Das Flimmern (Teil 1)
An extremely quiet child
they called you in your school report“
„Ticking“ (B.Taupin)
Das Flimmern (Teil 1)
Nicht nach unten, denn erstens war er nicht schwindelfrei und zweitens wusste er ja, was ihn dort erwartete.Nein, er schaute nach vorn, so als gäbe es dort etwas anderes zu sehen, als die Schwärze der Nacht. Als hoffte er, dass sich im letzten Moment, bevor der kleine Schalter in seinem Kopf umgelegt wurde, so etwas wie eine unsichtbare Brücke in dieser Schwärze bilden würde, um ihn hinüber zu geleiten in eine bessere Welt. Eine Welt, in der das Schlimme nicht passiert war. In der es noch sowas wie Hoffnung und einen Grund gab, morgens aufzustehen.
Ein zufälliger Beobachter hätte vermutlich gedacht, dass er einfach nur Angst davor hatte, nach unten zu schauen, aber obwohl er wie gesagt nicht schwindelfrei war, stimmte das nicht. Howard Leary hatte weder Angst vor dem alles verzehrenden Schmerz beim Aufprall auf dem nassen Asphalt unter ihm, noch vor dem Tod. Er hatte Angst vor dem Leben. Vor den Bildern, die ihn heimsuchten, sobald er die Augen schloss. Sobald er sie nach einer traumlosen Nacht öffnete. Sobald er die wirren Sphären des Unterbewusstseins verließ und sich in der Realität wiederfand. Versuchen Sie nicht, die Bilder zu verdrängen, hatte sein Therapeut gesagt. Setzen Sie sich damit auseinander. Aber wie konnte er das, wenn das bedeutete, dass er immer und immer wieder dabei zusehen musste? Nicht wegschauen durfte, nicht jedes kleine und kleinste Detail verpassen durfte? Wie zum Teufel sollte ihm das helfen?
Es gab nur eine Möglichkeit, die Bilder loszuwerden, sie für immer auszuschalten. Im Grunde hatte er das bereits gewusst, lange bevor es passiert war. Sollte ihm jemals etwas zustoßen, hatte er sich immer geschworen, dann endet alles, auch für mich.
Natürlich hatte er ebenso gewusst, dass er möglicherweise zu feige für diesen Schritt sein könnte, aber nun stand er hier, hatte es bis zu diesem Punkt geschafft und alles was jetzt noch fehlte, war wirklich nur noch dieser eine, letzte Schritt. Der Schalter, mit dem er die Bilder für immer ausschalten konnte, lag direkt vor ihm. Und da dies kein Film war, gab es niemanden, der ihn in letzter Sekunde davon abhalten würde. Niemand wusste, dass er hier war, weil es niemanden mehr gab, den es noch interessierte, wo er war oder was er tat. Dafür hatte er immerhin gesorgt. Kein Handy, das im letzten Moment klingelte, niemand, der zu ihm rauf kam und sich neben ihn stellte, um ganz locker mit ihm zu plaudern, als wäre es etwas völlig normales, mitten in der Nacht hier oben auf dem Dach eines Hochhauses zu stehen. Kein Sprungtuch, das unter ihm ausgebreitet wurde, keine aufgeregte Menschenmenge, nichts. Nur die Schwärze der Nacht und der Abgrund, die Tür ins Vergessen.
Er versuchte, alle Gedanken auszuschalten, atmete ein letztes Mal tief durch, dann hob er - die Augen noch immer stur geradeaus gerichtet - den rechten Fuß, um den letzten Schritt in seinem Leben zu tun.
Das war der Moment, in dem er das Flimmern sah.
Eigentlich sah er nur irgendetwas aus dem Augenwinkel, das sich von der Schwärze der Nacht abhob, aber das änderte bereits alles. Vielleicht war es die Erleichterung darüber, dass er so kurz vor dem Ende noch von irgendwas abgelenkt wurde, vielleicht dachte ein Teil von ihm sogar an Schicksalsfügung, etwas worüber er früher immer gelacht hatte, vielleicht war es auch einfach nur ein Reflex. Jedenfalls bewegte sich sein Kopf, er schaute in die Richtung, in der er eine Lichtspiegelung oder sowas wahrgenommen hatte und sah das Flimmern nun unmittelbar. Eine kaum wahrnehmbare, nebelhaft wabernde Erscheinung, die wie eine Wolke aus Licht direkt neben ihm in der Luft zu schweben schien. Er drehte sich langsam um und streckte den rechten Arm aus, um das flimmernde Feld zu berühren. Es fühlte sich seltsam angenehm an, kribbelte an seinen Fingerspitzen, so als würde man einen elektrisch aufgeladenen Pullover anfassen. Was in aller Welt konnte das sein? Zumindest keine optische Täuschung, denn die konnte man nicht berühren. Howard hatte sich längst von der Dachkante abgewandt und stand nun unmittelbar vor dem etwa mannshohen Flimmerfeld. Und plötzlich glaubte er zu wissen, was er tun musste. Er wusste nicht, warum, aber er wollte es auch gar nicht wissen. In diesem Moment reichte ihm die Gewissheit, dass es das Richtige war.
Er trat in das flimmernde Feld hinein.
Jeremy
Bevor der neue Nachbar in die Wohnung der alten Mrs. Gregory gezogen und so etwas wie sein Freund geworden war, hatte Jerry gar keinen Freund gehabt. Jedenfalls keinen richtigen, also jemanden, dem man alles erzählen konnte und der es dann nicht sofort weitererzählte. Jemand, mit dem man sich regelmäßig traf, der die gleiche Musik hörte, die gleichen Bücher las und immer sofort wusste, was man meinte, wenn man über einen bestimmten Song oder ein bestimmtes Buch sprach.
Er wusste selbst nicht genau, warum es so jemanden nicht gab. Seine Mutter sagte immer, dass es an der Umzieherei läge, dass er sich einfach nicht traute, sich mit jemandem anzufreunden, aus Angst ihn irgendwann wieder zu verlieren, aber eigentlich wussten sie beide, dass das nicht der Grund war. Der eigentliche Grund war der, dass niemand ihn mochte, dass die anderen Kinder ihm aus dem Weg gingen und aus der Entfernung über ihn tuschelten oder lachten. Warum sie das taten, wusste er nicht, und hätte er es seiner Mutter erzählt, hätte sie ihm vermutlich gesagt, dass es auch dafür überhaupt keinen Grund gab. Er hatte keine Segelohren, keine feuerroten Haare, wie sein Cousin Vincent, er war nicht zu klein oder zu dick, er hatte keinen Mundgeruch (jedenfalls glaubte er das nicht, weil er seit er denken konnte, süchtig nach Tictacs mit Orangengeschmack war) und was seine Klamotten betraf, so trug er immer nur Jeans und T-Shirts ohne Motiv, also nichts, was irgendjemanden hätte veranlassen können, mit dem Finger darauf zu zeigen. Er war auch nicht schlauer als die anderen oder dümmer, er war, so glaubte er, alles in allem so normal und unauffällig, wie ein 12jähriger Junge nur sein konnte. Und doch gab es in seinem Leben keinen Freund, nicht mal einen Nachbarjungen mit dem er sich hätte anfreunden können. Einmal hatten sie nach dem Einkaufen einen etwa gleichaltrigen Jungen mit in die Wohnung genommen, weil Mom ihn dabei erwischt hatte, wie er in dem Gang, der zum Hinterhof führte, an die Wand pinkeln wollte. Der Junge war nur ganz kurz im Badezimmer gewesen und als Jerry ihm anschließend sein Zimmer zeigen wollte, hatte er nur den Kopf geschüttelt und war wieder gegangen. Er wusste nicht mal seinen Namen, aber in der kurzen Zeit seines Besuchs schien auch er für sich entschieden zu haben, dass er Jerry nicht mochte.
Doch dann war letzten Monat der “Neue”, wie Mom ihn nannte, in die Wohnung neben ihnen gezogen, in der vorher die alte Mrs. Gregory gewohnt hatte. Jerry hatte sie kaum gekannt, aber seine Mom hatte immer ihre zwei Katzen versorgen müssen, wenn sie im Krankenhaus lag. Irgendwann war sie dann einfach nicht wiedergekommen und Mom hatte beim Tierheim angerufen, damit jemand die Katzen abholte. Vorher hatte sie ihn noch gefragt, ob er sich vorstellen könnte, dass sie die Tiere bei sich aufnahmen, aber Jerry mochte keine Katzen und er war sich sicher, dass Katzen ihn auch nicht mochten, weil sie - genau wie die anderen Kinder - immer einen großen Bogen um ihn machten.
Der neue Nachbar schien ebenfalls keine Katzen zu mögen, jedenfalls hatte er das Gesicht verzogen, als Ma ihm erklärte, warum es in der Wohnung so schlimm stank. Das war bei ihrer ersten Begegnung gewesen, als der Neue sich bei ihnen vorgestellt hatte (Jerry kannte ihn da bereits, weil er genau wie er selbst, oft draußen im Hinterhof saß und Bücher las), und als Ma ihn fragte, warum ihn der Gestank nicht abschreckte, so wie die anderen Leute, die dagewesen waren, um sich die Wohnung anzusehen, hatte er nur abgewinkt und gesagt, dass der Geruch eines Tieres etwas völlig natürliches sei und dass Gestank immer von Menschen verursacht wird, weil sie entweder ihre Haustiere oder sich selbst nicht richtig pflegen. Ma hatte darüber gelacht, aber Jerry fand das nicht wirklich witzig. Allerdings lachte er sowieso nicht so oft. Seine Mutter schüttelte immer nur den Kopf, weil er meistens keine Miene verzog, wenn sie sich irgendeinen Cartoon oder eine Komödie mit Tom Hanks oder John Candy anschauten, während sie sich vor Lachen fast in die Hose machte. “Irgendwas stimmt mit dir nicht”, sagte sie dann immer. Und vielleicht hatte sie damit ja recht. Vielleicht war das der Grund, warum er keine Freunde hatte. Keinen bis auf den neuen Nachbarn, dem es nichts auszumachen schien, dass Jerry nie lachte. Er selbst lachte nämlich auch meistens nicht. Er saß eigentlich die meiste Zeit draußen oder in seiner Küche und las Bücher von John Irving, Pat Conroy oder Charles Dickens. Jerry kannte Dickens, weil sie in der Schule “Oliver Twist” durchgenommen hatten, und als er dem Neuen das erzählte, hatte der ihm eine Geschichte aus Dickens Leben erzählt. Irgendwas mit einem Zugunglück, bei dem der Autor angeblich dabei gewesen war. In der Schule hatte Jerry davon nichts gehört, aber es klang nicht so, als hätte sein Nachbar sich das bloß ausgedacht. Es gäbe sogar ein Buch, erzählte er ihm, in dem es unter anderem um dieses Zugunglück ging. Eines, das Dickens nicht geschrieben hätte, sondern in dem er selbst die Hauptfigur war. Der Neue besaß die Taschenbuch -Ausgabe, aber als Jerry ihn gefragt hatte, ob er sich die irgendwann mal ausleihen könnte, hatte er nur “mal sehen” gesagt.
Seine Mom war natürlich zuerst sehr skeptisch gewesen, als er zu ihm rüber gehen wollte, aber dann hatte der Neue sie beide zum Abendessen eingeladen und sich ganz prima mit ihr verstanden. Obwohl Mom es schon etwas komisch fand, dass er die Wohnung überhaupt nicht renoviert und sogar die alten Möbel der Vormieterin übernommen hatte, erlaubte sie Jerry nach diesem Abend, zu ihm zu gehen, wenn sie zu hause war. Allerdings auch nur dann.
“Was macht ihr eigentlich die ganze Zeit da drüben?” hatte sie ihn einmal gefragt. “Ihr redet doch nicht nur über Bücher?”
“Er zeigt mir jedenfalls nicht seine Briefmarkensammlung, falls du dir deswegen Sorgen machst”, hatte Jerry mit wie immer todernster Miene gesagt. Mom hatte ihn mit leichtem Entsetzen angesehen. “Glaubst du, ich hätte dich auch nur in die Nähe seiner Wohnungstür gelassen, wenn ich sowas denken würde?”, fragte sie. Jerry hatte den Kopf geschüttelt. Er wusste, dass seine Mutter dem Neuen niemals voll und ganz trauen würde, so sind Mütter nun mal, aber nachdem sie nun selbst schon dreimal drüben gewesen war, traute sie ihm immerhin mehr, als seinem Klassenlehrer Mr. Farnham, der Jerry mal einen ganzen Nachmittag lang nachsitzen lassen wollte. Jerry wusste nicht mehr genau warum, aber nach ungefähr einer Stunde war Mom plötzlich in das Klassenzimmer gestürmt, hatte Mr. Farnham einen bösen, wütenden Blick zugeworfen und Jerry gesagt, dass er seine Tasche packen und mit nach hause kommen solle. Mr. Farnham hatte sie nur mit großen Augen angestarrt, aber er hatte sie ohne ein Wort des Protests gehen lassen.
Den Neuen hatte sie noch nie wütend oder böse angesehen, sie schien ihn sogar irgendwie zu mögen. Das einzige, was sie an ihm komisch fand, mal abgesehen von den alten Möbeln, war sein Name, weil sie nicht wusste, ob es sein Vor- oder sein Nachname war. Auf dem Türschild stand nur “Howard”, also hatte Jerry ihn zuerst immer mit Mr. Howard angesprochen. Irgendwann hatte der darüber gelacht und ihm gesagt, dass er ihn einfach Howard nennen könne, es schien also sein Vorname zu sein. Seinen Nachnamen hatte er ihm nicht verraten, aber danach hatte Jerry auch nicht gefragt.
© by Stefan Robijn
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