Sieben gegen die Hölle - Lena (Teil 3)
Sieben gegen die Hölle
Lena (Teil 3)
Aber sie war vor Schreck erstarrt gewesen und hatte nicht mal rufen können. Was warf man Silas vor? Was sollte er verbrochen haben?
„Nichts hat er verbrochen“, sagte eine Stimme in ihr, die keinen Widerspruch duldete. „Loki steckt hinter der Festnahme.“
Sie zuckte zwar einerseits zusammen bei dem Gedanken daran, dass eine Stimme in ihr sprach, die sie nicht kannte, und die auch noch so selbstverständlich eine heidnische Gottheit einer Tat mit ganz irdischen Auswirkungen bezichtigte. Andererseits wunderte sie sich nicht wirklich über diese Entwicklung. Nicht, nachdem sie so viel gehört und gelesen und nicht an einer Stelle einen Widerspruch mit der Realität oder ihren Empfindungen gefunden hatte.
Sie saß fest, das war sicher. Der Weg, auf dem sie hergekommen war, war versperrt, und den Weg, den die Polizisten gekommen waren, würde sie als Ortsunkundige nicht finden, zumal einige Straßen unpassierbar geworden waren.
Außerdem wurde es schon wieder dunkel und sie spürte, dass der Berg zunehmend unruhig wurde. Hier fühlte sie sich sicher, der Boden war fest und es gab keine Felsen oberhalb der Lichtung, auf der die Schäferei stand, so dass sie nicht fürchten musste, dass große Gesteinsbrocken ihre Zuflucht zertrümmern könnten.
Und nur hier gab es die Bücher und Ordner, in denen sie die Lösung finden konnte. Silas hatte in den vergangenen Jahren beim Schafehüten viele Bücher gelesen und auf der Weide Hunderte von Seiten per Hand beschrieben, auf denen er sich eine Art Nachschlagewerk der Götter, Helden, Geschichten, Lieder und was sonst noch von Bedeutung war, erarbeitet hatte. Diese Blätter verwahrte er in Ordnern, die Lena sehr hilfreich waren bei ihren Studien. Hier fand sie die wichtigsten Informationen komprimiert beieinander und auch die Quellen, wo sie nachlesen konnte, wenn ein Thema ihr wichtig erschien.
Von ihrem Laptop aus sandte sie die neuesten Fotos mit entsprechendem Text zur Redaktion. Diese Bilder waren exklusiv, die konnte kein anderes Blatt haben. Sie hoffte auf eine Extra-Vergütung, aber dann dachte sie an Lokis Macht über Menschen, die Neid und Habgier frönten, und verbot sich den Gedanken. Einen Text und Bilder über die Stinksteinwand und sandte ihn gleich mit. Silas hatte ihr mit seinem Fachwissen dabei geholfen.
Beim Gedanken an ihn wurde sie traurig. Obwohl sie sich erst so kurz kannten, vermisste sie ihn. Er strahlte so viel Sicherheit aus, ruhige Überlegenheit, und schien ein unerschöpflicher Quell des Wissens zu sein. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie es ihm nun ergehen mochte, in langen Verhören oder womöglich schon ins Gefängnis geworfen zu Mördern, Dealern und Gewalttätern, zu denen er so gar nicht passte. Sie hatte gehört, dass die Hackordnung im Gefängnis gnadenlos sein sollte, vor allem, wenn ein Neuer hinzukam und ganz anders war als der Rest. Sie hoffte, dass seine große Gestalt und die beeindruckenden Muskeln die Mithäftlinge davon abhielten, gegen ihn handgreiflich zu werden.
Um wenigstens herauszufinden, wessen Silas beschuldigt wurde, rief sie Udo an und berichtete ihm von der Verhaftung des Schäfers. Vielleicht konnte er etwas in Erfahrung bringen. Auf jeden Fall versprach er, bei der Polizei nachzufragen.
Der Kollege war sehr besorgt um Lenas Wohl, wusste aber auch nicht, wie er ihr helfen könnte. Nicht einmal ein Hubschrauber konnte hier oben landen, weil die Stellen, wo die Bäume abgeholzt waren, jeden Moment zu Tal stürzen konnten. Und wo der Boden zuverlässig war, standen die Bäume zu dicht. Einen anderen Weg zur Schäferei gab es nicht, wie seine Verwandten ihm im Hintergrund versicherten.
Lena beruhigte ihn, so gut es ging. „He, hier ist eine volle Speisekammer und es gibt Strom und Wasser. Außerdem brauche ich keine Räuber und Mörder fürchten, wenn ich von der Außenwelt abgeschnitten bin“, scherzte sie. Von den Höllenwesen am Mundus sagte sie lieber nichts. Der Kollege, der sie in der Redaktion angelernt hatte und wie ein väterlicher Freund war, müsste sie für übergeschnappt halten. Udo würde im Tal die Leute verrückt machen, damit sich einer fand, der sie hier weg holte. Aber eigentlich, das wurde ihr in dem Moment klar, wollte sie in Ruhe gelassen werden und ihre Aufgabe ungestört erfüllen.
Ihre Aufgabe? Ja, das war es jetzt. Silas war verhindert, aber sie selbst war noch frei. Es war bestimmt kein zweiter Vitki in der Nähe, der das übernehmen konnte. Der Schäfer hatte erzählt, dass die Wissenden gern allein vor sich hinwurstelten und keine großen Gemeinschaften bildeten. Woher sollte also die Hilfe kommen? Die Bücher und Ordner in seinem Arbeitszimmer waren das einzige, was sie zur Verfügung hatte. Sie musste sich auf die Queste begeben, auf den Weg zum Wissen der Eingeweihten.
Daher nahm sie sich noch einmal die Unterlagen vor, die Silas in seiner säuberlichen Handschrift mit Informationen gefüllt hatte, die sie vorgestern noch für völlig meschugge gehalten hätte. So langsam zeigte sich der Schimmer einer Ahnung an ihrem geistigen Horizont, wie die Denkweise funktionierte und wie die vielschichtigen Bedeutungen eines jeden Begriffs zu verstehen waren.
Lena war zwar nicht mit der Mythologie und dem nordischen Weg vertraut und die vielen unbekannten Namen konnte sie sich nicht alle merken, aber ihre analytische Art, das Thema anzugehen, sich Notizen und Querverweise zu machen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, hatte ihr geholfen, wenigstens schon mal einen recht guten Überblick zu gewinnen. Aber mehr auch nicht. Zweifelnd ließ sie ihren Blick über die Stapel von Fachliteratur gleiten, die sich im Laufe ihrer Suche auf dem Schreibtisch und dem Boden angesammelt hatten. Wo sollte sie einen Ansatz finden? Und wie? „Jedenfalls nicht, indem ich den Kopf in den Sand stecke!“, murmelte sie und stürzte sich aufs Neue in die Arbeit.
In Silas´ Büchern waren außer Texten auch hilfreiche Schautafeln, die beispielsweise den Aufbau der Weltenesche Yggdrasil erklärten. Die verschiedenen Welten, die jeweils bestimmten Wesenheiten vorbehalten waren, waren darin angeordnet. Hel, das Totenreich ganz unten, ihm gegenüber an der Spitze Asgard, das Reich der Asen und Wanen. Dazwischen Midgard, die Welt der Menschen, über ihnen das Reich der Elben, unter ihnen das der Schwarzelfen, womit die Zwerge gemeint waren. Auf halber Höhe, aber außerhalb der direkten Achse, lagen die Reiche, die für die Kräfte von Eis, Feuer, Bewegung und Ausgleich bestimmt waren.
Wie eine Offenbarung empfand sie die Erklärungen, die ganz klein unter den Namen dieser Welten standen. Hel bedeutete nicht nur das Reich der Totengöttin, sondern stand auf für das Unbewusste. Asgard war dagegen auch das Bewusste. „Das Reich der Götter ist das Bewusste“, murmelte sie mehrmals vor sich hin und spürte, dass diese Erkenntnis sehr bedeutend sein musste, obwohl sie sie noch nicht verstand.
Die mehrfache Bedeutung fand sie auch in den Runengeheimnissen. Die einzelnen Futharke, wie die Runenalphabete heißen, stammten aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Völkern, hatten dafür aber auffällige Ähnlichkeit. Odin sollte, um in die Weisheit der Runenmagie eingeweiht zu werden, sich geopfert und neun Tage kopfüber an der Weltesche gehangen haben. Sie stutzte. Galdor, die männliche Form der Magie, die viel mit Runen arbeitete, wurde Odin zugeschrieben. Hier wurden sie eingesetzt, um Beschwörungen die Kraft zu geben. Auch im Seith wurde mit Runen gearbeitet, aber hier waren sie eher ein Mittel zur Weissagung. Seith, die weibliche Magie, die von Freya unterstützt wurde. Allerdings, so las sie, konnten durchaus auch Frauen Galdor anwenden und Männer Seith.
Jedenfalls, wenn sie in die Tabellen der Futharke ansah, hatte jedes der Zeichen drei Bedeutungen. Erst mal als Lautwert, also wie ein Buchstabe bei der gewöhnlichen Schrift, dann stand es für ein Wort und schließlich hatte es noch symbolische Bedeutung, die dann in der jeweiligen Magieform zum Tragen kam. Aber half ihr das irgendwie, den Mjölnir an den Meißner zu holen?
Es war spät geworden. Müde reckte sie sich und beschloss, sich auf das Schlafsofa zurückzuziehen. Ihr Kopf war ohnehin zu voll, um noch effektiv arbeiten zu können. Das Handy dudelte gerade in dem Moment, als sie aus dem Bad kam. Udo war so aufgeregt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. „Geht es dir gut?“, sprudelte er heraus. „Ja, sicher ...“. Weiter kam sie nicht. Er schnitt ihr das Wort ab. „Vielleicht bist du da oben ganz gut aufgehoben. Hier ist jedenfalls die Hölle los!“ Lena zuckte bei dem Wort „Hölle“ zusammen und hätte fast das Telefon fallen gelassen. Aber da erzählte er in ungewohnt hastiger Art schon weiter.
„Kurts Dorf ist heute Nachmittag evakuiert worden und jetzt sind da Plünderer eingedrungen. Es hat Kämpfe gegeben und Schüsse sind gefallen. Es heißt, die Leichen von den Leuten, die in der Nacht durch den Steinschlag umgekommen sind, wären verschwunden. Aber keiner weiß was Genaues, die Polizei ist im Einsatz, nichts wird an die Öffentlichkeit gegeben. Selbst Kurts Beziehungen zu einem Beamten im Landratsamt nützen nix. Die halten uns alle komplett dumm.“
Lena brauchte einen Moment, um die Situation zu realisieren. „Wie geht es deinen Verwandten?“, fragte sie dann. „Sie sind zu Freunden nach Kassel gegangen, um die Kinder in Sicherheit zu haben. Ob ihr Haus aufgebrochen worden ist, kann uns keiner sagen.“ Lena pustete die Luft aus, die sie angehalten hatte. „Hier oben ist außer mir weit und breit kein Mensch“, sagte sie dann. „Ja, bleib lieber da. Da bist du am sichersten“, bekräftigte der Kollege.
Sie nahm allen Mut zusammen und fragte: „Hast du rausgefunden, warum der Schäfer verhaftet worden ist?“ Udo schnaubte. „Nein. Kein Wort geht an die Presse, egal, wie sehr man bohrt. Die Kollegen vom Lokalblatt dürfen nicht mal über Autounfälle in der Umgebung schreiben. Da ist was oberfaul! Wir haben eine Pressefreiheit, so können die sich nicht aufführen ….“ Seine Stimme verlor sich in Knistern und Rauschen und kam nicht zurück. Lena legte das Handy auf den Tisch. War das alles Lokis Werk? Ihr Hirn verlangte nach Ruhe, heute würde sie keine Antwort mehr finden.
Aber auch der Schlaf schenkte ihr keine Erholung. Sie warf sich hin und her und wäre einmal sogar fast aus dem Bett gefallen. Wenn sie träumte, dann rangen Asen und Riesen miteinander, Runen wurden in Holz geschnitzt und eine Stimme sprach Erklärungen, die aber in einer ihr fremden Sprache waren, so dass sie nichts verstand. Dann träumte sie von Silas, der bei den Nornen saß und mit ihnen die Schicksalsfäden spann. Sie streckte die Arme nach ihm aus, aber da war er schon nicht mehr da.
Am Morgen stand sie am Rand der Lichtung und sah hinaus auf den gegenüberliegenden Hang. Es regnete zwar nicht, aber die Nässe im Boden forderte ihren Tribut, schon allein durch das Gewicht, das das Erdreich jetzt hatte. Der Hang war über Nacht ein Stück abgerutscht, aber nur für ein kurzes Stück und war dann an einer Felsgruppe hängen geblieben. Sie konnte die tiefen Spalten im Boden sehen. Mit Silas´ Fernglas sah sie die Risse näher an. Dabei stockte ihr der Atem.
Ganz links hatten sich drei Spalten angeordnet wie ein F, dessen Seitenarme nach unten zeigten. Daneben waren drei überkreuzte Linien, die wie ein X mit einem senkrechten Strich aussagen. Ein bisschen weiter rechts war ein Y erschienen mit einer Linie, die senkrecht zwischen den beiden Schenkeln in der oberen Hälfte aufragte. Und als Lena noch ein Stück weiter ging und bessere Sicht hatte, erblickte sie eine senkrechte Linie, die von einer kürzeren Schräglinie gekreuzt wurde.
Sie erkannte die Zeichen auf Anhieb: Diese Linien waren nicht nur Erdspalten, die sich zufällig angeordnet hatten. Dies waren Runen aus dem Jüngeren Futhark: áss, hagall, madhr und nauth. Auch die Wort-Bedeutungen waren ihr im Gedächtnis geblieben: Gottheit, namentlich Odin, Hagel oder Zerstörung, Mensch und Not. Die dritte Ebene dieser Deutungen wollte sie eigentlich nachlesen und eilte zurück zur Schäferei. Aber dann hielt sie inne, als sie die Lichtung erreicht hatte. In ihrem Kopf war eine Stimme, die ihr die Runen erklärte. Silas hatte gesagt, dass die Runen den Würdigen ihre Bedeutung selbst erklärten. Er nannte das: „Die Runen raunen dir zu, was sie mitteilen wollen.“ So erlebte sie es jetzt. Die Stimme in ihrem Kopf raunte, aber alles war klar und verständlich.
Áss: die Odinsrune, heißt, dass die Antwort durch Inspiration und Intuition kommt, aber auch eine intellektuelle Suche erfordert.
Hagall: Trauma und Krise, aber auch Wandel. Wenn grundsätzliche Ideen auf fruchtbaren Boden gesät werden, darf man gute Ergebnisse erhoffen.
Madhr: Göttliche Struktur des Bewusstseins und die Götter selbst sind gegenwärtig. Intelligenz, Bewusstwerdung und genaue Beurteilung der Lage sind erforderlich.
Nauth: Die Not ist auch eine Chance, durch Widerstand aus dem eigenen Inneren Lösungen zu entwickeln und die Lage zum Besseren zu wenden.
Lena verzichtete darauf, nun wirklich noch nachzulesen, ob diese Bedeutung die einzig richtige sein mochte oder ob man noch andere Auslegungen prüfen müsste. Sie war sich sicher, dass sie soeben eine Botschaft erhalten hatte. Eine Botschaft und einen Auftrag. Von den alten, germanischen Göttern.
Sie dachte kurz an die Conan-Bücher, die sie so gern las. Der bärenstarke, schwertschwingende Held glaubte an einen Gott namens Crom, der einem Menschen bei der Geburt nur die Fähigkeit gab, sein Leben zu meistern, und sich dann nicht mehr darum kümmerte, ob dieser Mensch seine Gaben nutzte oder ob er untätig in Elend und Selbstmitleid versank. Ihr hatten die Götter nun eine Aufgabe zugedacht, also musste sie auch das Zeug dazu haben, diese Aufgabe zu lösen. Sie fühlte sich ruhig und stark und beschloss, den Berg näher zu erkunden, zumindest den Teil, der nicht durch den Erdrutsch unmittelbar bedroht war. Irgendwo würde ihr schon etwas auffallen, das sie weiter brachte.
Flüchtig dachte sie an den alten Spruch: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Sie hatte immer angezweifelt, dass das so stimmte, besonders wenn sie die Mächtigen und die Würdenträger in Kirche und Welt betrachtete. Dann grinste sie. Der Spruch war mit Sicherheit von Leuten erdacht, die machtgierig waren und den Christengott ihrer Zeit nicht für tatkräftig genug hielten, ihnen das Handwerk zu legen. Die germanischen Götter waren hoffentlich von einem anderen Kaliber.
Als der Gedanke in ihrem Kopf verhallte, zuckte sie zusammen. Glaubte sie womöglich schon an all das? Die Kirche, die ihren Schäfchen Liebe und Vergebung abverlangte, dieses selbst aber nicht ausübte, die Wasser predigte und nicht nur Wein, sondern Champagner soff, hatte sie nie überzeugen können. Sie hatte über verschiedene Religionen gelesen, aber selbst nie einen Glauben gefunden. Überall gab es einiges, was sie nicht befürworten konnte. Und wenn die Sache in der Theorie einigermaßen stimmig war, so sorgte oft genug das „Bodenpersonal“ der jeweiligen Gottheit für gewaltigen Ärger. Einzig die Lebensweise des Buddhismus erschien ihr geeignet, ein Leben ein Einklang mit dem Rest der Welt führen zu können.
In Silas´ Aufzeichnungen hatte sie den Hinweis gefunden, dass der nordische Weg kein Ziel kennt und man sein Vorankommen nur an der zurückgelegten Wegstrecke ermessen konnte. Darüber dachte sie nach, während sie über schmale Pfade ging und über nasse Wiesen. „Wenn es kein Ziel gibt, kann man sich auch nicht verirren“, dachte sie. Denn das war es, was sie an allen bekannten Religionen so sehr störte: dieser Absolutheitsanspruch, dass nur diese eine Auslegung und nur die strenge Ausübung bestimmter Regeln zur Seligkeit führen sollte, obwohl doch die Menschen alle unterschiedlich waren und ihre Leben nicht gleich verliefen. Alle traten mit unterschiedlichen Voraussetzungen an und sollten doch alle gleich
geschaltet werden. Und dann die ewige Bedrohung von wegen Hölle und Verdammnis, mit der die Leute in der Spur gehalten werden sollten.
Wie mochte die Hölle aussehen, die ihnen drohte, wenn der Mundus sich tatsächlich öffnete? Silas hatte von üblen Wesen gesprochen, die dahinter lauerten. Nun ja, üble Wesen gab es auch in der Realität ihrer Welt. Mit Schaudern dachte sie an den Kinderschänder, zu dessen Prozess sie vor einiger Zeit als Berichterstatterin gegangen war. Der fette, alte Sack hatte keinerlei Unrechtsbewusstsein und noch behauptet, die Kinder hätten ihn verführt. Dabei machten seine Opfer ihre ganz eigene Hölle durch.
Als Lena über einen umgestürzten Baumstamm kletterte, drückte sie das Gürteltäschchen. Sie rückte es zurecht und dabei fiel ihr ein, dass sie heute das Musikorakel-Spiel noch nicht gespielt hatte. Im Weitergehen drückte sie die Tasten, die den Zufallsgenerator starteten. Das panische Schreien eines Mädchens schreckte Lena auf, sie sah sich hektisch um, sah, aber niemanden. Dann, als auch Instrumentalmusik und Gesang aus den Ohrstöpseln drang, wurde ihr klar, dass das Lied, das da abgespielt wurde, "Thriller" von Michael Jackson war.
Sie dachte automatisch an das Video dazu, wo sich zunächst Michael und dann noch etliche andere in tanzende Zombies verwandelten. Ihre Schulfreundin Nadine fiel ihr ein, die sich jedes Mal heftig gefürchtet hatte, wenn sie den Film sah. Lena hatte dafür nur Kopfschütteln übrig. Sie fand Zombies vom Aussehen her zwar nicht sehr appetitlich, hatte sie aber immer für Phantasiegestalten gehalten, die schon wegen ihrer Nicht-Existenz keine Gefahr bedeuteten.
Dann hielt sie inne, als die letzten Takte und ein irres Lachen verklangen. Was mochte das nun in ihrer Lage bedeuten? Sie sah sich um und konnte weit und breit kein lebendes Wesen entdecken, auch kein untotes. Selbst die Tiere schienen den Hohen Meißner zu meiden, keine Vögel sangen, keine Frösche quakten in dem Teich, der vor ihr in einer Wiesenmulde lag, inmitten von einem wahren Dickicht aus Rohrpflanzen, die aus dem flachen Wasser am Ufer ragten. War dies der Frau-Holle-Teich? Dann müsste ja irgendwo eine Holzfigur stehen, die Frau Holle darstellte. Tatsächlich, da auf der anderen Seite stand eine stattliche Frauengestalt aus braunem Holz.
Silas hatte erzählt, dass dies die zweite Skulptur war. Die erste hatte eine schöne Frau dargestellt, hell, anmutig und figurbetont, wie es einer Gottheit zukommen mochte. Denn dies war Holda, auch wenn die meisten Frau Holle nur als altes Weib aus dem Märchen mit Goldmarie und Pechmarie kannten. Gleich nach Aufstellung der Figur hatte sich Protest geregt, weil die christliche Vorstellung es nicht ertragen konnte, dass eine heidnische Göttin anders als hässlich und derbe dargestellt war. Das Standbild war sogar von Unbekannten beschädigt worden und musste gegen dieses ausgetauscht werden, das weniger strahlend erschien und offenbar keinen Anstoß erregte.
Lena wanderte um den Teich herum. Eine Wiese mit Picknicktischen lag am Ufer, dahinter ragten hohe Sträucher auf sperrten den Teich gegen die Straße auf der Talseite des Hanges ab. Auf der Bergseite setzte gleich hinter dem Ufer ein steiler, bewaldeter Hang ein, der zur Kuppe der Kalbe führte, einer der höchsten Erhebungen des Meißners. Silas hatte gesagt, der Teich werde aus einer Quelle gespeist und heute würde noch der Hollenbach hinzugeleitet, um eine Verlandung des natürlichen Gewässers zu vermeiden. Das Wasser war sehr dunkel und sah undurchdringlich aus. Die Stengel der Rohrkolben wurden direkt unter der Oberfläche unsichtbar. Die Flüssigkeit sah eher nach kaltem Kaffee als nach Teichwasser aus.
Sie fotografierte den Teich und die Figur aus verschiedenen Blickwinkeln und besah sich die Bilder noch einmal auf dem Display der Kamera. Dabei stockte ihr der Atem. Eine hochgewachsene Gestalt schien zwischen den Büschen zu stehen. Lena besah das Foto näher, dann die reale Stelle am Gesträuch. Da war niemand zu sehen. Sie hob die Kamera und zoomte, so weit das möglich war. Auf dem Display sah sie die Zweige der Büsche, die sich leicht bewegten.
„Moment mal“, dachte sie alarmiert. „Es ist windstill.“ Da musste jemand sein. Dann trat eine hochgewachsene Gestalt zwischen den Sträuchern hervor und drei andere folgten ihr. Lena duckte sich zwischen die hüfthohen Uferpflanzen und beobachtete die Gruppe, die langsam näherkam. Ein Instinkt riet ihr, sich nicht zu zeigen.
Der Mann, der vorweg ging, war ungewöhnlich groß. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, aber seine Erscheinung war auch so auffällig genug. Lena hätte nicht sagen können, was es war, was ihn so außergewöhnlich machte. Gutes Aussehen hatte er, jedenfalls, wenn man geschniegelte Lackaffen und Anzugträger mochte. Mochte sie aber nicht. Ein nicht wirklich scherzhaft gemeinter Spruch von ihr war: „Wer sich einen Schlips umbindet, tut das, um leichter die Leute bescheißen zu können.“ Wenn sie das sagte und ihr jeweiliger Gegenüber sah ungläubig drein, erinnerte sie an das gängige Outfit der Politikerkaste. Und Gelfrisuren hatte sie auch nie gemocht.
Irgendwie war einiges nicht echt an dem Anführer der Gruppe, das spürte Lena und sie traute diesem Mann hier nicht, ohne dass sie einen Grund dafür hätte sagen können. Als seine Begleiter näher kamen, verschlug es ihr den Atem. Deren Kleidung war wohl ebenso elegant gewesen, war jetzt aber schmutzig und voller Blut. Sie gingen aufrecht, mit hölzernen Bewegungen, und sie waren alle drei offenbar schwer verletzt. Dem ersten war ein Arm scheinbar größtenteils abgequetscht und am Knie war der Stoff der Hose blutgetränkt. Eine schwere Kopfwunde hatte er außerdem. Die beiden anderen, die nachfolgten, waren auf ähnliche Weise verwundet. Sie konnte sich nicht erklären, wie die es überhaupt fertig brachten, aufrecht zu gehen. Waren die Männer in einen Steinschlag geraten? Und warum kümmerte sich der erste nicht um die Verletzungen, sondern trieb sie gnadenlos an? Jetzt befahl er ihnen, auszuschwärmen und zu suchen. Was suchen? Dann hörte sie es deutlich: „Irgendwo muss die kleine Reporterschlampe ja stecken, wenn sie schon nicht in der Schäferei ist.“
Die suchten nach ihr! Panik vernebelte ihr einen Moment das Hirn, bevor sie wieder klarer denken konnte. Sie musste unbedingt diesen Männern entwischen. Aber wie? Sie saß fest, vorn von den vier Männern umzingelt, hinter ihr war der Teich. In dem Röhricht war Schwimmen unmöglich und wenn sie hineinwatete, musste das zu hören sein. Näher und näher kamen zwei der verletzten Verfolger. Sie duckte sich tiefer und hoffte, nicht gesehen zu werden. Das Bein des einen kam in ihr Blickfeld. Es schlenkerte kraftlos, wenn es nicht belastet war. Die Knochen mussten mehrfach gebrochen sein, vielleicht auch zertrümmert. Und doch trat der Fuß auf den Boden und das Bein trug die Gestalt eines nicht eben zierlichen Mannes. Dann setzte er den anderen Fuß vor, entlastete das erste Bein und es schlenkerte genauso nach vorn und der Fuß suchte Bodenkontakt wie beim Schritt davor.
Dann zuckten ein paar Takte von Michael Jacksons Lied durch ihr Gedächtnis und Szenen des Zombie-Tanzes. Zombies! Schlagartig wurde ihr klar, warum diese verwundeten Männer noch laufen konnten. Das mussten die drei sein, die durch den Steinschlag in der vorvorigen Nacht umgekommen waren. Untote, Zombies, Wiedergänger, was auch immer. Hatte Udo nicht erwähnt, dass die Leichen verschwunden wären? In der Nacht hatte sie dieses Gerücht nicht weiter ernst genommen, aber nun fuhr ihr der Schreck erneut in die Glieder.
Hier liefen tatsächlich Untote herum! Und ihr Anführer, da war Lena sicher, musste Loki selbst sein. Loki, der das Gebüsch durchstöberte auf der Suche nach ihr und der ihr nichts Gutes wollte. Sie kniff sich und war überzeugt, das nicht zu spüren, weil alles nur ein Traum war. Aber sie hatte kräftig gezwickt und ein überraschter Schmerzenslaut entrang sich ihrem Mund.
Die Verfolger hielten inne. Sie hatten sie also gehört. Dann wandten sie sich alle vier in ihre Richtung. Lena versuchte, so leise wie möglich zur Seite zu weichen, trat aber auf einen Zweig, der laut knackend brach. Sofort korrigierten die Zombies die Richtung und näherten sich unbarmherzig.
Ob sie es schaffen könnte, zwischen zweien der Zombies hindurchzubrechen und davonzulaufen? Aber wohin, wenn ja schon die Schäferei überwacht wurde? Außerdem waren die widerwärtigen Biester schon sehr nahe und sie wollte auf keinen Fall von einem von ihnen berührt werden. Bei dem Gedanke schnürte sich ihre Kehle vor Ekel zu. Wie von selbst wich ihr Körper noch einen Schritt zurück. Dunkelbraunes Wasser lief ihr in den Schuh. Sie stand schon mit einem Fuß im Teich, durch das Röhricht nur unzureichend verborgen. Ihr zweiter Fuß trat leise ins Wasser, die Jeans wurde bis zur halben Wade nass. Und noch einen Schritt zurück … Ein seltsam dumpfes Triumphfgeheul verriet, dass sie entdeckt war. Schon erklangen hektisches Poltern, das Knacken von Zweigen und hastige Tritte. Jeden Moment musste eine blutige Hand nach ihr greifen, schon schmierig vom Einsetzen der Verwesung ... Der Gedanke war so grässlich, dass sie ihn nicht weiter denken konnte. „Dann doch lieber durch den Teich!“ Mit großen Schritten watete sie tiefer hinein und ihre Arme schoben die Schilfstängel beiseite. Sie dachte nicht an die teure Kamera, die nun nass wurde. Furcht trieb sie weiter. Hinter ihr platschten die Zombies im Wasser.
Dann verlor Lena den Grund unter den Füßen und fühlte sich in die Tiefe gezogen. Alles Rudern mit den Armen half nichts, das dunkle Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen und Schwärze breitete sich aus.