Sensenmann - Leseprobe von Florian Clever zu »Schnittergarn«
Sensenmann
Leseprobe von Florian Clever zu »Schnittergarn«
Vor Schreck würgte der Gevatter den Motor ab.
»SCHEIẞE!« Er wusste sofort, was da knack gemacht hatte, senkte den Schädel in die Knochenhände und murmelte: »O NEIN. NEIN-NEIN-NEIN-NEIN-NEIN …«
Dann fasste er sich und stieg aus.
Abschnallen musste er sich nicht, den Gurt benutzte er nie – Ehrensache. Am Heck ging er ächzend in die steifen Knie und schaute unter den Wagen. Da lag sie, in zwei Teile zerbrochen.
Seine Sense.
Er hatte sie aus dem Wagen genommen, das Garagentor aufgesperrt und sie im Anschluss achtlos drinnen an die Wand gelehnt. Während er zum Einparken wieder in den Ford gestiegen war, musste sie auf den glatten Fliesen ins Rutschen gekommen und an der Wand herabgeglitten sein. Der Granada hatte den Rest besorgt. Der Gevatter machte einen langen Arm und zog die Bescherung unter dem Fahrgestell hervor.
Kaputt.
Hin.
Nix mehr zu wollen.
»SCHEIẞE«, seufzte er noch einmal, stand auf und steckte die Bruchstücke in die Mülltonne. Die lange, gebogene Schneide ragte oben über den Rand. Egal. Die Dreck-Street-Boys in den orangenen Latzhosen sollten mal schön den Ball flach halten. Der Erste dieser Clowns, der am Abholtag deshalb Palaver machte – von wegen Sperrgut oder so – würde selbst abgeholt werden, und zwar vom Tod persönlich!
Das Problem war nur, dass ihm dafür jetzt das Werkzeug fehlte. Keine Sense – kein Abholen. Die reifen Seelen mussten schließlich geerntet werden.
Er schob eine knöcherne Hand unter seine Kapuze und kratzte sich den blanken Schädel. So ein Ärger! Das war ihm noch nie passiert! Er, der Sensenmann, ohne Sense! Wie peinlich!
Der Klingelton seines Smartphones riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Brahms’ Requiem. Er ging ran, ehe der Chor Selig anstimmen konnte.
»JA?«
»¡Hola compañero!«
Es war Luzifer. Wären noch Haut und Muskeln im Gesicht des Gevatters gewesen, er hätte beides angewidert verzogen. Das Möchtegern-Spanisch des Höllenfürsten erschöpfte sich in aufgeschnappten Floskeln.
»Auffahrunfall auf der A3«, ging es weiter, gefolgt von einer Kunstpause. Dann, genüsslich: »LKW mit Bremsversagen. 30-Tonner. Sechs Kunden für dich, amigo.«
»HÖR MAL, ICH …«, hob der Gevatter an.
»¡Vamos, muchacho!«, unterbrach ihn Luzifer. »Besser, du bist da, bevor sie alle aus dem Blech gepellt haben.«
»ICH HAB HIER EIN PROBLEM …«, platzte der Gevatter heraus. Er kannte den Herrn der Unterwelt. Wer bei dem Kerl zu Wort kommen wollte, musste schnell sein.
»Si, si, wir haben alle unsere Probleme. Ich muss Schluss machen. ¡Hasta pronto!«
Gleich darauf war die Verbindung tot.
Nicht schnell genug, dachte der Gevatter resigniert. Was mach ich denn jetzt?
Unvorhersehbare Ereignisse waren nicht seine Stärke. Schließlich war er es gewohnt, selbst das unvorhersehbare Ereignis zu sein. Er stellte sich vor, er hätte Lippen und kaue darauf, eine Angewohnheit, die er sich bei seiner menschlichen Klientel abgeguckt hatte. Sein Blick fiel auf die Mülltonne. Endlich kroch eine Idee vorbei.
Er würde eine neue Sense kaufen fahren.
***
Der Baumarkt war gut besucht.
»ENTSCHULDIGUNG, WO FINDE ICH DENN SENSEN BEI IHNEN?«
»Dritter Gang links«, leierte der Mitarbeiter in der Gartenabteilung herunter, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. »Bei den Rasenmähern.«
Das kapuzenverhüllte Haupt des Gevatters drehte sich einmal um 180 Grad nach links, dann zurück, dann um 180 Grad nach rechts. Bis auf ein paar Wareninseln im Kassenbereich reihte sich Hochregal an Hochregal. Unmöglich, als Fremder in diesem Labyrinth einen Anfang oder ein Ende auszumachen, und nummeriert waren die Regalfluchten auch nicht. Er richtete seine leeren Augenhöhlen wieder auf den Mitarbeiter.
»WELCHES IST DENN DER DRITTE GANG?«, hakte er nach.
Der Mitarbeiter hieb einmal mit der Computermaus auf den Tresen und sprang auf, als habe er sich auf ein Furzkissen gesetzt.
»Ja, dann kommen Sie doch mal mit!«, ätzte er. »Ich bringe Sie hin, bis sie genau davorstehen!«
Der Tod folgte dem Mann und malte sich aus, dessen schwarze Seele zu ernten und in die Hölle zu schicken. Wenn er nur schon die neue Sense hätte!
Vorm Regal alleingelassen, nahm er das Angebot in Augenschein.
»DACHS PERFEKT FEINSCHNITTSENSE, 153 CM, STAHLROHR«, las er. »PATENTIERTER WURFARM. 102,50 €.« Schon mal nicht schlecht.
»DACHS FLEXIO KLAPPSENSE, 138 CM, STAHLROHR, MÄHFERTIG GEDENGELT. 38,80 €.« Das Verb in der Produktbeschreibung war ihm neu, doch es gefiel ihm. Er hatte große Lust, gleich loszudengeln. Der Preis sprach ihn auch an. Leider war der Sensenbaum ein bisschen kurz. Der Gevatter war hochgewachsen und brauchte Werkzeug mit vernünftigen Abmessungen.
»GRÜNHELD REICHSFORMSENSE, 145 CM, MITTELBREIT. 69,95 €«, las er weiter, und, direkt daneben: »GRÜNHELD WETTSCHLIFFSENSE, GESCHWEIFTER METALLBAUM, 152 CM. NUR 74,95 € (STATT 94,95 €).« Preissensibel, wie er war, befühlte er die Schneide des reduzierten Modells.
Doch dann zog noch ein anderes Fabrikat seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war länger und schmucker als alle vorherigen: »THE CUT POWERSWING PRO, 165 CM, HANDGESCHMIEDET, ÖLGEHÄRTET, ARMSTÜTZ AUS ESCHENHOLZ. 119,95 €.«
Es war Liebe auf den ersten Blick. Wie in Zeitlupe streckte er den Arm nach dem Prachtstück aus. Wog es in den Händen. Dann entfernte er den Schneidenschutz und vollführte ein paar Probeschläge.
»SSSSSSTT SSSSSSTT SSSSSSTT«, machte er dabei. »SSSSSSTT SSSSSSTT SSSSSSTT«
Ein weißhaariger Herr, der mit Einkaufswagen in den Gang eingebogen war, manövrierte rückwärts und floh.
Ja, lauf du nur!, dachte der Gevatter. In vier Sommern sehen wir uns wieder. Für die Restlebenserwartung älterer Leute hatte er einen sechsten Sinn.
Er klemmte den Schneidenschutz wieder an, legte die Powerswing Pro in den Einkaufswagen, nahm noch einen Wetzstein mit und schob ab zur Kasse. Man musste sich auch mal Qualität gönnen, das Billigste war auf lange Sicht nicht immer das Günstigste. Hätte er Lippen gehabt, hätte er vor sich hin gepfiffen.
Zeit für die Ernte! Endlich!
An Kasse 1 war Selbstbedienung, das würde am schnellsten gehen. Nur stand dort gerade ein junges Paar mit Baby an. Der Gevatter ging weiter zu Kasse 2. Da war die Schlange zwar länger, aber junge Paare mit Baby oder kleinen Kindern mied er. Sie hatten in der Regel noch ihr ganzes Leben vor sich, das schlug ihm immer auf die Laune.
»Verraten Sie mir Ihre Postleitzahl?«, flötete die Kassiererin.
»NÖ«, antwortete er jovial. Er gab nie Auskunft auf diese Frage, die er als Eingriff in seine Privatsphäre empfand. Mit so etwas ging er seinen eigenen Kunden ja auch nicht auf die Nerven.
»Haben Sie unsere Vorteilskarte?«, flötete die Dame unbeeindruckt weiter.
»NEIN«, gab er zurück, schon weniger freundlich. Die Seelen auf der A3 würden nicht ewig warten. Er drehte die Sense so, dass der Barcode oben lag, hielt sie der Kassiererin zum Scannen hin und zahlte mit drei Fünfzigern. »DEN BON BRAUCH ICH NICHT.«
Zurück am Auto, warf er die Powerswing Pro auf die Ladefläche, den Wetzstein auf den Beifahrersitz und ließ den Motor aufheulen. Die Ampel zur Hauptstraße nahm er bei Dunkelgelb, beschleunigte und donnerte auf dem brechenden Kamm der grünen Welle in Richtung Autobahnzubringer.
***
Eine halbe Stunde später hatte der Gevatter die sechs Seelen im Sack. Er parkte auf dem nächsten Rastplatz, zückte das Smartphone und wählte eine Nummer. »DEN AUFZUG, BITTE«, gab er durch, »SECHSERPACK.«
Ein goldener Strahl fiel senkrecht aus den Wolken, erfasste den Gevatter und beamte ihn aus dem Leichenwagen heraus direkt vor die Himmelspforte. Dort drückte er Petrus die Seelen in die Hand, grüßte und ließ sich zur Erde zurückbringen. Er hatte sich noch nicht ganz hinter dem Steuer materialisiert, als Brahms’ Requiem loslegte.
»Mierda!«, sprang ihm Luzifer ins Gesicht. »Hast du sie noch alle? Das war mein Tipp! Meine Seelen! Was fällt dir ein, die Ladung aufwärts zu schicken?«
»ALLES COOL«, stellte der Gevatter klar und wog den Wetzstein in der freien Hand. »HAB MICH VERWÄHLT. PASSIERT. UND WO ICH EINMAL OBEN WAR …«
»Hijo de puta!«, fauchte der Höllenfürst. »So läuft das nicht! Wir hatten einen Deal! Wir …«
»REG DICH AB«, unterbrach ihn der Gevatter, legte das Smartphone in die Mittelkonsole, aktivierte die Freisprech-Funktion und begann, die knöchernen Fingerkuppen der Linken mit dem Wetzstein zu pflegen. »IST KEINE GROSSE SACHE. NÄCHSTES MAL FÄHRT TIO MUERTE WIEDER IN DEN KELLER. MUSS JETZT SCHLUSSMACHEN. HASTA LA VISTA, CARIÑO.« Ein Knochenfinger berührte den roten Auflegen-Button und machte Luzifers Schimpftirade ein Ende. Hätte der Gevatter Lippen gehabt, sie hätten sich zu einem Lächeln gekräuselt.
Er hatte eine nagelneue Powerswing Pro. Er war wieder im Geschäft. Und er ließ sich nicht wie ein Laufbursche herumschicken, von niemandem.
Er war der Sensenmann.
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So kleine schwarzhumorige Sachen sind manchmal wie das sprichwörtliche Salz in der Suppe.