Ich fand sehr viel später heraus, dass er mit zwei verschiedenen Frauen unehelich zwei andere Kinder in Schweden gezeugt hatte. Er verließ sie und sah sie nie wieder – schon vor seiner Flucht in die USA um dem Militärdienst und den Verpflichtungen seiner Vaterschaft zu entgehen. Beide Kinder starben im frühen Kindesalter. Das Buch handelt größtenteils von dem Epos „Schweden nach Amerika“; einer mehrere Generationen übergreifende Familiensaga, die mehr als 100 Jahre umfasst, schwere Zeiten und erlernte Lektionen. „Whiskey Breakfast“ wurde in Publisher’s Weekly und bei Kirkus Reviews sehr gelobt, und jene, die es gelesen haben, verglichen die von mir beschriebenen Charaktere, die tatsächlich existierten, mit den vielen Bösewichten, Lumpen und dem hartherzigen Volk, das Charles Dickens in seinen wunderbaren Werken der Literatur beschrieben hatte. Dieses Buch von mir „dickensianisch“ zu nennen ist jenseits der Vorstellungskraft, und vielleicht das größte Kompliment und die größte Ehre, die man meiner Arbeit jemals gemacht hatte.


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