Der Speer des Schicksals - Leseprobe aus »Die Psioniker« Nr. 1
Der Speer des Schicksals
Leseprobe aus »Der Psioniker« Nr. 1
Der Soldat grüßte zackig und beugte sich zum Fahrerfenster herunter. „Guten Abend! Was verschafft uns die Ehre ihres späten Besuches?“
Der Fahrer grüßte zurück und hielt einen Passierschein aus dem Fenster. „Herr Sturmbannführer Wolter hat eine Ladung Kunstgegenstände, die an einem sicheren Ort zwischengelagert werden müssen.“
Beim Namen Wolter versteifte sich die Haltung des Wachtpostens erneut um einige Grade. Dann nahm er den Passierschein für einige Sekunden in die Hand und gab ihn unmittelbar zurück. „Sie können passieren!“
Der Schlagbaum erhob sich und die beiden Fahrzeuge fuhren in den Sicherheitsbereich um die Nürnberger Burg.
„Bisher hat ja alles nach Plan funktioniert!“, sagte der Fahrer optimistisch.
„Das war der leichtere Teil. Im Kunstbunker müssen wir improvisieren, denn wir brauchen ein paar unbeobachtete Minuten“, entgegnete der Mann in der Uniform des SS-Offiziers.
„Aber es war tatsächlich goldrichtig in der Nacht loszuschlagen!“, fügte er nach ein paar Sekunden hinzu.
Die Fahrzeuge passierten eine Gruppe Soldaten, die auf Patrouille waren. Laut den vorliegenden Informationen waren stets mindestens drei Gruppen auf dem Gelände unterwegs. Wolter schaute aus dem Seitenfenster und registrierte die beiden Wachtürme auf dem Gelände. All dies entsprach ebenso ihren Informationen und sprach eine völlig klare Sprache. Sollte es im Kunstbunker unter der Nürnberger Kaiserburg zu Problemen kommen, war eine Flucht nahezu unmöglich. Lebend würden sie das Areal dann wohl kaum verlassen können. Aber soweit war es noch nicht. „Hoffen wir es“, antwortete Wolter mit einiger Verzögerung.
Endlich geriet der Eingang zum Kunstbunker in das Licht des Mercedes. Der diensthabende Offizier war bereits benachrichtigt worden und hatte mit zwei Soldaten direkt davor Aufstellung bezogen. In der Tagesschicht wären es mindestens vier Soldaten gewesen.
Der Fahrer stellte den Mercedes auf einem gekennzeichneten Parkplatz ab, während der LKW zuerst ausscherte und dann rückwärts auf den Eingang des Bunkers zusteuerte.
Wolter legte seine Hand auf den Türöffner. Hier und heute war für ihn der Krieg beendet. Wenn ihr Unternehmen Erfolg hatte, würde er irgendwo ein Leben unter anderem Namen beginnen. Hatten sie hingegen Misserfolg, würde das seinen Tod bedeuten. Dabei ging es Wolter nicht um Geld, sondern um einen Eid den er geleistet hatte, lange bevor er diese Uniform zum ersten Mal angezogen hatte.
Die Tür des Mercedes schwang auf und Wolter stieg elegant aus. Der Offizier und seine Soldaten grüßten zackig, Wolter erwiderte den Gruß etwas knapper.
„Was haben sie für uns mitgebracht, Herr Sturmbannführer?“, fragte der diensthabende Offizier mit einem seltsamen Funkeln in den Augen.
„Sehen sie selbst, Herr Leutnant!“, antwortete Wolter und führte den Leutnant zum LKW. Dort begannen bereits Männer in grauen Arbeitsanzügen die Plane des stählernen Ungetüms zu lösen, damit sie die Laderampe öffnen konnten.
„Ich würde meinen, eine nette Kollektion. Ursprungsort Paris. Kennen sie sich mit Kunst aus?“, antwortete Wolter und gleichzeitig raste sein Herz.
Der Leutnant schaute Wolter mit einem fragenden Blick an. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich mag teure Dinge, aber von Kunst habe ich nicht die Bohne Ahnung!“
Ein Lächeln huschte über Wolters Gesicht. Mit der Aussage des jungen Offiziers zerstreuten sich seine Befürchtungen, wenn sie denn der Wahrheit entsprach. Bis auf ein authentisches Gemälde befanden sich nur hastig hergestellte Kopien minderer Qualität auf der Ladefläche.
„Sie sollten aber dennoch bei etwas besserem Licht einen Blick auf unsere Ladung werfen, es lohnt sich!“
Wolter atmete leise ein und spürte nach seinem Herzschlag. Der SS-Offizier hatte in Amerika das Pokern gelernt. Was er hier tat, war nichts anderes als ein Bluff. Gleichzeitig musste er das Geschehen ins Innere des Bunkers verlegen. Auf dem Vorplatz hatten sie nicht nur den Leutnant und seine Männer gegen sich, sondern standen auf dem Präsentierteller der Wachtürme und waren zum Abschuss freigegeben.
Der Leutnant legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Nachthimmel. Wolter lauschte weiter seinem Herzschlag und spürte, wie ihm weiter Schweiß den Nacken herunterlief.
„Natürlich. Wir wollen ihre wertvolle Sachen ja nicht wässern, es soll ja heute Abend noch regnen!“
„Ihr habt den Leutnant gehört, bringt die Kisten in den Bunker!“, rief Wolter den Arbeitern zu. Dann sah er wieder zu dem Leutnant. Der Offizier nickte und machte eine einladende Geste. „Dann lassen sie uns mal ihre Schätzchen drinnen begutachten!“
Der Leutnant stand mit auf den Rücken verschränkten Armen vor einem Bild, dessen kräftige Farben das Licht der Lampen reflektierten. Der Leutnant verstand tatsächlich nicht das Mindeste von Kunst, denn sonst hätte er von der Reflektionsfähigkeit der Farben klare Rückschlüsse auf das Alter des Bildes ziehen können. Anstelle dessen war er völlig in die Betrachtung des Bildes versunken.
„Phantastisch, wirklich phantastisch!“, sagte der Mann. Sekunden zuvor hatte er das einzige Original ihrer Ladung, Caravaggios Rosenkreuzmadonna, mit einem abschätzigen Blick bedacht.
„Tolle Bilder, wirklich tolle Bilder, Herr Sturmbannführer!“
Wolter nickte. „Wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Wie der Zufall es will, besaß der frühere Besitzer der Bilder auch einen reichhaltigen Vorrat Cognac. Vielleicht darf ich sie und ihre Männer auf ein oder auch zwei Gläser einladen?“
Der Kopf des Leutnants ruckte herum und ein seltsamer Blick traf Wolter.
„Cognac?!“, stieß der Leutnant aus.
Wolter nahm am Rande seines Blickfelds war, wie die Hand von einem seiner Arbeiter sich auf den Griff der Pistole legte, die hinten in seinem Hosenbund steckte.
Dann leckte der Leutnant über seine Lippen. „Verdammt gute Idee, Herr Sturmbannführer!“
Der Leutnant verschwand mit Wolter und den drei Soldaten in seinem Büro. Die Arbeiter begannen die Kisten an ihre vorgesehenen Plätze zu bringen. Gleichzeitig begab sich auch Schafenstein, der die Rolle von Wolters Fahrer spielte, mit einer Kiste in den Bunker. Auf der Höhe des Wachbüros blieb er stehen und lauschte an der Tür. Stimmen plauderten miteinander, Gläser klirrten und es wurde gelacht, anscheinend verlief alles nach Plan.
Mit schnellen Schritten verschwand Schafenstein in den Gängen des Kunstbunkers. Er hatte den Weg auswendig gelernt und es gab kein Hindernis zwischen ihm und seinem Ziel.
Seine Schritte stoppten vor einem Regal mit der Bezeichnung Reichskleinodien in Sütterlin Schrift.
Mit behutsamen Griffen stellte Schafenstein seine sehr alt aussehende Holzkiste vor dem Regal ab. Er musste grinsen. Die Betonung lag auf alt aussehenden Kiste, denn sie war nur wenige Tage alt. Das traf ebenso auf ihren Inhalt zu. Aber das war zweitranging, denn in Kürze würde jeder im ganzen Reich die Kiste samt Inhalt für absolut authentisch halten.
Vorsichtig zog Schafenstein eine Kiste heraus, die der mitgebrachten wie ein Ei dem anderen glich und stellte sie links neben sich. Dann hob er das Duplikat hoch und schob es an die Stelle, an der das Original untergebracht gewesen war.
Erneut hielt der Mercedes vor dem Schlagbaum. Schafenstein fragte sich, ob und wann die Luft im Wageninneren durch die Ausdünstungen von Wolter vollständig in Cognac-Gestank umgewandelt worden war. Sein Fahrgast hatte gerade eben kaum noch stehen, geschweige denn gehen können.
Warum dauerte das so lange? Schafenstein begann zu schwitzen. Dann zog sich eine unsichtbare Stahlschlinge langsam um seine Kehle zusammen, denn er sah gleich drei Wachsoldaten auf den Wagen zukommen.
Die Gedanken im Kopf des Fahrers überschlugen sich. Wenn er jetzt Vollgas gab, bestand die Möglichkeit, die Schranke zu durchbrechen. Der nachfolgende LKW würde aber keine Chance dazu haben, außerdem würde sich ihr Fahrzeug noch sehr lange in Feuerreichweite der Wachtürme befinden. Außerdem war da noch die Pistole in dem Holster… Er schluckte und traf eine Entscheidung.
Der Wachsoldat von vorhin trat an die Scheibe von Wolter und klopfte leicht dagegen. Das Adrenalin raste durch den Blutkreislauf des Fahrers, denn der Mann in der SS-Uniform war total besoffen. Mit einmal Mal stand das ganze Unternehmen auf Messerschneide!
Schafenstein sah im Innenspiegel, wie Wolter das Fenster in Zeitlupe herunterkurbelte.
„Was ich kann ich für sie tun, meine Herren?“, sagte Wolter ohne das geringste Anzeichen eines Lallens.
Der Wachsoldat bewegte unsicher der Kopf hin und her. „Meine Kameraden und ich würden uns wahnsinnig über ein Autogramm eines Fronthelden wie ihnen freuen!“
Schafenstein glaubte dass man den Brocken, der ihm vom Herz fiel, bis nach Berlin hören müsste. Ungläubig beobachtete er, wie ein Soldat nach dem anderen ans Fenster trat und sich ein Autogramm geben ließ. Wolter fiel nicht aus seiner Rolle und gab jedem seine Unterschrift. Endlich salutierten die Männer und die Fahrt konnte weitergehen.
Kaum hatte der Mercedes das Gelände vergessen, meldete sich Wolter. „Fahren sie rechts ran, ich muss kotzen!“
Am Abend des darauffolgenden Abends gab Adolf Hitler den Befehl, der den Absatzversuch der 6.Armee beendete. Kurze Zeit darauf war die Schlacht um Stalingrad verloren und scheinbar war damit auch das Kriegsglück des Deutschen Reichs…
*
Jan Hannig stand mit hinter den Rücken verschränkten Armen vor der einseitig verspiegelten Glasfläche und sah in den Club. Junge Leute in sehr wenig Lack und noch weniger Leder bewegten ihre Körper zum Rhythmus der EBM Musik. Hannig hörte nichts davon, denn der Raum war absolut schallisoliert und diente normalerweise dem Clubbesitzer als Arbeitsort.
Der helle Schein der Schreibtischlampe spiegelte sich in der Glasfläche und Jan musterte sein Spiegelbild. Für seine fast vierzig Jahre sah er immer noch ganz annehmbar aus, wenn auch um seine Augen ein paar Falten hinzugekommen waren. Lachfalten, dachte Jan und grinste sich selbst in der Glasfläche an.
Ansonsten war er mit sich zufrieden, was aber durchaus den regelmäßigen Besuchen im Keller seines Hauses geschuldet war, denn dort hatte er seine eigene Fitness-Ecke eingerichtet. Die Haare waren mit dem Alter kürzer geworden, denn er wollte bei seinen Kunden nicht als der typische Mann in der Midlife Crisis rüberkommen, schließlich ging es in seinem Geschäft um Geld und Vertrauen. Dennoch reichten die dunkelbraunen Haare fast bis zum Kragen des nachtblauen Hemds, das aus einer kleinen Manufaktur stammte und in Handarbeit gefertigt worden war. Von Krawatten und bis ganz oben geschlossenen Knöpfen hatte er noch nie etwas gehalten und das würde sich niemals ändern. Jan hatte sich nie für seine Eitelkeit geschämt und deshalb wurde sein Grinsen lediglich eine Spur breiter, als er bemerkte, dass er sich in aller Seelenruhe selbst begutachtete. Gerade hatte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Partyvolk im Club gerichtet, als die Tür des Büros sich öffnete.
„Was Leckeres entdeckt?“, sagte Ingo Voss und stellte sich neben ihn. Jan drehte den Kopf und sah seinen langjährigen Partner und Freund mit gerunzelter Stirn an.
Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes. „Ich meine natürlich etwas Attraktives. Das Thema Menschenfleisch haben wir ja schon vor längerer Zeit zu den Akten gelegt.“
Jan nickte, obwohl er sich bei diesem Thema nicht ganz so sicher war. Ingo nahm es mit manchen Vereinbarungen nicht immer ganz so genau, wie er es eigentlich sollte. Was wollte man aber andererseits von einem über hundertjährigen Dämon im frischen Körper eines gerade einmal 43jährigen erwarten?
„Hat die Katze das Mausen etwas endgültig seinlassen?“, fragte Jan und musterte Ingo weiterhin. Dabei fiel Jan der neue Anzug von Brioni auf, den der Dämon trug. Geschmack hatte Ingo, oder besser gesagt Dalar, denn Ingo war nur der Name des bedauernswerten und ursprünglichen Besitzer des Körpers, den Dalar nun sein Eigen nannte. Dennoch hatten sich die beiden Männer auf den Namen Ingo verständigt, zumindest wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs waren.
Ingo zuckte mit den Schultern. „So ganz wird das nie der Fall sein.“ Er schaute Jan schräg an und fügte hinzu: „Übrigens vermisst man seit ein paar Tagen den kleinen Dealer, der seine Waren immer vor dem Gymnasium angeboten hat.“
Jan drehte seinen Kopf wieder zur Scheibe. „Wie bedauerlich. Ob ihm wohl etwas passiert ist?“, fragte Jan mit einem undefinierbaren Unterton.
„Ich denke, er hat vielleicht die Aufgabe seines Lebens gefunden!“
Soweit man bei einer Rolle als Mahlzeit für einen Dämon überhaupt von einer Aufgabe sprechen konnte, fügte Jan gedanklich der Aussage seines Freundes hinzu.
In diesem Moment klingelte das Smartphone von Ingo. Er griff in die Tasche seines Sakkos und nahm den Anruf an. Das Gespräch bestand aus einem einzelnen Danke, dann beendete Ingo die Verbindung.
„Unser Lieferant ist soeben angekommen!“
*
Der Mann wirkte wie ein Wiesel, oder wie eine Ratte. Er war dünn, viel zu dünn. Seine Gesichtsfarbe war fahlgrau, was auf eine sehr geringe Aufenthaltszeit in der Tagessonne schließen ließ.
Einer der Türsteher hatte das Wiesel aus der Schlange zum Eingang herausgenommen und hielt es davor zurück, einfach schnurstracks in den Club zu marschieren. Zum Einen sah der Mann im zerknitterten Anzug nicht wie der typische Besucher des Clubs aus, zum Anderen hatte er auch kein Ticket.
Ingo blieb einige Meter entfernt stehen und blickte neugierig zu Jan. Der andere Mann taxierte seinerseits das Wiesel interessiert für einige Sekunden. Seine Atmung verlangsamte sich und ebenso sein Herzschlag, dann sah Jan die Schichten des Energiefelds, das sich um jeden Menschen ausbreitete. Das Feld des Wiesels wies sowohl deutliche Lecks, als auch einige ungesund aussehende Farbverläufe auf. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem anderen Energiefeld abgelenkt. Es waren genauer gesagt nur die Fragmente eines Feldes. Interessiert verfolgte Jan die Fragmente des Feldes und machte den Gegenstand in der Hand des Mannes als dessen Ursprung aus und zog anerkennend die Augenbraue hoch. Dann schüttelte er den Kopf. „Der Typ ist ein Windei, aber er hat da einen interessanten Koffer.“
Ingo trat zu dem Sicherheitsmann und sorgte dafür, dass der Mann in dem zerknitterten Trenchcoat durchgelassen wurde. Ingo reichte ihm zuerst die Hand, dann war Jan an der Reihe. „Sie sind Robert Müller?“, wollte Jan wissen.
Der Mann nickte. „Sie sind Hannig?“
„Ganz richtig und das ist mein Partner Voss.“, antwortete Jan und nickte in die Richtung von Ingo.
Dann betraten sie das Innere des Clubs und wurden von einem anderen Sicherheitsmann in den nicht offiziellen Bereich des Clubs gelassen.
„Clevere Idee, dass Treffen während einer Gothic-Party stattfinden zu lassen!“, sagte Müller und erntete einen gelangweilten Blick von Ingo.
„Genauer gesagt findet die Party während dem Treffen statt!“
Zusammen überwanden die Männer eine Treppe in den ersten Stock und erreichten das etwas abgelegene Büro des Managers.
„Dann zeigen sie uns mal, was sie anzubieten haben!“, sagte Ingo und deutete auf die Oberseite des Schreibtischs. Unsicher blickte Müller erst zu Ingo und dann zu Jan.
„Ich will zuerst das Geld sehen!“, presste das Wiesel hervor.
Ingo schüttelte entschieden den Kopf. „So läuft das hier nicht. Der Käufer hat uns als Treuhänder eingesetzt und befindet sich auf Standby. Sollte die Ware unserer Vorstellung entsprechen, wird er in Kürze eintreffen.“
Müller presste die Lippen aufeinander und mahlte mit den Backenzähnen. Hinter der Stirn des Mannes arbeitete es und Jan glaubte Zahnräder quietschen zu hören.
„Lassen sie uns unsere Arbeit machen, dann sehen wir weiter!“, sagte Jan und gab ihm seine Visitenkarte als Meinungsverstärker. Irritiert blickte das Wiesel darauf und nickte dann zögerlich.
„Also gut! Ich vertraue ihnen“, antwortete Müller und legte den abgewetzten Lederkoffer auf den Schreibtisch. Bevor er die Schlösser aufschnappen ließ, schaute er nochmals zuerst zu Jan und dann zu Ingo. „Wenn sie irgendwelche Tricks versuchen, bin ich weg!“
Ingo brachte ein joviales Lächeln zustande, dachte jedoch etwas völlig anderes: Wenn ich trickse, dann kannst Du nicht mehr weglaufen.
Müller klappte den Kofferdeckel auf. Der Inhalt des Koffers befand sich in einem speziell aus Schaumstoff angepassten Futteral. Ansonsten sah der Speer genauso aus, wie er auf vielen Fotografien im Internet aussah. Die Lanze des Longinus, die auch als Speer des Schicksals bekannt war. Also die Waffe, mit der dem Mythos nach, der Centurio Longinus den Tod von Jesus Christus mit einem Stich in dessen Seite überprüft hatte. Der Speer hatte also direkten Kontakt mit dem Blut von Jesus und sollte seinem rechtmäßigen Besitzer absolute Macht auf Erden verleihen.
Jan musterte Müller. Die graue Gesichtsfarbe, der billige und zerknitterte Anzug und die nachlässige Frisur des Mannes sahen nicht gerade nach Macht aus, sondern eher nach dem genauen Gegenteil davon.
Doch dann konzentrierte sich Jan auf den Speer. Die antike Waffe sah exakt so aus, wie eine antike Waffe aussehen sollte. Auch die goldene Manschette, die die drei Schichten der Lanze miteinander verband, war vorhanden.
Dann entspannte sich Jan und seine Wahrnehmung veränderte sich, wechselte die Ebene. Nun sah er die feinstoffliche Dimension der Waffe. Das Energiefeld war vorhanden, strahlte an einigen Stellen wie Katzengold, aber war viel zu uneinheitlich. Jan tastete sich tiefer und tiefer und setzte dann das Mosaik zusammen. Was er sah, interessierte ihn. Aber es war zu wenig, viel zu wenig. Dann fixierte sein Blick Müller. „Sie sind ein Betrüger!“, sagte er emotionslos.
Müller schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich versichere ihnen, dass es sich hierbei um den echten Speer des Schicksals handelt!“
Hannig grinste ein freudloses Lächeln, denn die Aura des Mannes sagte etwas ganz anderes. Müller log, daran bestand kein Zweifel.
Jan sah die Bewegung kommen, ließ Ingo aber gewähren. Mühelos packte Ingo den schmächtigen Mann mit seiner rechten Hand und warf ihn gegen die gegenüberliegende Wand. Müller prallte mit einem dumpfen Laut dagegen und rutschte herunter.
„Wenn die Wand beschädigt ist, werden sie das bezahlen!“, schrie Ingo mit kalter Wut in seiner Stimme und bewegte sich mit schnellen Schritten auf Müller zu.
Jan machte eine beschwichtigende Geste, die dazu führte dass Ingo sich zurückhielt, zumindest vorerst. Dann trat er selbst auf den sich aufrappelnden Müller zu.
„Das Ding ist eine billige Fälschung und das wissen sie. Aber sie wissen auch, dass ihre Replik zumindest einmal in Kontakt mit dem echten Speer war. Oder täusche ich mich?“
Der Hauch eines flüchtigen Lächelns zog über das Gesicht des Mannes, dann nickte er trotzig. Jan wechselte einen Blick mit Ingo, nun wurde die Sache also doch noch interessant.
In diesem Moment schrillte eine Sirene los.
„Was zur Hölle ist das?“, wollte Jan wissen.
„Jemand vom Sicherheitsteam hat Alarm ausgelöst.“, sagte Ingo und drehte sich herum. An der anderen Seite des Raumes war ein großer Flatscreen aufgehängt, der die Liveaufnahmen der wesentlichen Überwachungskameras zeigte. Ingo hob den Zeigefinger, um auf eine spezielle Kamera zu zeigen. Doch das wäre nicht nötig gewesen, denn Jan hatte schon das Problem gesehen. Vor dem Club war eine Gruppe erschienen, die mit großkalibrigen Waffen das Feuer eröffnet hatte. Abwechselnd flackerte an unterschiedlichen Stellen Mündungsfeuer auf. „Verdammte Scheiße, was soll das?“, entfuhr es Jan.
*
Insgesamt waren sie zu fünft. Es handelte sich ausschließlich um fit aussehende Männer in sportlicher Kleidung, die mit jeweils einer Kalaschnikow bewaffnet waren und diese auch ohne zu zögern einsetzten. Hier und heute ging es nicht um einen chirurgischen Einsatz, sondern um Feuerkraft und Schnelligkeit. Immer wieder bellten die Sturmgewehre auf und das charakteristische Geräusch der AK´s beherrschte die Szenerie. Chaos entstand, Menschen rannten in Panik aus dem Club heraus und die Sicherheitsleute versuchten das Schlimmste zu vermeiden. Wieder und wieder feuerten die Männer, zielten aber absichtlich nicht auf Menschen.
Anstelle dessen verschafften ihnen ihre Waffen eine freie Bahn im Strom der Menschenmenge, die den Club verließ.
Einer der Sicherheitsleute versuchte die Gruppe aufzuhalten, doch der leichtsinnige Held bekam kurzerhand den Schaft einer Waffe zu schmecken und ging dann zu Boden.
*
Der Albtraum eines jeden Musikers war wohl das, was den Eagles of Deathmetal in Paris passiert war. Ihr Auftrittsort war zum Tatort eines furchtbaren Terroranschlags geworden. So tragisch dieses Szenario auch war, so unwahrscheinlich war es auch, dass es sich so schnell wiederholte. Zumindest war genau das eine der Lebenslügen, mit deren Hilfe viele Musiker überhaupt erst wieder auf die Bühnen gestiegen waren. Das traf zumindest auf Till Helnerus zu, den Gitarristen der Band Precious.
Till hatte nichts gehört, dafür war die Band viel zu laut gewesen. Dafür hatte er es gehen. Die Panik war wellenförmig in den Club hinein gebrandet, dann war alles eskaliert. Wie gebannt stand Till auf der Bühne und starrte in den Club. Was sollte er jetzt machen? War ein Feuer ausgebrochen? Unschlüssig drehte sich Till zu seinen Bandkollegen um, doch er sah gerade noch wie Dave, der Keyboarder, Fersengeld gab und von der Bühne heruntersprang. Doch Till konnte nicht einfach fliehen, irgendetwas hielt ihn davon ab. Er musste einfach hier bleiben, weil … Dann sah er den Grund für die Panik und er kam näher, schnell näher. Eine Gruppe Schwerbewaffneter stürmte den Club und feuerte in der Gegend herum um sich die Besucher vom Hals zu halten.
Der Speer des Schicksals
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Kommentare
Hut ab.
Du hast Talent zum Schreiben.
Du hast eine spezielle visuelle Vorstellungskraft.
Du hast ein gutes Gespür für Dialoge.
Du achtest auf Details.
Du hast das Talent, „filmisch“ zu montieren bzw. von Abschnitt zu Abschnitt kontrastierend überzublenden.
Aber das Bessere ist des Guten Feind.
Und deshalb möchte ich Dir für Deine aktuellen oder künftigen Schreibprojekte ein paar Tips geben, wie das ganze noch mehr Pfiff bekommt.
Das sind dann ein paar Anregungen, die Du annehmen kannst. Natürlich macht jeder sein Ding auf seine Art. Aber eventuell ist der ein oder andere Hinweis für dich brauchbar.
Ich werde nach und nach ein paar Aspekte herauspicken und sie anhand Deiner Textprobe erläutern.
Um es (auch für mich) übersichtlicher zu gestalten und weil es meine Art ist, werde ich meine Anregungen auf mehrere Posts verteilen. Nicht mehr als 2 oder 3. Keine Bange.
Immer wenn ich etwas Zeit habe, melde ich mich hier. Bis später !
Aber ich bin zu dumm, den blauen ersten Absatz Deiner Story nach unten zu kopieren, bzw. seh ich nirgendwo ein dafür vorgesehenes Tool.
Wenn Harantor diesen blauen Text nach unten kopieren könnte....? Als folgenden Post? Das Rauf-und Runterrollen im Text brauchen wir hier nicht unbedingt.
Gut.....dann gebe ich erst mal den „Blödmann“ und warte ab.
"Die Nacht war hereingebrochen, als der schwarze Mercedes-Benz Typ 320, gefolgt von einem LKW, vor dem Schlagbaum anhielt. Sofort richtete ein Wachtposten einen starken Suchscheinwerfer auf das Fahrzeug, während ein anderer Soldat in grauer Uniform und umgehängter Maschinenpistole auf das Fahrerfenster zuging und auf der Höhe des Ersatzreifens stehenblieb. Ein Ruck ging durch den Soldaten, als er den Mann in der schwarzen Uniform hinter dem Fahrer erspähte."
Das ist die erste veränderte Fassung. Aber diese Fassung können wir noch nicht so stehen lassen.
Dies sind nur die Veränderungen, die ich sofort vornehmen würde. Warum, das erkläre ich im nächsten Post. Und dann gehen wir ans Eingemachte.
(Daher Lektion Eins: So schnell kann es gehen.... :) )
Bei den ersten 3 Sätzen mag dies noch zutreffen, aber bereits im 4. Satz wird die ursprüngliche Aussage verändert: Es ist schon ein Unterschied, ob jemand überrascht ist, oder ob ein Ruck durch jemanden geht - bei letzterem wird mindestens Respekt, hier wohl sogar Schrecken, Angst und Unwohlsein impliziert. Dies geht bei deiner Überarbeitung gänzlich verloren.
Getrennte Postings sind schön und gut, aber wenn dann jeweils Stunden dazwischen liegen, hilft es letztlich nicht weiter, da man sich immer wieder neu einfinden muss.
@Advok
Das sind berechtigte Einwände. Grundsätzlich bin ich mit Deiner Kritik einverstanden.
Um mich zumindest teilweise zu rechtfertigen:
Diese 2 . Fassung hat in der Tat Schwächen. Das schrieb ich ja auch. Ich bin bei diesem ersten (blauen) Text aber im Erbsenzähler-Modus.
Ich wollte aufzeigen, mit welchen Einzelheiten man sich als Autor beschäftigen „könnte“.
„Die Nacht war hereingebrochen....“. Mit diesem Anfang kann man (ich) zumindest stilistisch, auch unzufrieden sein. Wenn man (ich) es will. Denn was sagt mir das? Ist es inzwischen dunkel? Vermutlich. Klingt „ Die Nacht brach ein“ dann eventuell besser? Warum schreibe ich nicht gleich, dass es dunkel war....etc. etc.
Bezüglich „Dass ein Ruck durch jemanden geht“. Dass jemand überrascht, verunsichert, erschrocken usw. ist.
Was will ich sagen, und wie fasse ich die beabsichtigte Aussage in Worte?
Sollte ich im Text lieber etwas „zeigen“, statt es nur zu behaupten? Das hatte ich mir ursprünglich als Basis für meine Posts zurechtgelegt. Um anschließend ein paar Tipps zu geben, wie man auch mit einfachen Mitteln einen Text optimiert.
Stichwort: Adjektive vermeiden, wo es geht.
Aber ich habe mich verrannt. Und so wie geplant, nutzt die Umsetzung meiner Idee keinem was.
Zu meinen Splitter Posts : Das ist eine Unart von mir.
In diesem Fall hier hatte es aber auch praktische Gründe. Wenn ich alles in einen Post/Text packe, dann finde ich es unübersichtlich. Dass der Faktor Zeit eine Rolle spielen könnte, habe ich nicht bedacht.
Ich habe ja keinen Abgabetermin. Das soll hier aber keine Spielwiese für meine Eitelkeiten werden.
Der Punkt geht auch an Dich.
Fazit: Schön, dass jemand reagiert hat. Gut, dass das jetzt passiert ist.
Ich werde alles nochmal überdenken und ggf. meine Anmerkungen in strafferer Form anbieten.
Meine Prognose, das ganze in 2-3 Posts zu fassen ist ohnehin falsch gewesen.
Bis auf weiteres wünsche ich einen angenehmen Abend!