Rabe Raphael Folge 8 - Der letzte Magier
Der letzte Magier
Rabe Raphael Folge 8
Berger hob sein Weinglas und prostete dem Raben zu, der neben ihm auf seiner Stangenvorrichtung saß und gelangweilt krächzte. Vor ihm auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch aus der Sammlung seines alten Freundes Konstantin. Es war das letzte von drei Büchern, die nach Bergers Meinung für den dunklen Magier Zacharias von Interesse sein mochten. Dieser hatte vor etwa einer Woche einen seiner Leute geschickt, um ein bestimmtes Buch zu stehlen, woraus Berger geschlossen hatte, dass er dieses für die Umsetzung seines ominösen Plans brauchte, von dem er bisher nur wusste, dass er auch magisch befähigte Helfer benötigte.
Nachdem Berger in den letzten Tagen die drei in Frage kommenden Bücher nach Hinweisen durchsucht hatte, waren drei übrig geblieben, von denen eines das von Zacharias begehrte Objekt sein musste.
Während es in einem dieser offensichtlich sehr alten Werke zwei Abschnitte gab, die sich mit dunkler Magie befassten, waren die anderen beiden ihm vor allem deshalb ungewöhnlich erschienen, weil sie in einer fremdartigen, seltsam und okkult anmutenden Schrift verfasst waren, die vorwiegend aus Symbolen bestand. Diese wiesen eine entfernte Ähnlichkeit mit ägyptischen Hieroglyphen auf, wobei hier natürlich keine irdischen Tiere, Gefäße oder Werkzeuge sondern völlig fremdartige, undefinierbare Dinge dargestellt wurden.
Erst im letzten Abschnitt des Buches waren einige Skizzen abgebildet, die bei näherer Betrachtung ein Ritual oder eine Zeremonie darstellen mochten. Um eine vage humanoid geformte Gestalt herum waren sieben etwas kleinere, entfernt an Strichmännchen erinnernde Figuren gruppiert, welche die größere Gestalt anzubeten schienen.
Über der kreisförmigen Abbildung schwebte etwas, das mit viel Phantasie ein Stern bzw. eine Sonne sein mochte. Es konnte aber ebensogut etwas völlig anderes sein.
Zwar konnte Berger mit dieser Darstellung nicht allzu viel anfangen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es genau dieses Buch war, das Konstantin besonders erwähnt hatte, als es darum ging, dass die Werke nicht in falsche Hände geraten durften, und wonach Zacharias suchte.
Aber da er sich weder mit Symbologie noch mit dunkler Magie besonders gut auskannte, half ihm das nicht wirklich dabei, herauszufinden, was der Täuscher plante. Dennoch machte er ein Foto von der Abbildung und legte die Bücher dann wieder in den Safe zurück.
“Lass uns für heute Feierabend machen”, sagte er, nachdem er seinen Wein ausgetrunken hatte. Raphael, der nur wenig Schlaf benötigte krächzte zweimal. Berger gab ihm noch ein Stück Käse und wollte gerade im Bad verschwinden, als das Telefon klingelte.
Berger unterdrückte ein Gähnen und nahm den Anruf entgegen.
“Entschuldigen Sie die späte Störung”, meldete sich eine offenbar noch recht junge Frau. “Man sagte mir, dass Sie eine Art… Detektiv für ungewöhnliche Fälle sind…”
Berger bestätigte das, während er Raphael dabei zusah, wie er sich sein Gefieder putzte. “Was genau kann ich denn für Sie tun?” fragte er.
“Es geht um meinen Großvater. Also das… ist schwer zu erklären, aber mit ihm stimmt etwas nicht. Mein Opa ist ein ziemlich begnadeter Flötist, müssen Sie wissen. Er tritt oft als Straßenmusiker auf, um seine Rente etwas aufzubessern, aber in letzter Zeit…” Sie unterbrach sich.
“In letzter Zeit…?” fragte Berger, der nun hellwach war.
“Wie gesagt, es ist schwer zu erklären, aber er… macht etwas mit seinem Publikum.” Sie seufzte. “Wissen Sie was, es ist schon sehr spät. Ich… musste mit dem Anruf warten, bis mein Großvater schläft, aber er hat morgen um 15 Uhr einen Arzttermin. Hätten Sie da vielleicht Zeit, vorbeizukommen? Dann versuche ich, es Ihnen genauer zu erklären.”
Berger schaute kurz auf seinen Kalender, dann bestätigte er den Termin und sie legten auf.
“Ein Straßenmusiker”, murmelte er. “Vielleicht sollte ich schon mal nachsehen, ob ich noch Kleingeld habe, das ich loswerden muss.”
***
Das kleine Einfamilienhaus lag etwas von der Straße abgelegen. Berger fuhr den schmalen Privatweg hinauf und stellte den Wagen neben einem großen Kirschbaum ab. Nachdem er ausgestiegen war, ließ er Raphael ein paar Runden um die Häuser fliegen, während er sich schon zur bereits offenen Haustür begab, wo er von der Enkelin des Flötisten, einer recht hübschen, etwa 30jährigen Frau erwartet wurde. Nach einer kurzen Begrüßung deutete sie mit einem verwirrten Lächeln zum Himmel. “Ist das Ihr Vogel?”
Ein paar Sekunden später landete Raphael auf Bergers Schulter, womit die Frage beantwortet war. Die Frau ließ sie nach kurzem Zögern herein und man setzte sich ins Wohnzimmer, wo Berger sofort zur Sache kam.
“Sie sagten, dass sich Ihr Großvater in letzter Zeit seltsam benimmt?”
Sie hob die Schultern. “Naja, eigentlich verhält er sich wie immer, seit meine Oma gestorben ist. Er spricht nicht viel, sitzt die meiste Zeit in seinem Zimmer und hört Musik oder spielt selbst.”
Berger nickte. “Sie sagten ja schon, dass er Musiker ist…”
Ihre Augen leuchteten etwas auf. “Ja, er spielt Querflöte. Schon seit Ewigkeiten. Als ich noch klein war, hat er mir immer etwas vorgespielt. Aber heute spielt er nur noch für fremde Leute…”
“Als Straßenmusiker, richtig?”, erinnerte Berger sich.
Sie nickte. “Früher hat er das nur hin und wieder gemacht, aber seit dem Tod meiner Oma ist er fast jeden Tag draußen. Das ist ja eigentlich auch okay, die Leute kennen ihn schon und viele mögen seine Musik, aber in letzter Zeit… verhält sein Publikum sich ziemlich merkwürdig.”
Berger runzelte die Stirn. “Können Sie das etwas näher erklären?”
Sie hob die Schultern. “Also normalerweise bleiben sie halt stehen, hören eine Weile zu, dann werfen sie ein paar Münzen in die Flötentasche und gehen weiter. Aber seit ein paar Tagen sind sie regelrecht gebannt von seinem Spiel. Sie stehen wie erstarrt auf dem Fleck und gehen erst weiter, wenn er aufgehört hat zu spielen.”
Berger nickte. “Na schön, es soll vorkommen, dass virtuoses Spiel die Leute in den Bann zieht…”
“Ja, ich weiß, aber das ist… einfach nicht normal. Die Leute sind wie in Trance. Ich habe es zwar nicht selbst erlebt, aber aus der Ferne beobachtet.”
“Aus der Ferne?” wunderte Berger sich.
“Naja, er will halt nicht, dass ich zusehe. Er meint, dann würde er sich verspielen...”
“Und wenn er aufhört zu spielen?” fragte Berger.
“Dann ist es sofort vorbei. Die Leute schauen sich verwirrt um und gehen dann weiter. Ich… bin mir fast sicher, dass er sie irgendwie hypnotisiert.”
Berger nickte. “Wie kommen Sie darauf?”
“Er war früher Zahnarzt und hatte sogar eine eigene Praxis. Da hat er mit Hypnose gearbeitet, Sie wissen schon, um den Patienten die Angst zu nehmen. Jedenfalls war das neben der Musik auch so eine Art Hobby von ihm.”
“Ich verstehe”, sagte Berger sinnend. “Sie glauben also, dass er nun das eine mit dem anderen verbindet?”
Sie nickte energisch. “Ja, genau das glaube ich. Ich wüsste nur gern warum er das tut…”
Berger zückte seinen Notizblock. “Können Sie mir sagen, wann und wo Ihr Großvater üblicherweise auftritt?”, fragte er.
Frau Sattler beschrieb ihm den Weg zu der Einkaufspassage und nannte ihm eine ungefähre Uhrzeit, dann verabschiedeten sie sich und Berger versprach, sich nach dem Auftritt wieder zu melden. Sein Gefühl sagte ihm, dass hinter der Sache mehr steckte, als nur der Wunsch, den Leuten etwas mehr Geld aus den Taschen zu locken…
***
Trotz seines inzwischen relativ gut gesicherten Hauses, vor allem was Angriffe magischer Art betraf, hatte Berger den Raben mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zurückgelassen.
Allerdings wäre er mit Raphael auf seiner Schulter wohl zu sehr aufgefallen bei seinem kleinen Ausflug in die Innenstadt, zumal er vorhatte, sich der scheinbar hypnotischen Wirkung des Straßenmusikers auszusetzen, wofür er eins mit der anonymen Menge werden musste.
Berger warf einen kurzen Blick auf seine Notizen und begab sich dann in die Richtung eines der Standorte, welche ihm die Enkelin genannt hatte. Nach einem kurzen Fußmarsch konnte er aus der Ferne bereits die ersten sanften Töne der Querflöte hören und sich dann von seinem Gehör bis zu dem Straßenmusiker leiten lassen.
Dieser wurde bereits von einer recht ansehnlichen Gruppe von Leuten umringt, welche offenbar tatsächlich ganz im Bann der Musik zu stehen schienen. Berger näherte sich der Gruppe vorsichtig und schaute sich die Aufführung dann zunächst aus sicherer Entfernung an.
Hätte seine Auftraggeberin ihm nicht ihre Bedenken mitgeteilt, was das Verhalten der Zuhörer betraf, wäre Berger wohl so schnell nichts ungewöhnliches aufgefallen, was natürlich daran liegen mochte, dass der Musiker unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich zog und man seinem Publikum keine größere Beachtung schenkte. Tat man es aber doch, konnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass hier mehr als nur Faszination im Spiel war, denn die Leute starrten den Musiker ausnahmslos an, wie das Kaninchen die Schlange und bewegten sich kaum. Berger trat langsam näher an die Gruppe heran, konnte aber noch keinen mentalen Einfluss spüren. Erst als er sich bis in den inneren Ring vorgewagt hatte und schließlich unmittelbar vor dem Musiker stand, der gerade “Bouree” spielte, ein Stück von Bach, das selbst Berger geläufig war, konnte er spüren, wie die Musik über sein Gehör bis in sein Innerstes zu dringen schien. Es war beinahe so, als könnte er sie nicht nur hören, sondern mit jeder Faser seines Körpers fühlen, so als würde jede einzelne Note bis in seine tiefste Seele dringen.
Zum Glück hatte Berger für einen solchen Fall vorgesorgt und sich eine Formel notiert, die ihm helfen sollte, sich einer mentalen Beeinflussung zu widersetzen. Er wollte die Formel aufsagen, merkte aber, dass es ihm bereits sehr schwer fiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich schaffte er es mit einiger Anstrengung, heftig den Kopf zu schütteln, was bei Benommenheit oder Müdigkeit oft Wunder wirkte, worauf es ihm gelang, die Formel auszusprechen. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, als würde ein kühler Windstoß durch seinen Kopf fahren und seine Gedanken klärten sich von einer Sekunde auf die andere.
Er trat sofort ein paar Schritte zurück, bis er sicher sein konnte, dem hypnotischen Einfluss nicht mehr ausgesetzt zu sein, und wartete dann bis der “Meister” mit seiner Aufführung fertig war.
Nach etwa zwei Minuten beendete dieser seine Bach - Interpretation und verbeugte sich vor seinem Publikum. Dieses schien allerdings noch zu gebannt, um applaudieren oder sich auch nur vom Fleck bewegen zu können. Erst als der Musiker eine seltsam disharmonische Tonfolge auf der Flöte spielte, erwachten seine Zuhörer aus ihrer Trance, applaudierten verhalten und warfen dann ihre Münzen oder Scheine in die offene Flötentasche. Der Künstler nickte dankend und warf dann einen kurzen Blick in Bergers Richtung. Dieser wartete, bis die kleine Gruppe sich aufgelöst hatte und trat auf den Mann zu, der gerade sein Geld einsammelte. Als er Berger aus dem Augenwinkel auf sich zukommen sah, hob er kurz den Kopf und grinste. “Hat Ihnen meine Musik nicht gefallen?” fragte er.
Berger schüttelte den Kopf. “Das kann man so nicht sagen. Ich glaube ich kannte das letzte Stück sogar. War das nicht Bach?”
Sattler nickte anerkennend. “Richtig. Aber wenn Sie Jethro Tull gesagt hätten, wäre auch das nicht falsch gewesen.”
Berger vermutete, dass er hier einen Fan der Rockgruppe vor sich hatte.
“Ach richtig. Der verrückte, kleine Mann mit der Querflöte…”
“Nun, Ian Anderson ist alles andere als verrückt, guter Mann. Aber wenn er auf der Bühne stand und in sein Instrument geschrien und gestöhnt hat, mochte dieser Eindruck natürlich entstehen. An der Querflöte ist er bis heute ein Virtuose, ein absolutes Genie.”
Berger nickte. “Ich kenne mich da zwar nicht so gut aus, aber Sie scheinen auch durchaus gesegnet zu sein, was Ihr Talent betrifft.”
Sattler hob nur lächelnd die Schultern, während er seine Flöte behutsam in die nun leere Tasche legte.
“Vor allem scheinen Sie ein Talent dafür zu haben, die Leute in Ihren Bann zu ziehen, was zwar auch sehr beachtlich ist, andererseits aber auch nicht ganz unbedenklich. Oder was meinen Sie?”
Sattler schüttelte den Kopf. “Warum sollte das bedenklich sein? Die Leute sind einfach nur fasziniert. Ich will mich nicht selbst loben, aber es gibt nicht so viele Straßenmusiker, die tatsächlich wissen, wie man eine Partitur richtig herum hält…”
Berger nickte. “Ihr Talent will ich Ihnen auch gar nicht absprechen. Aber das was hier gerade passiert ist, hat mit bloßer Faszination nicht viel zu tun. Ich würde es eher Massenhypnose nennen.”
Wenn Sattler die Worte alarmiert oder getroffen hatten, ließ er sich nichts anmerken. Er schüttelte nur wieder den Kopf. “Massenhypnose? Wie kommen Sie denn auf einen solchen Unsinn?”
“Warum ist das Unsinn? Soviel ich weiß, haben Sie vor Ihrer Karriere als Straßenmusiker Hypnose im medizinischen Bereich angewandt. Oder bin ich da falsch informiert?”
Sattler, der bis jetzt kaum den Blick erhoben hatte, starrte ihn an und verengte die Brauen. “Woher wissen Sie das? Wer sind Sie überhaupt?”
“Gegenfrage”, sagte Berger. “Was bezwecken Sie mit Ihren Auftritten? Geht es darum, den Leuten mehr Geld aus dem Beutel zu locken? Oder geht es um etwas ganz anderes?”
Sattler schüttelte den Kopf. “Es geht mir nicht um Geld.”
“Worum dann? Sie scheinen gelernt zu haben, Ihre hypnotischen Fähigkeiten irgendwie mit der Musik zu verbinden. Ihre Musik hat einen mentalen Einfluss auf Ihre Zuhörer. Sie versetzt sie in Trance. Zu welchem Zweck?”
Sattler lachte, aber es war ein zu lautes, unsicheres Lachen. “Sie phantasieren, guter Mann.”
Berger schüttelte den Kopf. “Ich phantasiere? Ich habe es doch gerade selbst erlebt und mich nur mit einer kleinen Formel von dem mentalen Einfluss befreien können. Also nochmal meine Frage: Was bezwecken Sie damit?”
Sattler schaute ihn für einen Moment beunruhigt an, dann stieß er ihn plötzlich zur Seite, was Berger so überraschte, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.
“Sie belästigen mich!” sagte er. “Und Sie verschwenden meine Zeit. Zeit ist kostbarer als aller Reichtum der Welt.” Dann verschwand er, ohne sich nochmal umzudrehen in der Menge.
***
Nachdem Berger den Raben, der ihn mit einem beleidigten Krächzen begrüßte, gefüttert hatte, rief er sofort bei Sattlers Enkelin an, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Erst am Morgen des nächsten Tages rief die junge Frau zurück und Berger berichtete ihr von seiner Begegnung mit ihrem Großvater.
“Also hypnotisiert er die Leute wirklich?” fragte sie schließlich.
“Ich bin mir noch nicht sicher, wie man das nennt, was er da tut, aber es ist auf jeden Fall nicht die Musik allein, die seine Zuschauer in den Bann zieht. Da steckt noch etwas anderes dahinter.”
“Und was könnte das sein?” fragte sie.
Berger überlegte, ob er ihr von seinem Verdacht erzählen sollte, dass hier Magie im Spiel war, entschied sich dann aber dagegen.
“Das würde ich gern herausfinden”, sagte er, “aber dafür brauche ich Ihre Hilfe. Sie sagten doch, dass Ihr Großvaters erst seit kurzem mit dieser hypnotischen Wirkung musiziert, ist das richtig?”
“Das stimmt, ja. Eigentlich erst seit er diesen… Agenten hat.”
Berger stutzte. “Er hat einen Agenten?”
“Naja, jedenfalls hat sich das für mich so angehört. Ich sagte ja schon, dass mein Großvater früher Zahnarzt war, und einer seiner alten Patienten arbeitet für die Stadtverwaltung. Der hat ihn mal spielen sehen und ihm dann angeboten bei so einem Jugendkonzert aufzutreten. Sozusagen als Vorprogramm…”
“Das wird Ihren Großvater sicher gefreut haben”, vermutete Berger.
“Nein im Gegenteil. Er war sogar tödlich beleidigt und hat gemeint, dass diese jungen Leute bei ihm als Vorprogramm auftreten müssten und nicht umgekehrt.”
“Also hat er abgelehnt?” fragte Berger.
“Zuerst ja. Aber dann kam er neulich von einem seiner Auftritte zurück und erzählte mir von diesem Agenten. Der hätte ihm dazu geraten, den Gig anzunehmen, weil er da natürlich viel mehr Leute erreicht.”
“Können Sie mir irgendwas über diesen Agenten sagen?” fragte Berger.
“Leider nicht viel. Mein Großvater redet ja kaum mit uns über seine Angelegenheiten. Ich habe ihn nur gefragt, was dieser Agent für seine Vermittlung verlangt, wenn man das überhaupt so nennen kann. Eigentlich war es ja nur ein guter Rat. Und da meinte er nur, dass er überhaupt kein Geld dafür verlangt.”
“Lassen Sie mich raten”, sagte Berger. “Ihr Großvater schuldet ihm nur einen kleinen Gefallen, richtig?”
“Woher… wissen Sie das?”
“Ich glaube, dieser Agent ist kein Unbekannter für mich. Wissen Sie, wann das Konzert stattfindet?”
“Ich müsste nachschauen, aber ich glaube, heute Abend schon.”
“Heute schon?” Berger schüttelte den Kopf. “Frau Sattler, warum haben Sie mir das nicht früher erzählt?”
“Naja, also nachdem ich seinen komischen Auftritt beobachtet hatte, habe ich natürlich sofort versucht, ihm den Auftritt auszureden. Aber er meinte, dass er dann doch noch abgelehnt hätte.”
“Und glauben Sie ihm das?” fragte Berger.
“Ich… bin mir nicht sicher. Er hat vor zwei Stunden das Haus verlassen und uns erzählt, dass er sich mit einem Bekannten treffen will, aber… mein Gott, wie konnte ich nur so dämlich sein…”
“Bei diesem Bekannten dürfte es sich dann wohl um seinen Agenten handeln”, schloss Berger.
“Was ist das denn überhaupt für ein Kerl? Sie sagten, Sie kennen ihn?”
Berger seufzte. Er wollte die Frau nicht noch mehr beunruhigen, als sie es ohnehin schon war, also konnte er ihr natürlich nichts von Zacharias erzählen. “Das war nur so eine Vermutung”, sagte er nur. “Können Sie mir bitte sagen, wo und wann genau das Konzert stattfindet?”
“Kennen Sie das “Roxy?” fragte sie. “Das ist dieses alte Kino am Rande der Stadt. Das wurde vor nem Jahr renoviert und jetzt finden da kleinere Veranstaltungen statt.” Sie beschrieb ihm den Weg dorthin und als Berger leise fluchend auflegte und auf die Uhr schaute, wusste er, dass er noch genau zehn Minuten hatte, bevor das “Vorprogramm” begann.
***
Wenn Berger nicht gewusst hätte, dass es sich bei dem “Roxy” um ein altes Kino handelte, wäre er so schnell nicht darauf gekommen. Selbst als er direkt vor dem Eingang stand, hätte er es eher für eine Kneipe oder ein Etablissement für die späteren Stunden gehalten.
Berger musste nicht auf die Uhr schauen, um zu wissen, dass er zu spät gekommen war, denn man konnte durch die Doppeltür hindurch sehr deutlich hören, dass die Vorstellung bereits angefangen haben musste. Da man ihn mit dem Raben sicher nicht hineinlassen würde, schickte er ihn mit einem kurzen Befehl in Warteposition. Raphael erhob sich in die Lüfte und setzte sich in Hörweite auf einen Fenstersims.
Berger wollte den Laden betreten, aber die Türen ließen sich nicht öffnen. Allerdings schienen sie nicht abgeschlossen zu sein, sondern es schien eher so, als wären sie ohne Kälteeinwirkung zugefroren, was einerseits ungewöhnlich war, ihn aber angesichts des “Vorprogramms” auch nicht verwunderte. Berger spähte durch die Scheiben hindurch und sah eine ältere Frau in dem Kassenbereich sitzen, die in seine Richtung zu blicken schien. Berger klopfte laut, aber die Frau reagierte nicht, sie bewegte nicht einmal den Kopf, sondern starrte ihn einfach nur an. Berger fluchte leise und rief den Raben wieder zu sich. Als dieser auf seiner Schulter landete, krächzte er zweimal.
Berger nickte. “Dachte ich es mir doch”, sagte er. “Die Tür scheint magisch verriegelt zu sein. Aber wie es der Zufall will, haben wir gerade erst den passenden Gegenzauber gelernt, nicht wahr?”
Raphael krächzte bestätigend und Berger murmelte die “Magiebrecher” - Formel, worauf ein leises Knacken zu vernehmen war. Anschließend ließ die Tür sich problemlos öffnen und Berger betrat vorsichtig das Foyer.
Als er sicher war, dass sich hier niemand mehr aufhielt, wandte er sich der Kassiererin zu, die noch immer wie festgefroren auf ihrem Stuhl hockte und in Richtung der Tür blickte. Offenbar stand sie unter einem hypnotischen Einfluss, was Berger zwar leid tat, allerdings kam ihm dieser Umstand auch nicht völlig ungelegen.
Dass auch die mit einem horizontalen Balkengriff versehenen Doppeltüren, die in den Saal führten, magisch verriegelt waren, überraschte Berger nicht und er wandte erneute die Magiebrecher - Formel an. Dann öffnete er eine der Türen zunächst nur soweit, dass er ins Innere des Saals schauen konnte. Dieser war zwar recht klein aber soweit er sehen konnte fast voll besetzt. Zum Glück war der ehemalige Kinosaal nur sehr spärlich beleuchtet, also drückte Berger die Tür soweit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte und schloss sie dann leise.
Jetzt konnte er das gesamte Publikum überblicken, und auch wenn er die Gesichter von seiner Position aus nicht erkennen konnte, war schon an ihrer nahezu regungslosen Körperhaltung erkennbar, dass die hypnotische Wirkung der Musik bereits eingesetzt hatte. Als Berger zur Bühne hinübersah, schien der Musiker so sehr in sein Spiel vertieft, dass es beinahe so aussah, als befände er sich auch selbst in Trance.
“Raphael: Sichtflug!”, rief Berger.
Der Rabe erhob sich von seiner Schulter und flog quer durch den Saal über die Köpfe der wie versteinert dasitzenden Zuschauer hinweg auf die Bühne zu. Dort flog er einmal um den Flötisten herum, der jedoch ebenfalls keine Notiz von ihm nahm und einfach weiter spielte, dann flog er wieder in Bergers Richtung zurück.
Als er die Mitte des Saales erreicht hatte, geschahen zwei Dinge beinahe gleichzeitig. Raphael krächzte dreimal, der Musiker hörte abrupt auf zu spielen und warf einen wütenden und entsetzten Blick auf den Raben. Dieser kreiste um einen der Zuschauer und schien nicht sicher ob er angreifen oder auf einen bestimmten Befehl warten sollte. Berger nahm ihm die Entscheidung ab.
“Raphael: Zu mir!”, rief er, aber es war bereits zu spät.
Von einer Sekunde auf die andere bildete sich wie aus dem Nichts ein etwa zwei Meter durchmessender, kugelförmiger Energiekäfig um den Raben herum. Dieser versuchte vergeblich, durch die blau leuchtenden Gitter hindurchzufliegen, was seinem Krächzen nach zu urteilen offenbar Schmerzen verursachte.
“Raphael!”, rief Berger verzweifelt.
In diesem Moment erhob sich der Zuschauer, wandte sich der Bühne zu und klatschte laut. Dass er nicht wie die anderen unter Hypnose stand, wunderte Berger nicht, denn es handelte sich, wie er befürchtet hatte, um Zacharias. Dieser beendete seine standing ovations, drehte sich zu Berger um und deutete dann zu dem hilflos in seinem Energiekäfig herumflatternden Raphael. “Tut mir leid, Frederic, aber Tiere sind hier leider nicht gestattet.”
Berger verzichtete auf eine Erwiderung und überlegte stattdessen, wie er Raphael befreien konnte. Seine einzige Hoffnung beruhte auf der Vermutung, dass die Energiekugel auf einem ähnlichen Prinzip basierte, wie das magische Feuer, mit dem seine Gegner ihn bereits traktiert hatten. Durch sein aktuelles Studium der alten Bücher hatte er inzwischen herausgefunden, dass es neben dem blauen Feuer, das man umwandeln musste, um es zu beseitigen, auch noch artverwandte Formen dieser Magie gab, die nicht zersetzten, sondern wie hier als undurchdringliche Energiebarrieren verwendet wurden. Um diese beseitigen zu können, musste man sich allerdings in der unmittelbaren Nähe befinden.
Berger lief am äußeren Gang entlang, bis er sich der Kugel soweit genähert hatte, wie es ihm möglich war, ohne über die nach wie vor paralysierten Zuschauer zu klettern. Zacharias ließ ihn zunächst gewähren, dann streckte er die Hände nach ihm aus und rief etwas. Berger ließ sich fallen und duckte sich hinter einem der Sitze, während irgendetwas über ihn hinweg schoss und in die Wand hinter ihm einschlug. Als Berger sich am Boden liegend umdrehte, sah er etwas wie ein blaues Elmsfeuer über die Wand huschen. Er schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren, dann fiel ihm endlich die Formel ein, die er heute morgen erst entdeckt hatte. Der Energiekäfig war jetzt nur noch etwa zwei Meter von seiner momentanen Position entfernt, und Berger hoffte, dass diese Entfernung ausreichen würde. Er erhob sich und brüllte dann so laut er konnte, die Energiewandler - Formel.
Beinahe im selben Moment raste wieder ein blaues Energiegespinst auf ihn zu. Diesmal gelang es ihm nicht ganz, sich so schnell wegzuducken und er glaubte, einen heftigen Stromschlag abzubekommen. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen und er konnte sich nicht bewegen, aber er konnte noch zu dem Käfig hinaufschauen, der gerade in einer Kaskade aus blauem Licht auseinanderstob. Raphael flog sofort in seine Richtung, während die Zuschauer aus ihrer Hypnose erwachten.
Von einer Sekunde zur anderen herrschte ein heilloses Durcheinander. Die meisten Leute blieben verwirrt sitzen aber ein paar sprangen auf und über andere hinweg, es drohte eine Panik auszubrechen.
Berger schaute sich nach Zacharias um, konnte ihn aber nicht entdecken. Auch der Musiker war inzwischen von der Bühne verschwunden. “Raphael: Rückzug!” rief er.
Der Rabe flog in Richtung der Doppeltüren und Berger bahnte sich seinen Weg durch die Menge, die ebenfalls auf den Ausgang zustürmte.
Irgendwie schaffte er es, nach draußen zu gelangen, ohne niedergetrampelt zu werden.
“Ich weiß schon, warum ich nicht mehr so gern auf Rockkonzerte gehe”, sagte er später an den Raben gewandt. Dieser verzichtete auf eine Antwort und Berger gab ihm ein extra großes Stück Käse.
“Du hast mir schon so oft den Arsch gerettet, mein Freund”, sagte er mehr zu sich selbst. “Jetzt konnte ich mich endlich mal revanchieren.”
Raphael stieß ein undeutbares Krächzen aus.
***
Später in seiner Wohnung warf er einen erneuten Blick auf die Skizze.
“Wofür brauchst du all diese Leute?” murmelte er kopfschüttelnd.
“Und wofür zum Teufel brauchst du den Raben…”
Wieder und wieder versuchte er der seltsamen Abbildung einen Sinn abzugewinnen, dann, nach dem dritten Glas Wein, glaubte er plötzlich etwas gefunden zu haben. “Was, wenn das gar kein Sonnensymbol ist”, dachte er laut. “Was, wenn es etwas… ganz anderes ist?”
Und was war mit diesen sieben Figuren, die eine größere, unförmige Figur anzubeten schienen. Die siebte Figur stand zwar am Kopfende der Formation, hatte aber ebenfalls die strichartig dargestellten Arme erhoben. Zwar hatte Zacharias, soweit Berger informiert war, erst sechs Magier beisammen, aber wenn er wirklich dieses Buch gesucht und diese Abbildung irgendetwas mit seinem Plan zu tun hatte, dann konnte es womöglich sein, dass seine Gruppe dennoch bereits vollständig war.
Weil er selbst der letzte noch fehlende Magier war.
ENDE
© by Stefan Robijn
Kommentare
Zachys Truppe wird immer kunterbunter. Mutmaßlich ist das Symbol im Buch ein Hinweis auf den Coup, den die Bande ausheckt. Aber ach!: Ich versuche mir ein Symbol vorzustellen, das eine Sonne oder ein Stern sein könnte - oder aber auch etwas ganz anderes ... (Ein Emoji isses wohl nicht.)
Ja, das Symbol scheint nicht ganz unwichtig zu sein...
In Teil 9 und 10 werden auf jeden Fall ein paar Fragen beantwortet, was den ominösen Plan betrifft...
Wieder ein spannender Teil.
Als Jethro Tull - Fan musste ich den guten Ian hier einfach mal einbauen.
Wenn die Pandemie uns keinen Strich durch die Rechnung macht, werde ich JT im Oktober zum ersten Mal live erleben...