Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 22: Camille Flammarion: Die Mehrheit bewohnter Welten (1862)
Teil 22:
Camille Flammarion: Die Mehrheit bewohnter Welten
(1862)
Das las sich schon beeindruckend auf dem Titelblatt der deutschen Erstausgabe von 1864. Fast in barocker Breite verkündet dort der Verlag Woldemar Türk, Dresden:
„Die Mehrheit bewohnter Welten. Eine Studie, in der die Bedingungen der Bewohnbarkeit der Himmelskörper vom Gesichtspunkte der Astronomie und Physiologie aus entwickelt und besprochen werden. Von Camille Flammarion, ehemaligem Berechner am kaiserlichen Observatorium zu Paris, Professor der Astronomie, Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften etc.“
Ein ehemaliger Berechner, jetzt Professor, das weckt das Bild eines gesetzten bebrillten Herren um die 50 mit Spitzbart und Brille, der in reifem Alter über seine jahrzehntelangen Forschungen spricht.
Die Wahrheit sah anders aus.
Der echte Flammarion war zum Zeitpunkt des Erscheinens der Broschüre (1862) grade mal 19 Jahre alt. Er war auch – wie hieraus logisch folgt – durchaus kein Professor. Es handelte sich im einen berufslosen, aber phantasiebegabten Dilettanten, der seine Lehre als Graveur abbrach, um sich fortan der Astronomie zu widmen. Dafür besaß er eine nicht geringe Begabung – er hatte z.B. ein Talent für Mathematik. Nach einer kurzen Zeit in Pariser Observatorium als rechnender Assistent wurde er gefeuert. Warum genau, wissen wir nicht.
Fortan schlug er sich recht modern mit zwei Berufen durchs Leben – als Autor populärwissenschaftlicher Werke und wieder als Berechner an einem Pariser astronomischen Recheninstitut.
Witz der Geschichte: Flammarions wilde Spekulationen, sein lebendiger Stil und seine leicht fassbare Prosa machten ihn in Europa bald so populär, dass ihn 1873 der Direktor des Pariser Observatoriums bat, wieder zurückzukommen. Das hatte bizarre Konsequenzen. Flammarion, im Herzen immer eher Autor der Phantastik als Wissenschaftler, nutzte seinen Ruf, um seine z.T. bizarren SF-Ideen nun auch als „Experte“ zu propagieren, und das mit Erfolg. Er gehörte zu den wichtigsten Verfechtern der These, dass der Mars bewohnt sei und die Marsianer ein künstliches Kanalnetz angelegt hatten.
Hochgeehrt, unter anderem mit dem Band der Ehrenlegion, starb Flammarion 1925.
Sein Werk und seine Persönlichkeit werden heute unterschiedlich eingeschätzt. Zum einen war er einer der wichtigsten Anreger der modernen Sience fiction, er schrieb einen der ersten großen Marsromane („Urania“, 1889), auch sein Apokalypse-Spektakel „Das Ende der Welt“ (1894) faszinierte die Zeitgenossen. Geschildert wird der Untergang der Erde durch Kometenzusammenstoß.
Als Sachbuchautor dürfte er seine Epoche zwar verwirrt und mit falschen Hoffnungen versehen, aber auch um einige buntschillernde Facetten bereichert haben – und ist das nicht auch eine Leistung? Beweisbarkeit der Thesen hin oder her – das wird man vielleicht in 150 Jahren auch über Erich von Däniken sagen. Für einen Schriftsteller ist das eine ganze Menge, ja fast alles, was er sich wünschen kann.
Flammarions ungewöhnliche Strahlkraft glüht herüber bis ins 21. Jahrhundert, sein Ruf ist noch da, allerdings dürften seine Werke selbst heute nur noch wenigen Lesern bekannt sein, weniger jedenfalls als etwa die Bücher seines Landsmannes und Zeitgenossen Jules Verne. Immerhin ist die kleine Werkausgabe im Dieter-von-Reeken-Verlag heute vergriffen – eine kleine Gruppe von Interessenten hat sich also erhalten.
„Die Mehrheit bewohnter Welten“ gehört zu den epochalen Schriften der SF – es ist gewissermaßen die Ouvertüre zur Gattung schlechthin, theoretisches Rüstzeug für den harten Kern des Genres, nämlich denen, die wirklich Sience und Fiction vermischten. Der Anspruch war ja mal – auch wenn man das beim Lesen des Wüstenplaneten oder der Mars-Bücher von Bourroghs schnell vergisst - Wissenschaftliches mit Fiktionalem zu verquicken. Eine SF mit diesem Anspruch gab es vor 1862 nicht, und es ist sicher kein Zufall, dass Vernes große Romane erschienen, nachdem Flammarion quasi feierlich das Band zur breiten Straße der Gattung durchschnitten hatte. Der Zeitschriftenabdruck des ersten echten modernen SF-Buches der Literaturgeschichte, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, begann zwei Jahre nach Erscheinen der „Bewohnten Welten“.
Eine wichtige Zäsur also – und grade deshalb ist die Lektüre etwas enttäuschend. Liest man das Werk heute, stellt man erstaunt fest, wie sehr im Mittelalter verhaftet die astronomische Welt auch 1862(!) noch war. Es bedurfte anscheinend wirklich eines ungebundenen, nicht arrivierten feurigen Autors, um das Thema überhaupt anzuschneiden.
Um Gehör in akademischen Kreisen zu finden, ist die Konstruktion recht mühsam-antiquiert gehalten. Die Broschüre ist gegliedert in eine historische, eine astronomische und eine physiologische Studie. Im ersten Drittel werden alle alten Denker zitiert, die sich schon mal positiv zum Thema Außeriridische geäußert haben. Dabei trickst Flammarion zuweilen auch. So führt er Autoren an, die in fiktionalen Werken das Thema gestreift haben, obwohl es ihm um wissenschaftlich-philosophische Thesen geht. Z.b. erwähnt er Cyrano de Bergerac, der eigentlich nur deswegen immer wieder in der Liste früher Planetenromane auftaucht, weil zwei seiner Satiren auf dem Mond und auf der Sonne spielen.
Viel Energie wird vor allem darauf verwendet, die kirchliche Doktrin, nur auf der Erde sei – als dem Gestirn, auf dem Jesus gewirkt hat - intelligentes Leben möglich. Schließlich hätte er sonst ja auch die Aliens erlösen müssen. Außerdem hätte Gott ja ausdrücklich (nur) den Menschen nach seinem Ebenbilde auf der Erde erschaffen. Wie kann es da außerirdische Intelligenz geben? (Ein Thema der religiösen SF, das, so absurd es ist, noch bis ins 20. Jh. in der Literatur eine Rolle spielen wird.) Für seine Polemik gegen kirchliche Einwände geht viel Zeit und Druckerschwärze drauf. Das liest sich heute recht unerquicklich.
Immerhin bleiben im Kern einige Passagen übrig, die tatsächlich immer noch bemerkenswert sind. Camille Flammarion vertritt die sicher in der Welt der Astronomie einzigartige These, dass es sich bei der Erde nicht um den wirtlichsten, sondern den unwirtlichsten Planeten des Sonnensystems handle. Nach seiner Meinung entspricht unsere Meinung, die Erde sei der wohnlichste Planet, einem antropozentrischen Dünkel, der sich nicht beweisen lasse. Er preist phantasievoll das Licht mehrerer Monde auf dem Jupiter, das große Schauspiel der Saturnringe, vom Saturn aus gesehen etc. Seiner Meinung nach haben die anderen Planeten mit ebenso großer Leichtigkeit Leben hervorgebracht wie die Erde, vermutlich sogar leichter. (Eine Besonderheit Flammarions ist, dass er nie in diesem Buch ausdrücklich zwischen pflanzlichem, tierischem oder intelligentem Leben unterscheidet. Vermutlich geht er davon aus, dass jedes Leben, welcher Art auch immer, am Ende auch intelligente Formen hervorbringen muss.) Den Einwand ganz anderer, feidlicher Lebensbedingungen auf Merkur oder Uranus schiebt er clever beiseite. Er verweist auf die bizarren Lebensformen der Tiefsee, die dort bei einem Druck und einer Lichtlosigkeit existieren, der nach unsern Begriffen kaum noch so etwas wie Leben zulassen. Wer sagt denn, so sein Argument, dass die Lebensformen auf anderen Planeten mit unseren auch nur ansatzweise verwandt sein müssten?
Mit dieser These stößt er weit in Neuland vor - erst im 20. Jahrhundert wird die SF im großen Maßstab dieses Gedankenspiel extrem fremder Lebensformen, denen nichts irdisches mehr anhaftet, in Romanen verarbeiten. Bei Stanislav Lem etwa wird dies sogar zu einer Art Leitmotiv werden. Man denke an Solaris, einen Meeres-Planeten, auf dem das Meer selbst der einzige intelligente Bewohner ist, eine Art riesiger Plasma-Gigant mit einem Intellekt, der Menschen rätsehaft bleibt.
Auch in anderer Richtung ist Flammorion prophetisch, wenn er am Ende auf die enormen Lebens-Möglichkeiten verweist, wie in anderen Galaxien bestehen.
Die Sekundärliteratur beschreibt das Original fast durchgängig als kurzweilig, pointiert, leicht verständlich und stilistisch brillant. Leider kann man das von der deutschen Erstausgabe nicht sagen.
Übersetzer Hugo Schramm lässt davon kaum etwas übrig; Flammarions elgante Sätze weichen einer staubigen Kathedersprache, einer gewundenen Aktenordner- und Büroprosa, die erschreckend zeigt, welche Abgründe damals zwischen der konzillianten französischen Prosa und der schachtelsatzverliebten deutschen herrschte. Schade – vielleicht könnte eine Neuübersetzung das Werk für uns noch einmal attraktiver machen – auch wenn es natürlich vor allem historischen Wert hat.
Die schlechte Übersetzung dürfte auch daran Schuld sein, dass das Buch in Deutschland längst nicht so populär wurde wie in andern Ländern. Das ist die wirkliche Tragödie – vielleicht hätte es sonst auch hierzulande die SF-Szene beschleunigt. Aber das ist natürlich pure Spekulation.
(Allerdings gab es in den 1880er Jahren Neuübersetzungen, doch die basierten auf einer späten, stark veränderten Zweitfassung Flammarions.)
Was die deutsche Erstausgabe an Sperrigkeit und Holzigkeit kaputtmacht, reißt sie allerdings durch ihren Anhang wieder heraus, der zu den merkwürdigsten Texten früher deutscher SF gehört, die mir je untergekommen sind. Es handelt sich zweifellos um einen Fake, aber um was für einen!
„Ein Meteorstein von einem bewohnten Planeten“ ist der Text überschrieben und berichtet auf 14 Seiten reißerisch im Stil einer Zeitungsreportage von einem aufregenden Fund – einem abgestürzten Raumschiff!
Kein Wunder – es ist eine Zeitungsreportage, und der Übersetzer hat sich hier eines Artikels aus dem „Pester Lloyd“ vom April 1863 bedient. Hiernach hat ein Dr. Hopkins auf Jamaika einen niedergegangen Meteoriten entdeckt, der verkohlte Reste von Bestandteilen einer Zivilisation enthält, u.a. auch Reste einer Zeichnung mit merkwürdigen Wesen.
Ich bin der Sache mal nachgegangen – inzwischen ist es möglich, die österreichisch-ungarische Presse jener Zeit im digitalen Zeitschriftenarchiv der Staatsbibliothek Wien im Volltext zu durchsuchen. Demnach berichten noch fünf weitere Zeitungen davon. Die meisten sehr aufgeregt.
Statt einer eigenen Zusammenfassung des Artikels, der sich wie beste Pulp fiction der 1930er Jahre liest und aus der Feder Lovecrafts stammen könnte, füge ich ich hier die der Innsbrucker Nachrichten vom 22. April 1863 ein:
Aus der andern Welt. Die „Ind. Belge" veröffentlicht unter dem Titel: „Ein neuer Columbus", einen Aufsatz über die Entdeckung eines Dr. Hopkins, welcher am 10. August vorigen Jahres in
Jamaika einen Meteorstein zur Erde fallen sah, dessen kunstvoll gearbeitetes Äußere, was sogar mit einer Art von radierter Zeichnung geschmückt war, ihn zu einer sorgfältigen wissenschaftlichen Untersuchung anspornte, als deren Ergebnis man folgende fünf Punkte ansehen darf:1. Dieser Meteorstein stammt von einem Himmelskörper, auf dessen Oberfläche vegetabilische Stoffe wachsen, die sich zur Kohlenbildung eignen.
2. Dieser Himmelskörper ist von intelligenten und zivilisierten Wesen bewohnt, welche die Bau- und Zeichenkunst kennen, ja sogar die Perspektive, in Folge dessen ihnen die geometrischen Kenntnisse nicht abgehen können.
3. Die Bewohner dieser unbekannten Welt haben unterirdische Wohnungen und halten ihre Versammlungen unter freiem Himmel in eigens zu diesem Zwecke bestimmten Orten ab.
4. Sie scheinen zur Gattung der Wirbeltiere zu gehören, und ihr Körper ist ebenso hoch, wie lang,
5. Schließlich ist es wahrscheinlich, dass ihr Wuchs nicht den vierten Teil von dem der Menschen erreicht.
Dr. Hopkins sucht diese Behauptungen mit großer Schärfe und mit vielem Wissen teils aus den chemischen Zusammensetzungen des Meteorsteines, teils aus den auf ihm befindlichen Zeichnungen zu beweisen.
Als Quelle nennen alle Zeitungen eine Reportage im "L'indépendence Belge“. Die meisten scheinen dieser Quelle Glauben zu schenken.
Allein die ehrwürdige „Wiener Zeitung“ merkt ironisch an:
Eine Neuigkeit, welche unbestritten die wunderbarste ist, die noch je ein Blatt mitzutheilen gehabt hat, vorausgesetzt natürlich nur, daß sie auch wahr ist.
Meine Theorie dazu ist folgende: Die ersten deutschen Wiedergaben dieser unglaublichen Geschichte stammen vom Anfang April 1863. Es ist also gar nicht unwahrscheinlich, dass es sich um eine 1.April-Ente des belgischen Blattes handelt. (Verschwörungstheoretiker dürfen natürlich gern anderer Meinung sein.)
Warum führe ich das so ausführlich aus? Weil der deutsche Herausgeber und Übersetzer der Flammarion-Broschüre einen geradezu symbolischen Akt zelebrierte, als er diese Geschichte anfügte. Denn wirklich gehören sie wohl zusammen. Die Story, die sich schnell zur urbanen Legende ausweitete, so dass allein in Österreich sechs Tageszeitungen darüber reflektierten, erschien nur ein Jahr nach den „Bewohnten Welten“ in einem französischsprachigen Blatt. Somit hatte das Werk erste Früchte getragen und der Alien-Mythos nahm seinen Anfang. Kaum waren Flammarions Thesen in der Welt, klopfen die Außerirdischen in der Massenliteratur an die Tür.
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