Das Meer der endlosen Ruhe
Das Meer der endlosen Ruhe
von Emily St. John Mandel
Was haben ein 1912 ins kanadische Exil verbannter englischer Adelsspross und eine Erfolgsautorin auf interplanetarer Lesereise im Jahr 2203 mit dem Zeitreisenden Gaspery-Jaques Roberts gemeinsam, der 2401 auf eine Mission aufbricht?
Sie alle teilen ein einschneidendes Erlebnis in ihrer Zeitleiste, das sie sich nicht wirklich erklären können, das aber so außergewöhnlich ist, dass sie keine Erklärung dazu haben.
Und mit dem zunehmenden Fortschreiten der Geschichte zeigt sich, dass es in diesem Science-Fiction zunächst um die Problematik der Zeitreisenphänomene handelt, während sich eine Fülle anderer Themen auffächern.
Die Geschichte beginnt im Jahre 1912, als Edwin St. John St. Andrew an Bord eines Schiffs in die Neue Welt reist, genauer gesagt nach Kanada. Er ist nicht der erstgeborene Sohn der Familie, also wird er weder Titel, noch Vermögen erben (können), und die Eltern haben überlegt, was man denn mit ihm machen könnte. Edwin ist ein kleiner Revoluzzer, er hat ketzerische Ideen über den britischen Imperialismus, also liegt die Neue Welt nahe. Nach seiner Ankunft in British Columbia macht er eine sehr seltsame Erfahrung in einem der Waldgebiete dort, die er sich nicht erklären kann.
Genau in dem Moment, als ich mich frage, was denn wohl passiert sein kann, "Edwin blickte über die Schulter in eine leere Kirche, die Hintertür steht offen", bricht dieser Teil der Erzählung ab, und die Handlung springt unvermittelt in das Jah 2020, zu Mirella und Vincent, die ebenfalls eine zentrale Rolle in der Geschichte spielen. Auch deren Erzählung endet ähnlich abrupt mit offenen Fragen, und wieder kommt es zu einem Wechsel der Hauptperson. So geht die Handlung auch weiter.
Die unterschiedlichen Personen in ihren jeweiligen Lebenszeiten sind so lebendig beschrieben, dass ich fast enttäuscht war, wenn die Geschichte ihren weiteren Leben nicht mehr folgte, sondern sich dem weiteren Verlauf der Handlung widmete.
Vor allem Olive Llewellyn, die Erfolgsautorin, hat es mir angetan. Sie lebt 2203, hat eine kleine Familie, die sie allerdings schon länger nicht mehr persönlich gesehen hat, denn sie ist auf einer (der "letzten") Lesereise unterwegs. Mit dieser Reise will der Verlag ihren neuen Roman bewerben, der besonders erfolgreich wird - auf den unterschiedlichsten Welten. Die Menschen haben nicht nur den Mond besiedelt, die verschiedensten Planeten sind bewohnbar gemacht worden.
Llewellyn selbst ist zum ersten Mal auf der Erde, fasziniert davon die Orte zu sehen, die sie sonst nur aus der Geschichte kennt.
Gerade während ihrer Reise mehren sich Gerüchte und erste Meldungen über eine erneute Pandemie, die ausgebrochen sei, ausgerechnet auf der Erde. Hier trifft sich das Geschehen des Jahres 2203 mit dem unserer Realität der vergangenen Jahre. Zu verfolgen, wie Olive in den Hotelzimmern die Angst immer mehr den Atem zu rauben droht, wie sie sich nach ihrer Familie sehnt, erinnerte mich schon sehr an Gedanken, die ich während der Covid-Pandemie hatte. Das machte Olive Llewellyn für mich ausgesprochen lebendig, die Szenerie bedrohlich, und ich merkte genau wieder diese Angst, die damals aufkam.
The Guardian schrieb zu dem Roman, der Roman "erinnert uns daran, dass die Krise unser Normalzustand ist". Dies kann man tatsächlich im Roman immer wieder entdecken, denn nicht nur diese unerklärlichen Erlebnisse, die sich immer ähneln, werfen die Protagonisten in Krisen, die ihre bekannten Erklärungsmuster in Unruhe stürzen müssen. Auch die "Auflösung" der ganzen seltsamen Ereignisse, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte Stück für Stück anbahnt, ist nicht weniger als eine existenzielle Krise. Sie macht deutlich, wie fragil unser Leben ist, wie theoretisch jede Entscheidung ungeahnte Auswirkungen haben kann. Emily St. John Mandel gibt keine detaillierte Antwort im Sinn eines Selbsthilfebuches, das ist nicht ihr Ansinnen. Ansätze ihrer Antwort zu beschreiben, würde zu viel vom Inhalt verraten. Aber es hat in der Tat damit zu tun, dass es normaler Teil des menschlichen Lebens ist, Krisen zu erleben und bewältigen zu müssen.
Den Roman unspektakulär zu nennen, würde ihm nicht gerecht werden. Es ist ein Science-Fiction ohne ballernde Truppen, ohne Menschen in Raumanzügen, ohne Beschreibungen von Raumschiffen, aufregenden Außerirdischen und ohne Fließen von Blut. Das macht ihn aber nicht weniger spannend. Die Zeitreiseproblematik, um nichts anderes handelt es sich im Grunde, wird packend beschrieben, ich habe mich nicht einen Moment gelangweilt, tendiere eher dazu, es nochmals zu lesen.
Das Meer der endlosen Ruhe