Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 31: Ann Radcliffe - Die nächtliche Erscheinung im Schlosse Mazzini (1790)
Teil 31:
Ann Radcliffe -
Die nächtliche Erscheinung im Schlosse Mazzini
(1790)
Vor wenigen Jahren machte mein Herz einen gewaltigen Satz, als ich entdeckte, dass der Golkonda-Verlag plant, alle Romane der großen Ann Radcliffe neu auf deutsch herauszubringen. Viele Bücher hat sie nicht geschrieben – genaugenommen nur sechs. Zwei davon gehören zum absoluten Höhepunkt der sogenannten Gothic-Literatur und sind in englischsprachigen Ländern Horror-Standarts, etwa wie bei uns die Geschichten E.T.A. Hoffmanns: „Udolphos Geheimnisse“ (1794) und „Der Italiener“ (1797).
Leider war es lange um die Präsenz ihrer wunderbar düsteren Schmöker in Deutschland schlecht bestellt. Obwohl nach Erscheinen – ähnlich wie heute bei der Rowling – weltweit sofort ungekürzte Übersetzungen auftauchten, auch ins deutsche, war im 19. und 20. Jahrhundert - abgesehen von wenigen kleinen Liebhaber-Drucken - wenig bis gar nichts zu von ihr hierzulande zu bekommen. Einzig der „Italiener“ existiert als Insel-Taschenbuch in einer für meinen Geschmack entsetzlich geschraubten und fast unlesbaren Übersetzung von Friedrich Polakovics.
Und nun gibt’s endlich bei Golkonda also erstmals seit über 200 Jahren wieder "Udolphos Geheimnisse" ungekürzt – zu diesem wichtigen Roman demnächst mal mehr in dieser Reihe.
Schon vorher stöberte ich im Netz auf der Seite der Unibibliothek Göttingen ein Digitalisat ihres ersten wirklich erfolgreichen Romans „Die nächtliche Erscheinung im Hause Mazzini“ auf. Für mich eine Riesenentdeckung! Ich habs per download geentert und auf dem ipad verschlungen. Auch hübsch, diese Kombination – High-Tech trifft Uralt-Druck mangels Papierausgabe...
Warum ist Frau Radcliffe eigentlich so wichtig für die Entwicklung der phantastischen Literatur?
Spukromane gab es schon länger, genaugenommen seit den 1760er Jahren, nachdem Horace Walpole seine Schauergeschichte „Die Burg von Ortranto“ lancierte und damit unendlich viele Nachahmer fand. Danach kamen zwar eine Menge Romane haraus, die mit dem Schauder und unheimlichen Stimmungen spielten, aber erst die Radcliffe führte einige Neuheiten in den Gruselroman ein, die das Genre revolutionieren sollte. Mit ihr beginnt die moderne Spannungsliteratur.
Ihr Einfluß auf die englischsprachige Krimi- Horror- und Thrillerszene ist sogar noch heute spürbar. Ihre wichtigste Erfindung war wohl das, was heute im Horror-Fachjargon „The-final-girl“-Motiv genannt wird. Im Mittelpunkt der modernen Horror-Filme steht ja fast immer eine junge Frau, meist unschuldig und naiv. Und während ihre Freundinnen und Freunde – nicht selten sexsüchtig und albern – aufgeschlitzt, gebissen, verwandelt und anderweitig böse verhackstückt werden, überlebt unser „letztes“ Mädchen dank ihrer cleverness und ihres Mutes – oft auch dank tapferer „echter“ Freunde.
Diesen Topos finden wir fast völlig unverändert in Radcliffes Romanen wieder – wo er, nebenbei gesagt, wesentlich frischer und origineller wirkt als im Horrorfilm der letzten 20 Jahre. Kein Wunder, damals war die Erfindung ja auch noch neu.
„Die nächtliche Erscheinung“ ist ein Paradebeispiel für eine gut geschriebene, zügige, mit allen Finessen ausgestatte Horror-Abenteuer-Story.
26 Jahre alt war Anne Radcliffe, als sie diesen Thriller schrieb – eine sich langweilende Ehefrau, deren Mann keine Zeit für sie hatte. Doch anders als andere Männer seiner Ära war Mister Radcliffe kein Verächter von weiblicher Kreativität. Im Gegenteil – er ermutigte seine junge Frau, zu schreiben. Ihr erster Versuch, „Die Burgen von Athlin und Dunbayne“ diente vor allem zur Selbstfindung, war ein Experimentierfeld, um herauszufinden, ob sie überhaupt Romane schreiben konnte. Danach packte sie die zweite Geschichte an, die im englischen den etwas faden Titel „A sicilian romance“ trug. Ihre kongeniale deutsche Übersetzerin Meta Liebeskind (die ihr auch bei den späteren Romanen treu blieb) erfand den etwas reißerischeren Titel „Die nächtliche Erscheinung im Hause Mazzini“. Liebeskind entschuldigt sich rührenderweise dafür und gibt im Vorwort den Originaltitel an – was in der Zeit vor der Erfindung des Impressums durchaus nicht üblich war. Ihr Motiv: sollte der Roman noch zusätzlich unter dem Originaltitel „Eine sizilianische Romanze“ erscheinen, wolle sie den Leser vor einem Doppelkauf bewahren. Auch das zeigt, dass der heraufdämmernde Ruhm der Radcliffe solche Mehrfachübersetzungen durchaus wahrscheinlich machte – und Meta Liebeskind ahnte das. Später, Mitte des 19. Jahrhunderts, wird diese Praxis dann wirklich gängig sein: So erschienen von Weltbestsellern wie dem „Grafen von Monte Christo“ (Dumas) oder den „Geheimnissen von Paris“ (Sue) fast zeitgleich in Deutschland bis zu 10 verschiedene Übersetzungen.
Leider blieb es im Fall der „sizilianischen Romanze“ bei der einen (übrigens sehr schönen) Übersetzung von 1792, die dann allerdings in mehreren Neuauflagen bis 1800 weite Verbreitung fand. Bis 2010 war passierte nichts mehr, bis in einem winizigen Verlag eine neue Übertragung des Romans von Andrea Tepper erschien.
Worum geht es?
Emilia, Tochter eines ausschweifenden Landadligen, wächst in einem verlassenen Schloß in den Wäldern Siziliens auf. Ihr Vater, ein Marquis, hat nach dem Tod seiner Frau seinen Besitz verlassen und lebt mit seiner Mätresse in den Städten Italiens. Nur selten schaut er auf Schloß Mazzini nach dem Rechten.
So lebt das Mädchen in Gesellschaft ihrer Schwester und einer Erzieherin recht behaglich, bis der Vater eines Tages mit großem Gefolge im Schloß einkehrt. Er bringt auch seinen Sohn mit. Dieser Bruder hat seine Schwestern seit Kindertragen nicht gesehen, da er auswärts erzogen wurde. Die Geschwister kommen sich schnell nahe. Ein Freund, der den Bruder begleitet, verliebt sich Hals über Kopf in Emlia. Doch der finstere Marquis hat andere Pläne - er will Emilia mit einem Kumpel von ihm verheiraten, einen widerlichen Wüstling und gewalttätigen Kraftprotz. Während die Hochzeitsvobereitungen laufen, werden die Einwohner von seltsamen Lichtern in einem der verfallenen Schloßflügel erschreckt. Angeblich, so die Bediensteten, spukt es da. Der Marquis macht sich über diesen Aberglauben lustig.
Inzwischen bereiten die Emilias Vertraute – ihr Bruder, dessen Freund, ihre Schwester und die Erzieherin, einen Fluchtplan vor – sie soll vor der Zwangsheirat in Sicherheit gebracht werden und an fernem Ort den Freund des Bruders, den sie wirklich liebt, heiraten.
Mit dieser Flucht beginnt der eigentliche Romanplot. Nun erlebt der gebannte Leser eine Art Road-Movie anno 1790; der Rest des Romans beschreibt die atemlose, grausame Verfolgungsjagd der Marquis-Partei, die die arme Emilia durch Sizilien hetzt.
Dabei richtet es Ann Radcliffe sehr geschickt so ein, dass es immer wieder zu herrlichen Twists und Wendungen kommt, ganz knapp verpassten Anschlüssen und unangenehmen Überraschungen bei beiden Parteien. Auf 350 Seiten entwickelt die Autorin eine furiose Menschenjagd, die im 18. Jahrhundert in der Literatur ihresgleichen sucht.
Einige dieser Pointen gefallen mir richtig gut, um nicht zu sagen, entzücken mich ihrer witzigen Überraschungseffekte wegen – auf der Jagd wird der Wüstlings-Adlige von Räubern überfallen. In der Höhle stellt sich dann heraus, dass der Räuberhäuptling der eigene Sohn des Adilgen ist, der sich aus Frust über seinen blöden Vater den Outlaws angeschlossen hat. Natürlich läßt er Vati wieder frei, und die Jagd geht weiter.
Ein andermal hat der Wüstling es endlich geschafft, sein Opfer zu erreichen – als sich herausstellt, dass er die falsche Frau erwischt hat; er folgte kilometerweit einer anderen Dame, die ihren Peinigern entfliehen wollte!
Als Emilia endlich in einem Kloster Schutz sucht, ist der fiese, schmierige Abt durchaus bereit, sie gegen entsprechende Bestechung an den Marquis auszuliefern. Der tritt aber bei den Verhandlungen so arrogant auf, dass der Abt in seinem Stolz gekränkt ist und dem Vater seine Tochter aus Eitelkeit verweigert. Der zieht ab und rückt einige Zeit später mit einer Streitmacht gegen das Kloster an – und riskiert damit seine päpstliche Exkommunizierung...
Kurz – es ist eine wahre Freude und ein großer Spaß, diesen sehr, sehr alten Roman zu lesen und den phantastischen Gedanken-Sprüngen der Radcliffe zu folgen.
Wie so oft bei ihr sind die Gruselelemente eher Garnierung, und der eigentliche Horror besteht in der häuslichen Gewalt innerhalb der Familienstrukturen der Protagonisten – übrigens ein Zug, den die Ahnin der Horror-Romans mit Stephen King gemein hat. In „Es“ ist das nicht viel anders.
Immerhin dient hier der Spuk einer grausigen Pointe, die eigentlich noch besser ist als jedes echte Gespenst – der fiese Marquis hat nämlich seine eigene Frau, Emilias Mutter, einkerkern lassen, um sie loszusein; die spukenden Lichter stammen von heimlichen Besuchen ihres Mannes in den unterirdischen Kerkerzellen.
Natürlich findet alles, wie immer bei Radcliffe, ein gutes Ende – doch es geht nicht ohne Tote und Schwerverwundete ab...
Es ist viel Kluges über Ann Radcliffe geschrieben worden, über ihre große Kunst, atmosphärischen Schrecken aufzubauen, Landschaftsbeschreibungen so düster zu komponieren, dass sie bis heute als unübertroffene Meisterin auf diesem Gebiet gilt.
Doch vergisst man darüber, dass sie noch mehr Qualitäten hat.
Als Norbert Miller sein bemerkenswertes Ann-Radcliffe-Essay „Der befreiende Schrecken“ in den 1970er Jahren verfasste, ging er von der These aus, dass sich ihr Gesamtwerk bis zum „Italiener“ als letztes, ultimatives Meisterwerk der Schauerliteratur steigere. Für Miller ergibt sich daraus zwangsläufig, dass die Romane davor alle eher Vorstudien und Anläufe in zum monumentalen Itailiener sind. Demzufolge kommt „Eine sizilianische Romanze“ nicht allzugut weg.
Ich bin kein Freund des linearen Entwicklungsgedankens in der Kulturgeschichte. Miller kommt aus der Musikwissenschaft, wo dieses Denken weitverbreitet ist, wo Verdis Otello schon deshalb als vollkommener eingestuft wird als Rigoletto, weil er später komponiert wurde. Aber – wie Tucholsky mal so schön sagte – jedes „Mehr“ des Fortschritts wird erkauft durch ein „Nicht mehr“. Bemängelt Miller an diesem frühen Roman die fehlende (oder nur sporadische) meisterhafte Stimmungsschilderung der späteren Romane, so mag ich wiederum grade die Dichte, die drängende Spannung dieses für Radcliffe-Verhältnisse eher kleinen, aber knackigen Romans. Diese fieberhafte Hast, dieses fortwährende Hufgetrappel, Kutschengerassel und Degengeklirre, das den Leser heute noch fest im Griff hat, weicht in den späteren Romanen einem breiteren Prosastrom, in dem ich manchmal dieses jugendliche Feuer des ersten runden Thrillers vermisse.
Der Roman hat viel größere Beachtung in Deutschland verdient. Hoffen wir mal, dass er bald bei Golkonda auftaucht.
Nächste Folgen:
Robert Kraft - Loke Klingsor, der Mann mit den Teufelsaugen (1914-16) (04. April)
Abraham Merritt: Die Puppen der Madame Mandalipp (1932) (18. April)
Paul W. Fairman: Der Mann, der im Nichts steckenblieb (1951) (02. Mai)
Kommentare
Die Geschichte von der sittsamen Jungfrau der Oberschicht, die mit einem fiesen alten Sack - also einem Mann Anfang 50 - verheiratet werden soll, scheint zur Entstehungszeit hoch im Kurs gestanden zu haben. Ich erinnere mich an ein Kapitel in Marryats "Seekadet Easy", wo es in Italien um ähnliche Dinge ging.
(Ist eigentlich ganz bemerkenswert, dass Radcliffe so eine Handlung nach Italien verlegt, das für den puritanischen gottesfürchtigen Engländer gleich doppelt verdächtig als papistisch und dekadent war, während bei Doyle die Unmoral sich auch in England breitgemacht hat, wenn Sir Baskerville seine arme Magd ins Moor hetzt.)
Zitat: Da muss ich jetzt aber doch mal widersprechen Das ist nicht dasselbe, sondern das genaue Gegenteil. Die Damsel muss am Ende vom Helden gerettet werden, auch wenn sie gelegentlich mal beherzt zupackt, während das Final Girl sich selbst rettet und keinen Kerl braucht.
Wobei es da auch mischformen gibt, es ist wohl immer entscheidend, wie viel die Heldin selbst macht. Ethel Lina White hat diesen sonderbaren hybriden Typ - immer ist die Ame in Bedrängnis, ihr helfen auch Leute, ber letztlich wühlt sie sich selbst raus aus dem Schlamassel. (Werd demnächst "Eine Dame verschwindet" hier machen.)
Wichtig war bei Ratcliffe auch noch, dass sie damals zu Zeiten der Revolution adlige Männer als Schurken darstellt - vielleicht auch deswegen immer diese Verschiebung ins Ausland. Klar - das wird sich dann ab Wilkie collins ändern, da wird dann Tacheles geredet und alles spielt in England. (Ich zähle Scott mal nicht mit, weil da auch eine Verschiebung stattfindet - in ferne Vergangenheiten...)
Varney hab ich nie gelesen - ist vermutlich spannend - aber bitte, gern