Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 36: David H. Keller – Horror-Storys (1928-53)
Teil 36:
David H. Keller – Horror-Stories
(1928-47)
Der amerikanische Schriftsteller und Arzt David H. Keller. Ein seltsames Versäumnis!
In den 20er und frühen 30er Jahren explodierte die Phantastik-Szene in Amerika. Zwischen 1919 und 1933 entstanden zahlreiche Magazine, die sich ausschließlich der Phantastik oder der SF widmeten. (Damals widersprach die SF-Szene noch energisch der These, dass sie ein Zweig der Phantastik sei, die meisten Herausgeber und Autoren sahen sich eher als eine Art Realisten der Zukunft.)
Grabenkämpfe waren die Folge – denn die Vorstellungen darüber, was Phantastik sein soll, sein kann und auf keinen Fall sein darf, gingen weit auseinander. Doch eines hatten fast alle Autoren gemeinsam: Sie waren blutjung.
Es ist geradezu schockierend, wenn man sich das Alter der neuen Garde vor Augen hält, die innerhalb ganz kurzer Zeit die alte Schule eines Burroughs oder Merritt ablöste. Robert Bloch ist 17, als er für Weird Tales zu schreiben beginnt, andere Kultautoren wie Weinbaum oder Howard sterben Mitte Dreißig und hinterlassen ein beachtliches einflußreiches Werk.
In dieses Kampfgetümmel stürzt sich ein Mann, der zu diesem Autorenstamm überhaupt nicht zu passen scheint und dennoch sofort von jenem zerstrittenen Haufen einmütig bewundert wird.
Als der Arzt und Psychologe David H. Keller 1928 seine erste Story verkauft, ist er 48 Jahre alt. Er hat bis dahin nur zu seinem Vergnügen für die Schublade geschrieben und noch nie eine phantastische Erzählung veröffentlicht. Gleich seine erste Geschichte schlägt ein wie eine Bombe – als erster Autor überhaupt greift er die Bedrohungen der zunehmenden Privatisierung des Straßenverkehrs auf. In „Aufstand der Fußgänger“ (Revolt of the Pedestrians) beschreibt er eine dystopische Welt, in der Autofahrer alles sind und Fußgänger kaum noch Rechte haben. Die Welt erstickt in Autos. Eine Welt, die der unseren erschreckend gleicht.
Keller war einer der ersten, die die SF systematisch dazu nutzte, um ausschließlich Dystopien zu schreiben. Die meisten seiner dystopischen Erzählungen wühlen noch heute auf, polarisieren,weil die sowohl von rechten wie linken Soziologen für sich vereinnahmt werden. Seine berüchtigste dystopische Erzählung ist
„Die Bedrohung“ (The menace, 1928),
in der schwarze Professoren in Amerika ein chemisches Mittel finden, um die dunkle Hautpigmentierung so aufzuhellen, so dass die Schwarzen, die es wollen, sich „weißen“ lassen können. Alte rassistische Grundsätze geraten völlig durcheinander, aber auch die Schwarzen erleiden als neue Weiße Identifikationsprobleme. „Die Bedrohung“ ist bis heute so provokant, dass sie in keiner Keller-Anthologie zu finden ist.
Obwohl oder grade weil Kellers düstere SF, die in einer dunklen nahen Zukunft und nie auf andren Planeten spielt, überhaupt nicht in die Zeit passte und keinem der damals üblichen Muster entsprach, rissen sich die Magazine um seine spannend geschriebenen Storys. Der Mitvierziger wurde auf Anhieb ein Star und genoß Sonderrechte. So räumte ihm das Magazin „Wonder Stories“ das Recht ein, einfach alles veröffentlichen zu dürfen – selbst Geschichten, die gar keinen SF-Hintergrund hatten. Das war außergewöhnlich für ein reines SF-Blatt. Außer Keller durften eigentlich nur noch Lovecraft und C.A. Smith dort das SF-Feld verlassen.
Da es hier um Kellers Horror-Geschichten geht, die wegen ihrer Originalität noch bedeutender sind als die SF-Erzählungen, will ich seine Leistungen als SF-Autor nur streifen, auch wenn das nicht ganz einfach ist. Denn oft vermengen sich bei ihm Horror-und SF-Elemente. Zwei hybride Erzählungen seien hier kurz angerissen.
Stenographers Hands (Stenografenhände, 1928)
Das ist eine von Kellers düstersten Dystopien. Eine große Weltfirma hat Probleme mit der Korrespondenz. Zu viele Fehler. Deshalb beschließt die Leitung in einem Langzeitprogramm, gute Stenographen zu züchten. In eigens dafür eingerichteten Firmenstädten dürfen talentierte Sekretäre und Sekretärinnen auf Kosten des Betriebs leben – aber nur untereinander heiraten. So wird garantiert, dass die Kinder ebenfalls talentierte Sekretäre sind, ihre ganze Erziehung wird (nur) darauf ausgerichtet, fehlerfrei und schnell zu schreiben. Mit den Jahrzehnten schottet die Firma ihre Sekretäre immer mehr ab. Bis eine junge Frau, die Tochter eines der Firmenbosse, das grausige Geheimnis enthüllt: Aus Spezialisten sind deformierte Monster geworden, zerbrechlich mit übergroßen Händen und Köpfen, die früh sterben – ähnlich wie ständig verfeinerte Hunderassen.
Die Geschichte war vermutlich eine Replik auf Fords Betriebsstädte mit ihren strengen Regeln – es gruselt einen aber heute immer noch bei der Lektüre, grade weil sie lange vor Erfindung der Gentechnik geschrieben wurde.
The Cerebral Library (Die Gehirnbibliothek, 1931)
Ist dagegen eher schauriges Unterhaltungsgarn ohne politische Ambitionen, allerdings sehr kurzweiliges. Ein reicher Unternehmer möchte einen Supercomputer bauen. Dafür hat er einen teuflischen Plan ausgeheckt. Er kauft auf seinem Schloß eine riesige Bibliothek von Millionen Büchern zusammen und lädt 500 Studenten ein, für ein Jahr diese Bücher systematisch zu lesen – auf seine Kosten. Was die ahnungslosen Leser (im doppelten Sinne) nicht wissen: Am Ende des Jahres will der Mäzen mit Hilfe gemieteter asiatischer Gehirnchirurgen alle Gehirne den Schädeln entnehmen und zu einem gigantischen Bio-Rechner zusammenfügen. Dies Unternehmen kann aber von einem cleveren Detektiv grade noch verhindert werden. Interessant ist hier vor allem die extrem frühe Idee eines androiden Rechners – meines Wissens die erste derartige Vision in der SF überhaupt.
Doch nun zu den Horror-Stories. Ihre Zahl ist überschaubar – unter ihnen finden sich auch einige schwache, sogar sehr schwache. Oft versuchte Keller, seine psychoanalytischen Erkenntnisse in Horrorstories zu visualisieren, manchmal wurden daraus grandiose surreale Werke, oft aber auch nur bessere Lehrbuch-Illustrationen für angehende Analytiker. So in der sehr schwachen Erzählung „The Face in the Mirror“ (Das Gesicht im Spiegel 1947), eine Geschichte von einem Fieberkranken, der im Traum seinem ES als dämonischem Doppelgänger begegnet. Als er das ES verjagt, stirbt er.
Dagegen gibt es eine Anzahl von Geschichten, die einfach makellos schön sind, und im besten Sinne unvergleichlich, nämlich ganz und gar Keller-Yarn, (Keller-Garn) wie die Amis das gerne nennen. Drei davon waren von großem Einfluß auf die moderne Horrorliteratur und gelten im englischen Sprachraum als Klassiker.
The Worm (Der Wurm, 1929)
... ist sicherlich nicht die populärste, aber die eindrücklichste aller seiner Geschichten, stilistisch klar, bedrohlich, konzis und total nervenaufreibend. Die Handlung ist äußerst einfach. Ein eigenbrödlerischer alter Müller lebt mit seinem Hund in seiner heruntergekommenen Getreidemühle. Die Wohnräume befinden sich im obersten Stock unter dem Dach. Irgendwann nervt ihn ein dumpfes Klopfen. Die Wände vibrieren leicht. Die Geräusche scheinen aus dem Keller zu kommen. Tag für Tag wird das Wummern lauter, der Putz rieselt, das Gebälk knirscht. Endlich stellt sich heraus, dass sich etwas Monströses von unten durch das Gestein in die Mühle hinauf frißt.
Ein gigantischer Wurm! Fieberhaft versucht der Müller das Wesen zu vertreiben oder zu töten, er leitet seinen Mühlenteich in das Loch, mit dem einzigen Erfolg, dass er austrocknet. Jener Wurm frißt sich unaufhaltsam weiter die Mühle hinauf, vernichtet Stockwerk auf Stockwerk, bis die Mühle nur noch ein hohler Zahn ist. Selbst der im Wurm-Schlund verschwindende glühende Ofen beeindruckt das Wesen nicht. Schließlich wird auch der Müller, der sich aufs Dach gerettet hat, verschlungen. Nur der Hund überlebt. Die makabre Pointe: seit 200 Jahren hat der Wurm das Mahlen der Mühle gehört und sich zur Mühle durchgefressen – um einen vermeintlichen zweiten Wurm zu finden. Doch er findet nur lebloses Futter.
Eine Allegorie auf die Einsamkeit? Eine Groteske im Stil von Kafka oder Poe? Was wollte uns der Psychater Keller damit sagen? Schön, das wir es nicht wissen. Die Erzählung bleibt lange im Gedächtnis hängen.
Ähnlich einfach und schrecklich ist seine berühmteste Geschichte,
The Thing in the Cellar (Das Ding im Keller, 1932/Neufass. 1947)
Ein kleiner Junge hat seit seiner Geburt Angst vor dem Keller des Hauses. In der Küche, wo sich der Zugang zum Keller befindet, fühlt er sich nie wohl. Mit den Jahren wird die Angst vor dem Keller immer schlimmer – der Junge behauptet, dort gebe es ein Monster. Irgendwann wird es den Eltern zu bunt, und sie bringen den Jungen zum Psychater. Der rät ihnen, diese Fixierung aufzulösen, indem sie das Kind für eine Nacht in der Küche einsperren – mit ausgehebelter und offener Kellertür. Wenn es morgens merkt, dass nichts passiert ist, wird es einsehen, dass es sich um eine Fixierug handelt. Die Eltern folgen dem Rat – trotz Weinen und Flehen des Jungen. Der Arzt, verunsichert über den Fall, berät sich abends mit einem befreundeten andern Psychologen. Der ist entsetzt und prophezeiht eher eine traumatische Störung als eine Heilung. Auf Drängen des Kollegen schließen die Ärzte gemeinsam mit den Eltern zu später Stunde die Küche auf – und finden den Jungen tot auf dem Küchenboden.
Die Uneindeutigkeit der Geschichte macht ihren Reiz aus – ist da wirklich ein Monster im Keller gewesen? Hat die lebhafte Phantasie des Kindes am Ende Todesangst ausgelöst? Obwohl die Geschichte stark an die Erzähltechnik des britischen Horror-Autor M.R.James oder an Jacobs' Affenpfote erinnert, ist sie doch über ihren Schockeffekt hinaus ein Appell an humane Kindererziehung.
Analyseversuche des „Keller-Garns“ hat es schon zu Lebzeiten es Autors gegeben. Dabei fiel früh auf, dass der oft so abgeklärte und kluge Keller eigene neurotische Fixierungen hatte, die sein ganzes Werk durchziehen. Dass traumatische Kriegserfahrungen im ersten Weltkrieg und vor allem die zermürbende jahrelange Arbeit als Dorfarzt und Assistenz-Mediziner in einer Psychatrischen Klinik Spuren in seinen Angstvisionen hinterließen, ist nachvollziehbar. Doch schon früh fiel Kellers Dämonisierung der Weiblichkeit auf. Zum Thema „die böse Frau“ kehrt er immer wieder hartnäckig zurück – in vielen Variationen. Dass seine Frauen-Angst den Zeitgenossen auffiel, zeigt , wie tief sie gewesen sein muss, denn femme fatales waren ja nun wahrlich keine Rarität in der Ära der Horror-Hefte jener Zeit. Seine Manie führte zu einem absoluten Meisterwerk und einer sehr berüchtigten Trash-Geschichte, die zu den düstersten Weird-Menace-Grotesken überhaupt gehört.
Das Meisterwerk heißt
„A piece of Linoleum“ (Ein Stück Linoleum, 1933).
Die gilt als eine der erste modernen Horror-Storys und ist oft imitiert worden, etwa von Stephen King, John Collier und Jim Thompson. Kellers bahnbrechende Idee: Den Horror entwickelt sich aus der wörtlichen Rede einer negativen Figur, die einen Monolog hält. In diesem Fall ist es eine Witwe, die ihrer Nachbarin erzählt, wie nett ihr Verstobener war und dass sie nicht verstehen kann, warum er sich umgebracht hat. Dabei enthüllt sie nach und nach ihre psychopathischen herrschsüchtigen Züge. Weil er mitunter Zigarettenasche oder Essen auf den Fußboden warf, mußte der Mann über speziell ausgelegte Linoleum-Stücke laufen, damit der Teppich nicht leidet. Keller bechreibt in wenigen Zeilen eine fast strindbergsche Megäre, die ihren Mann mit ihren Schikanen systematisch entwürdigt und ihn so in den Tod treibt. Die winzige Geschichte verzichtet auf jegliche übernatürliche oder phantastische Beigabe und ist ein Pionierwerk dieser Art Horrors. Sie gehört zu den wenigen jemals ins Deutsche übersetzten Erzählungen von Keller.
Die berüchtigte Story ist
„Tiger Cat“(1937)
und dürfte ein konventionelles Publikum wohl eher abschrecken. Die Redaktion von „Weird Tales“ jedoch war so entzückt von dem Ding, dass sie die Story nicht nur sofort kaufte, sondern sogar zur Titelgeschichte der Oktoberausgabe 1937 machte – trotz konkurrierender Stories von H.P. Lovecaft und Edmond Hamilton.
Es handelt sich um eine bizarre Umkehrung des Märchens vom Ritter Blaubart. Der reiche Ich-Erzähler kauft ein altes Schloß in Italien, dass einer schönen rothaarigen Gräfin gehört, die in der nahen Stadt wohnt. Ihm werden von der Verwaltung alle Schlüssel ausgehändigt, außer einen zu bestimmten Kellerräumen. Als er ihn aus Neugierde bei der Gräfin selbst erbittet, bekommt er ihn. Zu seinem Entsetzen muss er feststellen, dass auch die vorigen Besitzer auf diese Weise den Keller betraten – und von der wahnsinnigen Gräfin, eine Hobby-Opernsängerin, ihres Augenlichts beraubt wurden (sie wurden von ihren langen Nägeln ausgekratzt, daher der Titel der Story) – nun müssen sie blind, halbverhungert und an Säulen gekettet täglich dem Gesang der Gräfin lauschen, und ihr applaudieren. Wenn sie nicht enthusiastisch genug Bravo rufen, werden sie brutal ausgepeitscht.
Nur mit Mühe entkommt der Ich-Erzähler ihren Klauen und kann mit Hilfe der zunächst ungläubigen Polizei das Gewölbe ausheben und die Opfer befreien.
David H. Keller kündigte immer wieder seinen Rückzug aus der Szene an – um stets mit neuen glänzenden Geschichten zu ihr zurückzukehren. 1966 starb er hoch in den 80ern und war fast bis zum Schluß sehr produktiv.
In Amerika gehört er zu den Klassikern des Genres, ebenso in Frankreich. In Deutschland ist er nahezu unbekannt. Es wäre schön, wenn sich irgendwann mal ein Verlag fände, der seine besten Geschichten übersetzen lässt. Die englischen Versionen sind leicht und sehr preiswert elektronisch zu ergattern beim verdienstvollen Wildeside-Verlag, der 27 Erzählungen in zwei e-book-Bänden herausgebracht hat (ein Band Horror, ein Band SF). Erwartungsgemäß fehlt auch hier „Die Bedrohung“ (The Menace), dafür gibt es aber die nicht weniger berüchtigte „Tiger Cat“. Seltsamerweise fehlt die berühmteste Erzählung „The Thing in the Cellar“. Eventuell waren da ja die Rechte nicht erhältlich – anders ist das nicht zu erklären.
Auf jeden Fall insgesamt eine spannende und amüsante Lektüre – bis heute.
Nächste Folgen:
Ethel Lina White – Eine Dame verschwindet (1936) (25. Juli)
E. T. A. Hoffmann – Meister Floh (1822) (8. August)
Edgar Rice Burroughs – Tarzan bei den Affen (1912) (22. August)
Roald Dahl - James und der Riesenpfirsich (1961) (05. September)
Isaac Asimov - Ich, der Roboter (1950) (19. September)
Kommentare
D.H. Keller gab es auch bei den VHR von Pabel (Tagebuch des Grauens), aber das französische Autorenduo hatte mit dem Amerikaner nichts zu tun. Die zwei wollten wohl ein wenig Glanz abbekommen.
Zitat: Gibt es noch mehr Infos zur Rezeptionsgeschichte in Deutschland?
Wenn schon ein Verlag wie Ramble House eine Story wie "The Menace" außen vor lässt, muss sie wirklich heftig sein. Klingt allerdings auch wie übler rassistischer Unsinn.
"Tiger Cat" hingegen scheint eher nur die Variation eines Themas zu sein. Quinns "House of Horror" von 1926 hat einen sehr ähnlichen Plot.
@Andreas - Ich habe alle beschriebenen Geschichten selbst gelesen - außer "The Menace". Den Inhalt entnahm ich dem genialen großen Essay in der ersten englischen Keller-Antholgie "Live everlasting" (1947). Dort finden sich auch zahlreiche wertvolle biographische Deatails zu Keller. The Menace wurde laut ISFDB noch NIE in irgendeiner Antholgie publiziert und erschien bisher nur zweimal: 1928 in Amazing Storys und als Reprint 1933 in Amazing Stories Quarterly. Ich besitze aber letztere Ausgabe digital. (Daher das Foto der Titelseite ). Kann sein, dass es wirklich total schrecklich ist. Ich werd es mir irdenwann mal zu Gemüte führen und dann berichten.
Das Ding im Keller gab es bereits 1991 in deutscher Übersetzung: Das zweite Buch des Horrors, hrsg. von Joachim Körber (Heyne 8302)
A Piece of Linoleum wurde 1971 in Deutschland veröffentlicht: Ein Totenschädel aus Zucker, hrsg. von Alden H. Norton (Heyne 867); die Erzählung trägt hier den Titel Ein klarer Fall von Selbstmord.