Das Flimmern (Teil 2)
Und als er es schließlich wusste, hatte er nochmal doppelt so lange gebraucht, bis er es hatte glauben und vor allem fassen können. Nachdem er das Flimmerfeld ohne merklichen Effekt passiert hatte, gab er sein ursprüngliches Vorhaben, seinem Leben ein Ende zu setzen vorerst auf, ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht hatte ihn einfach der Mut verlassen, vielleicht hatte er aber bereits gespürt, dass sich eben doch etwas verändert hatte, auch wenn man es nicht sofort merkte. Die Luft roch und schmeckte plötzlich anders, und der Lärm von der Straße schien ein wenig an Lautstärke zugenommen zu haben. Die nächste überaus merkwürdige Veränderung bemerkte er im Fahrstuhl. Das Bedienfeld erschien ihm weniger verkratzt und abgenutzt, so als hätte es jemand in der kurzen Zeit, die Howard auf dem Dach verbracht hatte, gegen ein neues ausgetauscht, und ein paar der Schmierereien an den Wänden waren verschwunden, als hätte dieser Jemand auch noch die Gelegenheit genutzt, sie zu entfernen.
Später glaubte Howard, dass er es in diesem Moment bereits geahnt oder sogar gewusst hatte, noch bevor die Tür des Fahrstuhls aufschwang und er auf den Flur seines Stockwerks hinaustrat. Als sein Schlüssel dann nicht in das Schloss seiner Wohnungstür passte, wunderte er sich kaum noch darüber. Auch nicht über die Tatsache, dass auf dem Türschild nicht sein Name stand, sondern der eines Fremden. Wäre er nicht mit dem Fahrstuhl gefahren, hätte er vielleicht noch glauben können, sich in der Etage geirrt zu haben, aber so dämmerte ihm allmählich, dass er hier zwar in gewisser Weise wirklich falsch war, aber nicht unbedingt am falschen Ort.
Er verzichtete also darauf, bei dem Fremden, der in seiner Wohnung lebte, zu klingeln, ging stattdessen zum Fahrstuhl zurück und fuhr runter ins Erdgeschoss. Dort stieg er nach kurzem Zögern aus, ging zu den Briefkästen im Eingangsbereich und warf einen Blick darauf. Howard war nie ein besonders geselliger Mensch gewesen, weshalb er gerade die Anonymität eines Hochhauses schätzte und bevorzugte, aber dennoch kannte er natürlich ein paar seiner Mitbewohner, zumindest namentlich. Vor allem wusste er, welche Namen sich in der unmittelbaren Nähe seines Briefkastens befanden, aber diese Namen gab es hier ebenso wenig, wie er seinen eigenen fand. Es war so, als hätte er sich vorhin nicht nur in der Etage geirrt, sondern als befände er sich im falschen Haus. Aber da er wusste oder zu wissen glaubte, woran das lag, wunderte er sich auch darüber nicht, sondern verließ das Hochhaus und trat auf die Straße hinaus. Das erste was er dort sah, waren die geparkten Autos. Während er langsam über den Bürgersteig in Richtung des kleinen Zeitungsstands schlenderte, betrachtete er sie eingehend und stellte fest, dass es sich zwar ausnahmslos um ältere Modelle handelte, dass diese aber nicht so aussahen, als gehörten sie auf den Schrottplatz. Als er den Kiosk schließlich erreicht hatte, war der um die offensichtlich noch immer nächtliche Uhrzeit natürlich geschlossen. Immerhin etwas, das unverändert geblieben war.
Er bückte sich und warf einen Blick auf die Zeitung in dem verschlossenen Zeitungskasten, konnte aber in der Dunkelheit nichts außer einem Teil der Schlagzeile erkennen. Der Name George W. Bush kam darin vor, was ebenfalls in das Bild passte, das sich ihm hier präsentierte, dennoch wollte er endlich Gewissheit über seinen lange gehegten Verdacht haben. Da er den Glaskasten nicht einfach aufbrechen wollte, schaute er sich kurz um und erblickte ein junges Pärchen, das gerade im Begriff war, die Straßenseite zu wechseln, nachdem die Frau ihm einen ängstlichen Blick zugeworfen und ihren Begleiter angestupst hatte. Er lief zu ihnen rüber, das Pärchen blieb stehen, und der junge Mann stellte sich schützend und mit bedrohlicher Miene vor seine Frau. Jetzt erst wurde Howard bewusst, dass er noch immer den alten Jogginganzug trug, mit dem er aus dem Leben hatte scheiden wollen und mit seiner Schnapsfahne und den wirren Haaren vermutlich keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte. Er trat einen Schritt zurück und hob beschwichtigend die Hände. “Entschuldigen Sie bitte”, begann er.
“Von mir kriegst du keinen Cent”, sagte der junge Mann.
Howard schüttelte den Kopf. “Ich will kein Geld. Können… Sie mir bitte einfach nur sagen, welches Datum wir haben?”
Das Pärchen tauschte einen verwirrten Blick. “Zwölfter August, würde ich sagen”, meinte der Kerl. Die junge Frau schüttelte den Kopf. “Dreizehnter August, Schatz. Es ist doch schon nach Mitternacht…”
Der Mann nickte nur, grinste noch einmal schief, dann wandten sie sich ab, um ihrer Wege zu gehen. Aber Howard hatte noch eine Frage.
“Also das klingt jetzt sicher verrückt, aber… könnten Sie mir auch sagen, welches Jahr? Ich… sehen Sie, ich leide an einer frühen Form von Demenz und…”
Der Mann schüttelte den Kopf und lachte, als hätte Howard einen Scherz gemacht, aber seine Begleiterin schien die Erwähnung einer Krankheit nicht witzig zu finden und versetzte ihm einen Klaps.
Dann beantwortete sie die Frage.
***
Aber das war, wie gesagt, beim ersten Mal gewesen. Howard hatte sich nicht vorbereiten können, und nach der Erkenntnis, wo bzw. wann er sich befand, war er wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Straßen gelaufen. Ohne Ziel und ohne den Hauch einer Ahnung, was er nun tun sollte. Im Nachhinein erschien es ihm wie ein kleines Wunder, dass die Cops ihn nicht bei seinem kleinen Streifzug um die Häuser einkassiert hatten. Irgendwann war er einfach wieder dorthin zurückgegangen, wo dieser seltsame Trip begonnen hatte, dort wo eigentlich alles hatte enden sollen. Seltsamerweise glaubte er bis zuletzt nicht, dass er träumte, oder möglicherweise doch gesprungen und dies nur eine Art letzter bizarrer Film war, den sein sterbendes Gehirn ihm vorführte. Er wusste, dass er am leben war, er wusste, dass er nicht träumte und vor allem wusste er, dass er sich nicht mehr im Jahr 2020 befand.
Als er auf dem Dach ankam, war das Flimmern noch immer da, so als hätte es nur auf ihn gewartet. Aus der Ferne war es gar nicht zu erkennen, erst aus einem knappen Meter Entfernung konnte man es wahrnehmen. Ohne groß nachzudenken war Howard auf das Flimmern zugelaufen und dann regelrecht hindurchgesprungen. Er hätte anschließend nicht zu sagen vermocht, warum er so sicher war, wieder an den Ursprungsort, besser gesagt in die Ursprungszeit zurückzukehren, aber als er dann die Schmierereien und das abgewetzte Bedienfeld im Fahrstuhl sah und sein Schlüssel wieder in das Schloss seiner Wohnungstür passte, wunderte er sich über diesen Umstand ebenso wenig, wie er sich über die Tatsache gewundert hatte, durch die Zeit gereist zu sein. Er nahm es so hin, ohne sich zu fragen, wie so etwas möglich war, woher um alles in der Welt dieses Flimmern gekommen sein mochte, oder wer es hatte erscheinen lassen. Aber als er dann irgendwann nach einer Mahlzeit und einer Dusche völlig erschöpft in seinem Bett lag, stellte er sich eine andere Frage: Warum ich? Warum ist ausgerechnet mir das passiert? Und warum ausgerechnet in der Sekunde, in der ich mich umbringen wollte? Dann dachte er über den Grund für sein selbst gewähltes Ende nach, über die Dinge, die in seinem Leben passiert waren. Und plötzlich fuhr die Erkenntnis wie ein Blitz durch sein verwirrtes Hirn. Es war, als ob die Antwort auf all die Fragen, die er sich gestellt hatte, die ganze Zeit wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm gelegen hätten und er einfach nur zu blind gewesen war, es zu erkennen.
Den Rest der Nacht und beinahe den ganzen darauffolgenden Tag verbrachte er mit einer exakten Planung seiner nächsten Schritte. Dann packte er ein paar der wichtigsten Sachen, die er für einen längeren Besuch in der Vergangenheit brauchte in einen Rucksack, verließ um 3 Uhr in der früh seine Wohnung, fuhr mit dem Fahrstuhl bis in die oberste Etage und ging hinaus auf das Dach. Das Flimmern war immer noch da. Howard vergewisserte sich schnell, dass er auch dieses Mal allein und unbeobachtet war und trat dann zum zweiten Mal hindurch.
***
Und jetzt war er also wieder hier. Scheinbar am selben Ort und doch in einer ganz anderen Welt, die anders roch und schmeckte, sich anders anfühlte. Im Gegensatz zu seinem ersten Besuch in der Vergangenheit war er nun in der Lage, nicht nur das Dach des Hochhauses zu verlassen, sondern sich auch ein wenig umzuschauen, ohne aufzufallen. Da er vorhatte, diesmal etwas länger zu bleiben, hatte er in seinem Rucksack Proviant für zwei Tage dabei, wenn er sparsam mit dem Wasser umging sogar für länger (Geld und Kreditkarten hatte er natürlich zu hause gelassen). Seine Kleidung hatte er so ausgewählt, dass sie ihn im Zweifelsfall zwar wie einen Rucksack - Touristen aber nicht unbedingt wie eine Art Vorstadt - Rambo aussehen ließ, den man bei der ersten Gelegenheit anhielt, um seine Papiere zu überprüfen. Letztere hatte er natürlich ebenfalls nicht bei sich, da er aber ohnehin nicht allzu viel zu verlieren hatte, ging er das Risiko einer möglichen Überprüfung seiner Person einfach ein und nahm sich vor, diesmal kein größeres Aufsehen zu erregen. Zumindest konnte er ausschließen, dass die Leute einen Bogen um ihn machten, weil er wie ein Penner aussah. Trotzdem wartete er bis zum Morgengrauen, bevor er das Hochhaus verließ und sich auf die Straße hinaustraute. Da er nicht wusste, ob er sich darauf verlassen konnte, dass das Flimmern weiterhin stabil bleiben und ihn wieder nach hause bringen würde, beschloss er, nicht all zuviel Zeit zu vertrödeln und machte sich ohne Umwege auf den Weg zu seinem vorläufigen Ziel.
Nachdem ihm klar geworden war, welche Möglichkeiten sich ihm durch das Erscheinen einer Tür ins Gestern erschlossen hatten, nachdem er wusste, was er nun zu tun imstande war, besser gesagt, was er um jeden Preis tun musste, bevor diese Tür sich vielleicht für immer schloss, hatte Howard einen halben Tag damit zugebracht, zu recherchieren. Und dank der fortschrittlichen Technik seiner Zeit war es ihm schließlich gelungen, einen ganz bestimmten Namen einer ganz bestimmten Adresse zuordnen und sogar ausschließen zu können, dass es sich um einen Irrtum oder eine Verwechslung handelte. Und wie der Zufall oder das Schicksal (an das er inzwischen beinahe zu glauben bereit war) es wollte, lag diese Adresse sogar in einer Entfernung, die man zu Fuß erreichen konnte, zumindest wenn man bereit war, einen Tagesmarsch in Kauf zu nehmen. Und obwohl Howard wie gesagt nicht wusste, ob eine Rückkehr in seine Zeit auch am Ende dieses längeren Ausflugs noch möglich sein würde, wusste er, dass er für mehr bereit war, als nur zu marschieren, bis ihm die Füße weh taten. Für sehr viel mehr.
© by Stefan Robijn