Sieben gegen die Hölle - Lena (Teil 6)
Sieben gegen die Hölle
Lena (Teil 6)
Der Rückstau in den Adern verhindert auch, dass der Sauerstoff bis zu den Hirnzellen gelangt, so dass der Tod auf diese Weise eintritt.
Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihr nun dieses Wissen durch das blutgefüllte Hirn, während sie vergebens gegen ihren Angreifer ankämpfte, an seinen Armen zerrte, nach ihm schlug und trat. Die Verzweiflung verlieh ihr ungeahnte Kräfte, aber das war nicht genug. Sie kam nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, warum ihr in dieser gut gefüllten Halle niemand zu Hilfe kam und konnte erst Recht nicht den Bann wahrnehmen, den Loki um sie beide gezogen hatte, damit sich die Asen nicht einmischen konnten.
Sie sah nicht, wie Odins Speer an einer unsichtbaren Mauer abprallte und wie Heimdall sich gegen dasselbe Hindernis warf, ohne zu ihr gelangen zu können. Vidar, der Schweigsame, Stärkster nach Thor, schaffte es nicht, die Bannwand auch nur einen Zentimeter weit eindrücken zu können. Auch Balder mühte sich vergeblich, diese Mauer mit seiner positiven Energie zu neutralisieren.
Lenas Kräfte erlahmten und ihr wurde schwarz vor Augen. Sie ließ die Lider herabsinken und sah Silas vor sich und eine große Sehnsucht nach ihm erfasste sie, als sie alles andere losließ und in Lokis Griff schlaff wurde.
Sie bekam nicht mehr mit, wie der Mjölnir herangeflogen kam und den Bann durchbrach, als sei dieser ein Spinnennetz. Der Hammer streifte den Gott der Heimtücke zwar nur, weil der im letzten Moment von Lena abließ und sich wegdrehte, aber das reichte, um ihn bewusstlos zu Boden zu werfen. Daraufhin flog die Waffe einen Bogen und landete wieder in Thors ausgestreckter Hand.
Einige Götter eilten zu Lena und Loki, die beide reglos auf dem Boden lagen. Odin selbst legte seine Hand auf Lenas Stirn und gab ihr einen Schub Kraft, so dass sie wieder anfing zu atmen, zuerst gequält und ruckartig, dann wieder ruhiger und gleichmäßiger. Balder, der selbst zwischen Leben und Tod existierte, ergriff ihre Hände und ließ Energie in sie fließen, bis sie die Augen aufschlug. „Dein Schicksalsfaden ist noch nicht am Ende“, flüsterte er ihr zu.
Vidar und Tyr hielten Loki nieder, bis der Anführer der Zwerge ein spezielles Seil brachte, mit dem sie ihn banden.
Der Donnergott hatte den Griff des Hammers in seinen Gürtel gesteckt und trat mit festen Schritten näher. „Was hat der denn jetzt wieder angestellt?“, grollte er mit tiefer Stimme und wies mit dem Kinn auf Loki. Frigg sah ihn giftig an. „Wenn du pünktlich zum Thing gekommen wärst, wüsstest du schon alles und zu dieser Szene hier wäre es auch nicht gekommen.“ „Du weißt genau, dass ich einen weiten Weg von meinem Palast in Thrudheim hierher habe. Also, was ist hier los und warum haben wir ein sterbliches Mädchen in Walhall?“
Wenig später war der Donnerer darüber im Bilde, was sich am Meißner abspielte. Hugin und Munin, die auf ihren Erkundungsflügen die Welt genau beobachteten, hatten viel zu erzählen, von Schäden und Lobbyisten, die für ihren Profit in Kauf nahmen, dass Natur und Menschenleben zerstört wurden.
„Die holzen den Wald ab für ein Freizeitvergnügen. Kommen mit ihren stinkenden Autos angefahren, lassen sich vom Lift hochtragen und rutschen aus lauter Langeweile wieder runter. Dann fahren sie mit ihren stinkenden Karren wieder weg. Denen muss es wohl zu gut gehen!“, zog der Donnergott Resümee.
„Als wenn die Ziegenböcke vor deinem Wagen nicht stinken würden! Was sich wie der Donner anhört, sind in Wirklichkeit alles Fürze, und zwar nicht nur von den Böcken!“, ließ sich der wieder erwachte Loki vernehmen. Thor wandte sich um und wies mit dem Finger auf ihn. „Sei du lieber ruhig! Sonst kriegst du noch eins mit dem Hammer.“
Vidar seufzte und warf sich Loki über die Schulter, um ihn in ein Verlies zu schaffen. Hinter Schloss und Riegel und von zuverlässigen Wächtern beobachtet würde er hoffentlich keinen weiteren Schaden mehr anrichten können. Als der Schweigsame zurückkam, war wieder eine lebhafte Diskussion im Gange, die schon ob des Gewimmels vor den Thronsitzen leicht in Handgreiflichkeiten ausarten konnte, wie er aus Erfahrung wusste. Viele der Thingteilnehmer liebten eben eine zünftige Rauferei. Es war schon früher vorgekommen, dass die Walkyren als eine Art Anti-Terror-Einheit eingreifen und die Streithähne trennen mussten, wenn mal wieder sehr handfest argumentiert wurde.
Lena rührte sich nicht und beobachtete still das Palaver der Asen um sie her. Sie hatte bei ihrer Arbeit schon unzählige Sitzungen der kommunalen Parlamente miterlebt, aber die waren stinklangweilig im Vergleich mit diesem munteren Schlagabtausch der Unsterblichen. Wer der muskelbepackte Hüne mit den langen, honigblonden Haaren war, brauchte ihr niemand erklären. Obwohl sie Thor noch nie gesehen hatte, hätte sie ihn auch ohne den Mjölnir im Gürtel sofort erkannt. Er war ein gutes Stück über zwei Meter groß, hatte so breite Schultern, dass er durch eine normal Tür nur quer hätte gehen können und seine Kleidung war schlicht. Ein enganliegendes Wams, das seine kraftvolle Figur betonte, eine enge Hose und Schaftstiefel mit Stulpen, das alles war aus Leder und knarzte bei manchen Bewegungen leicht. Die Ärmel eines Leinenhemdes bedeckten Arme, die so dick waren wie Lenas Oberschenkel – und Lena zählte nicht zu den Hungerharken.
Gerade marschierte Thor mit festen Schritten auf und ab und versuchte, sich das Geschehen zu vergegenwärtigen und seine Bedeutung abzuwägen. „Es geht um eine Skipiste?“, wiederholte er ungläubig. „Die machen alles kaputt, um Ski laufen zu können?“
Die anderen Götter schienen vor ihm einen ordentlichen Respekt zu haben, denn sie hüteten sich, seinen Zorn zu erregen. Überhaupt glich dieser Thing mehr einem Familientreffen einer recht skurilen Sippe. Den Geschichten aus den Büchern nach waren sie das ja auch irgendwie, eine Patchworkfamilie, die nach dem Motto lebte: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.
Manchmal musste Lena sich mit aller Gewalt das Lachen verbeißen, wenn sie sah, wie menschlich die Asen waren mit all ihren Marotten und Standpunkten. Wohltuend im Gegensatz zur irdischen Politik empfand sie jedenfalls, dass hier jeder nach bestem Wissen und Gewissen argumentierte und nicht sein Parteiprogramm gebetsmühlenartig nachplapperte. Aber diese Art von Entscheidungsfindung setzt natürlich voraus, dass man Wissen und Gewissen hat. Bei den Politikern hatte sie oft genug beides vermisst. Bevor die Reporterin des Tagesblattes sich über ihre eigenen Gedanken wundern konnte, ging die Diskussion schon wieder weiter.
Skadi und Ullr schüttelten auf die Bemerkung von Thor über den Sinn der Skipiste die Köpfe. „Es ist nicht das Skifahren, das schlecht ist. Schlecht ist die Tatsache, dass die Natur dafür kaputt gemacht wird. Noch zwei Generationen vorher war Ski eine sinnvolle Fortbewegungsmöglichkeit im Winter, aber inzwischen ist es, dank Loki, zu einem großen Geschäft für einige wenige geworden, die keine Skrupel haben, das für sich auszunutzen, auch wenn es zum Schaden anderer ist. Genau wie vieles andere auch, das an sich gut ist und den Menschen gut tut“, meinte Skadi.
Ullr ergänzte: „Wenn auf einem Dorfplatz oder einer Wiese einige Kinder oder auch Erwachsene mit einem Ball spielen, macht das Spaß und ist gut für die Gesundheit. Aber wenn daraus ein Millionengeschäft wird, ist es das nicht mehr. Das Geschacher, das Doping, die Betrügereien bei den Wetten, das ist einfach widerlich.“
„Schon gut, euch greife ich doch nicht an!“, brummte Thor und legte seine große, breite Hand auf Ullrs Schulter. „Wenn es nicht Ski wäre, womit hier das Geld gescheffelt wird, wäre es eben was anderes. Loki hätte schon was gefunden, wo er die Menschen mit verrückt gemacht hätte!“
„Aber wie geht es nun weiter? Was sollen wir machen?“ Es war ungewohnt, wenn der schweigsame Vidar seine Stimme erhob. Aber die Frage war durchaus berechtigt und alle sahen fragend zu Odin.
Der Göttervater ließ sich schwer auf seinen Thron sinken und winkte den anderen Asen, seinem Beispiel zu folgen. Das war auch für Elben, Zwerge, Walkyren und Einherjer das Zeichen, sich wieder auf ihre Plätze zu begeben und damit kehrte wieder eine gewisse Ordnung ein.
„Wie es scheint, hat Loki das alles von langer Hand eingefädelt. Können wir überhaupt noch etwas tun, um den Mundus geschlossen zu halten, oder ist die Öffnung schon Schicksal?“, fragte Frigg in die Runde.
„Die Nornen, die die Schicksalsfäden spinnen, haben das noch nicht offenbart, zumindest nicht so, dass man es auch verstehen könnte“, ließ sich Hödur vernehmen. „Im Augenblick kann ich das alles nicht deuten.“
Die ratlosen Gesichter waren Antwort genug. Wenn Loki es geschafft hatte, so weit zu gehen, ohne dass sie etwas mitbekommen hatten, dann war damit zu rechnen, dass die Lawine bereits im Gange war.
„Wir haben immer noch nicht die Frage geklärt, ob wir überhaupt eingreifen wollen“, erinnerte Njörd. „Vielleicht sind die Menschen, die ihren Planeten dermaßen kaputt machen, den Aufwand nicht wert. Ihr glaubt gar nicht, welche Mühe ich immer habe, die Elemente zu zügeln, die sie mit ihrem klimaschädlichen Konsum aufpeitschen. Wenn dann doch mal ein Sturm oder eine Flutwelle losbrechen, ist gleich das Geschrei groß, dann tun sie sich furchtbar Leid. Ihr glaubt gar nicht, wie mir das Gejammer zum Hals heraus hängt!“ Der sonst so freundliche Gott steuerte offenbar auf seinen persönlichen Burn-Out zu.
„Das geht uns genauso“, stimmten einige andere Gottheiten zu.
„Trotzdem können wir nicht untätig bleiben!“, beharrte Frigg. „Wir sind es den Menschen schuldig, dass wir etwas unternehmen.“
„Sind wir das wirklich?“, fragte Odin. „Selbst wenn ihnen einer von uns erzählen würde, würden sie nicht zuhören, sondern lieber elektronische Spielchen machen. Müssen wir solche dumpfen Wesen retten? Die würden es ja nicht mal merken, wenn ihnen die Hose am Hintern brennt. Das müsste ihnen dann schon einer über Facebook mitteilen oder neuerdings wohl eher über eine App.“ Zustimmendes Gemurmel kam von verschiedenen Seiten.
Eine der Walkyren trat hervor und nahm das Wort. „Wie dem auch sei: Hier ist eine Frau, die heldenhaft versucht, ihr Volk und die Menschheit zu retten. Allein dafür verdient sie, dass wir ihr helfen.“ Die Einherjer klopften mit den Schwertern auf ihre Schilde dröhnend Beifall.
Tyr erhob sich und meinte: „Wir können kämpfen, aber wir können nicht gewinnen, wenn es um den Unverstand der Menschen geht. Wir können höchstens dafür sorgen, dass der Mundus sich nicht öffnet. Darum sollte es hier gehen, nicht um den Wert des Menschengeschlechts an sich. Die Menschen haben gegen die Wesen der Unterwelt keine Chance. Denen können nur wir Götter beikommen.“
„Aber wie? Sollen wir uns alle in einer Reihe vor dem Mundus aufstellen und sie mit Besenstielen zurückscheuchen, wenn sie rauskommen?“ Freyr schüttelte den Kopf. „Nee, so kommen wir doch nicht weiter. Wir brauchen eine Lösung, die praktikabel ist und von den Menschen nicht bemerkt wird.“
„Warum sollen die denn nicht merken, wenn wir sie retten? Vielleicht verehren sie uns dann wieder!“, warf Njörd ein. Doch Odin winkte ab. „Pah! Wenn wir helfen, kommt ein Dutzend andere daher, die die Lorbeeren für sich beanspruchen. Hast du vergessen, wie oft wir schon Menschen geholfen haben und die sind dann in die nächste Kirche gerannt und haben da zum Dank eine Kerze angesteckt? Wieviele sind für ein Wunder heilig gesprochen worden, das einer von uns bewirkt hat? Mittlerweile gibt es eine unübersichtliche Anzahl von Religionen und Heilslehren, an die wenigstens ein paar Leute glauben und dann auch jeden Furz als Beweis für ihre Sache ansehen.“
„Das ist nicht von der Hand zu weisen“, bestätigte Thor. „Aber so ganz stehen wir nicht auf verlorenem Posten. Ich jedenfalls will nicht Schuld sein, dass Loki schon wieder einen Sieg erringt. Was ich tun kann, will ich tun, und wenn ich ganz allein stehe damit!“ „Nein!“ sagte eine entschiedene Stimme. „Zumindest die Walkyren wollen auch ihren Teil dazu beitragen, dass das Höllengewürm nicht frei kommt! Unter den Menschen mag es kaum noch Helden geben, aber wenn der Mundus sich öffnet, gehen sie alle so jämmerlich zugrunde, wie es nicht einmal der erbärmlichste Feigling verdient hat.“ Die Einherjer klopften wieder auf ihren Schilden Applaus und die aufgeregten Antworten der Asen gingen in dem Lärm der gefallenen Kämpfer unter.
Lena ließ den Blick über die Bewaffneten schweifen und sah nur wenige, die moderner ausgestattet waren als die Krieger aus vergangenen Jahrhunderten, die meist Schwerter, Äxte oder derbe Knüppel in ihren schwieligen Händen hielten. Waren die Helden so rar geworden? Sie dachte an Silas. Ein Held brauchte nicht unbedingt ein Schwert, um für seine Sache zu kämpfen, da war sie sicher.
Sie kam nicht dazu, sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn nun brach der nächste Tumult los, weil Frigg und Freya sich in die Haare geraten waren. Odin gebot unmissverständlich Ruhe.
„Also: Was nun?“, fragte er und sah die Götter der Reihe nach mit seinem einzigen Auge prüfend an. Es herrschte einen Moment betretenes Schweigen.
Dann erhob sich Balder und sprach. Leise war seine Stimme, aber da sich alle mühten, ihn zu verstehen, bekamen seine Worte ein besonderes Gewicht.
„Es sieht ganz so aus, als ob es wieder mal allein Thor und sein Mjölnir sind, die die Macht haben, Loki im Zaum zu halten. Da wir Loki festgesetzt haben, wird es das beste sein, wenn Thor mit dem Hammer hier bleibt und Loki im Auge behält. Seien wir doch ehrlich: Loki ist uns schon oft durch die Lappen gegangen und hat großen Schaden angerichtet. Und das wird er auch wieder, sobald Thor nicht mehr hier ist. Nur mit dem Mjölnir haben wir eine Chance, Loki zu zwingen, dass er den Mundus nicht weiter aufgehen lässt.“
„Und wir müssen ihn bestrafen, weil er den Vertrag gebrochen hat“, warf Wara ein, deren Aufgabe es war, über die Einhaltung von Abmachungen zu wachen. Andere nickten zustimmend.
„Heimdall?“, fragte eine Stimme, die eine ganze Zeit lang geschwiegen hat. „Ja?“, antwortete der Brückenwächter erstaunt und sah zu Hödur hin, der trotz seiner Blindheit genau wusste, wo wer saß. „Heimdall, glaubst du, es ist an der Zeit, dass du ins Horn bläst?“ Die Stille, die sich auf diese Frage hin ausbreitete, war wie Granit. Niemand rührte sich in der ganzen, weiten Halle. Heimdalls Hornsignal, das war das Zeichen, dass der Weltenbrand unmittelbar bevorstand.
Der Hüne antwortete nicht gleich, sondern verhielt sich reglos und schien in sich hinein zu horchen. Lena, die sich auf seinem Schoß aufgerichtet hatte, sah ebenso gespannt zu ihm auf wie alle anderen. Die Spannung raubte ihnen den Atem. Dann, erst ganz langsam, aber zunehmend sicherer, schüttelte Heimdall seinen großen, zottigen Kopf. „Nein, es ist noch nicht so weit.“ Die tiefe Stimme war fest, kein Zweifel klang darin mit.
Zunächst mochte es Erleichterung sein, was Asen, Walkyren, Einherjer, Alben und Zwerge erfasste, aber daraus wuchs auch rasch eine neue Stimmung. Sie fühlten sich sicher, nichts konnte ihnen etwas anhaben, solange Ragnarök noch nicht gekommen war. Und wer weiß, dass er nicht verlieren kann, hat auch nichts zu befürchten, wenn er in den Kampf zieht. So sahen es zumindest die meisten, nur die Götter, die weiter denken mussten, wollten sich nicht so siegesgewiss geben, zumindest nicht alle. Der allgemeine Lärm schwoll wieder an und die Diskussion auf dem Podest mit der Thronreihe ging im allgemeinen Radau unter.
Lena betrachtete das Getümmel. Auf den langen Bankreihen erhoben sich die gefallenen Krieger und griffen nach ihren Waffen, als wollten sie direkt in den Kampf ziehen. Die Alben und Zwerge verhielten sich ruhiger, aber auch ihnen merkte man an, dass sie jederzeit aufstehen und losschlagen könnten. Heimdall beugte sich zu Lena hinunter und sagte leise: „Die meisten von denen sind ausgesprochen rauflustige Burschen. Denen ist es fast egal, worum der Kampf geht, Hauptsache, es dreschen möglichst viele aufeinander ein. Aber hier geht es um verdammt viel! Wir müssen abwarten, wie Odin und die anderen entscheiden.“
Der Göttervater schien genug von dem Durcheinander zu haben. Er stand auf und sorgte für Ruhe. Dann schritt er auf dem Podest hin und her, so schnell, dass sein langer, grauer Umhang hinter ihm her wehte. Auf und ab und auf und ab. Die anderen folgten seinem Marsch mit ihren Blicken, ohne selbst einen Mucks zu machen. Wenn Odin eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen hatte, war es ratsam, ihn nicht dabei zu stören. So wurde es sekundenschnell wieder mucksmäuschenstill in Walhalla.
Um so verwirrender waren die Klänge, die sich in diese gespannte Ruhe mischten. Zunächst leise, aber stetig lauter werdend, ertönte der flotte Rhythmus eines Rock´n Rolls. Lena begriff erst gar nicht, dass die Musik aus ihrem Player kam. Als ihr das bewusst wurde – auch nur, weil alle verwundert zu ihr hinstarrten – versuchte sie hektisch, das Gerät abzustellen. Doch alles Drücken auf den Schalter war vergebens. Sogar als sie die Batterie herausgenommen hatte, rockte es weiter und die unverkennbare Stimme von Elvis Presley sang dazu. Es war einer seiner nicht ganz so berühmten Songs: Hard Headed Woman. Die Musik wurde so laut, als käme sie nicht aus den kleinen Ohrhörern, sondern aus leistungsstarken Boxen.
Odin, der sich ebenfalls Lena zugewandt hatte, beobachtete sie, wie sie noch immer versuchte, den Player zum Schweigen zu bringen. „Du kannst das nicht ausschalten. Du hast es ja auch nicht eingeschaltet.“, sagte er ruhig und fast klang es resigniert. „Die Nornen, die unser aller Schicksalsfäden spinnen, zeigen manchmal Humor. Wenn ich das Orakel richtig deute, soll es heißen, dass diese sturköpfige Frau bekommen soll, was sie sich wünscht. Ob es für die Welt am Ende gut ist, soll dann nicht mehr unsere Sache sein.“ Die letzten Takte verklangen und dann war es wieder still.
Thor, der neben Odin getreten war, lachte schallend. „Ja, siehst du, da wolltest du mal wieder die Welt regieren, aber die Nornen waren dir voraus und wir müssen nur noch erfüllen, was sie uns bestimmt haben.“ Dem zornigen Blick aus dem einzigen Auge des Göttervaters begegnete der Donnerer mit einem breiten Grinsen.
Freyr zuckte die Achseln. „Soweit haben wir das ja auch verstanden. Nur müssen wir uns jetzt Gedanken machen, wie wir das umsetzen wollen.“
Auch Tyr stimmte zu. „Das ist nicht so einfach. Thor, dein Hammer ist das einzige, was Loki fürchtet. Aber wo wird er am besten eingesetzt? Wenn du mit zum Meißner gehst, kannst du vielleicht da den Mundus in Schach halten, aber was machen wir, wenn Loki eine neue Teufelei ausheckt? Wenn du hier bleibst und ihn bewachst, wer soll dann den Mundus schließen?“
Das war tatsächlich eine Frage, die nicht auf Anhieb beantwortet werden konnte. Frigg wiegte den Kopf hin und her und meinte: „Wie man es macht, kann es verkehrt sein. Eigentlich bräuchten wir jetzt zwei Thors und zwei Mjölnirs.“
„Komisch. Sonst beschwerst du dich immer, dass schon der eine Thor dir die Speisekammern ganz allein leer frisst und man zwei von der Sorte nie und nimmer ernähren könnte“, lästerte Freya.
Bevor die beiden Göttinnen wieder in Streit geraten konnten, versuchte Balder, sie von ihrer ewigen Rivalität abzulenken. „Tatsächlich, wir könnten sowohl Thor als auch seinen Hammer doppelt gebrauchen, weil wir nicht wissen, was im Moment die konkretere Gefahr ist, Loki oder der Mundus. Es hat auch keinen Zweck, wenn Thor den Mjölnir einem anderen gibt, denn außer ihm kann keiner damit werfen. Ein Hammer, der nicht geworfen werden kann, ist nicht sehr nützlich für die Sache und Thor verfügt ohne seinen Hammer nur über einen Teil seiner Macht. Die beiden zu trennen, wäre also das Schlechteste, was wir machen könnten.“
„Vielleicht war gerade das der Gedanke, den Loki dabei hatte“, sinnierte Hödur. „Denn ohne die Kombination Thor/Mjölnir wären die Asen überhaupt so geschwächt, dass sie ihm gar keinen Widerstand mehr leisten können.“
Der Donnergott blickte finster in die Runde. „Wer kommt denn überhaupt auf so eine abwegige Idee, dass ich den Mjölnir einem anderen geben würde? Das ist ja lächerlich.“ Zur Bekräftigung seiner Worte klopfte er mit einer Hand – Lena kam nicht umhin zu denken, dass diese Hand locker so groß war wie ein Klodeckel – auf den Hammer, der in seinem Gürtel steckte. Im Saal kam wieder Unruhe auf.
„So kommen wir doch nicht weiter! Wir müssen uns beraten, ohne dass die alle hier mithören und dauernd reinreden!“ Frigg stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick vielsagend über die weitläufige Halle wandern, in der dicht an dicht Wesen saßen, die alle ihre eigene Meinung zum Thema hatten und diese auch gern kund taten - akustisch oder auch handgreiflich.
Odin nickte ergeben. „Ziehen wir uns zurück in die Schmiede Idafeld. Da können wir in Ruhe eine Entscheidung treffen.“
Als die anderen Götter sich erhoben, musste Heimdall Lena auf dem Boden absetzen. „Wirst du zurechtkommen?“, fragte er besorgt. Sie nickte und hinter ihr sagte eine Stimme: „Wir kümmern uns um sie. Es kann nicht schaden, wenn sie ein paar Tricks lernt, wie man Loki oder andere Angreifer abwehrt.“
Der Brückenwächter richtete sich auf und betrachtete die Walkyre nachdenklich, die sich an Lenas Seite gestellt hatte. „Das kann wirklich nicht schaden. Aber seid vorsichtig mit ihr. Sie ist nicht so robust wie ihr.“ Damit wandte er sich um und folgte den anderen. Vidar und Thor gingen direkt vor ihm, beides gewaltige Männergestalten, aber dem Hünen reichten sie kaum bis zum Gürtel.
Die Walkyre hatte Lena die Hand auf den Arm gelegt und sie sah die Tochter Odins direkt an. Groß und stark war sie, durchtrainiert, aber doch sehr attraktiv, trotz der schlichten und praktischen Aufmachung. Die Kleidung war einfach geschnitten und bot die Bewegungsfreiheit, die man beim Kampf braucht. Die Waffen, die sie bei sich trug, gehörten so selbstverständlich zu ihr wie das lange, honigblonde Haar, dass in zwei geflochtenen Zöpfen über ihre Schultern hing. Und sie strahlte ein Selbstbewusstsein aus, dass Lena nie bei einer irdischen Frau gesehen hatte. Auch berühmte, reiche und mächtige Damen, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte, hatten niemals diese Ausstrahlung erreicht. Dafür schlug deren Verhalten leicht ins Überhebliche, Unangenehme um, was aber bei der Walkyre nicht der Fall war.
Die sah die Reporterin aufmunternd an und fragte: „Na, wie ist es, wenn dich das nächste Mal einer würgt, willst du dann wieder umkippen oder willst du dich losreißen und deinen Gegner plattmachen?“ Lena konnte nicht anders, sie musste breit grinsen. „Wenn du mich so fragst, dann bin ich für die zweite Lösung.“ „Gut so. Wir werden uns freuen, dich wieder hier in Walhalla zu begrüßen, aber das ist nicht eilig. Außerdem dauert es erfahrungsgemäß, bis unsere erhabenen Gottheiten zu einer Einigung gekommen sind. Nutzen wir die Zeit.“
„Darf ich was fragen?“ „Nur zu.“ Lena holte tief Luft und sah sich noch einmal die Einherjer an, bevor sie die Frage formulierte. „Hier sind so wenig Frauen. Sind die nicht heldenhaft?“ Die Walkyre lächelte. „Das kommt darauf an, was man unter Heldentum versteht. Walhalla ist der Sammelpunkt für die Krieger, die beim Ragnarök an der Seite der Götter in die Schlacht ziehen. Eine Mutter, die ihr Leben für ihr Kind riskiert hat, oder ein Mensch, der Juden vor den Nazis versteckt hat, sind auch Helden, aber die bekommen andere Aufgaben, wenn der Weltenbrand losbricht.
Es gibt noch mehr Aufenthaltsorte für die Verstorbenen, die einen besseren Platz als Hels Reich verdient haben. Freyrs Halle beispielsweise ist voll mit Menschen, die durch fleißige Arbeit erst möglich gemacht haben, dass andere in den Kampf ziehen konnten. Also zum Beispiel Bauern, die weiter die Felder bestellt haben, damit alle, auch die Krieger, etwas zu essen hatten. Das ist auch eine Art Heldentum, nur nicht auf den ersten Blick so auffällig wie bei diesen Raubeinen hier. Aber ehrlich gesagt: Auch die Heldinnen werden rar. Die aufgetakelten Tussis heute, die sich aus Eitelkeit halb tot gehungert haben und dann fürchten, dass ihnen ein Fingernagel abbricht, wenn sie jemanden retten, die erfüllen einfach nicht unsere Anforderungen. “
Die Walkyre hatte ernsthaft und mit sanfter Stimme geantwortet. Lena nickte verstehend und verschmitzt fügte die Kriegerin Asgards noch hinzu: „Zum Glück gibt’s noch andere Helden. Da sind auch ein paar Reporter, die mit mutiger Berichterstattung große Verdienste erworben haben.“
„So, aber nun wollen wir mal. Du bekommst sowas wie einen Schnellkurs in Selbstverteidigung“, mischte sich eine zweite Walküre ein, ein wenig stabiler als die erste und mit weizenblonden Zöpfen. Kleidung und Aufmachung waren fast gleich wie bei der Schwester.
„Es kann sein, dass die Götter am Ende dieser Sache Teile deines Gedächtnisses löschen, damit du alles wieder vergisst, was du seit deinem Sturz in den Teich erlebt hast, aber die Kampftechnik, die wir dir zeigen, die bleibt dir erhalten. Davon wirst du nichts mehr vergessen. Deshalb lernst du auch in kurzer Zeit, was andere in Jahren einüben müssen.“
Das Erstaunen in Lenas Gesicht reizte Odins Töchter zu einem Lachen. „Du brauchst nie wieder Angst haben, dass dich einer in einer dunklen Gasse angreift oder im Parkhaus auf einmal mit einem Messer hinter dir steht. Der kann gar nicht so schnell weglaufen, wie du ihn durchprügelst.“
Lena hob probeweise ihre Fäuste und boxte ein paar Mal in die Luft. „Ach du je, wir müssen wohl ganz von vorn anfangen!“, seufzte Odins Tochter beim Anblick der unbeholfenen Hiebe. Sie winkte einen Einherjer hinzu und zwei ihrer Schwestern. „So, wenn die Grundhaltung stimmt, fangen wir mal gleich damit an, wie man sich aus einem Würgegriff befreit, wie Loki den vorhin angewandt hat. Das ist gar nicht so schwer.“
Der Einherjer trat vor und packte Lena am Hals, ohne wirklich zuzudrücken. Die Walkyren rieten: „Senk dein Kinn herunter, so kannst du besser atmen. Und dann versuch mal, mit deinen Handflächen unter seine Ellbogen zu hauen. Gleichzeitig reißt du den Kopf nach hinten. Kein Mensch hat so große Hände, dass er die Finger auch in deinem Genick verschränken kann, da bleibt schwache Stelle. Wenn du nun unter die Ellbogen haust, ist der Griff in dem Moment lockerer und mit dem Ruck nach hinten kommst du frei.“
Tatsächlich, nach ein paar Versuchen glitt ihr Nacken ohne Probleme aus dem Griff des großen, kräftigen Kriegers und sie konnte mit der Walkyren zusammen überlegen, welche Hiebe oder Tritte sie als nächstes einsetzen könnte, um den Gegner fürs erste unschädlich zu machen.
Lena hatte schon begriffen, dass die Zeit hier anders ablief als auf der Erde. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon hier war und wie lange der Unterricht gedauert hatte. Jedenfalls merkte sie, wie der der Einherjer, der den Angreifer mimte, zunehmend Hiebe und Tritte einstecken musste. Wenn einer genug hatte, musste ein anderer seinen Platz einnehmen. So kam manch einer, der eben noch über die Niederlage seines Kameraden gelacht hatte, selbst in den Genuss, dass Lena ihm unter Anleitung der Walkyren eine ähnliche Behandlung angedeihen ließ und er schließlich humpelnd dem Nächsten Platz machte. Oder auch mehreren, denn die Töchter Odins ließen nicht locker, bis die Reporterin gelernt hatte, sich auch gegen drei oder vier Angreifer zu wehren.
Die Übrigen im Saal hatten ihre helle Freude daran, diesem Unterricht zuzusehen. Platten mit deftigem Essen und süßen Leckereien wurden aufgetragen und kannenweise floss der Met. Auch Lena stärkte sich zwischendurch, obwohl ihr Körper in dieser seltsamen Welt gar keine irdischen Bedürfnisse zeigte. Aber dieser Met, der wunderbar mundete, ohne dass sie davon ramdösig wurde wie sonst nach nur kleinen Mengen Alkohol, der war eine Köstlichkeit sonder gleichen.
Es war wieder laut geworden in der Halle, die Gäste an den langen Tischen redeten durcheinander oder sangen schlüpfrige Lieder. „Denk dir nichts dabei, das ist hier immer so“, rief ein Einherjer Lena zu. Eben noch hatte sie im in einem Übungskampf einen Tritt versetzt, der einem Lebenden das Knie zertrümmert hätte, jetzt schenkte er ihr großzügig Met nach und grinste. „Das ist hier ein rauer Haufen, aber langweilig ist es nie.“
In dem Trubel fiel erst gar nicht auf, dass zwei Männergestalten in den Saal gewankt kamen, die aus vielen Wunden bluteten. Der eine fiel auf halbem Wege zu Boden und konnte nicht wieder aufstehen, der andere schleppte sich bis zu Odins Thron vor. Als er sah, dass die Asen nicht anwesend waren, brach auch er zusammen, raffte sich aber wieder auf und kroch zu dem Gong, der hinter den Thronsitzen stand.
Das dumpfe Dröhnen fuhr allen in die Knochen. Sie erstarrten mitten in der Bewegung, brachen im Wort ab, was sie sagen wollten. Sofort war alles still, als hätte Odin selbst für Ruhe gesorgt. Mit brüchiger Stimme rief der Wächter in die Halle: „Loki ist entkommen!“