Sturmbringer - Seelenriss - Leseprobe der Sturmbringer-Trilogie
Sturmbringer - Seelenriss
Leseprobe der Sturmbringer-Trilogie
Das ist für mehrere Beteiligte der Beginn einer rasenden Irrfahrt in die Verdammnis. Denn da gibt es auch noch Stevie und Hugh, die allein in einem geisterhaften Motel im Niemandsland nahe der mexikanischen Grenze leben. Hugh will nur weg, Stevie verliert sich in seinen Phantasien. Und in dem, was ihr Dad von Moms Ermordung auf Zettel gekritzelt hat.
Mr. Dobbs und seine engelhafte, grausame Begleiterin werden es mit echten Psychopathen zu tun bekommen.
Einer trägt einen Sheriff-Stern, den anderen haben sie selbst geschaffen.
Wenn es eine Hölle gibt, so ist dies ganz gewiss eine Zeit namenloser Angst.
Carmen Sylva, Geflüsterte Worte
PROLOG:
1 DER HÖFLICHE MR. DOBBS ALIAS SWAN
Diesmal benutzte er den Hammer. Denjenigen, der zwar groß war, aber nicht zu groß. Eine erstklassige Waffe. In jeder Heimwerker-Abteilung eines jeden Supermarkts überall auf der Welt problemlos zu bekommen. Lag gut in der Hand und konnte exakt nirgendwohin zurückverfolgt werden.
Auch der Überraschungsangriff … kein Problem.
Er hatte dem stinkreichen Fettsack Benjamin F. Riggert die linke Kniescheibe zertrümmert, und schon wollte der ihm vor Schmerzen schreiend und Rotz und Tränen sabbernd, aber gar nicht mehr überheblich die Kombination seines Safes preisgegeben.
Als Sahnehäubchen obendrauf gab er sogar noch eine Menge mehr preis, Kontodaten, Passwörter. Danach allerdings wurde es fast ein bisschen zu viel und zu intim. Wie verdammt unglücklich er verheiratet war mit dieser elenden modesüchtigen Schlampe namens Dianne, darüber kotzte er sich aus, und dass er dazuhin auch noch eine durchtriebene noch viel elendere Schlampe von Teenie-Tochter durchfüttern musste, die von Mum fälschlicherweise jedoch nur Baby genannt wurde.
„Ich sag` Ihnen nur so viel“, stieß er kurzatmig hervor. „Die Eine stylt sich trotz ihres Alters noch wie eine Barbie-Puppe, die Andere … also, müsste ich der für jeden Pimmel, dem ihre Schenkelchen schon freies Geleit gewährt haben, irgendwo einen Stachel ankleben, könnte man sie glatt für einen verdammten Igel halten.“
Eine Weile gab er noch vor, dem Fettsack zuzuhören, obwohl er sein Geschwätz für abstoßend hielt. Er hörte nur höchst ungern abstoßendes Geschwätz. Es beleidigte seine Intelligenz, es langweilte und provozierte ihn, also wackelte er vielsagend mit den Augenbrauen, vielleicht, weil er ahnte, worauf das alles hinauslief.
Trotzdem – noch hielt er sich zurück.
Warum? Tja, solche Dinge ließen sich rational nicht so einfach erklären. Man verspürt den Drang, etwas zu tun, oder nicht. Momentan kostete er seinen Status, seine Überlegenheit, in vollen Zügen aus, gut möglich, dass er es auch genoss, nach einem Akt brutaler Gewalt auch seine komödiantische Seite aufblitzen zu lassen.
Beides bin ich, dachte er.
Beides zusammen, davon ging er aus, machte eine Begegnung mit ihm für seine Opfer erst so richtig grässlich.
„Warum sagen Sie nichts? Warum starren sie mich nur an? Gottverdammt, was wollen Sie?“, kreischte Riggert. „Was wollen Sie denn noch?“
Tja. Möchtest Du das wirklich wissen? Aber das sagte er Riggert natürlich nicht, er starrte einfach nur lächelnd und schweigend weiter auf ihn hinab.
****
Hermann Nathaniel Dobbs wusste um die verheerende Wirkung von Schweigen, doch bevor er diese Wirkung immer wieder aufs Neue testete, stellte er sich gern mit verbindlicher Stimme als Mr. Swan vor und spürte seinen ureigenen in Wandlung befindlichen Status nach.
Schon seit dem 17. November 2017 – dem Todestag von Charles Manson, dem Charles Manson – ging etwas vor in ihm, das ihn unablässig weiter abrückte von den normalen Spießbürger-Sterblichen.
Er wusste noch nicht so recht, ob es ihm gefallen oder eine Höllenangst einjagen sollte, doch manchmal rührte es ihn zu Tränen, etwas Besonderes zu sein. Oder zu werden.
So oder so. Seither ertappte er sich jedenfalls immer öfter dabei, dass er Gedanken darüber nachhing, ob er nicht eventuell Charlies leibhaftige Reinkarnation war. Eine Art Körpermaske, dank der er wieder in Freiheit und unerkannt unter den Menschen wandeln und wirken konnte. Nicht mehr 83jährig und an Darmkrebs leidend, sondern verjüngt auf gerade mal 38.
Eine Win-Win-Sache wäre es für beide. Er selber war nach dem Unfalltod seiner Schwester allzu oft allzu unsicher durchs Leben getrudelt, vor allem, wenn er nicht gerade mit einem Raubzug befasst gewesen war. Als Charlie M., so seine Idealvorstellung, würde er äußerlich natürlich weiterhin Hermann N. Dobbs repräsentieren, innen drin jedoch eben mit einem weit bösartigeren Update an den entscheidenden Stellen im Kopf aufgewertet sein.
Und ER, also Charlie, würde als Dobbs` Inhalt wieder frei und jung und sogar vermögend sein. Des Geldes wegen hatte er nämlich schon lange nicht mehr gearbeitet. Auch diesmal war er aus Prinzip losgezogen. Gewissen Typen gönnte er ihren Reichtum einfach nicht. Gewissen Typen musste er so viel wie nur möglich so raffiniert wie nur möglich wegnehmen. Plus ihre Würde. Das war wie eine Obsession.
Darin waren sie sich ähnlich, Charlie M. und er.
„Win-Win, wie gesagt“, flüsterte er und genoss es, wie Riggerts Augen noch ein bisschen mehr aus den Höhlen traten.
Wenn er den Fettsack betrachtete, der sich winselnd vor ihm am Boden wälzte, dann konnte er es schon spüren. Nämlich, dass da nichts mehr war.
Vor allem kein Mitleid. Im Gegenteil.
Er empfand bereits … anders. Mehr wie Charlie. Auch wenn er noch nie im Leben eine Schwäche verspürt hatte für verlauste Hippies, Musik von den Beatles, heruntergekommene Farmgebäude, das unmoralische Partnertausch-Leben in einer Kommune oder gar Hakenkreuze. Überhaupt, Hakenkreuze!
Nie im Leben wäre ihm in den Sinn gekommen, sich eins genau zwischen den Augen stechen zu lassen, oder an eine Weltverschwörung dunkelhäutiger Menschen gegen die Weiße Rasse zu glauben. Er war intelligent, er hatte seinen IQ testen lassen … er lag bei über 140. Er las mehrere Zeitungen, täglich. Wer sich nicht nur bei Fox News informierte, wusste, wie viele Schwarze in letzter Zeit draufgingen.
„Viel zu auffällig für einen wie mich“, flüsterte er gedankenverloren.
„Was?“, brüllte Riggert und verteilte Speichelbläschen in der Luft. „Mann, ich versteh` kein Wort! Bist du besoffen? Hast du eine Scheiß-Ahnung, wen du vor dir hast … Benjamin F. Riggert bin ich. Der Benjamin F. Riggert von Riggerts-Mega-Möbel-Wohnwelten.“
„Überheblich“, sagte Dobbs tadelnd, schüttelte den Kopf und hing noch ein paar Momente lang seinen oder Charlies eigentümlichen Gedanken nach.
Witzig war, dass er schon als Hermann Dobbs nur wenig übrig gehabt hatte für Kerle wie Riggert. Typen, die hysterisch nach ihren Anwälten plärrten, sobald ihnen jemand zeigte, wie sich das Leben wirklich anfühlte und dass niemand jemals sicher war, Status und Geld hin oder her. Typen, die trotzdem noch genug Luft in der Lunge hatten, hasserfülltes Zeug über ihre Frau und Tochter zu quasseln, während sie einen geschmacklosen, aber wohl sündhaft teuren Teppich vollbluteten.
In der Zeit vor Charlie hatte er immer Entschuldigungen für solchen menschlichen Abschaum gefunden. Die wurden in der Schule gehänselt. Haben zu oft onaniert. Die falschen Comics gelesen. Oder: ihre Eltern haben ihnen zu viele Arschloch-Gene vererbt.
Heute sah er solche Typen wie Charlie. Sie waren einfach nur Pigs, und ihre Uniform waren schweineteure Anzüge und Krawatten.
„Bitte … Es tut so weh“, schluchzte Riggert theatralisch und unterbrach damit seinen gedanklichen Spaziergang schon wieder. Doch er war zu intelligent, ihm seine Verärgerung zu offenbaren. Ein IQ von über 140 erhob ihn über Hilary Clinton und Madonna und rückte ihn in die Nähe von Einstein, dem man einen IQ von 160 bis 170 zuschrieb.
„Grunz-grunz“, kommentierte Hermann Dobbs also Riggerts Gewinsel auf eine Art und Weise, die er wohl verstand.
Noch immer blieb er äußerlich ganz souverän, genoss seinen Status und Riggerts Status und strich sich ab und zu über den sorgfältig gepflegten Vollbart. Sogar seinen extravaganten Zylinder schob er sich keck in den Nacken. Als handle es sich hierbei allen Ernstes um ein vertrauliches Gespräch unter Freunden.
Vielleicht war es das, vielleicht nicht. Den Hammer jedenfalls benutzte er weiterhin nicht.
Das altmodische schwarze Zylinder-Ding trug er vorzugsweise bei solchen Gelegenheiten, weil er gelesen hatte, dass Opfer oder eventuelle Zeugen sich viel leichter an krass Außergewöhnliches erinnerten. Banalitäten wie Details eines Gesichts, besondere körperliche Merkmale oder gar eine Haarfarbe zogen dagegen stets nur die Arschkarte.
„Kennen Sie eigentlich den Song Helter Skelter?“, fragte Hermann N. Dobbs eingedenk dessen unvermittelt.
„Was?“ Diesmal brüllte Riggert nicht mehr, er stöhnte nur noch.
Allerdings so unwillig!
Außerdem hatte er den Kopf gehoben und starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Genervt. Wie diese sehr, sehr reichen Manager-Typen, im Fernsehen. Desinteressierte Ärzte hatten den Blick auch drauf. Oder Models. Als würde man ihre kostbare Zeit stehlen.
„Helter Skelter, Mann! Von den Beatles. Den vier Engeln der Apokalypse. Sie werden doch wohl noch wissen, wer Manson ist?“
„Diese entsetzlichen Hollywood-Jetset-Morde, damals, Herbst 1969“, hechelte Riggert. „Sharon Tate? Die Manson-Family? Mann, ich dachte, der sei tot?“
„Im Bakersfield-Hospital, Kalifornien, gestorben. Ja. Gott hab` ihn selig.“
„Stand der Typ nicht eher auf den Satan? Sorry. Ich wollte nicht respektlos … Bitte! Sind Sie einer von denen? Ein Jünger? Nach fünfzig Jahren?“
„Was ist schon Zeit, Mann? Wer weiß? Vielleicht erleben Sie dasselbe wie Sharon Tate und Ihre stinkreichen Pigs-Freunde?“
Als Riggert entsetzt aufheulte, winkte Dobbs ab, vergewisserte sich unter halb geschlossenen Lidern hervor, dass der Boss von Riggerts-Mega-Möbel-Wohnwelten JETZT doch tatsächlich zu ihm aufsah wie zum brennenden Dornbusch persönlich. Und tatsächlich. Endlich herrschte Stille; zumindest, wenn man vom panischen Atmen des Kerls absah.
Das war das, dachte Dobbs. Diesmal hatte er die richtigen Worte gesagt, den Charlie-Tonfall perfekt getroffen. Bueno.
„Gut, dann hätten wir das also geklärt“, stellte er zufrieden fest, da er die Situation völlig unter seiner Kontrolle glaubte.
„Ja. Genau, Sir. Das haben wir“, bestätigte Riggert und wischte sich erleichtert Rotz und Speichel vom Kinn.
„Und Sie dürfen vorerst mal weiterleben.“
„Vorerst?“, kreischte der Fettsack und bäumte sich auf.
****
Keine neunzehn Sekunden später wusste Dobbs, wo genau der Safe zu finden war. Weitere drei Sekunden später stellte er immer breiter lächelnd fest, dass dieser Safe so groß war, dass man ihn begehen konnte wie den Schuhschrank seiner Ex-Frau, Gott hab sie selig.
Bei allem anderen kam es nur noch auf Tempo an.
Einpacken. Verschwinden, keine Spuren hinterlassen. Zurück nach Playa del Carmen an die mexikanische Karibikküste auf der Halbinsel Yucatán. Weiterleben auf der Sonnenseite.
Bis zum nächsten kleinen Raubzug aus Prinzip.
Aber noch hatte er in diesem Safe zu tun; sorgfältig und weiterhin seelenruhig sortierte er aus, was ihn nicht interessierte, und häufte an, was er auf jeden Fall in seinen liebevoll restaurierten 68er Thunderbird laden und mitnehmen würde.
Vor allem natürlich das sogenannte lange Schwert Katana und das Kurzschwert Wakizashi, die ab Ende des 14. Jahrhunderts traditionell in Kombination von den japanischen Samurai getragen und im Kampf verwendet wurden. Vor allem ihretwegen war er angereist. Der Tipp war sein Geld wert, dachte er, während er die perfekte, leicht gekrümmte Klinge in der Hand wog. Echt. Er wusste es, er spürte es. Sah es.
Die durch spezielle Schmiedetechniken erzeugte, Hamon genannte Härtezone verlieh einer jeden echten japanischen Klinge der damaligen Zeit ihre Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Ihren Wert.
Geradezu zärtlich strich er mit einer Fingerkuppe den langen Katana-Beidhandgriff Tsuka entlang. Er war nicht mit Rochen-, sondern mit Haifischhaut überzogen und kunstvoll mit bunten Seidenbändern umwickelt.
Kein geschnitzter Hartholz-, kein Elfenbeingriff. Also definitiv nicht nur ein Dekorations- oder Präsentationsschwert.
Benjamin F. Riggerts hoch gestapelte Aktienbündel beachtete Dobbs gar nicht erst, die Schwarzgeld-Bündel und Goldbarren hingegen schon. Die Diamanten erst recht. Er würde mehrfach zwischen Haus und Auto pendeln müssen, bis alles verstaut und ordentlich in seinen Besitz übergegangen war. Was irgendwelchen aufmerksamen Menschen auffallen könnte.
Deshalb Tempo, aber nicht zu viel davon. Nicht auffällig.
Gut möglich, dass er diesen Gedanken laut aussprach … und damit seinen ganz persönlichen Alptraum heraufbeschwor.
Hinter ihm lachte plötzlich jemand tief in der Kehle belustigt. Alkoholisiert. Eine Frauenstimme.
„Tempo ist was für Scheiß-Stress-Junkies“, sagte diese Stimme, kaum verständlich. Dann traf Hermann Nathaniel Dobbs etwas mit kolossaler Wucht seitlich am Schädel und das Gefühl der Überlegenheit explodierte und riss ihn und die ganze Welt in ein strudelndes Nichts.
2 ZIELSTREBIG
Ja. Genau so war das losgegangen mit ihm und Benjamin F. Riggerts Frau Dianne … und Baby. Damals, vor zwei Monaten, im Dezember.
Als Hobbs rücklings am Boden liegend neben dem übel zugerichteten Leichnam des Fettsacks wieder zu sich gekommen war, hatte die elende Schlampe ihm eine Revolvermündung so brutal gegen die Stirn gerammt, dass er schon glaubte, sie habe abgedrückt. Dass er wahrlich glaubte, der rasende Schmerz sei nur das letzte, was er von dem spürte, was die Kugel mit seinem und Charlies Gehirn anrichtete.
„Ich schau` Kerlen wie dir gern in die Augen, wenn ihr ganz mickrig seid“, eröffnete stattdessen SIE ihm und, dass er sie und ihre Tochter Baby in Sicherheit bringen und sie beide beschützen musste.
Für immer.
„Muss ich nicht. Sie sind betrunken. Und verrückt.“
„Oh, nein“, widersprach sie sehr ruhig, ging neben seinem Kopf in die Hocke und beugte sich ganz dicht zu ihm vor. „Ich bin zielstrebig. Weil ich es ihm nämlich besorgt habe, dem großen Boss von Riggerts-Mega-Möbel-Wohnwelten. Weil ich keine Psycho-Spielchen mit ihm gespielt habe. Keine Zeit vergeudet habe. Weil ich diese widerliche, gewalttätige fette Sau, neben der du liegst, mit Genuss umgebracht habe. Mit dem Säbel, auf dem deine Fingerabdrücke sind. Durch die Augen. Ja! Er sollte mich ansehen dabei!“
Sprachlos stierte Dobbs sie an. Sie gehörte wirklich zu der Sorte Frau, die als Kind zu lange mit Barbie-Puppen gespielt und beim Erwachsenwerden vergessen hatte, dass es nicht sexy sondern nur peinlich aussah, wenn man sich auch mit über fünfzig noch wie Barbie kleidete und redete. Allein diese Lippen! Wie Gummireifen!
Aber sie war nicht mehr betrunken.
Sie war völlig nüchtern, obwohl sie nur diesen furchtbaren geblümten Morgenmantel trug, der vorne blutdurchtränkt und nicht mehr richtig geschlossen war und viel zu viel von ihren unnatürlich aufgeblähten, noch viel furchtbareren Silikonbrüsten enthüllte.
Frostig lächelnd schlug sie ihm mit seinem Zylinder ins Gesicht; denn natürlich war ihr sein Blick nicht entgangen.
„Du wirst uns nicht brechen“, flüsterte Hermann Dobbs und saugte sich das Blut aus der geplatzten Unterlippe.
„Uns?“, kicherte sie, während sie sich umständlich aufrichtete und verächtlich auf ihn herabschaute. Und schließlich diesen Revolver jemanden reichte, der außerhalb seines Gesichtsfelds stand. Vermutlich ihre Tochter Baby.
Dobbs tat, als habe er sich verschluckt und hustete.
Keine Spielchen mehr, dachte er. Schluss mit lustig, dachte er.
Riggerts Witwe hatte ihn nicht gefesselt.
Wahrscheinlich hatte sie zum ersten Mal getötet. Das Adrenalin putschte sie noch, sie fühlte sich überlegen, so überlegen. Kleiner Fehler, sich so zu fühlen, dachte er. Wie wir nun wissen. Also nickte er nur. Verzichtete darauf, sie zu provozieren. Schluss mit lustig. Er setzte ihr den himmelweiten Unterschied zwischen einem japanischen Katana und einem ordinären Säbel nicht auseinander. Er nickte schweigend und übergab sich unvermittelt vor lauter Kopfschmerzen zur Seite hin.
Auch, als Dianne ihm schließlich ihre 17jährige Tochter Baby alias Marilyn vorführte wie ein Zirkuspferd, nickte er und fragte sich nur beiläufig, ob die Kleine wohl eingeweiht gewesen war … in alles. Wenn, dann merkte man es ihr nicht an. Auch er ließ sich nichts anmerken, doch hatte er sie bereits blitzschnell taxiert.
Das Mädchen war anders als die Mutter; ungeschminkt, auf eine unscheinbare Art hübsch. Schmal gebaut, brünette lange, glatte Haare, ein bisschen zerzaust, als sei sie gerade aus dem Bett gefallen. Kein Piercing, kein Tattoo.
Undurchschaubar lächelte sie auf ihn herab.
Nicht feindselig.
Eher so, als könne sie in ihn hineinschauen. Als sehe sie unter seiner Haut, in ihm drin, nicht ihn, sondern Charlie Manson.
Doch es war der bizarren Situation angemessen, zu schweigen. Überlebensnotwendig. Er war ein geduldiger Mensch, er hatte gelernt, abzuwarten. Außerdem litt er seit frühester Kindheit unter der Angst vor physischer Gewalt.
Dass er in eine Falle gelockt worden war, mit dem angeblich so bombensicheren Tipp, dass diese Dianne ihn ausgetrickst und benutzt hatte, um ihren Mann töten und möglicherweise straffrei davonkommen zu können, kratzte nicht wirklich an seinem Ego. Auch er hatte schon getötet, aus Notwehr. Mit List und Tücke jedoch war auch er ans Werk gegangen.
Dass er mit ihr und ihrer Tochter auffallen würde … DAS hingegen machte ihm gehörig zu schaffen.
Aber … Ein Schritt nach dem anderen.
„Willst du überleben?“, fragte Dianne ihn schließlich lauernd.
„Um jeden Preis“, antwortete er schlicht, weil es intelligent war, so zu antworten.
Diesmal nickten Dianne und Baby. Als sei damit eine Übereinkunft für die Ewigkeit geschlossen worden.
Riggerts viehisch schwere Leiche schleppten sie mit vereinten Kräften ins Badezimmer und ließen sie dort, Kopf voran, das Gesicht nach unten, behutsam in die riesengroße, schicke Badewanne gleiten, die bereits mit Schwefelsäure gefüllt worden war.
„Hab` ich in einem französischen Film gesehen, vor Urzeiten“, sagte Dianne. „Trio Infernal.“
„Die Europäer und ihre Kunst-Filme“, brummte er widerwillig anerkennend.
„1974 … Gott, war ich damals noch jung“, sagte sie, versonnen lächelnd.
„Hier drin stinkt`s“, sagte Baby.
Die Schätze aus dem begehbaren Safe des Fettsacks sowie den Teppich, auf dem sich neben Riggerts auch Dobbs` Blut und Erbrochenes und damit DNA befanden, schafften sie in den darauf folgenden zwei Stunden gemeinsam in seinen Wagen.
„Mann, ist das eine geile Karre!“, jubelte Marilyn währenddessen immer wieder.
Sie hüpfte und klatschte dabei in die Hände und lachte übermütig wie ein Kind. Und versuchte, mit der Zunge vereinzelte Schneeflocken zu fangen.
3 IRRFAHRT: ALLES BESCHLEUNIGT
Seither waren sie unterwegs, ziellos, in einer rasenden Irrfahrt kreuz und quer zuerst durch Vancouver, schließlich durch den Südwesten von British Columbia an der Westküste Kanadas.
Sie fuhren hinauf, nach Whistler, Pemberton, Lillooet und weiter, Richtung Prince George. Sie übernachteten in teuren Hotels, und Mutter und Tochter Riggert wollten hier shoppen und dort, beide warfen das Bargeld buchstäblich zum Fenster raus. Dabei fielen sie möglicherweise auf. Und damit vermutlich auch er, obwohl er sich stets diskret zurückhielt und darauf drängte, abzureisen, in Bewegung zu bleiben oder, am besten, ganz abzuhauen aus Kanada, solange noch nicht öffentlich nach ihnen gefahndet wurde.
Oft hörten sie auf ihn, immer aber wurde es noch schlimmer.
Irgendwann erzählte Dianne aus ihrem Leben, kommandierte und trank, hinten, auf dem Rücksitz. Je mehr sie trank, desto hysterischer kreischte sie. Wie geil es gewesen sei, sich zu emanzipieren, sich zu befreien, ihn zu erledigen, den Herrn der amerikaweit erfolgreichsten Möbelmarktkette, wie stark sie sich seither fühle.
Und ihre 17jährige Tochter mit den neuerdings blond gefärbten Haaren lümmelte in ihrem superkurzen Kleidchen nuttig auf dem Beifahrersitz, mit leeren Augen. Aber so sehr sie sich auch Mühe gab, vulgär zu wirken, es gelang ihr nicht.
Die Füße in den schneeweißen Sneakers gegen das Armaturenbrett gestemmt, die langen knochigen, aber irgendwie auch schönen Beine angewinkelt, hing sie ihren ganz eigenen Gedanken nach, lächelte ab und zu und schrieb danach etwas mit einer seltsam elegant geschwungenen Schrift, die so gar nicht zu ihr passen wollte, in einen Block und gluckste vergnügt. Geheimnisvoll.
Die Zeit und überhaupt alles beschleunigte, und Hermann Dobbs sehnte sich zurück in die Sonne, in die Stille, an diesen ganz speziellen einsamen Strand von Playa del Carmen, den man nur mit einem kleinen Tauchtrip erreichte, und allzu bald schon plapperte nicht nur Dianne mit ihren Gummireifenlippen unentwegt auf dem Rücksitz, sondern flüsterten auch Mr. Swans und Charlies Nachtstimmen lauter, drängender hinter Mauern aus dunklem Rauschen. Ganz egal, wie schnell er fuhr. Und wie sehr er damit möglicherweise auffiel.
„Seid still!“, schrie Hermann Dobbs irgendwann. „Seid still, gottverdammt, ich muss nachdenken!“
Ich hätte niemals gebrüllt, raunte die Stimme des echten Charles Manson in seinem Kopf. Ich hätte geflüstert.
„Sei still, du auch. Scheiße, du bist an Darmkrebs verreckt, an Darmkrebs, also halt dich da raus, bitte!“, zischte er.
Baby starrte ihn an, immer noch lächelnd. Als habe sie einen Plan. Irgendeinen Plan.
Danach erst begriff er vage, dass er gebremst hatte, dass der Wagen stillstand; dass er selbst, nach scheinbar ewiger, rauschhafter, rasender Flucht, vornübergebeugt hinter dem Steuer seines schwarzen 68er Thunderbird kauerte, schwer atmend.
„Du hast doch einen Plan, oder?“, murmelte er, irgendwie hilflos, und kam sich zum allerersten Mal lächerlich vor mit seinem Zylinder.
****
„Ich habe das Samurai-Kampfmesser“, flüsterte Baby.
Erst, als er etwas sagen wollte, redete sie weiter, kam seiner Frage zuvor. „Ich weiß, man nennt es Tantó, seine Klinge ist weniger als einen Shako lang, also kaum dreißig Zentimeter. Damit hat sie Riggert abgestochen, nicht mit dem Katana, das sie angeblich versteckt hat, als Druckmittel gegen dich. Ich bin nicht dumm. Und ich verlange von dir, dass du mich mit meinem richtigen Namen ansprichst.“
„Marilyn“, hauchte er und grinste verschwörerisch zu ihr hinüber.
Beinahe gleichzeitig hörte er hinter sich den dumpfen Laut und begriff, dass Diannes Geschwätz verstummt war, dass sie eingeschlafen und einfach zur Seite gekippt sein musste. Wahrscheinlich war ihr dabei die Wodka-Flasche aus der Hand gerutscht und auf dem Wagenboden gelandet, wo sie nun ihren restlichen Inhalt verströmte.
Hermann Dobbs riss das Lenkrad herum, beschleunigte, genoss die Fliehkräfte, das Jaulen der über Asphalt radierenden Reifen, schaltete und beschleunigte weiter.
Marilyn warf ihm von der Seite her einen wissenden Blick zu, kommentierte es jedoch nicht, weckte ihre Mutter nicht, verriet ihn nicht.
Ihr Kleidchen rutschte noch ein bisschen weiter zurück, der Flaum auf der Oberseite ihrer nackten Oberschenkel richtete sich auf, wie elektrisiert. Die Finger ihrer rechten Hand streichelten über den zugeklappten Block auf ihrem Schoß.
Irgendwann zog sie das Tantó zwischen seinen Seiten hervor und reichte es schweigend, Griff voran, zu ihm herüber. Der Griff war sorgfältig in einer kleine Plastiktüte gesichert, und Hermann Dobbs wusste natürlich warum.
„Behalt` es.“ Er zwinkerte ihr zu und fuhr noch schneller. Allerdings nicht zu schnell.
Ab diesem Moment machte er überhaupt nichts Auffälliges mehr.
Weck sie nicht auf, weck die Irre bloß nicht auf, hämmerte es in seinem Kopf. Alles löste sich auf, wurde zu hellem Sonnenschein und wieder zu dunkler Nacht, bis er sein Ziel erreichte und den Thunderbird sehr sanft abbremste, an der Nordspitze von Vancouver Island.
Und jetzt? Und jetzt?
Er war schon einmal hier gewesen, vor drei, vier Jahren, und nicht bei Nacht.
Sie befanden sich auf dem Parkplatz mit der Aussichtsplattform oberhalb der Felsenklippe von Port Hardy, von dessen Fischerhafen aus im Sommer jeden zweiten Tag die großen, majestätischen Autofähren der B.C. Ferry Corporation an den Inseln der Inside-Passage entlang nordwärts fuhren, bis hinauf nach Prince Rupert.
Weit und breit kein Verkehr, keine eventuellen Zeugen.
Der Motor des Thunderbird grollte im Leerlauf.
Wenn er die Augen schloss und in sich hinein lauschte, glaubte er die Einsamkeit und die Macht dieses Ortes spüren zu können. Und wie das, was ihn möglicherweise als Charlie Mansons Reinkarnation ausmachte, wieder stärker wurde. Anwuchs. Genau wie die Brandung am Fuß der steil abfallenden Klippen.
Marilyn spürte es auch; Gänsehaut überzog ihre Arme. Er sah ihr fasziniertes Gesicht, die begeistert aufgerissenen Augen. Erleuchtet.
Auch die Möwen spürten es. Trotz Nacht, Sturmwind und März-Schneeregen kreisten sie schreiend in halsbrecherischen Manövern über dem Wagen, über ihnen allen, bevor sie es mit der Angst vor ihm zu tun bekamen und sich davonmachten und hinabstürzten ins Meer, in die haushohen Sturzfluten.
4 DAS MORDGESTÄNDNIS, DAS TESTAMENT
Scharf geschliffener Stahl wurde behutsam in seine geballte Faust geschoben, von oben nach unten glitt die Klinge zwischen das sehnige Fleisch seiner Handfläche und Finger.
„Du tust nichts!“, fauchte Marilyn ihn an.
Unwillkürlich krampfte er die Hand um die rasiermesserscharf geschliffene Klinge zusammen.
Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
„Vergiss nicht, weshalb wir hier sind“, ermahnte Marilyn ihn mit ihrer harmlosen, weichen Kinderstimme.
„Du hast einen Plan“, stellte er fest.
„Ich hab` dich, Hermann Dobbs“, sagte sie, als Dianne sich auf dem Rücksitz kurz bewegte.
„Warum hilfst du mir?“
„Na, sie hat mit nie geholfen, egal, was er mit mir angestellt hat! Immer nur Vorwürfe. Du willst ihn mir wegnehmen, meinen Ben! Damals. Als ich noch nicht wusste, wie man sich wehrt.“
Dobbs schüttelte ungläubig den Kopf.
„Du hilfst mir“, flüsterte sie.
„Ja“, murmelte er und konnte sich erst losreißen aus ihrem Blick, als sie ihm irgendwann behutsam mit dem abgewinkelten Zeigefinger über die Wange streichelte und mit dem Kinn nach unten ruckte, auf das Tantó-Kampfmesser, dessen mit Plastik verhüllten Griff sie noch immer vorsichtig umklammerte und dessen Klinge er noch immer umklammerte, mit blutigen Fingern.
Kein Krieger berührt je den Stahl einer Klinge. Die Klinge ist heilig. Es ist ein Frevel, sie zu berühren, sie mit dem eigenen Blut zu besudeln. Es ist, als fordere man die darin gebannte Bestie auf, einen selbst zu verschlingen.
Noch immer nahm er ihr das japanische Kampfmesser nicht ab, doch er gab die Klinge frei. „Was hast du in diesen Block geschrieben?“
„Ihr Mord-Geständnis, ihr Testament. In ihrer Schrift. Ich kann perfekt in ihrer Schrift schreiben, sogar ihre Unterschrift kann ich. Sogar besser als sie, weil ich niemals trinke.“ Wieder ließ sie dieses Lächeln aufleuchten. „Und zusammen mit ihren Fingerabdrücken …“
Einmal mehr nickte er. Einmal mehr blitzte dieser Gedanke durch seinen Kopf: Bei allem anderen kommt es nur noch auf Tempo an.
Als er sich abwandte und aussteigen wollte, hielt sie ihn zurück; sie brauchte dazu nicht mehr zu tun, als ihre schmale Hand mit den langen Fingern auf seinen Unterarm zu legen. Zuerst versteifte er sich, als pariere er einen Angriff: die linke Schulter vorgereckt, Muskeln angespannt, die Lippen leicht geöffnet, den Atem in jenem Hauch ausgestoßen, den Musashi einst im Go Rin No Sho als Todeshauch für den Feind beschrieben hatte. Dann hörte er sich ihren Plan an, und nickte.
„Ich will es schmecken“, flüsterte sie. „Dein Blut. Unseren Pakt.“
5 DIANNE HAT NICHTS GEHÖRT
Donner trieb mit unnatürlicher Geschwindigkeit näher und stürzte wie ein Gebirge über sie herein. Als Dianne hochschreckte, irrlichterten Blitze direkt über ihr, und sie lag völlig allein im Zentrum eines nicht allzu großen Parkplatzes.
Der Thunderbird war verschwunden wie ein böser Traum. Und mit ihm dieser Irre … Swan, mit dem Zylinder. Auch ihre Tochter ... Baby. Weg. Als habe es sie nie gegeben. Mit den Goldbarren, den Diamanten, den Geldbündeln aus Bens verdammtem Safe. Dianne schrie ihre Wut aus sich heraus, dann spürte sie etwas. Neben ihrer linken Wange stand eine Wodka-Flasche. Neben ihrer rechten eine zweite.
Zwei Flaschen, keinesfalls ihre Tagesration. Leer. Sie wusste es. Baby leerte sie ständig. Fluchend wälzte Dianne sich auf die Seite und stützte sich auf Scherben ab. Noch mehr Flaschen, zertrümmert. Stöhnend kam sie hoch, stand wackelig auf ihren 1000-Dollar-High Heels Opyum 110 von Saint Laurant, Lackleder mit silbernem Metall.
Geschockt hielt sie sich die Handfläche vors Gesicht. Aus tiefen Schnitten tropfte Blut zu Boden, wahnsinnig viel Blut.
Sie schrie nur ein einziges Mal auf, ihre Lippen spannten und schmerzten.
Einen Lidschlag lang nur brauchte sie noch. Sie schrie nicht mehr. Es kam ihr vor, als erwache sie aus einem widernatürlichen schlaflosen Schlaf.
Sie fühlte sich, als habe sie tausend gute Träume verschenkt, nur, um sich an einen einzigen schlechten erinnern zu können. Benjamin Riggert. Baby. Benannt nach der Baby aus Dirty Dancing, ihrem Lieblingsfilm mit Patrick Swayze.
Dann hörte sie den Motor aufheulen. Ein einziges Mal nur.
Einmal wurde aufgeblendet. Babys lachendes Gesicht schimmerte hinter der Scheibe. Sie winkte sogar mit dem dämlichen Zylinder dieses noch dämlicheren Irren. Hatte sich wahrscheinlich kurz mal vögeln lassen. War sie ja gewohnt. Brauchte sie ja.
War alles nur Spaß, signalisierte Babys Lachen.
Dianne strich ihr ruiniertes Kleid glatt, ignorierte die in Fetzen hängenden Strümpfe. Schmalspurig stöckelte sie los; sie dachte nicht mehr liebevoll, sorgenvoll an Baby, nein, ihr widernatürlicher, schlafloser Schlaf war Vergangenheit. Geblieben waren ihr nur Entschlossenheit. Kraft. Sobald sie bei den beiden im Wagen saß, hinter ihnen saß, würde sie tun, was nötig war. Eine der Scherben hatte sie mitgenommen.
Nie wieder wollte sie emotional von irgendjemandem abhängig sein.
„Leckt mich!“, zischte sie ihnen entgegen. Blau-weiß flirrte es vor ihr. Donner. Blitze. Im nächsten Moment schon musste sie weinen.
„Es tut mir Leid. Bitte, lasst mich nicht hier zurück“, kreischte sie.
Der Irre stieg aus, er hatte die Wagentür aufgestoßen, war mit einer einzigen kraftvoll-gleitenden Bewegung draußen und umrundete den Wagen. Baby bequemte sich erst jetzt, sich im Freien blicken zu lassen. Sie wurde völlig überrascht von der Ohrfeige, die Swan ihr verpasste. Er entriss ihr seinen Zylinder, schleuderte ihn zurück ins Wageninnere, packte Baby an den Haaren, ohrfeigte sie noch einmal, schleifte sie mit sich.
Ins Dunkle. Den Abhang hinab, zu den Klippen. Zum Abgrund.
„W-was?“, brachte Dianne nur heraus. Ist das echt? Passiert das wirklich? dachte sie, wie rasend. Sie begriff nichts.
„Mum … hilf mir, bitte-bitte, hilf mir, nur dieses eine Mal“, wirbelte Babys Stimme aus der Finsternis zu ihr heran. Vielleicht aber war es in Wirklichkeit auch nur die Stimme des unversöhnlichen Gottes, dem sie seit Jahren all ihre Opfer darbrachte.
Niemand kann da draußen auf den Klippen überleben, nicht in einer solchen Nacht.
Trotzdem. Dianne mühte sich ungeschickt unter der Absperrung durch, trat hinaus auf die Felsen, den schmalen Pfad, der sich nach unten schlängelte, machte die ersten Schritte. Tauchte ein in ein tobendes, winselndes Inferno und wusste nicht, warum.
Der Sturm aus dem Abgrund jenseits der Klippen fauchte Eiseskälte in ihr Gesicht. Dianne verlor das Gleichgewicht und stürzte. Blut troff nun auch von ihren Knien. Sie schüttelte ihre Schuhe von sich. Sie dachte an ihre Tochter. Die ihr den Mann weggenommen hatte, die schon seit Jahren ihr Mitgefühl missbrauchte. Dianne stemmte sich hoch, verharrte wankend. Lauschte. Hörte ihr Herz rasend schlagen, nicht sonst.
Nichts sonst.
6 „DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT. ABER SIE STIRBT.“
Die Luft war bis zum Bersten angereichert mit Schwefel und Elektrizität. Dianne hätte ununterbrochen ewig schreien können vor Grauen, weil sie nur noch zu stürzen glaubte, sich zu drehen und aufzuschlagen glaubte. Doch der Sturm peitschte nur den letzten Rest Alkohol aus ihrem Blut und schüttelte sie durch. Ihr elegantes Kleid, ihr cremefarbener Mantel bauschten sich und flatterten, als wollten sie mit ihr abheben und zum Wagen zurückfliegen. Ihr war schwindelig.
Gegen ihren Willen bewegte sie sich wieder, wie von Unsichtbaren vorangestoßen. Als würde sie auf Stelzen gehen. Doch sie ging nicht auf Stelzen, sie stieß sich den kleinen Zeh an einem Stein, einem lächerlichen kleinen Stein, und drehte fast durch vor Schmerzen.
Kein Laut mehr von Baby.
Keine Spur mehr von ihr und diesem brutalen Swan. Das Zucken der Blitze, das Krachen und der Nachhall immer neuer Donnerschläge ließen die Erde erbeben und verwandelten Diannes Schritte endgültig in orientierungsloses Taumeln.
Ich werde hier sterben, dachte sie. Alles war umsonst, dachte sie.
Regenböen durchnässten sie bis auf die Haut, machten den Pfad noch trügerischer.
Wieder verharrte sie, voller Hass auf Baby diesmal, die sie mit ihrem flehentlichen Gejammer hier heraus gelockt hatte. Ihr Atem stockte, als sie begriff, dass sie umkehren würde. Umkehren und Baby ignorieren und vergessen würde. Musste.
„Ja“, keuchte sie. Danach erst war sie endgültig frei und ungebunden.
Suchend, abschätzend, blickte sie sich bereits um, beide Arme weit ausgestreckt, wie auf einem Hochseil balancierend.
Der Parkplatz und Swans Wagen befanden sich hinter ihr, über ihr.
Die Scheinwerferstrahlen, die ihr anfangs noch den Weg gewiesen hatten, waren in lächerlich fahle Streifen verwandelt, im Dunkel dieser Gewitternacht zersetzten sie sich wie Bens Gesicht in seinem Säurebad.
„Ich kehre um, ich geh einfach zurück, ich hab dich nicht gehört, Baby“, schrie Dianne gegen Sturm und Regen an und konzentrierte sich auf den Schattenriss, an dem Himmel und Klippen und Meer aufeinandertrafen, vor einem Abgrund von bestimmt fünfzig Metern brodelnder Tiefe. Sie riss sich zusammen, sagte sich, dass sie nur konsequent in die entgegengesetzte Richtung gehen musste, wollte sie ins Leben zurückkehren.
Und, verdammt, ja, das wollte sie. Gelangte sie erst einmal zurück auf diesen Parkplatz, zu diesem Wagen, würde sie, wie alle bösen Mädchen, nicht nur jeden Ort Kanadas erreichen. Schließlich war sie nicht irgendeine Frau. Ihr Mann war bekannt, ständig liefen seine Werbespots im Fernsehen, mit ihr an seiner Seite in einer der wunderbaren Riggert-Mega-Möbel-Wohnwelten.
Mit einem Mal war es ganz einfach, überzuwechseln in jene andere, fremdartige Perspektive bewusster Gleichgültigkeit.
Dianne blinzelte Regentropfen von ihren falschen Wimpern und streifte Haarsträhnen weg, die ihr wirr in die Augen hingen.
Sie orientierte sich und sah die Scheinwerferstrahlen wieder.
Der Sturm winselte gegen sie an. Dianne schüttelte den Kopf, glaubte, verstohlen über Asphalt knirschende Reifen zu hören.
„Ich hab dich nicht gehört“, flüsterte sie ununterbrochen, Schritt für Schritt. „Und was hätte ich gegen diesen Kerl schon ausrichten können?“
Mit jedem Schritt wurde es einfacher und einfacher.
Zurück ins Leben, dachte sie und setzte Fuß vor Fuß. Schneller. Eine Laterna magica klickte ihr in rasender Geschwindigkeit schattenhafte Bilder eines Pfades in den Kopf, der sie über die Klippen zurück ins Leben führte. Im Abgrund krachten immer noch höhere, noch ungeheuerlichere Sturzfluten gegen die Klippen. Ein unablässig stärker werdendes Vibrieren pflanzte sich bis in ihre blutenden Fußsohlen herauf fort.
Dann, der nächste Schritt … und ganz plötzlich war nur noch Leere unter ihr. War sie Teil dieser Nacht und dieses Sturms. Teil der Brandung, die gegen die Klippen anstürmte und brausend, schäumend, verging. Jemand hatte sie spielerisch hochgehoben und trug sie zurück ins Leben; den Pfad empor. Mr. Swan. Sie erkannte ihn sofort, auch ohne seinen Zylinder.
„Ich bring` dich zurück“, schrie er lachend gegen das Inferno an. „Ich bring` dich nach Hause, zu Ben. Bestimmt fühlt der sich schrecklich allein in seiner großen Badewanne.“
„Und Baby?“, flüsterte sie.
„Grunz-grunz“, sagte Swan nur, guttural, mit einer fürchterlichen Stimme.
„Wir hatten einen Deal, Swan.“
„Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber sie stirbt.“
„Du bist eine jämmerlich feige Sau!“, zischte Dianne, spuckte ihm ins Gesicht und zog die Scherbe über die ihr zugewandte Schläfe.
Er wurde vollkommen überrascht davon, geriet kurz ins Stolpern, und sie nutzte es; schlug ihm mit der geballten Faust ins weit aufgerissene Auge, mitten hinein in das grelle triumphierende Lodern. Er hatte schöne Augen, wie ein Reh. Fast ein bisschen traurig blickten sie. Aber eben auch voller Irrsinn und Größenwahn. Traurige Augen, dachte sie. Verrückt, dass ihr das erst jetzt auffiel. Ausgerechnet.
Bevor er das Gleichgewicht verlor und mit ihr stürzte, wand sie sich kratzend und schlagend aus seinem Griff. Er rutschte über den Rand des Pfads und zwei, drei Meter abwärts. Sie kam auf Knien und Händen auf. Sie versuchte nicht, sich zu orientieren, den Pfad zu erkennen.
Regen und Dunkelheit überfluteten alles, und überhaupt war alles Schlamm oder schroffes, glitschiges Gestein. Die letzten paar Meter hoch zum Parkplatz krabbelte sie über Fels, wegrutschende Gesteinssplitter. Es war ihr gleich, sie spürte keinen Schmerz, sie dachte nichts. Da war nur ihr rasselnder Atem, Bewegungen hinter ihr. Einmal noch spürte sie, dass er sie zu packen versuchte.
Schreiend strampelte sie sich frei, erwischte ihn mit einem Fuß, irgendwo. Dann rollte sie sich unter dem Absperrbalken durch, Himmel und Erde kippten, sie stand aufrecht und begriff nicht, wie sie dieses Kunststück vollbracht hatte; sie kreiselte um die eigene Achse, übergab sich, während sie schon rannte – dorthin, wo der Motor im Leerlauf rumorte. Sie warf sich hinters Steuer des Wagens.
Der Zündschlüssel steckte; trotzdem drehte sie ihn noch einmal, gab Gas, knüppelte den Gang mit roher Gewalt ins Getriebe und raste davon.
Im Innenspiegel sah sie ihn noch einmal. Mr. Swan. Draußen. Weit zurück, aber nicht so weit, dass er im Dunkeln unsichtbar gewesen wäre. Er rannte nur ein paar Schritte hinter dem Wagen her, dann lachte er schallend, ließ sich im Schneidersitz nieder, mitten auf diesem Parkplatz im Nirgendwo, in Sturm und Regen.
Völlig irre.
Dianne feixte, brach in hysterisches Kichern aus. Zusammen mit dem Adrenalin kam der Teufel, und sie hörte auf seine Einflüsterungen, sie bremste, sie kurbelte die Scheibe runter und schleuderte den Zylinder hinaus.
Swan reagierte … unerwartet.