Hunger - Eine Kurzgeschichte
Er sehnte sich nach der Straße. Nach der „Ringstraße“, die die inneren Bezirke der Bundeshauptstadt einschloss, nach ihrem „Gürtel“, welcher um ihre umliegenden gebaut war. Nach den Nutten, die früher dort in roten Schaftstiefeln herumstolzierten. Einmal hatte er immer dieselbe gesehen, als er auf einem LSD-Trip dort gekreist war, immer wieder, da er nicht mehr wusste, wo er war und fürchtete, aus den Seitengassen nicht mehr rauszufinden. Jedes Mal war sie auf ihn zugekommen mit ihrem blonden wallenden Haar und eben diesen Schaftstiefeln, die wahrscheinlich rot waren, soweit er im Dunkel der laternenbeleuchteten Nacht erkennen konnte. Inzwischen war dort relative Ruhe eingekehrt, hauptsächlich waren nun dort schicke Szene-Lokale, unter den U-Bahn-Bögen. Aber immerhin! Ergiebige Kommunikation mit ähnlich Gesinnten, in einer großen Stadt findest du immer jemanden, der dir nah stehen könnte, statt mit besoffenen Bauern. Und Frauen, Frauen, Frauen. Solche, die sich auch für eine Nacht nicht zu schade wären. Und sollte mehr draus werden, wär´s auch recht. Das ständig sich verändernde, ereignisgeschwängerte Leben. Das war es, was er wollte. Hinaus aus dem Laufrad, in dem er der Hamster war.
Also kündigte er seinen Job. Arbeitete noch die wichtigsten Dinge ab und ließ sich dann freistellen. Er packte die wenigen Sachen, die er besaß, aus seiner Dienstwohnung. Sie passten alle in den Kofferraum seines Autos. Er fuhr los, einfach so, einfach drauflos. Es war eine hell sternenbesetzte Nacht. Er glitt über die Autobahn. Geld hatte er nun genug. Aber sonst nichts. Ein Hotel für ein paar Nächte würde sich finden lassen, dann würde er weitersehen. Er fühlte sich frei, erleichtert von bleiernen Fesseln, endlich frei. Auf ging´s! Die Zukunft wartete, und alle Wege stünden ihm offen. Es war zu Ende des Sommers, die heißen Tage waren schon vorüber. Er hatte alles hinter sich gelassen. Er gab kein Zurück. Den Winter würde er an einem ganz anderen Platz beginnen. Und bevor ihm langweilig werden würde, zöge er weiter. Nur nicht stehen bleiben. Sich immer weiterdrehen. „Mein Leben ist ein Kreisel, und der kommt nie zur Ruh´“, sagte er leise vor sich hin, während er bedauerte, dass es auf der Autobahn keine Stopperinnen gab. Er wollte sie gar nicht während der Fahrt befummeln, nur ihr erzählen, was ihn triebe, erzählen, erzählen. Er überholte viele der tschechischen Wagen, die vom Urlaub heimfuhren. Er war froh, von der Gegend der dumpfen Schweinebauern wegzukommen. Leid tat ihm nur ein wenig, dass er von der Süßen, Kleinen, Blonden abgelassen hatte.
Er würde sie nicht wieder sehen, denn er wusste nicht, wo sie wohnte und hatte ihre Nummer aus seinem Handy gelöscht, als
er sich aufgemacht hatte. Er hatte sich nicht mehr an sie rangemacht, als sie ihm erzählt hatte, sie ließe sich gerne von den hiesigen Jungs arschficken. Irgendwie war ihm das dann doch zuviel. Aber wenn er jetzt an ihren knackigen, apfelförmigen Hintern dachte, naja, man kann nicht alles haben. So long, Heidemarie, du gehst mit meiner Vergangenheit. Sie hätte ja wahrscheinlich eh nur während der Fahrt auf ihn eingeplappert, mitgekommen wäre sie wohl, denn auch sie wollte nichts wie weg von ihrem stickigen Dorf. Aber sie hätte sich mit der Zeit als Ballast erwiesen und sein Ballon wäre vielleicht gar nicht vom Boden losgekommen. Nein, das war es nicht, was er wollte. So sollte sie ein strahlend schöner Funken in seiner Erinnerung bleiben. Es war gut, so wie es war. Er wollte lieber alleine sein, wenn er dorthin ginge, wo ihn keiner kannte. Nur alleine ließe sich ein völlig neuer Anfang machen. Er würde wieder ein Nomade sein, wie zu Zeiten seiner Kindheit, wo er ständig umgezogen war, immer dem Vater hinterher, der neue Jobs ausfüllte. Die Sesshaftigkeit war ihm niemals anerzogen worden. Nun ging es wieder weiter. Und es war eine verheißungsvolle Nacht. Draußen war es warm, das Auto ging ruhig. Wenn er ankäme, würde er erstmal nur schlafen, in einem besseren Hotel, und sich erst am Morgen Gedanken machen, wie´s weitergehen sollte. Jetzt atmete er nur die Luft der Unbeschwertheit. Die wiedergewonnene Ungebundenheit fühlte sich sehr gut an.
Als er den Motor abgestellt hatte, war es ein Uhr in der Früh und er stand vor einem neumodernen Vier-Sterne-Hotel. Er mietete sich für vier Tage ein. Die Erde ist rund, und auch wenn ich an ihrem anderen Ende bin, werde ich nicht herunterfallen, dachte er, als er sich in das weiche Bett fallen ließ. Er würde die Stadt ab morgen unsicher machen, erkunden, was sie ihm zu bieten habe und dann entscheiden, ob er weiterziehen oder bleiben wolle. Aber heute würde er nur schlafen. Er hielt den zweiten Polster in seinem Doppelbett fest wie eine Frau, und die Veränderung schlug auch in seinen Träumen Wellen. Er ging durch einen dunklen Wald, in dem er einen Gasthof suchte, den er nicht fand. Er wurde müde und lehnte sich gegen einen Baum. Ihm kam in den Sinn, dass er, als er diesen Wald betreten hatte, ein Zuhause gesucht hatte, das ihm der Wald nicht bieten konnte. Er wurde ein wenig verzagt. Doch schon bald glitt er in einen anderen Traum. Er stach mit einem prächtigen Dreimaster in See. Das Segelschiff bot Platz für eine Unzahl an Personen, aber er war ganz alleine. Um ihn herum war die türkisblaue See, und er überlegte, wie er das Ruder bedienen sollte, die Segel raffen, Kurs halten. Er hatte all das nie gelernt. Er war aufgebrochen ohne zu überlegen, wie die Fahrt verlaufen würde. Sein Ziel war in weiter Ferne, und es wurde ihm klar, dass er es niemals erreichen würde.
Er erwachte und fühlte sich unbehaglich. Hatte er sich zuviel zugemutet? Nein, es musste sein, die Zeit war reif für einen Wechsel gewesen. Jetzt war nicht die Zeit, sich den Kopf mit Sorgen vollzumachen.
Los ging´s! Die Stadt wartete schon auf ihn. Er nahm ein opulentes Frühstück ein, ging immer wieder zum Buffet, um sich zu bedienen. Um ihn herum saßen Geschäftsleute, Touristen aus aller Herren Länder, Krebspatienten, das Allgemeine Krankenhaus war ganz in der Nähe. Er würde verfahren wie die zum Tod Geweihten, die nur noch wenige Monate zu leben hätten. Er würde sein Leben in vollen Zügen genießen, nachholen, was er bislang verpasst hatte, es bis zum Rand auskosten. Vier Tage lang. Dann würden sich neue Perspektiven herausbilden. Er würde die Stadt in sich vereinnahmen, und sie würde ihn empfangen wie eine ihn lang erwartet habende Geliebte. Er ging auf die Straße. Eine rote Straßenbahn fuhr vorbei. Er hätte einsteigen können, sie fuhr direkt in den Ersten Bezirk. Er überlegte kurz, entschied sich aber dagegen. Er wollte lieber zu Fuß gehen. Nicht die leiseste Brise wehte, doch die Nacht war schon kühler gewesen. Der Sommer zeigte sein Abschiedsgesicht. Vor ihm lag die Wirtschaftsuni, auf der er vor einigen Jahren einen zweisemestrigen Kurs freitagnachmittags und samstags besucht hatte. Er dachte zurück an die zierliche, blonde Polin, die häufig neben ihm gesessen war. Sie hatte in einer Spedition gearbeitet, sich stundenlang die Nägel gerichtet und war zickig Frauen gegenüber gewesen. Er aber war sehr gut mit ihr klargekommen. Sie war anziehend gewesen und er ein guter Student. Das passte zusammen. Was sie jetzt wohl machte? Wahrscheinlich hat sie einen reichen Mann gefunden. Er hatte keine Chance, sie zu erreichen, hatte vergessen, sie nach ihrer Nummer zu fragen. Die Wirtschaftsuni ist ein nüchternes, baukastenförmig zusammengesetztes Gebäude, nicht schön, aber zweckmäßig. Er sah nach rechts. Da stand der mit einer gewaltigen goldenen Kugel besetzte Turm des Fernheizkraftwerkes Spittelau. Allein der Anblick dieses Turmes schien seine Wünsche erreichbar zu machen. Auch aus etwas Hässlichem lässt sich Wunderbares entlocken. Er ging und ging. Die Straßen waren staubig. War diese Stadt die richtige für ihn? Als er in die fast leeren Schaufenster blickte, beschlich ihn das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Doch was soll´s. Die Brücken hinter ihm waren abgebrochen. Und nicht hasste er mehr als Wiederholungen. Nun hatte er ein neues Lied begonnen, und er musste es bis zum Ende spielen. Kurz kehrte er bei einem Kebab-Stand ein, aß einen Dürüm. „Efendim“, sagte jemand am Telefon. Die Türken mit ihrer weichen Sprache. Frauen mit Kopftüchern. Weißbärtige Alte. Und fröhliche Kinder. Ein eigener Mikrokosmos in der Fremde. Anatolien in Wien. Er wurde gelassener. Er hatte gegessen, doch sein Herz hatte mehr Hunger denn je. Hunger nach dem Anderssein. Hunger nach dem Regen nach der langen Dürre. Er spürte, dass er bald Blasen bekäme, also fuhr er mit der U-Bahn zum Karlsplatz, trank eine Melange in seiner unterirdischen Welt. Die Ratten die Tablettensüchtigen, die an die Oberfläche kommen. Nachts ist die Karlskirche prächtig erleuchtet, doch jetzt hingen nur Junkies herum. Hier wollte er nicht sein. Er fuhr zum Lainzer Tierpark, wo er die Wildschweine mit Kastanien fütterte. Das gestreifte Fell der Frischlinge hatte ihm schon als Kind gefallen. Mit seinen Eltern war er damals hier gewesen, jetzt war er wieder da, ein Mann im Umbruch. Lass mich in Ruh´, Vergangenheit, ich will dich nicht mehr haben! Am Stephansplatz fühlte er sich wieder besser. Wo die reichen Russinnen mit Einkaufstüten behängt flanierten und Gruppen von Japanern alles knipsten, was ihnen vor die Linse kam. Wo die Fiaker-Pferde mit müden Köpfen standen.
Auch er war inzwischen etwas müde. Die Sonne stand bereits tief. Das durfte nicht sein! Die Nacht hatte doch noch gar nicht begonnen! Er legte sich eine Prise Koks im WC eines altehrwürdigen Kaffeehauses und spürte, wie ihm neue Schwingen wuchsen. Er war wieder fit. Er war bereit. Komm, süße Nacht, ich werde in dich eintauchen und jede Sekunde wird sein eine Stunde.
Am nächsten Morgen wachte er mit einem hämmernden Schädel auf. Er wusste nicht genau, was passiert war. Er hatte Unmengen an Geld ausgegeben, war in ein Puff gegangen, wo er mit einer Schwarzen höllenhaften Sex gehabt hatte. Daran erinnerte er sich noch. Doch dann hatte er einen Filmriss gehabt. Wie war er überhaupt ins Hotel gekommen? Spielte ja auch keine Rolle, er war da, er war unverletzt. Das erste Stück der großen Torte Freiheit war ihm nicht so gut bekommen, aber es war noch genügend da, um sich von ihr satt zu essen. Schloss Schönbrunn, das Technische Museum, das Belvedere. Geschichtsträchtig oder interessant. Aber es reichte ihm nicht. Cellulitisgeplagte Hausmeistergattinnen an der Alten Donau, das war schon gar nicht das, was er zu Ende dieses Sommers erleben wollte, ausgemergelte Nutten in der Praterallee, dauerkiffende Althippies am Naschmarkt. Wo sind meine Verwandten im Geiste, fragte er sich. Und er kam drauf: Die gab es gar nicht. Außer Spesen nichts gewesen. Nach den vier Tagen reiste er wieder ab.
Es hatte in der Nacht geregnet. Die nasse Autobahn erwartete ihn schon. Es ging nach Westen. Wohin, wenn nicht nach Westen? Mensch, lass dir sagen, du machst das Richtige auch wenn du das Falsche tust. Ich werde nie ankommen, ich will gar nicht ankommen, sagte er sich, während er einen LKW überholte, ich werde eine goldene Spur ziehen wie ein Feuerstern, ich werde die Zeit, die mir bleibt, auskosten, und sei es um mich geschehen, werde ich nichts bereuen, denn ich war der Salamander, der sich an den heißen Felsen wärmte, der Klatschmohn in der Frühlingswiese, der unberührte Schnee der Antarktis, der niemals vergeht.
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