Sieben gegen die Hölle - Sarasvati Galadriel Clausnitzer (Teil 5)
Sieben gegen die Hölle
Sarasvati Galadriel Clausnitzer (Teil 5)
Himmler persönlich hatte am 30. März 1945 befohlen, die Burg zu sprengen, und so war es auch geschehen. Am 31.3. brannte die Burg völlig aus und nur die Außenmauern und der Nordturm blieben stehen. Zwar begann der Wiederaufbau der Burg schon 1948 und die Jugendherberge konnte 1950 eröffnen; dabei rührte man aber die Ruine des Nordturms nicht an. An diesen Teil wagte sich das Land erst fünfundzwanzig Jahre später.
Sara war sich ziemlich sicher, dass der Balmung nicht mehr hier war – auch wenn ihre Annahmen bisher stimmig wirkten und Leissner Siegfrieds Schwert tatsächlich hierher gebracht haben mochte. Trotzdem war es für ihre Reise wichtig, an diesen Ort zu kommen und nach Spuren zu suchen.
Zweifelnd betrachtete sie das Stück Wurzel, das sie sich mit Lokis Rat verschafft hatte. Die Bewährungsprobe der „Springwurz“ stand noch aus, aber angeblich könnte sie damit alles Verschlossene öffnen. „Die Kraft dazu kommt aus deinem Inneren, aber die Springwurz ist dein Hebel, um sie zu verstärken.“
Auch ihrem Mantel stand dann seine Feuerprobe bevor. Der Pelzkragen aus Waschbärenfell sollte ihr die Nachtsicht und das Klettervermögen dieses Tieres borgen. Die abgestreifte Chamäleonhaut aus dem Zoo hatte nur für ein paar kleine aufgenähte Applikationen gereicht, die hoffentlich trotzdem genügen würden.
***
Sara kam kurz nach Mittag an der Wewelsburg an und mietete sich in der Jugendherberge ein. Danach beschloss sie, die Führungen durch Museum und Gedenkstätte mitzumachen und dabei schon mal den Grundriss der Burg ein wenig besser kennen zu lernen. Und vielleicht gab es noch ein paar interessante Informationsbruchstücke, die sie hier aufschnappen und ins große Mosaikbild einbauen konnte.
Sie hatte ja schon gewusst, dass Felix Leissner am 4. November nach Deutschland aufgebrochen war, um den Mächtigen der SS seine Funde zu präsentieren: die Überreste Hildebrands und das Schwert, das einmal Siegfried gehört hatte. Auf der Tour durch die Museen erfuhr sie, dass der Reichsführer der SS Heinrich Himmler persönlich im Winter 1941/42 umfangreiche Umbauten am Nordturm der Wewelsburg angeordnet hatte. Fertig gestellt wurden aber schließlich nur der sogenannte „Obergruppenführersaal“ und die darunter gelegene „Gruft“, in der zwölf steinerne Podeste einen Kreis an der Turmwand bildeten mit einer tiefer liegenden Plattform in der Mitte, die angeblich einmal eine Ewige Flamme hätte tragen sollen. Den Boden des Obergruppenführersaals schmückte ein „Sonnenrad“ aus zwanzig Sieg-Runen, das in der rechten Szene als „Schwarze Sonne“ bekannt und beliebt war. Gerüchten zufolge hatte Himmler hier ein germanisches Pendant zu König Artus' Tafelrunde schaffen wollen, ein Schwarzes Camelot - erbaut von Sklavenarbeitern aus dem extra dafür eingerichteten Konzentrationslager.
Sara musste in die Gruft eindringen, daran führte kein Weg vorbei. In der Vergangenheit hatte es immer mal wieder Spinner gegeben, die dort eingebrochen waren und Rituale zelebriert oder vielleicht auch nach Geheimnissen oder Trophäen gesucht hatten. Zwar hatte der Museumsleiter den Zugang nicht einfach vermauert, aber die Zugangstür von außen war mit einer aufwändigen Alarmanlage gesichert.
Sara hatte keine Idee, wie sie den Alarm abschalten konnte, also würde sie einen anderen Weg finden müssen. Entweder hatte sie auf dem Weg hinein Sicherheitsschlösser zu knacken und eine Menge Kameras auszutricksen – oder sie musste an der Außenwand entlang klettern und in der Nähe des Nordturms ein verschlossenes Fenster zum Museum von außen öffnen. Ohne die Springwurz war das nicht zu schaffen.
Oder aber …
Oder aber sie drang durch eines der Gruftfenster in den Nordturm ein, durchsuchte die Gruft und ließ sich von innen durch die Tür hinaus, falls sie es nicht wieder hoch zu den Fenstern schaffen sollte. Dieser Plan gefiel Sara schließlich am besten. Morgen würde sie die Jugendherberge verlassen und in der Nacht so gegen ein Uhr zurückkommen.
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Kurz nach ein Uhr stand sie wieder am Fuß der Burgmauer. Ihre Hände fanden Halt an den kleinsten Unebenheiten der Mauersteine, aber Klauen des Waschbären hin oder her: nur mit den Händen konnte sie an der Wand nicht nach oben kommen. Sara musste den Aufstieg barfuß bewältigen, also zog sie ihre Schuhe aus und verstaute sie im Rucksack, den sie später an einer Leine zu sich hochziehen würde. Dann arbeitete sie sich langsam an der Turmwand nach oben, während der kalte Stein ihr die Wärme langsam aus dem Körper saugte.
Endlich hatte Sara das Fenster erreicht und konnte sich in die nicht besonders tiefe Nische ziehen. Mit den Füßen und der linken Hand keilte sie sich fest, während die rechte in der Manteltasche nach der Springwurz suchte.
Da war sie! Mit klammen Fingern zog Sara die Wurzel aus der Tasche und drückte sie gegen die Fenstereinfassung. In diesem Moment fühlte sie den kalten Kuss einer Schneeflocke im Nacken. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe und flüsterte: „Oh bitte … geh einfach auf ...“
Nach einem leisen Knacken schwang das Fenster nach innen. Sara atmete auf und zog den Rucksack zu sich hoch. Sie rubbelte ihre Füße warm und schlüpfte wieder in die Schuhe, dann rutschte sie langsam die Schräge des Fensterschachts hinunter und ließ sich das letzte Stück bis zum Boden fallen.
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Es war kühl im Inneren der Gruft, wenn auch nicht ganz so kalt wie draußen. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, aber dafür hatte sie ja die LED-Taschenlampe mitgenommen.
Wenn es hier irgendwo eine Geheimkammer gab, dann lag sie vermutlich nicht in der massiven Außenwand. Sara suchte also als Erstes die südliche Innenwand des Turms nach Unregelmäßigkeiten ab. Natürlich machte sie sich nichts vor: Hier hatten wahrscheinlich schon Dutzende Schatzjäger, wenn nicht gar Hunderte, nach Geheimnissen gesucht.
Aber sie hatte ja den magischen Dietrich, der ihr Türen öffnen sollte. Also fing sie damit an, mit der Springwurz an der Wand entlang zu streichen. Nach gefühlten acht Quadratmetern hörte sie ein Prasseln links von sich und richtete den Strahl der Lampe dorthin.
Ein paar kleine Brocken Mörtel lagen am Fuß der Wand. Überall sonst war der Steinboden sauber gefegt. Sara ging hinüber und betrachtete diesen Teil der Wand. Da war ein annähernd rautenförmiger Spalt zwischen den Steinen des Gemäuers, in den sie hineinleuchtete.
Im SS-Museum hatte sie einen Totenkopfring gesehen. So ein Ring hätte in den Spalt gepasst. Kurz entschlossen schob sie die Springwurz hinein.
In der Wand knirschte und rumpelte es dort, wo sie eben noch gestanden hatte. Sara trat einen Schritt zurück und richtete den Lichtkegel auf den Boden.
Die Stufen hinab zu inneren Plattform sanken in die Tiefe und formten sich dabei zu einer neuen Treppe in Richtung der Südwand. Segmente des oberen Umgangs taten es ihnen gleich und gaben dabei einen Torbogen frei, der durch die Wand und unter den Burghof führte.
Sara leuchtete die neue Treppe hinunter. Sie schien in einer niedrigen Kammer zu enden. Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter und erkundete diesen Geheimraum.
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Je zwei Nischen teilten die rechte und die linke Wand der Kammer. Die Stirnseite war glatt geblieben. Drei der Nischen waren leer. In der vierten lag etwas, das Sara auf den ersten Blick für eine unförmige Bowlingkugel hielt.
Bei näherer Betrachtung erinnerte das Objekt dann eher an ein krudes Reliquiar – oder an einen Helm, wie ihn Sara im Film „Der Mann mit der eisernen Maske“ gesehen hatte. Die Halsöffnung dieses Helms mit der Eisenmaske war allerdings durch eine Metallscheibe versiegelt worden. Das Metall war dunkelgrau und schwer – Blei, vermutete sie.
In der Hülle steckte ein Kopf aus Stein. Ein ziemlich stilisierter Kopf in Form eines abgerundeten Zylinders mit zwei vertikalen Schlitzen wie Schießscharten anstelle der Augen und einer breiten horizontalen Kerbe als Mund.
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„Oho!“ sagte Lokis Stimme. „Wir haben einen neuen Verbündeten. Na ja, fast.“
In den Schießscharten flackerte es, ein schwaches blaues Licht.
„Was ist das?“ fragte Sara.
„Das ist ein Zwerg. Jedenfalls der Kopf eines Zwerges. Wenn er dir Gefolgschaft schwört, könnte er uns von Nutzen sein. Natürlich noch nicht so nützlich wie mit einem Körper, aber den kann er sich ja nachwachsen lassen, sobald wir ihn mit ein paar Steinen zusammenbringen.“
Sara schaute den Steinklotz zweifelnd an. Andererseits … „Kannst du mich hören? Wie lautet dein Name?“
Das blaue Licht in den … Augenschlitzen … wurde heller und beständiger. Ein Knirschen drang aus dem steinernen Mund, oder eher zwei knirschende Laute von Stein, der auf Stein reibt. Krrr und Ffrr. „Skirfir“, erläuterte Loki.
„Skirfir?“ wiederholte Sara, und die Augen des Steinkopfes blinkten. „Wenn ich dir jetzt helfe, wirst du dann auch mir helfen?“
Der Stein grollte und knirschte etwas Unverständliches und die Augen strahlten jetzt wie zwei Lampen. Wieder übersetzte Loki: „Er bietet dir einen Pakt an. Skirfir wird dir dienen für ein Jahr und einen Tag, wenn du ihn aus diesem Gefängnis befreist und ihm wieder zu einem Körper verhilfst.“
„Ein Körper. Aus Stein? Vergiss es, blöde Frage. Soll ich ihm eine kopflose Statue besorgen, oder soll ich ihn einfach auf einen Felsen legen und den Rest schafft er dann schon allein?“
„Skirfir ist noch ziemlich geschwächt. Je weniger er sich anstrengen muss, aus dem Stein einen Körper zu formen, mit dem er uns helfen kann, desto schneller wird er uns zu Diensten sein können.“
***
Der Zwergenkopf in seiner Hülle passte gerade so eben in Saras Rucksack. Sie stieg die Treppe hinauf in die Gruft und zog die Springwurz aus dem Spalt in der Wand, und sofort begannen sich die verschiedenen Treppensegmente wieder in ihre alte Lage zurück zu bewegen.
Jetzt war es also Zeit für einen schnellen Abgang. Sara atmete ein und aus. „Ich falle nicht auf. Ich passe mich der Umgebung an. Keiner kann mich sehen ...“
Langsam nahmen ihre Haut und sogar das Leder des Mantels und ihrer Schuhe den gleichen gelbbraunen Farbton an wie die Wand hinter ihr und der Boden, auf dem sie stand. Die schwere schmiedeeiserne Gittertür ergab sich der Springwurz ohne Widerstand, und auch die Außentür war kein Problem. Bestimmt wurde jetzt auf einem Polizeirevier in Paderborn Alarm ausgelöst, aber bis die Beamten hier sein konnten, wollte Sara bereits weit weg sein. Und die Bilder der Überwachungskameras würden der Polizei nicht weiterhelfen.
***
Annähernd eine Stunde später und achtzig Kilometer entfernt sah sie im Vorbeifahren auf einem gepflegten Parkgrundstück eine Statue. Sara hielt den Wagen an und stieg aus. Nach kurzer Suche fand sie einen Werkzeugschuppen und ließ sich mit der Springwurz hinein. Die Auswahl an Beilen und Hämmern war begrenzt, aber nach ein paar Schlägen mit dem kleinen Beil schaffte sie es, Skirfirs Kopf aus seinem Gefängnis zu befreien.
Blieb noch der Körper. Sara packte das Beil und Skirfirs Kopf und marschierte hinüber zu der Statue. Ein Hieb gegen die rechte Halsseite schlug eine Kerbe, ein Hieb gegen die linke eine zweite, und als sie dann mit aller Kraft das Beil von hinten in den Nacken trieb, fiel Buddhas Kopf in seinen Schoß. Sara atmete tief durch und setzte Skirfirs Schädel auf den vakanten Platz.
Es sah so aus, als würde der Stein am Halsstumpf der Statue schäumen und Blasen werfen. Skirfirs Kopf sank langsam zwischen die Schultern und wackelte dabei hin und her. Das blaue Licht in seinen Augen steigerte sich zu einem Gleißen, das den Garten taghell erleuchtete, und Sara musste die Augen abwenden. Mit einem Knirschen lösten sich die Hände voneinander und suchten Kontakt zum Boden. Die Beine entschränkten sich als Nächstes, und dann erhob sich die zum Leben erweckte Steinfigur.
Stehend reichte Skirfir Sara bis zu den Schultern. Das grelle Licht aus seinen Augen war zu einem hellblauen Leuchten geworden, etwa so hell wie der Bildschirm eines Smartphones. Schweigend trottete er hinter ihr her zurück zum Auto, dessen Karosserie sich merklich senkte, als er hinten einstieg.
Sie waren schon ein paar Kilometer weit gefahren, ehe Skirfir das Schweigen brach.
„Meisterin? Was für ein Körper ist das, auf den Ihr meinen Kopf gesetzt habt?“
„Das ist die Statue eines weisen Mannes aus Indien. Millionen Menschen folgen seinen Lehren.“ Sara atmete tief durch. „Und die Alternative dazu war ein dicker kleiner Junge mit Flügeln.“
Sie zuckte zusammen, als von der Rückbank ihres Wagens ein Geräusch wie von einer Kieslawine erklang. „Skirfir hat lange nicht mehr gelacht. Ich danke Euch für Eure Wahl, Meisterin.“