Adventure - Eine Kurzgeschichte
Die Spielfigur ist gerade noch 16 Jahre alt. Sie streift durchs winterliche Wien. Sie hat in der Nacht wenig geschlafen, so ist der Frost aus ihr kaum gewichen. Ihr ist kalt. Mir ist kalt. Ich bin unterwegs in dieses griechisch anmutende Café. Warum sind nur die Tage jetzt so scheiß kurz? Dann ist es früher Nacht, und das Eis zieht früher durch meine Haut. Es gilt, einen Schlafplatz zu finden. Ich bin von zuhause abgehaut. Das war kein Leben mehr, grau in grau, schwarz in schwarz. Dabei sieht es zurzeit hier in Wien so aus. Es gibt ja wohl Farben daheim in Klagenfurt, auf Bildern und Möbelstücken in der elterlichen Wohnung, im dortigen Kinderzimmer meine Schwester, aber ich sah sie nicht. Es war, als seien sie nicht für meine Augen gedacht. Wenn ich dagegen in Wien in einem Lokal bin, fällt mir jede Farbe auf. Im Stadtbild ist allerdings wirklich viel Grau. Wien sah damals aus wie 25 Jahre später Budapest.
Ich bin viel in Gesellschaft von Junkies. Ein Junkie gibt damals oft seinen letzten Zwanziger her, einen 20-österreichische Schillinge-Schein. Ich schlafe hauptsächlich bei Junkies. Sie sind nett, sie lassen mich in Ruhe. Sie denken, ich wäre pleite. Das bin ich aber nicht, ich habe über 12.000 Schillinge auf einem Postsparbuch, das gut in meinem Seesack versteckt ist. Bargeld habe ich immer nur wenig. Ein Junkie lebt ständig im Ausnahmezustand. Treibt er nicht rechtzeitig Stoff für den nächsten Schuss auf, kracht er, das bedeutet Zittern und Schwitzen. Das ist schon ein eigener Kreislauf. Ich bin zwar nicht rauschfrei – wer war das denn schon damals? –, aber Heroin mit der Nadel verkneife ich mir. Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten – ich werde von der Polizei gesucht –, deshalb ist Autostoppen gefährlich, dann ist mir mein Pass abhandengekommen – ich habe überhaupt keinen Ausweis – ich kann mich nicht ausweisen. Bei einer Polizeikontrolle bin ich dran. Die Junkies meinen wohl, dass ihr Boot und meines dasselbe sei. Das ist es aber nicht. Aber ich lasse sie in dem Glauben, um nicht die Nachte in irgendwelchen Häuserfluren verbringen zu müssen.
Ich lasse meine Spielfigur gehen und laufen und springen. Im Spiel ist der Stadthimmel vom Sonnenuntergang erleuchtet. Das pseudo-griechische Café ist nur noch eine Ecke und dann zirka hundertfünfzig Meter die Straße entlang entfernt. Ich kann meinen Spielstand um einige Punkte erhöhen, Punkte für Lebenserfahrung. Meine Spielfigur aus dem Jahr 1982 bleibt sich selbst überlassen. Sie wird es schon machen, denke ich.
Ich lasse die Zeit vorwärtslaufen – 1983, Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, August, September, Oktober, November, Dezember, 1984, beschleunigt, 1985, 1986, 1987, 1988, 1989, 1990, 1991, 1992, 1993, verlangsamt, Mai, Juni, Juli, August. Jetzt bleibt die Zeit stehen.
Im Jahr 1993, August. Meine Spielfigur sitzt am Steuer eines BMWs, auf dem Beifahrersitz sitzt sein Chef. Sie fahren von Brașov aus südwärts. Sie haben die Nacht in einem spätkommunistischen Ausflugslokal auf der Schulerau verbracht. Die Schulerau heißt auf Rumänisch Poiana Brașov. Sie liegt etwas über 1000 Meter hoch. Im Winter ist sie ein beliebtes Schigebiet. Der deutsche Name für Brașov ist Kronstadt. Meine Spielfigur und sein Chef sind schon seit einigen Tagen in Rumänien. Ich drücke zweimal schnell hintereinander auf die Vorwärts-Taste. Der BMW beschleunigt. Meine Spielfigur muss aufpassen. Ich übernehme jetzt die Spielfigur. Die Landschaft läuft nun schneller vorbei. Ich muss das Lenkrad schneller bewegen. Man muss hier aufpassen, völlig unvermittelt tauchen hier große Schlaglocher in den Straßen auf. Als Autoraser lebt es sich hier äußerst gefährlich. Mein Spieler, der auch ich bin, betätigt die Rückwärts-Taste. Jetzt ist die Geschwindigkeit wieder gut bewältigbar.
Am Vortag, einem Sonntag, waren mein Chef und ich wandern. Viele junge Leute mit altertümlichen Rucksäcken taten dasselbe. Berge gehen in Täler über, in wieder neue Berge. Es ist eine zusammenhängende Waldlandschaft. Bären leben hier unbehelligt. Erst vor dreieinhalb Jahren wurden die Ceaușescus erschossen, die Leute, die wir trafen, sprachen von einer Palastrevolution. Die Hinrichtung der beiden soll keinen echten Umsturz markiert haben. Nach der Urteilsverkündung soll Elena sich angemacht haben, mit vollgeschissener Unterhose soll sie dann erschossen worden sein. Gibt es etwas Demütigenderes? Das war der Preis, den sie für das gute Leben vorher zahlen musste, und es war die gerechte Strafe.
Man sieht viele Fahrradfahrer. Ein Fahrrad ist in diesem Land zu dieser Zeit etwas Besonderes. Es ist als Fortbewegungsmittel und nicht als Sportgerät gedacht. Auch Ochsenkarren sieht man, manchmal mit Heu beladen. Man wähnt sich in Österreich um das Jahr 1900. Das Essen ist schlecht, das Fleisch ledrig. Der Kaffee kommt ohne Milch. Das Weißbrot riecht oft verdorben. Besteck gibt es in den Restaurants nur einmal, auch wenn man mehrere Gänge isst. Das Land atmet Armut, und wir als Geschäftsreisende in ihm sind Teil seiner Lungen. In Hunedoara hat uns der Stahlwerksdirektor zu sich nach Hause eingeladen. Im Garten stand eine mit Benzin gefüllte Regentonne, in die er Additive gegeben hatte, um das Benzin zu raffinieren.
Und jeder ist gierig nach Coca-Cola. Die Rumänen des Jahres 1993 scheinen Coca-Cola mit Freiheit gleichzusetzen, Amerika, Freiheitsstatue, so eben. Mein Chef und ich sind hier sicher, zum guten Teil deswegen, da die Leute immer noch Angst vor der Securitate haben. Niemand weiß, wer dabei war, es kann jeder sein, die Spitzel werden nie enttarnt.
Mein Chef und ich sitzen im Auto und machen Witze. Es ist bevor mein Spieler wieder zweimal auf die Vorwärts-Taste drücken wird, ich mit dem Lenken nicht mehr nachkomme und auf einer Bodenwelle den Auspuff aufreiße, und wir das Auto in einer Werkstatt richten lassen müssen. Mein Chef wird stinksauer auf mich sein.
Ich sitze wieder vor dem Bildschirm und dirigiere das Spiel. Ich lasse die Zeit Richtung Zukunft laufen.
2003, Januar, dort bleibt sie stehen. Mein Bub ist letzten Dezember gerade neun Jahre alt geworden. Kurz nach Weihnachten haben wir einen Snowboardkurs absolviert. Jetzt können wir Schwünge und kommen jeden Hang hinunter. Der Bub fährt regular, ich fahre goofy. Wir sind in der Innerkrems. Es ist die weiße Gegend, die Berge sind weiß, die Sonne strahlt weiß, bei der Autofahrt hinauf wehte der Schnee weiß über die Straße.
Ich gleite wieder in die Spielfigur. Gerade fahren der Bub und ich eine Piste mit weiten Schwüngen hinunter. Der Schnee ist hart. Wir hören das Geräusch der Kanten in Schnee und Eis. Es ist überirdisch, es ist, als ob wir schwebten. Ich steigere leicht das Tempo, dann bleibe ich auf der Piste stehen und warte auf den Buben. Er ist vorsichtig, was kein Fehler ist, denn dadurch bleibt er unverletzt und angstfrei. Der Spieler, der auch ich bin, drückt auf die Leertaste – ich fahre über einen Buckel und springe vielleicht zweieinhalb Meter. Für mich als Anfänger reicht das. Zwischendurch essen wir eine Kleinigkeit, und vor allem trinken wir etwas, in einer Schihütte, bei zünftiger Musik in urigem Ambiente. Dann fahren wir weiter, andere Lifte hinauf, über andere Pisten hinunter. Es ist herrlich. Wir sind wirklich so begeistert, man könnte einen Werbeclip mit uns drehen. Es ist ehrliche Begeisterung, für solche Momente lebt man. Freilich kann ich, kann die Spielfigur nicht wissen, wie der Sohn sich fühlt, womöglich will er mir nur mit seinen Fahrkünsten und seinem Durchhaltevermögen imponieren. Am Ende jedenfalls ist er müde und scheint zumindest zufrieden zu sein.
Einige Nationalteams trainieren in der Innerkrems, unter anderem das kroatische. Uns, oder vielmehr mir, fiel in der Schihütte eine hübsche Läuferin von dort im blau-weiß-karierten Rennanzug auf.
Ich schlüpfe wieder in die Haut des Spielers. Wohin soll die Reise gehen? Nach vorn natürlich, 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2011, 2012.
2012, Dezember, Tag 20, das ist das Datum, das ich haben will. Weil am 21. Dezember 2012 der Mayakalender endet und damit auch die Welt enden soll, enden soll, indem sie untergeht.
Meine Spielfigur lässt sich von den Ängsten der Leute anstecken. Es ist gleichgültig, ob ich sie geradeaus gehen lasse oder rückwärts oder nach Osten oder Westen, auch wenn sie springt, macht das für sie keinen Unterschied, und es erregt auch kein Aufsehen, denn die Leute befinden sich in allgemeiner Verrücktheit. Die Stadt, Klagenfurt, in der meine Spielfigur umhergeht, wirkt wie eine große Psychiatrie.
Jetzt ist der 21. Dezember 2012. Ich bin meine Spielfigur. Manche Leute sagen: Das ganze kümmert mich nicht, ist doch Blödsinn, esoterischer Mist. Aber so ganz sicher sind sie sich nicht, ob sie Weihnachten noch erleben werden. Manche wollen sich aussöhnen, melden sich bei langjährigen Feinden. Andere wollen die Sau rauslassen, Unbeteiligte verdreschen, scharfe Frauen in der Öffentlichkeit vergewaltigen. In Wirklichkeit passiert nicht allzu viel, aber in den Köpfen ist all das vorhanden. Nicht wenige brauchen an diesem Tag ihre gesamten Drogenvorräte auf. Und manche sterben dann auch, nicht am Weltuntergang, aber an Kreislaufversagen aufgrund einer zu hohen Dosis.
Als Spieler ging ich weiter in die Zukunft. Überhaupt nichts passierte am 21. Dezember 2012, aber das wissen wir mittlerweile ja alle.
Nun aber bewege ich mich rückwärts in der Zeit, die nuller Jahre, die neunziger Jahre, die Achtziger, die Siebziger, 1979, 1978, stopp, stopp, jetzt will ich stehen bleiben.
1978, April. Die Spielfigur ist 13 Jahre alt und geht durch Wien. Ich übernehme ihren Körper. Ich bin sie. Vorhin fuhr ich gerade mit der Straßenbahn. Es ist das langsame Vorwärtskommen, es ist gemütlich, ich mag das. Dann stieg ich aus. Ich marschiere einfach so entlang. Ich bin bester Laune. So richtig ist mir nicht klar, warum. Ich fühle mich toll. Ich habe das Gefühl, dass mir alle Türen offenstehen. Alle Möglichkeiten werde ich haben, wenn ich erst einmal groß bin. Ich mache große Schritte, die mich flott voranbringen. Dabei habe ich gar kein Ziel. Ich bin auch nicht unterwegs zu einem Freund. Ich bin ganz alleine für mich in der großen Stadt, der Hauptstadt, der Stadt, die im Land die besten Chancen bietet. Und ich habe eine weiße Papierjacke an, die röte Bünde hat. Der Wind bläst sie auf. Solch eine Jacke ist gerade total angesagt, und ich trage so eine. Das ist spitze.
Ich marschiere und grinse dabei über das ganze Gesicht, freudestrahlend sehe ich in die Zukunft.
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