Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 37: Ethel Lina White – Eine Dame verschwindet (1936)
Teil 37:
Ethel Lina White – Eine Dame verschwindet
(1936)
Wer war der Täter? Das ist eine zentrale Frage des klassischen Krimis. Natürlich spielt sie auch in vielen frühen Romanen des Genres eine Rolle. Aber nicht immer eine zentrale. Manchmal waren frühe sogenannte Who-done-its, also Krimis, die sich in erster Linie darauf konzentrieren, wer von einer begrenzten Anzahl von Tätern den oder die Morde begangen hat, z.b. auch mit einem besonders vertrackten örtlichen Phänomen verknüpft – berühmtestes Beispiel ist Gaston Leroux' Roman „Das Geheimnis des gelben Zimmers“ (1907).
Doch die populärste Frühform des Krimis war der „Catch-me-if-you-can“-Roman. Er geht davon aus, dass der Schurke/Mörder von Anfang an oder bald feststeht und beschriebt die Jagd nach ihm. Tausende Krimi-Groschenhefte zwischen 1890 bis heute folgen diesem Muster – von Nick Carter bis Jerry Cotton.
Eine dritte Variante entstand Anfang der Dreißiger Jahre – der Psychothriller. Die frühe Form des Genres setzte noch nicht wie die heutige auf Serienmorde. Es ging, wie der Name schon sagt, um das Ziel, den Leser atmosphärisch zu unterhalten, Bedrohungen psychologisch plausibel zu machen, den Protagonisten das Gefühl unbestimmter Bedrohung auszusetzen. Damit nutzt der frühe Psychothriller eindeutig Elemente der Phantastik – es fließen Elemente der Horror- und Gruselliteratur mit ein, vor allem Elemente der amerikanischen Weird-Menace-Story und der britischen Gothic Novel.
Eine der faszinierendsten Vertreterinnen des frühen phantastisch angehauchten Psycho-Thrillers ist die Britin Ethel Lina White (1876-1944). Ihre Karriere startet ähnlich verzögert wie die unseres letzten Autors David H. Keller. Die Autorin verfasste bis zu ihrem 50. Lebensjahr vor allem Poeme und Kurzgeschichten für Magazine, die wenig Eindruck hinterließen. Auch als sie in den 20ern anfing, Romane zu schreiben, blieben die ersten relativ unbeachtet. Der große Knall kam mit „Put out the light“ (1931), mit dem die 55jährige einen Nerv der Zeit traf – schon hier thematisiert sie ein altes Haus in Verbindung mit psychisch labilen Menschen und düsterer Atmosphäre. Themen, die sie nur zwei Jahre später zu ihrem zeitlosen Meisterwerk verdichten wird, der „Wendeltreppe“, ein Klassiker der Horror-Literatur.
Die Wendeltreppe ist aufsehenerregend als Echtzeitroman – die Lektüre dauert etwa 7 Stunden. Wer abends im Bett mit der Lektüre beginnt, wird sie im Morgengrauen beenden – und zeitlich exakt mit den Ereignissen einer Nacht in einem unheimlichen Haus mitfiebern. Ein großartiger Einfall!
Dennoch bewegen sich die frühen (wenn man bei einer Mitfünfzigerin von früh sprechen kann) Psycho-Thriller noch in einem gewohnten Umfeld der Schauerliteratur. Ein echter Fortschritt war da ihr Roman von 1936 „Eine Dame verschwindet“. Er wagt den Sprung in die Moderne – und platziert die dunklen Geheimnisse in ein recht diesseitiges Verkehrsmittel: Einen Eisenbahnzug. Tatsächlich ist der Roman äußerlich etwas verwandt mit dem legendären Eisenbahn-Krimi „Mord im Orientexpress“ von Agatha Christie. Der erschien 1934 und dürfte Frau White stark beeinflußt haben – doch sieht man genauer hin, haben die beiden Romane außer ihrem Schauplatz kaum etwas gemeinsam.
White versteht ihr Handwerk als mystische Horror-Autorin. Zunächst hüllt sie sich in Andeutungen, was den Ausgangspunkt des Romans angeht. Durch welch seltsames Land rollt der Zug eigentlich? Es ist die Welt Bram Stokers, ein fabulöses, nur verschwommen gezeichnetes Ost-Europa, vielleicht Transsylvanien, wir erfahren es nie. Mitten hinein setzt sie als Hauptfigur eine Anti-Heldin: Isis ist ein verwöhntes Püppchen der High Society, nervös, weltfremd, auf ihrer ersten großen Ferienreise.
Angereist ist sie mit einer lärmenden Touristengruppe ähnlich unsympathischer Typen – doch da sie sich mit den andern verzankt und schmollend im Ferien-Bergdorf zurückbleibt, muß sie den Zug zurück nach Westeuropa ein paar Tage später allein nehmen.
Iris ist schon am Anfnag überfordert – bereits am Bahnhof erleidet sie einen Ohnmachtsanfall. Ein Sonnenstich? Die Aufregung? Wir erfahren es nicht, fest steht – sie ist psychisch labil. Diesen Eindruck nehmen wir mit in den Zug, wo sich nun sonderbare Dinge abspielen. Iris freundet sich mit einer etwas älteren Frau an, Mrs. Loy, die mit ihr im Abteil sitzt und dann im Speisewagen mit ihr plaudert. Iris kehrt in den Wagen zurück, und döst ein. Als sie erwacht, ist ihre neue Freundin verschwunden. Erkundigungen führen zu nichts – ja ihr wird deutlich zu verstehen gegeben, dass die Frau, die sie da sucht, gar nicht existiert! Es gab keine Mrs. Loy! Nun entwickelt Iris ein für ihre verwöhnte Verhältnisse erstaunliche, aber psychologisch genau nachvollziehbare Entwicklung. Aus Trotz und Eitelkeit wird lodernde Wut und furchtlose Kampfbegeisterung, denn sie wittert eine düstere Verschwörung, die irgendwie mit dem finsteren Land zu tun hat, durch das sie fährt...
Das Wunderbare an diesem Romon ist, dass all die Leute, die ihr begegnen, herrlich unsympathisch sind – nicht unbedingt alle eine Bedrohung (einige schon), sondern einfach nur unsympathisch. Selbst der junge nette Mann, der ihr zu helfen verspricht, zweifelt - anders als in der Verfilmung – zunehmend an ihrem Verstand. Und letztendlich muß sich Iris ganz allein unter Lebensgefahr zur verblüffenden Lösung durchkämpfen...
Der Roman gehört nicht nur zu den elegantesten und beunruhigendsten Klassikern des Mystery-Thrillers, er hat auch eine kuriose Geschichte als Filmplot. Alfred Hitchcock war fasziniert von der Grundidee. Allerdings kannte der damals noch britische Meisterregisseur das Buch nicht. Er fand ein zwei Jahre altes Drehbuch und war sofort Feuer und Flamme. 1936 war nämlich, kurz nach Erscheinen des Romans, eine englische Filmgesellschaft sofort drangegangen, den Bestseller zu verfilmen. Das Budget verrauchte aber, als es bei Dreharbeiten in Jugoslawien zu Rangeleien mit den Behörden kam, die das Material nicht freigaben. Hitchcock bot an, das Ding als Low-Bugdet Projekt mit Studio-Aufnahmen zu retten und es doch noch zu drehen. Tatsächlich sind die (gefakten) Außenaufnahmen des Films ungewöhnlich mies für einen Hitchcockfilm – sogar für die 1930er Jahre. Doch der Rest ist ein Meisterwerk.
Allerdings biegt das Drehbuch etwa in der Mitte des Films ab und geht eigene Wege. Der Grund ist nachvollziehbar. Drehbuchautor Frank Launder dürfte in Whites Roman auf einen für die Filmgeschichte folgenschweren Dialog gestoßen sein. Dort spielen Iris und ihr junger Bekannter eher spaßhaft eine mögliche Theorie durch, warum Mrs. Loy verschwunden ist: Sie ist eine Spionin des britischen Geheimdienstes und schmuggelt ein wichtiges Geheimnis aus dem osteuropäischen Land! Und eine landesinnere Organistion versucht sie zu beseitigen. Dabei gehören viele Zuggäste zur Verschwörung und versuchen die Zeugin Iris unglaubwürdig zu machen, indem sie behaupten, es gäbe Mrs. Loy gar nicht.
Diese Theorie, von Ethel Lina White nur spaßeshalber als Fehlspur gelegt, gefiel dem Drehbuchautor viel besser als das wirkliche Ende. Also baute er seinen Thriller um diese Idee herum, was dazu führt, das der Film etwa in der Mitte den Buchplot verläßt und endgültig zur Spionage-Geschichte wird. Auch der Grundton ist verändert worden – aus dem düsteren Roman wurde eine flotte britische Agentenkomödie. Details am Anfang mußten nun verändert werden – so hat Iris keinen einfachen Ohnmachtsanfall mehr, sondern entgeht nur knapp einem Mordanschlag, der Mrs. Loy zugedacht war.
Die Figur der Mrs. Loy erfährt auch eine Wandlung. Um sie dem Komödiencharakter besser anzupassen, wird aus ihr eine alte Dame um die Fünfundsiebzig – und damit viel, viel älter als die originale Mrs. Loy, die Iris immer wieder erzählt, wie sehr sie sich auf die Wiederbegegnung mit ihren Eltern freut!
Um nicht mißverstanden zu werden – Hitchcocks Film ist ein eigener Geniestreich und gehört zu meinen Lieblingsfilmen von ihn. Im Grunde folgt der Roman aber ganz anderen Intentionen. Wer nur den Film kennt, wird also noch viel Spaß an einer völlig unbekannten zweiten Hälfte haben, und ich werde den potenziellen Lesern auch nicht des Spaß verderben, indem ich die hier nacherzähle.
Übrigens wagte sich die BBC 2013 an eine literaturnähere Neuverfilmung.
Als der Heyne-Verlag 1994 endlich eine relativ ungekürzte Neuübersetzung der gekürzten Variante von 1975 auf den Markt brachte, bewarb er das Buch als „Frauen-Krimi“. Das ist schade, weil das vermutlich viele männliche Leser abgeschreckt hat, aber in gewisser Hinsicht ist die Einordnung zutreffend. Im Mittelpunkt steht eine auf sich selbst gestellte Frau, die sich einsam durch düstere Bedrohungen schlagen muß. Überhaupt - das Gegenstück zum "Einsamen Wolf" in der Literatur hat wohl Frau White erfunden - man könnte bei ihr von "Einsamen Wölfinnen" sprechen, die sich mit sich selbst und der bedrohlichen Umwelt tapfer und zäh herumschlagen. "Eine Dame verschwindet" ist deswegen auch ein ungewöhnlich emanzipatorisches Buch für die 30er Jahre.
Das englische Original ist übrigens inzwischen lizenzfrei (aufgrund der Lebensdaten der Autorin auch bei uns in der EU) und kann im australischen Gutenberg-Projekt nachgelesen werden.
Nächste Folgen:
E. T. A. Hoffmann – Meister Floh (1822) (22. August)
Edgar Rice Burroughs – Tarzan bei den Affen (1912) (05. August)
Roald Dahl - James und der Riesenpfirsich (1961) (19. September)
Isaac Asimov - Ich, der Roboter (1950) (3. Oktober)
Kommentare
Bei deiner Aufzählung vernachlässigst du aber den Kriminalroman als intellektuelles Spiel. Gerade vor dem Krieg waren Autoren wie John Dickson Carr oder Ellery Queen mit ihren künstlichen Mordgeschichten immens populär. Das waren die, die als Hardcover erschienen.
Es ist interessant, dass es keine amerikanische Krimiautorin von Bedeutung gibt, die wirklich weltberühmt geworden ist. (Es sei denn, ich übersehe das Offensichtliche) Das ist eine reine Männerdomäne. Hammett, Chandler, Spillane, etc. Christie, Sayers, White - alles Briten.
Habe zwar noch nichts von der Dame gehört, aber das kann man ja nachholen. Allerdings wird die Liste der Bücher, die ich mir nach deinen Artikeln vorgemerkt habe, immer länger.