Fossilien
Jemand, der querschnittsgelähmt ist, möchte wahrscheinlich nichts lieber, als gehen zu können, gehen, ganz einfach für einen normalen Menschen, gehen, sonst nichts. Für jemanden, der impotent ist, wäre einfacher Sex das Größte. Ich möchte Ruhe haben, nichts anderes als Ruhe, keine Fragen bitte, keine Fragen! Die Lawine von Fragen wird mich überrollen. Daher bitte – noch nicht, erst wenn ich bereit bin zu antworten, das ist noch nicht der Fall. Nachdem, was wir, meine zwei Assistentinnen, mein Assistent, ich und unser Partner, fanden, entdeckten, herrscht Lawinenwarnstufe 5.
Ich will davon Zeugnis ablegen, ich erzähle die gerade Geschichte unserer Entdeckung, bevor sie von Berichterstattern für die Öffentlichkeit gebogen wird. Die Geschichte geht folgendermaßen:
Ich bin Archäologe, außerordentlicher Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz, römisch-katholisch, die zwei jungen Damen sind meine Studentinnen, römisch-katholisch und evangelisch A. B., und der junge Mann ist mein Student, römisch-katholisch. Warum das Religionsbekenntnis eine Rolle spielt? Wir suchten im Heiligen Land nach den Ursprüngen unserer Religion. Es könnte auch die jüdische sein. Wir suchten nach einem Beweis für die Existenz Jesu Christi, oder des Davidstempels, oder Relikte von den Reisen des umtriebigen Paulus, irgendetwas, das als Basis der Religion dienen könnte, keine Aufzeichnungen wie die Schriftrollen von Qumran, nein, ein Knochen, eine Speerspitze, ein Stück Textil. Durch unser Religionsbekenntnis war es uns ein Anliegen, etwas zur Bestätigung zu finden.
Vielleicht ist das auch nicht die richtige Herangehensweise. So wie Jesus zum ungläubigen Thomas sagte: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“, ist es nicht Sinn einer Religion, sie zu überprüfen. Es kommt auf den Glauben an. Allerdings ist das manchmal nicht möglich. Laut der Bibel wurde die Erde im Jahr 3760 v. Chr. von Gott innerhalb von sechs Tagen erschaffen, am siebenten Tag dann ruhte er sich aus, das war der erste Sabbat. Natürlich entstand die Erde vor 4,57 Milliarden Jahren. Das ist wirtschaftlich bewiesen, beziehungsweise so gut wie bewiesen. Auf jeden Fall war es weit vor 3760 v. Chr.
Ist jemand gläubig, sieht er es wohl als anmaßend an, Beweise für die christliche oder jüdische Religion, auch die islamische ist nicht weit entfernt, finden zu wollen. Mag sein, dass es das auch wirklich ist, aber ich bin Archäologe, ich lebe von Funden, ich bin der Fossilien-Mann, alles hängt für mich von Ausgrabungen ab. Meine Mitstreiter denken darüber sicherlich gleich, sonst hätten sie bei dem Projekt gar nicht mitgemacht, dem Projekt „Heiliges Land“.
Es ist anzumerken, dass es an der Universität Wien ein „Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie“ gibt. Unser Projekt würde demnach genau in ihren Bereich fallen. Es war aber meine Idee, und ich bin nun mal woanders beschäftigt. Das ziehen also wir vier durch. Um die zukünftigen Grabungsrechte zu erhalten, sind wir eine Kooperation mit dem „Institute of Archaeology“ der „Hebrew University of Jerusalem“ eingegangen.
Ganz am Anfang erhob sich die Frage: Wo graben? In Jerusalem war es natürlich unmöglich – hier wäre es die Suche nach dem Davidstempel gewesen. Soll man etwa die Muslime in der al-Aqsa-Moschee fragen: „Entschuldigt, dürfen wir bitte den Boden durchstoßen. Wir wollen Klarheit“, oder den Juden an der Klagemauer sagen: „Es stört euch doch nicht, wenn wir hier ein paar größere Löcher ausheben, nicht?“ Oder am Golgatha, wo Jesus am Kreuz hing und sein Leben aushauchte? Keine Chance. Die ideale Stelle für Grabungen wäre wahrscheinlich das Felsengrab Christi, wo er begraben lag, und von wo er auferstand. Der GAE, das ist der größte anzunehmende Erfolg, wäre, DNA von ihm zu finden, dann könnte man ihn klonen, das wäre tatsächlich möglich, doch wäre es ja nur seine sterbliche Hülle, und nicht das, was ihn ausmacht – als Messias, als Sohn Gottes. Nur ist inzwischen das Felsengrab eingerissen, und dort steht die Grabeskirche. Kein Zutritt also auch dort, verständlich.
Wo also? Die Erde ist so groß, sieht man sich zum Beispiel auf einem Globus die Gegend zwischen Australien und Amerika an, ist da so gut wie alles nur blau – der ewige Pazifik, aber Israel ist doch winzig, früher war es Israel im Norden und Judäa im Süden mit Jerusalem als Hauptstadt, seine Fläche beträgt lediglich 20770 Quadratkilometer, was ziemlich genau ein Viertel der Fläche Österreichs ist, und davon sind noch ausgedehnte Teile Wüste, mehr als die Hälfte der Fläche sogar. Was ich damit sagen will, ist – es gibt nicht viel, wo noch nicht gegraben worden ist.
Caesarea kam mir in den Sinn, die römische Hafenstadt, aber gerade dort wurde die Gegend aufwendig archäologisch durchkämmt. Caesarea ist das biblische Wort für die Stadt, im römischen Sprachgebrauch hieß sie Caesarea Maritima, es gab nämlich noch ein weiteres Caesarea, Caesarea Philippi, das auf den Golanhöhen lag. Dieses Caesarea Philippi fasste ich näher ins Auge. Die Gegend um Caesarea Philippi heißt heute Banyas, dort entspringt einer der drei Quellflüsse des Jordan, es ist eine malerische Gegend, früher stand hier ein Heiligtum des Pan, der den Baal als Gottheit abgelöst hatte. Heute ist Caesarea Philippi ein unbedeutendes Dorf. Und trotzdem fanden dort Grabungen statt. Anscheinend bestätigt sich meine Häufige-Grabungs-Theorie, in ganz dem heutigen Israel wurde jeder Stern umgedreht, und das gleich mehrfach. Man ist ja nie der Einzige, der etwas tut. Sicherlich war vor uns eine Unzahl von Menschen auf den Spuren der Bibel, der Bundeslade oder des Heilands. Und alle haben sie nichts gefunden, was einen Teil der Bibel bestätigt.
Und jetzt soll es meinen drei Mitstreitern und mir gelingen? Man muss daran glauben. Wenn man nicht an den Erfolg glaubt, braucht man eine Unternehmung erst gar nicht in Angriff nehmen. Warum also nicht?, ist die Antwort.
Alles, was bisher geschah, auch diese Wir-werden-es-schaffen-Parole, trug, sich noch zuhause zu. Es waren meine Überlegungen und auch die von Else, Karla und Manuel. Wir befassten uns schon ziemlich lange mit dieser Angelegenheit, es musste etwas weitergehen. Wir kamen überein, uns am Dienstag nächster Woche in meinem Büro an der Uni zu treffen, bis dahin sollte jeder alles aus seinem Kopf herausholen, was möglich war.
Ich tauchte dort mit einem Ausdruck aus dem Internet auf, der sich „Landkarten: Das Heilige Land in Neutestamentlicher Zeit“ nannte und aus vier Seiten bestand. In siebzehn Punkten war auf einer historischen Karte eingezeichnet, wo sich Jesus bewegt hatte und was er getan hatte. Else hatte einen ähnlichen Ausdruck aus dem Netz. Karla meinte, man sollte vielleicht in der Wüste Juda suchen, wo Jesus vierzig Tage lang fastete und vom Satan versucht wurde. Manuels Idee war, auf dem Boden des Roten Meeres, das ist das Schilfmeer, das Mose geteilt hatte, nach Überresten von ihm und dem Tross zu fahnden.
Gegen die Wüste sprach, dass wir überhaupt nicht wussten, wo wir zu graben beginnen müssten. Und am Roten Meer war bestimmt schon alles abgesucht, dort gibt es ja viele Tauchschulen, für Taucher soll es dort einer der überhaupt besten Plätze sein.
Trotzdem hatte die Idee, den Boden eines stehenden Gewässers zu untersuchen in meinen Augen etwas für sich. Auf meiner Karte zeigte sich, dass Jesus hauptsächlich um den See Genezareth und um das Tote Meer gewirkt hat. Um zu einer Lösung zu gelangen, verabredeten wir, dass wir als Erstes einen Container voll mit unserer Grabungsausrüstung packen würden, und danach würden wir Galiläa zu Fuß durchkämmen. Würden wir dort nicht fündig werden, würden wir die nordwestliche Gegend des Toten Meeres durchkämmen. Fänden wir einen Ort für Grabungen, würden wir den Container mit Schiff und Lastkraftwagen herbringen lassen.
Dieser Plan stellte uns zufrieden. Wir aßen noch gemeinsam in der Mensa. Endlich hatten wir einen Anfang.
Umgehend ließen wir einen leeren Container kommen und befüllten ihn mit unserer Ausrüstung, Grabwerkzeuge, Laptops, Pinsel, viel Platz nahmen Abdeckplanen ein, dann zwei Zweimannzelte zum Schlafen, ein großes Zelt mit Vordach als Büro, Sessel, Tische, Sonnenschirme, anderes Kleinzeug.
Mit der Spedition vereinbarten wir, dass sie zu gegebener Zeit, wenn wir ihr aus Israel den Auftrag erteilen würden, den Container per Schiff zu einem israelischen Hafen transportieren würden, wahrscheinlich nach Haifa, und sich dann um die Weiterleitung per Lastkraftwagen an den Grabungsort kümmern würde.
Dann packte jeder von uns seine Sachen. Worauf sollten wir noch warten? Es war Anfang Mai, unten würde es schon heiß sein. Nicht vergessen: Rucksack, Hut oder Schirmkappe, dunkle Sonnenbrille, Feldflaschen, Landkarten, leichte, lange Kleidung, Digicam oder sehr gutes Smartphone, aber das war ja heutzutage soundso nicht mehr von einer Person zu trennen.
Mit dem Kofferpacken beginnt die Reise. Dann trafen wir uns im Flughafen Thalerhof bei Graz. Zwei Frauen, zwei Männer, jeder anwesend, sehr gut. Wir flogen mit einem Direktflug zum Ben-Gurion-International-Airport, der 19 Kilometer südöstlich von Tel Aviv liegt. Ich saß am Fenster, das ist mein bevorzugter Platz, ich sehe gerne hinunter. Manuel saß neben mir. Wir unterhielten uns über Alltägliches.
Am Ankunftsort war es eine Stunde später. Chaim, der Mann von unserer Partneruni erwartete uns in der Ankunftshalle des Flughafens. Er hielt ein Schild mit der Aufschrift „Archaelogy Graz“ hoch, damit wir ihn bestimmt bemerken würden, dabei haben wir schon vorab per E-Mail alle unsere Fotos ausgetauscht. „Hi, willkommen in Israel!“ begrüßte er mich, nahm sein Schild herunter, reichte jedem die Hand und klopfte mir zusätzlich auf die Schulter. Er hat deutsche Vorfahren. Sein Nachname ist Rosenstock.
Wir fuhren im offenen Jeep seiner Uni nach Tiberias. Der See von Genezareth heißt auch Tiberiassee. „Glaubt ihr, wir werden finden, was Menschen seit zweitausend Jahren suchen?“‘, fragte er. Rhetorisch? Ich weiß nicht. „Wenn wir unser Bestes geben, haben wir eine Chance, sonst nicht“, antwortete ich vom Beifahrersitz aus. „Gut, eure Ideen sind ganz originell“, meinte Chaim. „Let´s cross fingers. We´ll see.“ „Das reicht nicht, mein Lieber”, sagte ich. „Na klar, ich weiß doch“, entgegnete Chaim und klopfte mir auf den Rücken. Er gab etwas mehr Gas. Und er lachte.
Tiberias ist eine Stadt mit manchen netten Flecken, wie wir erfuhren, nachdem wir unsere Zimmer in der Pension bezogen und unsere Rucksäcke ausgeladen hatten, viele weiße Gebäude, fast wie in Griechenland, wir gingen gerade die Promenade entlang des Sees entlang, der noch einen anderen Namen hat, auf Hebräisch heißt er Jam Kinneret.
Jetzt nur noch zu Fuß. Chaim hatte den Schlüssel zum Jeep bei der Pensionswirtin deponiert, den Jeep würde morgen jemand von seinem Institut abholen. Wir aßen eine Kleinigkeit, koscher – um uns anzupassen, also kein Seafood, Fisch, mit Flossen und Gräten, war gut.
Und nun wieder in der Pension im Zimmer mit Manuel, draußen kein Licht mehr, nur noch Nacht. Also schlafen, tief schlafen, morgen geht es los.
Wir saßen auf einem großen Tisch im Frühstückssaal zusammen. Wir beratschlagten uns. Wir würden gehen wie Jesus. Hier in Galiläa gibt es bereits einen Jesustrail, der ist 65 Kilometer lang und führt von Nazareth nach Kafarnaum. Die Wanderer bewältigen ihn in vier Tagen. Dort, das war uns und Chaim klar, ist jeder Quadratmeter erforscht, dort gibt es für uns nichts zu holen.
Aber wo dann? Wir hatten keine Ahnung. Wir füllten unser Feldflaschen an und beglichen die Rechnung. Chaim war unser Führer, aber auch er hatte keine Idee. Wir verließen die Stadt und gingen einen Wanderweg zuerst nach Westen und dann nach Norden. Das Land war jetzt ziemlich grün und mit Blumen besetzt, der Frühling nimmt das Braune und Graue weg. Die Israelis trotzdem ihrem kleinen Land mittels Bewässerungssysteme möglichst viel Fruchtbarkeit ab. Es war schön und, in diesem Fall ist das Wort richtig –, erhaben, hier zu wandern. Automatisch hielten wir Ausschau nach besonderen Landschaftsstrukturen, und doch war uns klar, dass, wenn auch nur der geringste Zusammenhang mit Jesus oder einer anderen biblischen Figur bestand, hier alles abgetragen worden wäre, das heißt ganz genau in die Breite und Tiefe gegraben worden wäre.
Wir sprachen über Chaim auch mit Ansässigen, aber es brachte wenig: Entweder wussten sie, was alle wussten, oder sie wussten nichts, oder sie wollten uns etwas verkaufen. „Glaubt du, dass Gerüchte 2000 Jahre halten?“, fragte mich Chaim schon etwas resigniert und ärgerlich. Er meinte damit, ob man aufgrund von Gerüchten nach so langer Zeit noch etwas finden könnte. „Was soll ich sagen, Chaim?“, sagte ich, wobei ich diesen Satz sagte. „Gehen wir weiter spazieren“, sagte Chaim, und wir gingen weiter.
Wir lernten, dass in Israel wirklich schon alles abgegrast war. Am Nordufer des Sees, in Tabgha, gibt es sogar eine „Brotvermehrungskirche“, das ein Benediktinerkloster ist und täglich von hunderten, wenn nicht tausenden Bibelinteressierten besucht wird. Es waren tolle Wanderungen, die wir unternahmen, Israel ist ein sehr vielseitiges Land. Es ist ein ständig umkämpftes Land, das im Waffenstillstand lebt. Stets geht es ums Überleben, vielleicht ist es auch ein Überleben und des Überlebens willen. Wir sahen viele Vögel. Die Bibel, wie gesagt, ist überall präsent. In der Via Dolorosa in Jerusalem, wir waren dort nicht, Chaim erzählte uns davon, kann man sich um 50 Euro ein großes Kreuz mieten und den Leidensweg Christi nachgehen. Das tun viele Leute, gerne Südamerikaner unter Gesängen.
Natürlich aber waren die Wanderungen kein Selbstzweck. Wir waren hier nicht im Urlaub, wir arbeiteten. Dass die Reise ein Reinfall war, hatte sich schon bald abgezeichnet, und es wurde immer schlimmer, sie war ein Reinfall, geradezu ein Fiasko. Chaim war richtig wild am Schluss, er lieferte uns im Kibbuz Ein Gev ab und ließ sich von einem Kollegen oder Mitarbeiter abholen.
Ein Gev liegt am Ostufer des Sees, ganz in der Nähe der Golanhöhen. Er ist ein großer Kibbuz. Ungefähr 350 Leute leben dort. Sie leben von Landwirtschaft und Fischfang. Und man kann dort Urlaub machen, es ist alles ziemlich einfach, dafür ist es aber auch, wenn man so sagen kann –, ursprünglich. Wir beschlossen, einige Tage dort zu verbringen, bevor wir mit völlig leeren Händen zurückfliegen sollten.
Wir unterhielten uns mit den Kibbuznikim, das sind die Kibbuzbewohner. Manche konnten deutsch, viele englisch. Konnte jemand nur hebräisch, übersetzte jemand für uns. Auch jiddisch trafen wir an, bei den Älteren. Die Leute waren redselig, und so sahen wir doch noch eine Chance, etwas in diesem Land zu erreichen. Wir intensivierten die Gespräche, sprachen eingehend mit ihnen, sprachen mit vielen. Sie erzählten uns, in erster Linie vom See und von damit zusammenhängenden Ereignissen.
Wir wussten einiges über den See, dass er 200 Meter unter dem Meeresspiegel gelegen war, dass dann einige Jahre Regen fast völlig ausblieb und er unter die rote Linie von minus 213 Metern fiel. Der tiefer gelegene Teil des Sees ist Salzwasser, der obere Süßwasser. Der See wird vom Jordan gespeist, ein schöner Fluss, ziemlich klein. Nach dem See fließt der Jordan weiter bis ins Tote Meer. Als der Wasserspiegel unter minus 213 Metern war, blieben die Fische großteils aus. Dann aber kam ein Jahr mit Unwettern, Starkregen – das ist gut in einer Gegend wie hier. Der Seespiegel stieg, um einen Meter nur, aber die Fische kamen zurück.
Das waren Fakten, die ich aus dem Internet hatte. Informationen, die sich jeder besorgen kann.
Die Kibbuznikim sprachen vom See wie von einem Lebewesen. Und eine alte Dame, sie war wirklich schon sehr alt, wusste etwas Seltsames zu erzählen. Sie sagte, dass sich Jesus hier oft aufgehalten hatte, darum sei an dieser Stelle das Kibbuz errichtet worden. Er sei hier „aus der Haut gefahren“. Auf genau solch eine Erzählung hatten wir gewartet! Ob sie das wirklich so meine, aus der Haut gefahren, fragte ich? Ja natürlich, sie wiederholte den Halbsatz. Ob sie vielleicht die genaue Stelle wüsste?, stieß ich nach. Ja, doch, dort wo unbehauene Steine aufgetürmt sind.
Wir bedankten uns und verabschiedeten uns, als ob nichts Besonderes wäre. Kann sich ein Gerücht 2000 Jahre halten? Das war jetzt die Kardinalfrage.
Wir würden nicht die Kibbuznikim fragen, sondern den Steinehaufen selbst ausfindig machen. Sonst würde jeder hier denken, dass wir dabei sind, auf etwas Außerordentliches zu stoßen. Es würde nur Aufruhr erzeugen, und sie würden uns nicht graben lassen.
Der Steinehaufen müsste ziemlich weit hinten liegen, da ja der See früher höher lag. Wir gingen den äußeren Rand des Kibbuz ab, dort fanden wir nichts. Die Stelle müsste ja auch noch höher liegen, die Golanhöhen hinauf, irgendwo dort im unteren Bereich. Wir teilten uns auf, 100 Meter Abstand von Person zu Person, so gingen wir aufwärts. Erstmals fiel uns nichts auf. Dann etwas weiter gerade aus und wieder dasselbe. Jetzt rief Else: „Ich hab´s!“
Wir liefen alle zu ihr hin, da sahen wir es: unbehauene Steine übereinander getürmt, zum Glück für uns mit Mörtel verbunden, sonst wäre der Steinehaufen jetzt nicht mehr existent gewesen.
Der Kibbuz zog mit dem See weiter. Die Gedenkstätte blieb, wo sie gewesen war.
Und jetzt? Wem gehörte überhaupt das Gebiet rund um den Steinehaufen? Noch zu Ein Gev? Es war doch schon ein Stückchen entfernt. Wir hatten keine Grabungsgenehmigung, ohne der Kooperation mit Chaims Uni würden wir niemals eine erhalten, völlig aussichtslos. Und wenn wir ohne Genehmigung, also illegal graben würden, würden sie uns innerhalb von einer Stunde verhaften. Nein, nicht möglich, wir mussten Chaim und sein Institut wieder an Bord holen.
Ich rief ihn an. Er hob sofort ab. „Hallo, mein Freund, seid ihr noch in Israel?“, fragte er. „Ja, sind wir, wir sind noch im Kibbuz“, sagte ich. „Kannst du schnell herkommen? Es ist wichtig.“ „Habt ihr etwa zum Graben gefunden?“, wollte er wissen. „Hör zu, Chaim, reden wir darüber bitte lieber an Ort und Stelle“, sagte ich. „Okay, gut, ich muss noch etwas machen“, sagte er, „dann komme ich zu euch. Ich werde in zirka drei Stunden bei euch sein.“ „Gut, Chaim, danke, bis dann“, verabschiedete ich mich.
Wir gingen zurück in den Kibbuz, betrachteten den See, spazierten umher, diesmal spazierten wir wirklich, statt zu wandern. Ungeduldig warteten wir auf Chaim, der unser Joker war, wobei wir versuchten, nicht ungeduldig zu wirken. Wir wollten auf die Kibbuznikim wirken wie immer, um kein Aufsehen zu erregen.
Sogar eine Viertelstunde früher als angesagt tauchte er auf. Wir gingen zu dem Steinehaufen, währenddessen ich ihm die Geschichte der alten Dame, die Naomi heißt, erzählte. „Das ist ja eine tolle Story!“, meinte Chaim. „Das ist einen Versuch wert, hier zu graben. Bestimmt ist es das.“
„Hört zu“, fuhr er fort, „ich schlage vor, wir verfahren wie folgt: Ich besorge für euer und mein Institut eine kombinierte Grabungsgenehmigung, vorerst für eine Parzelle von 50 x 50 Metern, deren Mittelpunkt die Steineansammlung ist. Die habe ich innerhalb von zwei, drei Tagen. Dann lasse das Material und die Werkzeuge, die wir brauchen, herliefern. Wenn wir merken, dass es länger dauern wird, könnt ihr euren Container abrufen. Wir versetzten vorläufig die Steineansammlung und beginnen direkt unter ihrem alten Platz zu graben.“
Was konnten wir anderes sagen, als: „Ja, gut, einverstanden, super?“ Wir aßen gemeinsam im Kibbuz und redeten dabei über ganz etwas anderes als unsere Arbeit.
Wir vertrieben uns die Zeit mit Baden im See, miteinander reden, und die jungen Leute mit Spielen auf Ihren Handys, zwei Tage lang. Am dritten Tag kam Chaim mit der Grabungsgenehmigung für beide Institute, ein paar Stunden später wurde ein Container punktgenau 25 Meter vom Steinehaufen entfernt abgestellt. Für diesen Tag war es zu spät, um anzufangen. Chaim quartierte sich im Kibbuz ein.
Am nächsten Tag ging es los. Jetzt ging es los. Unsere erste Handlung war, die Parzelle mittels Abdeckplanen vor neugierigen Blicken zu schützen. Das war harte Arbeit, die nicht direkt zum Ziel führte, aber notwendig war. Dann gruben wir rund um den Steinehaufen in die Tiefe, bis wir ihn vom Boden gelöst hatten. Es war butterweiches Erdreich, wir brauchten nicht einmal Spitzhacken. Wir hoben den Steinehaufen mit einem Hubzug an, der auf ein fahrbares Gestell montiert war. Damit fuhren wir bis zum nördlichen Rand der Parzelle. Dort stellten wir den Steinehaufen zum Glück unversehrt auf das Gras.
Wir teilten uns auf. Chaim uns ich gruben unterhalb des Steinehaufens in die Tiefe. Manuel grub rechts. Else und Karla gruben links. Manuel und die Damen fanden Erde mit sehr vielen Steinen vor. Sogar mit Spitzhacken war es ermüdend, tiefer zu gelangen. Unterhalb des Steinehaufens war es einfach, wie wir ja schon bei seinem Ausheben festgestellt hatten. Es war eine Stelle von zirka eineinhalb Quadratmetern, wo es leicht ging, daneben war es auch felsig.
Und dann, Tock Tock, in vielleicht zweieinhalb Metern Tiefe stieß ich auf etwas. Tock Tock. „Leute, da ist etwas“, sagte ich hoffentlich nicht zu laut. „Lass sehen!“, rief Chaim. Manuel, Else und Klara liefen her. Ich hob es hoch und befreite es von Erde. Es war ein silbrig glänzendes Kästchen mit einem Wippschalter. Es war aus Metall, aber sehr leicht, ich konnte nicht ausmachen, aus welchem Metall. Ich kletterte über die Leiter aus dem Loch, das Kästchen in der Hand. Draußen stellte ich mich breitbeinig hin und drückte den Wippschalter nach unten. Das Kästchen summte leise, und unter meinen Beinen bildete sich ein Luftkissen. So ging also Jesus über den See. Genial, seiner Zeit weit voraus. Wir verstauten das Kästchen in einer schwarzen Kiste, die Chaim für Funde vorgesehen hatte.
Wir gruben weiter. Wir gruben nur noch an dieser Stelle. „Freunde, ich habe etwas.“ Diesmal war es Chaim. Er hatte zwei Gegenstände gefunden, die wie größere Salz- und Pfefferstreuer aussahen. In einem waren rote Kügelchen, im anderen grüne. Man konnte sie herausschütteln. Auf dem roten Streuer war ein kleiner Fisch abgebildet, auf dem grünen etwas, was ein Brot sein konnte. Damit hatte Jesus die Fünftausend und die Viertausend gespeist. Es musste ein Materieumwandler sein. Die Kügelchen wurden zu Fischen oder Broten. Es ist nicht bekannt, dass solch etwas bereits erfunden wurde.
Jetzt war wieder ich dran zu graben. Einige Schaufeln voll nur, und ich stieß auf ein kleines, quaderförmiges Gerät. Es bestand aus demselben Material wie der Luftkissenerzeuger. Es hatte einen weißen und einen grünen Knopf. Ich richtete das Gerät auf den Steinehaufen und drückte auf den weißen Knopf. Ganz leise machte es Bbzz Bbzz und dann Klack. Es schien ein Scanner zu sein. Dann drückte ich auf den grünen Knopf und es machte Zzzz Zzzz und Klack am Ende. Das war offensichtlich der Reparaturstrahl. Ich drückte beide Knöpfe unter meinem Hemd. Die Strahlen ließen sich auch durch Stoff aktivieren. Auf diese Weise heilte Jesus die Lahmen, die Aussätzigen, die Siechen und die Blinden und ließ Tote auferstehen. Mittels einer herrlichen Technologie, die die Medizin hier nicht beherrschte.
Nun grub wieder Chaim. Einen dreiviertel Meter tiefer vielleicht fanden wir ihn. Er war mumifiziert. Nicht größer als einen halben Meter, etwas weniger breit. Seine Farbe war gelb. Er hatte zwei Füße wie Vogelkrallen, ähnlich waren die Hände ausgebildet. Sein Mund war groß und ohne Lippen, kleine Zähne, und riesengroße Augen. Er sah irgendwie traurig aus. Das mag aber auch nur unsere Sichtweise gewesen sein.
Und dann wieder geschätzt einen dreiviertel Meter tiefer, ich grub, fanden wir einen Hautsack. Ein Mann in seinen Dreißigern, mittellange Haare, Bart. Wir breiteten den Hautsack auf dem Gras aus. Er wies die heiligen fünf Wundmale Christi auf. Das war Jesus von Nazareth. Ein Kostüm. Oh my God, Jesus was an alien!, dachte ich, dachte wohl jeder von uns. Nichts stimmte, alles war falsch. Das gesamte Neue Testament eine einzige Lüge.
Das ist meine Geschichte. Ich habe sie erzählt und bin wieder am Anfang. Die Fragen würden auf uns prasseln wie die Pfeile von Langbögen bei einer Invasion. Wie viele Menschen gibt es doch, die nur den Glauben haben, nichts als den Glauben. Wenn alles ein Humbug ist, dann haben sie nichts, überhaupt gar nichts, null. Wir nehmen ihnen alles weg. Können wir das tun, können wir das verantworten? Abgesehen von den kirchlichen Stätten hier im Land. Soll man einem Außerirdischen huldigen. Ich glaube nicht, dass das jemand will. Das wäre zu profan.
Wäre es nicht besser, alles einfach wieder einzugraben? Wir können es tun. Es ist leicht. Es dauert nur kurz.
Ich sehe meine Assistenten und Chaim an. Die Gesichter und die Körper lösen sich auf. Dies muss ein Traum sein. Anders ist es nicht möglich.
Zum Autor
- Gedichte in „Driesch“, Nr. 5 im Jahr 2011.
- Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 27 im Jahr 2011.
- Kurzgeschichte in „TrokkenPresse“, Nr. 5 im Jahr 2011.
- Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 2 im Jahr 2012.
- Gedichte in und Gedicht auf „Brückenschlag“, Band 28 im Jahr 2012.
- Miniaturen in „WORTSCHAU“, Nr. 17 im November des Jahres 2012.
- Gedichte in „Spring ins Feld“, 13. Ausgabe, Dezember des Jahres 2012.
- Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 29 im Jahr 2013.
- Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 3 im Jahr 2013.
- Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 59, 09/2013.
- Kurzgeschichte in der Anthologie „Mein heimliches Auge, Das Jahrbuch der Erotik XXVIII“ vom konkursbuch Verlag
- Claudia Gehrke im Jahr 2013.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 60, 12/2013.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 61, 04/2014.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 62, 08/2014.
- Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 63, 11/2014.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 64, 04/2015.
- Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 67, 04/2016.