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Bd. 11 - Herren der Zeit

CoverDas Center

Es ist Zeit!“, drang ihm die dumpfe Stimme aus dem Telefon entgegen. „Lass deine Bank für einige Zeit Bank sein und komm runter. Es ist wichtig.“

Er nickte, bevor ihm einfiel, dass dies der Anrufer gar nicht sehen konnte.

„Klar ...“

Seine eigene Stimme klang gedämpft und in seinen Ohren eine Spur zu hoch. Etwa so, als habe man ihn erschreckt und danach gleich zum Sprechen aufgefordert. Ein Räuspern verschaffte dem etwas Abhilfe.

„Du weißt wohin!“

Es schwang Bestimmtheit darin, und die Worte waren auch nicht als Frage gemeint.

„Ja, natürlich!“, beeilte er sich zu sagen. „Der Bote kam heute Morgen mit den Dokumenten. - Werden die anderen ...“

„Nein!“, drang es in befehlsgewohntem Ton aus dem Hörer. Nicht mehr!

„Okay.“ Er nahm einen tiefen Atemzug, bevor er weitersprach: „Ich werde am späteren Nachmittag eintreffen.“

„Gut. Bis später.“

„Bis später.“

Er wollte schon auflegen, als er die Stimme noch einmal vernahm, wie sie seinen Namen schrie.

„Dieter! – Hey, Dieter!“

„Ja?“

„Aufpassen!“

„Werd ich.“ Und als nachträglichen Gedanken fügte er noch hinzu: „Wie immer.“ Aber darauf ging der Anrufer schon nicht mehr ein.

„Ciao.“

„Tschüss.“

Das hörte der andere bereits nicht mehr. Das Klicken am Ohr zeigte, dass dieser bereits aufgelegt hatte.


 

Somit legte auch er das Telefon zurück auf die Ladestation, lehnte sich etwas schwerfällig in den Ledersessel zurück, der hinter einem großen hölzernen, fein polierten Arbeitstisch stand, und ging das Telefonat noch einmal in Gedanken durch. Den Griff zur Wasserflasche tat er automatisch und ohne darüber nachzudenken. Er benutzte dazu die linke Hand, da ihm die rechte immer noch Schmerzen bereitete. Noch war sie nicht ganz verheilt. Sie befand sich zwar auf guten Wegen, aber es würde noch etwas dauern, bis der Schaden des Unfalls behoben war.

Bis vor fünf Minuten war die Möglichkeit dieser Nachricht bloß als ein Gespinst in seinem Kopf herumgeschwirrt. Gewiss, sie hatten im Orden darüber gesprochen. Das war bei ihrem letzten Treffen im Kyffhäuser gewesen, als es darum ging, ob die Zeitmaschine erforscht werden sollte oder nicht. Dort hatte er sie sogar zu Gesicht bekommen. Nicht allzu lange und dann noch untermalt von uninteressanten Erläuterungen eines Wissenschaftlers. Jedoch die Möglichkeiten, die ihn ihr steckten, ließen selbst einen gestandenen Mann wie ihn verharren – um nicht zu sagen erstarren – und ganz tief Luft holen.

Die Meister des Ordens wussten aus den noch immer nicht vollständig entschlüsselten Aufzeichnungen Leonardo da Vincis, wozu sie fähig sein sollte, aber wer von ihnen hatte denn die Möglichkeit schon für real gehalten? Er war zwar einer von denen gewesen, die von Anfang an für die Erforschung gestimmt hatten, aber richtig daran geglaubt hatte er auf jeden Fall nicht. Und den anderen war es sicher ähnlich ergangen. Vielleicht war auch das ein Grund dafür gewesen, dass sich die Ordensmitglieder in der Mehrzahl zunächst gegen eine Erforschung ausgesprochen hatten.

Nur mit Schaudern dachte er an diese letzte Versammlung zurück, denn sie hatte in einem Massaker geendet. Der Wissenschaftler, der ihnen die Maschine erklärt hatte, und viele Wachmänner der Treasure Security – tot! Zerrissen von einer Horde Wiedergänger und einem gefährlichen Schwarzmagier! Der einzige Trost war, dass mit Henry Fullbright auch der Ordensmeister zu den Opfern zählte, der in Wirklichkeit ein Dämon gewesen war und den Orden verraten hatte.<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]-->

Als sie den Angriff überstanden hatten, hatte Hinnerk Lührs eine erneute Abstimmung beantragt. Unter dem Eindruck des erlebten Grauens stimmten fast alle für eine Erforschung der Zeitmaschine. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sie ihnen helfen konnte oder überhaupt funktionierte – möglich war es ja vielleicht doch!

Wie eine Spinnwebe war sie gewesen, diese Möglichkeit, die zwar im Raum an der Decke hing, aber doch keinen großen Einfluss auf sein Leben ausgeübt hatte. Aber jetzt hatte sich das grundlegend geändert. Auf eine sehr drastische Weise war aus der Spinnwebe ein Monster geworden, mit dem es sich zu beschäftigen galt. Und was zuvor immer von ihm verdrängt wurde, starrte ihm auf einmal mitten ins Gesicht und wollte beachtet werden.

Das leere Wasserglas wanderte auf den Tisch zurück. Und wenn er sich schon vorbeugte, konnte er auch gleich den Computer runterfahren. Was er auch geistesabwesend tat. Der Bildschirm wurde schwarz. Anschließend verstummte selbst das Geräusch des Ventilators im Innern der Kiste.

Er wusste, dass der Orden im Kyffhäuser Dinge aufbewahrte, für die der Mensch noch nicht reif genug war. Er wusste dies vor allem, weil er sie mit eigenen Augen gesehen hatte.

Für den einen oder anderen wäre einiges leichter geworden, wenn sie diese einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten. Das war klar. Berücksichtigte man jedoch die Gefahren, die von gewissen „Leuten“ ausging, war es zu gefährlich, diese Erleichterungen den Menschen zu offenbaren. Der Mensch würde selbst aus der harmlosesten Sache noch einen Weg finden, um seinem Mitmenschen schaden zuzufügen. Man wollte einfach nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Es war ja so schon schlimm genug ...

Er musste an den Traum denken, den er vor vielen Jahren gehabt hatte: Wie er als junger Mann einen Laden betrat, hinter dessen Theke ein Engel stand. Als er dies sah, fragte er hastig, was er verkaufen würde. Der Engel antwortete freundlich: „Alles, was Sie wollen.“ Dann waren all die Wünsche aus ihm herausgebrochen, die ihn schon so lange beschäftigt hatten: „Dann hätte ich gerne das Ende aller Kriege in der Welt. Bessere Bedingungen für die Randgruppen der Gesellschaft, Beseitigung der Elendsviertel, Arbeit für alle Arbeitsuchenden, Ausbildungsplätze für Jugendliche und ...“

Der Engel fiel ihm ins Wort: „Entschuldigung, junger Mann. Sie haben mich falsch verstanden. Wir verkaufen hier keine Früchte. Wir verkaufen nur den Samen.“

Dann war er erwacht. Der Traum aber war geblieben.

Es war besser, wenn die Menschen den Samen selber zum Blühen brachten, als dass ihnen Hilfsmittel eine Abkürzung ermöglichten. Zu gegebener Zeit würde der Orden alles an die Öffentlichkeit bringen, aber noch war die Zeit nicht reif dafür!

Was Hinnerk, Mark Larsen und dessen Mitstreiter unter all den Sachen gefunden hatten – oder wiedergefunden, um genau zu sein! - ließ ihn beinahe in Angstschweiß ausbrechen, wenn er daran dachte, was die Existenz dieses Geräts in der heutigen, politisch brisanten Zeit anrichten konnte. Der Atem stockte ihm! Aber die Möglichkeiten, die sich einem da eröffnen würden? Es wäre gigantisch! Fantastisch!

Zu fantastisch!

Und bis zu dem Anruf war er der Meinung gewesen, dass die Beschreibung eher in eine Science-Fiction-Story passte als ins wirkliche Leben.

Der ausgeschaltete Bildschirm reflektierte ein Wetterleuchten, das ihn aus den Gedanken riss. Er warf einen Blick über die Schulter, stemmte sich anschließend aus dem Sessel und begab sich zur Fensterfront, die neben seinem Arbeitstisch begann, mit Glas, das bis zum Boden reichte.

Die Aussicht auf die Altstadt von Bern vermochte ihn heute nicht zu beruhigen. Das Münster, schon immer eines seiner Lieblingsgebäude der Stadt, ragte aus der Masse der alten Häuser heraus wie ein Zeigefinger, der ihm heute zu drohen schien. Daran vermochte auch der Umstand nichts zu ändern, dass der untere Teil von einem Baugerüst umgeben war und Plastik im Wind flatterte. Er konnte Männer auf den Gerüsten sehen, die sich gegen das grünliche Mauerwerk des Sandgesteins gut abhoben und sich den Weg nach unten erkämpften. Der Himmel überzog sich mit grauen Wolken, die rasend schnell vorbeizogen. Ein Gewitter braute sich zusammen.

Er betrachtete sein Spiegelbild, das er dank des schlechten Wetters erkennen konnte. Er wirkte etwas verzerrt, weil der Wind das Fensterglas zum Schwingen brachte.

Er war alt geworden. Die Tränensäcke unter den Augen sprachen für sich. Für seine fast fünfzig Jahre gab er trotzdem noch ein gutes Bild ab. Er bildete sich ein, dass es immer noch Frauen gab, die ihm nachschauten. Wahrscheinlich stimmte es doch, dass Männer nicht älter wurden, sondern interessanter. Ein Grinsen bildete sich auf seinem Spiegelbild. Der getrimmte Schnauzer und das Kinnbärtchen verzogen sich mit.

Oder lag es einfach an seinen blonden, mehr ins Weiße übergehenden Haaren, die er nach hinten gekämmt hatte, und seinen blauen Augen?

Jedenfalls machte er immer noch eine gute Figur, wie er da so in dem dunkelblauen Anzug stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er war gelegentlich in sich selbst verliebt, aber nur, weil es im Augenblick niemand sonst war. Aber wie hieß es doch so schön: Lieber einmal lieben und diese Liebe zu verlieren, als niemals Liebe gehabt zu haben.

Nach kurzem Verharren wandte er sich wieder dem Telefon zu, drückte eine Verbindung, ohne den Hörer abzunehmen, und sprach ins verborgene Mikrofon:

„Frau Schneider.“

„Ja?“, kam es sogleich erwartungsvoll zurück. Aus dem Hintergrund drangen vertraute Arbeitsgeräusche, die seine Unruhe heute jedoch noch mehr verstärkten.

„Unterrichten Sie bitte Belp, dass sie den Jet bereit machen sollen. Ich gedenke, in einer Stunde wegzufliegen.“

„Alles klar, Herr Feldmann. Betrachten Sie es als erledigt. Was ist mit den Terminen?“

„Sagen Sie Zacharias Draht, dass er sich um alles kümmern soll. Bis auf Weiteres bin ich außer Landes. Familienangelegenheiten“, fügte er noch eine Erklärung hinzu.

„Hoffentlich nichts Schlimmes, Herr Feldmann?“

Es klang echte Besorgnis aus der Stimme, die er sogar über den Lautsprecher erkennen konnte. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, das jedoch keinen Humor enthielt.

„Sie klingen auch etwas niedergeschlagen ...“, fügte die Sekretärin hinzu.

„Alles in Ordnung, Frau Schneider. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.“

„Alles Gute und einen guten Flug, Herr Feldmann.“

„Vielen Dank, Frau Schneider. Ihnen auch eine gute Zeit. Und wenn sich Zack wieder mal als Chef aufspielen will, können Sie mich übers Natel<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> erreichen. Die Nummer haben Sie ja.“

„Hab ich.“

„Bis dann also.“

Dieter Feldmann unterbrach die Interkomverbindung, bevor die Sekretärin noch etwas sagen konnte. Die darauf folgende Stille schnürte ihm beinahe die Kehle zu.

Ja, jetzt da der Anruf gekommen – wirklich geschehen war – hatte er Angst. Zwar keine große Angst, eher so ein dumpfes Gefühl, das ihn bislang immer vor drohenden Gefahren gewarnt hatte. Ungefähr so musste sich Spider-Man fühlen, ging ihm durch den Kopf. Der Gedanke brachte keine humorvollen Gefühle mit sich. Es war eher ein Scheißgefühl. Er wusste zwar, was es ausgelöst hatte, aber noch wusste er nicht, warum.

Mit bleiernen Füssen verließ er das Büro mittels des Lifts, der ihn auf direktem Weg zur Garage beförderte. Er wollte keine Zeit verlieren.

Sobald er diesen Gedanken zu Ende dachte, kam ein Geräusch über seine Lippen, das eigentlich ein Lachen hätte sein sollen.

Keine Zeit verlieren! Wie ironisch!

 

 

***

 

 

Als er sich mit einem angedeuteten Kopfnicken vom Piloten verabschiedet hatte und die schmale Tür des Helikopters aufstieß, schlug ihm unvermittelt tosender Lärm entgegen. Noch mehr, als ihm schon nach dem Ablegen des Kopfhörers entgegengeschwappt war. Und da hatte er schon gemeint, es würde ihm jemand beide Fäuste gegen die Ohren schlagen.

Es war ein ereignisloser Flug gewesen, der ihn von Belp nach Rom gebracht hatte. Er hatte versucht zu lesen, aber nichts konnte seine Aufmerksamkeit halten. So ließ er es schließlich bleiben, als er dieselbe Seite immer und immer wieder las, ohne dass der Inhalt Sinn ergab.

Für die weitere Reise hatte ihm Fabio Cassani, der Großmeister des Ordens, einen Heli zur Verfügung gestellt, der ihn dann nach Palermo brachte. Noch während er sich aus dem Hubschrauber zwängte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie ihm jemand entgegenkam.

Das „Wupp, Wupp“ der Rotorblätter ließ ihn unvermittelt den Kopf einziehen, obwohl das unnötig gewesen wäre. Er wusste das, konnte jedoch nichts gegen den Instinkt ausrichten. Dann wurde er unvermittelt am Arm gepackt – zum Glück auf der linken Seite! – und vom Heli weggezogen. Als hätte er den Weg nicht selber gefunden!

Er ließ den Mann gewähren.

Nichts an dessen Äußerem schien „Leibwächter“ zu schreien, denn um einen solchen musste es sich handeln. Er sah eher unscheinbar für seine Art von Tätigkeit aus. Er trug das kurze Haar sauber gekämmt und seitwärts gescheitelt, wie man das häufig bei Models in Katalogen fand.

Seine Art, sich zu kleiden, sprach davon, dass er seine Anzüge von der Stange bekam, obwohl sie danach aussahen, als wäre es eine teurere Stange, als sich dies ein Normalbürger leisten konnte.

Zudem war er weder groß noch klein, und obwohl der Leibwächter breitschultrig war, machte er keinen übermächtigen Eindruck. Bis auf den Daumen, den er auf seinem Arm sah. Der war fast schon cartoonmäßig breit und ausgesprochen flach. Als hätte Fred Feuerstein darauf eingeschlagen.

Der Mann hätte genauso gut ein Zahnarzt sein können oder der Nachbar von nebenan. Was er nicht besaß, war ein Organ, das den Rotorenlärm übertönte. Er versuchte, ihm etwas ins Gesicht zu schreien, was er wegen des Lärms aber unmöglich verstehen konnte. Der Mundbewegung nach könnte es sein Name gewesen sein, oder einfach ein Willkommensgruß. Er nickte einfach, und der Mann schien vorerst beruhigt zu sein.

Dann nahm der Lärm erneut zu. Ein Schwall heißer Luft fegte zuerst an den zwei Männern auf dem Startfeld vorüber, und der anschließende Luftdruck des abhebenden Helis ließ sie nach vorne taumeln. Genau in Richtung einer dunklen Limousine, die etwa fünfzig Meter die Straße hoch am Rand des Landefeldes stand. Der aufgewirbelte Staub ließ beide Männer husten, und durch den Schleier sah er einen livrierten Chauffeur dort stehen, der auf sie zu warten schien, eine Hand bereits an der Tür des Wagens.

„Alfredo“, dachte er erfreut. „Der gute alte Alfredo.“ Ein Lächeln musste sein Gesicht überzogen haben, denn auf einmal begann auf dem Gesicht des Chauffeurs ebenfalls die Sonne aufzugehen. Er war überrascht, ihn hier zu sehen, aber er war immer für eine angenehme Überraschung zu haben.

„Sind Sie Dieter Feldmann?“, schrie ihm der Mann an seiner Seite auf Englisch in die Ohren, während sie die Distanz zum Wagen zurücklegten.

„Ja“, schrie er zurück. „In voller Größe!“

Obwohl der Heli nunmehr ein etwas größerer Fleck am strahlend blauen Palermohimmel war, hatte er das Gefühl, dass er erst in einer Woche wieder richtig würde hören können. Bis dann würde er immer dieses Geräusch der drehenden Rotorblätter in den Ohren haben. Es brachte auch nichts, wenn er sich den Finger ins Ohr steckte und darin herumstocherte. Es war kein Überdruck, der ihm zu schaffen machte. Es war schlicht und einfach Überbeanspruchung des Gehörs.

„Kommen Sie, Mister Feldmann. Wir bringen Sie zum Center.“

Er nickte verstehend, blieb jedoch stehen, mit einem schiefen Blick auf die Hand des anderen, die ihn immer noch festhielt. Der Leibwächter folgte seinem Blick und ließ ihn dann augenblicklich los, als ihm bewusst wurde, was er getan hatte. Ein bitteres Lächeln tauchte auf dessen Gesicht auf.

„Entschuldigung. Ich vergaß ...“

Das malträtierte Gehör von Dieter Feldmann konnte die Worte nicht verarbeiten, sodass er sie sich aus der Körpersprache und der Mundbewegung zusammenreimen musste.

Er schüttelte den Kopf, winkte gleichzeitig mit der Hand ab, als handle es sich um eine Bagatelle, und ließ den Leibwächter dann hinter sich stehen, als er die letzten paar Meter zum Chauffeur zurücklegte.

„Alfredo“, begrüßte er den Mann, dessen dunkles Haar kaum unter der Mütze Platz fand. Er trug sie zwar mit einem gewissen Stolz, aber Dieter Feldmann wusste von früher, dass er ohne sie wie Momo aus Michael Endes Roman aussehen würde. Ein dunkler Schnauzer zierte ein wulstiges Lippenpaar, das seinerseits blendend weiße Zähne umrahmte, die jetzt unverschämt grinsten.

„Mister Feldmann ...“

„Mein Gott, Alfredo. Wie oft muss ich es dir noch sagen: Dieter reicht völlig!“

„Dieter“, ging der Chauffeur darauf ein, obwohl er den Eindruck vermittelte, dass dies für ihn keine übliche Anrede war. Sie waren gemeinsam durch dick und dünn gegangen, und obwohl Dieter Feldmann in vielen wichtigen Missionen sein Vorgesetzter gewesen war, tat sich Alfredo sichtlich schwer damit, eine Vertrautheit zu ihm aufzubauen. Mit der Zeit gab sich das dann hoffentlich wieder.

Der Leibwächter nahm dies auf, der genau zwei Meter versetzt hinter den zwei Männern stand. Aus seinem Jackett zog er betont gelassen ein Taschentuch und tat so, als würde er einen Flecken an der dunklen Sonnenbrille wegrubbeln, die zuvor noch seine Augen vor der grellen Sonne geschützt hatte. Dabei war sie erst heute Morgen einem mehrminütigen Prozedere unterzogen worden, das erneute Aufmerksamkeit hinfällig machte. Aber wer außer ihm wusste das schon.

Das grelle Licht machte seinen Augen zu schaffen. Er musste sie etwas zusammenkneifen, aber sonst tat es seiner Aufgabe des Beobachtens keinen Abbruch. Er hätte erwartet, dass sich die Zwei – die sich ja offensichtlich zu kennen schienen – um den Hals fallen würden, wie dies alte Bekannte gelegentlich zu tun pflegen. Oder dann doch wenigstens die Hände schütteln würden, als gälte es, innerhalb kurzer Zeit einen Brunnen trockenzulegen.

Stattdessen blieben sie voreinander stehen und verneigten sich, wie dies die Inder taten: die Hände vor dem Gesicht zusammengelegt, dabei das mystische dritte Auge auf der Stirn berührend.

„Was machst du denn in Italien, Alfredo? Ich dachte, dass du in Amerika für Recht und Ordnung sorgst?“

„Fast das ganze Team wurde aufgelöst und an andere Stützpunkte versetzt. – Du weißt schon, Dieter, wegen der Prioritäten, die mit dem neuen Hüter anfielen.“

„Ja, ich weiß. Gute Sache. Endlich nimmt mal jemand das Zepter in die Hand und gebraucht es zum Kampf, anstatt nur immer die andere Wange hinzuhalten.“

Alfredo nickte zustimmend.

„Es gab auch andere Stimmen, Sir.“

Der Leibwächter war näher getreten. Dieter Feldmann wandte sich ihm zu.

„Die gab es allerdings. Das gibt es bei jedem Wechsel, dass sich Kontroversen bilden. – Sie sind Kane?“

„Jawohl, Sir. Harry Kane. Zu Diensten.“

Dieter Feldmann erwiderte den Gruß salopp, indem er sich knapp verbeugte.

„Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Hurricane.“

Kane bedankte sich mit einem Lächeln.

„Wie geht es Nashi? Den Kindern?“, wandte sich Dieter Feldmann wieder Alfredo zu.

„Gut, gut, Dieter. Sie könnten etwas besser auf den alten Mann zuhause hören.“

„Was, Nashi auch?“

„Die Kinder, Dieter. Die Kinder. Nashi schaut gut zu mir.“ Dabei klopfte sich Alfredo auf den Bauch, wo sich der Stoff doch etwas eng anfühlen musste, der sich darüber spannte. „Sie sind alle gesund und wohlauf.“

„Dann lass sie bitte von mir grüßen.“

„Das will ich gerne tun. Sehr gerne tun.“

Dann verbeugten sie sich noch einmal gegenseitig. Alfredo wandte sich anschließend zur Seite und öffnete im hinteren Wagenbereich die Tür, vor der er die ganze Zeit gewartet hatte, und winkte Dieter Feldmann zu, sich hineinzusetzen.

„Keine Ausnahmen?“, wollte der wissen, wobei sich ein säuerlicher Ausdruck auf sein Gesicht schlich.

„Nie!“

„Dabei wäre ich bei diesem Wetter doch gerne mal im vorderen Bereich gefahren.“

Er schnaufte etwas resigniert, kam aber trotzdem der Aufforderung nach und stieg ein. Alfredo schlug die Tür hinter ihm zu. Durch die abgedunkelten Fenster ließ sich nun nichts mehr erkennen. Der Wagen hätte leer, aber auch mit Leuten vollgestopft sein können.

„He, Alfredo“, flüsterte der Leibwächter. Er hatte sich bereits in Richtung Beifahrertür begeben und sprach den Fahrer nun über das Dach des Wagens hinweg an, bevor dieser seine Tür öffnen konnte.

„Etwas unhöflich von dir, nicht nach seiner“, dabei zuckte sein Kopf in Richtung des Autodaches, unter dem Dieter Feldmann sitzen musste, „Familie zu fragen, wo er dies doch bei deiner getan hat. Findest du nicht?“

Alfredo verneinte kopfschüttelnd.

„Er hat keine. Oder keine mehr“, verbesserte er sich ebenso leise. „Darum war es nur Anstand, ihn nicht daran zu erinnern.“

Beide blickten sich über das Dach des Wagens sekundenlang in die Augen. Von irgendwo her schrie ein Mäusebussard, und der Augenblick zersprang.

„Ich hätte ihn trotzdem darauf angesprochen.“

Mit diesen Worten öffnete er die Beifahrertür, stieg ein und schlug sie hart zu. Alfredos Erwiderung bekam er schon nicht mehr zu hören.

„Ich bin nicht du, Kane. War’s niemals, und werde es auch niemals sein ...“

Dann schlug er ganz sachte die Faust zwei, drei Mal auf das Autodach, stieg ebenfalls ein, startete den Wagen und fuhr vom Flugfeld auf die SP 1, die um diese Zeit wenig bis überhaupt keinen Verkehr aufwies.

Innerhalb weniger Sekunden wich die abgestandene und stickige Luft einer angenehm frischen. Sie würden bis zum Center mindestens fünfundvierzig Minuten benötigen. Zum Glück war Kane während dieser Zeit vollständig mit ihrem Passgier beschäftigt, dachte sich Alfredo, sonst wäre es eine lange Fahrt geworden. Und so still und eisig kühl, dass er dann auch getrost die Klimaanlage hätte ausschalten können.

 

 

***

 

 

Der Wagen brauchte für die Strecke zur Station fast 55 Minuten. Die Stadt selber war kein Problem gewesen, da sich der private Flugplatz etwas außerhalb Palermos befand. Dementsprechend konnten sie den Feierabendverkehr vermeiden.

Die SP 1 führte an Borgo Nuovo vorbei, die dann durch Bellolampo ging, um noch weiter nach Westen vorzustoßen. Alfredo bog auf der Höhe Borgos nach Gaudes ab in Richtung Nord/Nordwest, einem kleineren Ort, zu dem die Großstadt im letzten Jahrhundert aufgeschlossen hatte. Hier wurde ihre Fahrt etwas verzögert. Im Dorf selber war von einem Wagen, der sich auf dem Rückweg vom Markt befand, Ware runtergefallen, die der Bauer nicht unter die Leute hatte bringen können. Mit lautem Gezeter und Mordio versuchte er, seine Sachen wieder zusammenzubringen und auf dem Karren zu verstauen. Obwohl ihm dabei von den Passanten rege geholfen wurde, klang es für denjenigen, der des Italienischen nicht mächtig war, als würde er sie bis in die fünfte Generation hinein verfluchen.

Ansonsten verlief die Strecke ohne Zwischenfälle.

Dieter Feldmann wurde auf dem gesamten Weg auf seine Echtheit als Mensch geprüft. Das Center ging keine Risiken ein. Mit niemandem! Ob er nun ein Meister des Ordens war oder nicht.

An einem großen Tor wurden sie angehalten, bevor dieses aufschwang und man ihnen den Weg frei gab. Aber nicht, bevor jeder von ihnen einer genauen Retina-Untersuchung unterzogen wurde. Dazu trugen die bis an die Zähne bewaffneten Wachmänner tragbare Apparate mit sich, die in ihren riesigen Händen wie Kinderspielsachen wirkten.

Es war zwar gelegentlich etwas mühsam mit all diesen Sicherheitsvorkehrungen, aber der Orden musste geschützt werden! Koste es, was es wolle. Wenn dabei bei jedem Einzelnen Komfort und etwas Zeit auf der Strecke blieb, war es immer noch besser, als wenn sich plötzlich die Schwarze Familie in diesem wichtigen Stützpunkt einnisten konnte. Jetzt erst recht, dachte sich Dieter Feldmann, als sie das Tor hinter sich ließen.

Früher waren solche Kontrollen immer über Blutproben gelaufen. Aber schlussendlich war man davon abgekommen, weil es Leute gegeben hat, die sich lieber einem Vampir ausgeliefert hätten, als sich noch ein einziges Mal pieksen zu lassen.

Sobald der Wagen stillstand, wurde die Tür geöffnet, und Dieter Feldmann wurde von Harry Kane gebeten auszusteigen.

Kaum stand er außerhalb des Wagens, ging oben am Eingang die Tür auf, und eine Kette von Leuten in schwarzen Lederoveralls kam die Treppe runter und stellte sich beidseitig davon auf.

Es ließen sich kaum nennenswerte Unterschiede in den Personen entdecken, da jedes Individuum ein schwarzes Tuch über die Haare gestülpt hatte, das aus einem ähnlichen Material zu bestehen schien wie die Montur selber. Und zusätzlich verdeckten gespiegelte Sonnenbrillen noch die Augen. Bis auf den geschlechtlichen Unterschied hätten es Klone voneinander sein können. Über der linken Brust befand sich das Bild des vitruvischen Mannes, das wohl bekannteste Bild Leonardo da Vincis: Die Proportionsstudie eines Mannes.

Als er sich etwas genauer umsah, erblickte er überall Statuen in Überlebensgröße. Sie waren ungefähr drei Mal so groß wie ein durchschnittlicher Mensch und in unterschiedlichen Posen gehalten. Den Flügeln nach mussten es wohl Engel sein, die den Weg vom Tor her säumten, wie er von seinem Standort aus erkennen konnte. Auch neben dem Eingang sah Dieter Feldmann je eine Figur stehen. Diese machten jedoch keinen freundlichen Eindruck auf ihn. Als hätten sie die Menschheit dabei ertappt, wie diese die Hände in die Keksdose steckte. - Löwen hätten sich am Eingang wahrscheinlich besser gemacht ...

In dem Augenblick wurde oben erneut die Tür geöffnet, und der Chef der hiesigen Treasure Security kam die Treppe herunter. Bei dessen Erscheinen wurde von seinen Leuten eine Achtungstellung eingenommen und alle Waffen hochgerissen. Dieter Feldmann vernahm nur das leise Knirschen des Leders und das metallische Geräusch der Gewehre. Und natürlich die sich nähernden Schritte.

Als er den Mann erkannte, der da auf ihn zukam, wurde ihm klar, weshalb Fabio Cassani ihn als hiesigen Leiter eingesetzt hatte. Vor langer Zeit hatte dieser das Leben des Großmeisters gerettet. Er war dabei gewesen. Er war dessen Vorgesetzter gewesen, und der Einsatz hatte ihn fast sein Leben gekostet. Doch seither war viel Zeit vergangen. Wunden waren vernarbt und ausgeheilt. Und doch war so etwas wie ein Phantomschmerz zurückgeblieben, der sich in den unpassendsten Augenblicken meldete. – So wie jetzt ...

Der Wind pfiff um das Gebäude und spielte mit dem strähnigen Haar, das sich aus dem im Nacken zusammengebundenen gelöst hatte. In einem Sergio-Leone-Film hätte spätestens jetzt die Musik von Ennio Moricone begonnen, ging es Dieter Feldmann blitzschnell durch den Kopf.

Auch der Leiter der TS trug die Montur seiner Einheit. Wobei er den Reißverschluss nicht ganz bis zum Anschlag hochgezogen hatte. Es wirkte einiges lockerer, wenn dieser nur bis in die Mitte des Brustkorbes ging.

Im Mundwinkel hing ein Zahnstocher, den er mit der linken Hand ergriff, als er die unterste Stufe erreichte und dort kurz verharrte. Dann nahm er auch den letzten Tritt und befand sich nun auf fast derselben Höhe wie sein Gast. Er war etwas kleiner als dieser, aber das schien ihm nichts auszumachen.

Als ihn Dieter Feldmann vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm der Fehler unterlaufen, ihn zu unterschätzen. Wie konnte er auch anders, erinnerte er ihn doch an den Musiker Iggy Pop. Sehnig und ausgemergelt war sein Körper, als würde jede Anstrengung das Letzte von ihm verlangen und als warte er nur noch auf den baldigen Tod.

 Das Gesicht ging einigermaßen, aber er sah bei ihrer ersten Begegnung schon älter aus, als er wohl jemals werden würde. Wahrscheinlich lebte er bereits zu jener Zeit auf Pump! Aber wo Iggy Pops Aussehen wohl dem ausgefallenen Lebensstil zu verdanken war, musste Dieter Feldmann feststellen, dass es in Aldega Derrons Fall darauf hinauslief, dass ihn das Leben so gezeichnet hatte. Doch anstatt ihn zu brechen, hatte es ihn zu einem Kämpfer gemacht.

„Sir!“

Aldega Derron salutierte locker. Seine Stimme klang tief und angenehm, aber etwas undeutlich, als würde er leicht nuscheln. Es konnte jedoch unmöglich am Zahnstocher liegen.

„Sieh an, sieh an. Aldega Derron.“

„Dieter Feldmann. Willkommen.“

Es klang nicht gerade erfreut, und herzlich erst recht nicht. Wahrscheinlich hätte man mit der Kälte einen Liter Milch über Wochen frisch halten können.

„Komm mit. Ich bringe dich zu Ma Kirby.“ Und über die Schulter gewandt: „Der Rest weiß, was zu tun ist.“

Dann war der Zahnstocher wieder am angestammten Platz im Mundwinkel. Wahrscheinlich müsste man ihn bei Derrons Tod operativ entfernen.

Der TS-Chef führte ihn die Treppe hoch. Ein Teil der Mannschaft folgte ihnen, der andere blieb auf der Treppe stehen. Zwei weitere Mitglieder der zweiten Gruppe sonderten sich zusätzlich ab, um den Wagen mit Alfredo und Kane wegzuführen. Sie verschwanden um die Ecke des Hauptgebäudes. Dieter Feldmann war sich sicher, dass er die beiden wieder zu Gesicht bekommen würde.

In Richtung Osten, da, wo sich ungefähr Palermo befinden musste, konnte er die Sonne am Horizont sehen, die sich in einem blutroten Kugelhaufen darauf vorbereitete, im Meer zu versinken. Es konnte sich nur noch um eine halbe bis eine ganze Stunde handeln. Wobei er sich eingestehen musste, dass er bei der Zeit auch daneben liegen konnte, so nah, wie er sich bereits am Äquator befand. Glücklicherweise hatten sich die Temperaturen bereits etwas gesenkt.

Die Engelsgestalten vor dem Eingang wirkten aus der Nähe noch bedrohlicher, was aber auch an ihrer Farbe liegen konnte. Sie bestanden aus einem dunklen Grau, das an diversen Stellen in ein dreckiges Schwarz überwechselte. Dann hatte sich Moos an ihnen festgemacht, das sie aussehen ließ, als hätten sie eine schlimme Krankheit. – So stellte er sich keineswegs Engel vor! Das Gefühl der Bedrohung verschwand jedoch sofort wieder, als die Glastür hinter ihm zufiel.

Ein Schwall kalter Luft schwappte ihm ins Gesicht, als er das Innere des Gebäudes betrat. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren.

Typisch Ami, konnte sich Dieter Feldmann nicht verkneifen zu denken.

„Müsste der Leibwächter jetzt nicht mit uns unterwegs sein?“, wollte er wissen, als er versuchte, Aldega Derron zu folgen, der ein beachtliches Tempo an den Tag legte.

„Warum?“, wollte der wissen.

Er blickte sich dabei nicht einmal um. Er schien für nichts und niemanden ein Auge zu haben. Er beachtete weder die mehrheitlich geschlossenen Türen auf beiden Seiten des Weges noch die Leute, die sie überholten und auswichen, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Einige davon trugen sogar lange Pullis, trotz der Jahreszeit.

Der Gang, durch den sie liefen, bestand aus einem dunklen Holz, das sogar die Wände bedeckte. Da die Lampen mehrheitlich weit oben angebracht waren, gelang es ihnen kaum, genug Licht zu spenden. Aber es wollte hier ja auch niemand verweilen und etwas lesen.

„Er wurde doch zu meinem Schutz abkommandiert, oder etwa nicht?“

Nun verlangsamte sich Derrons hastige Vorwärtsbewegung doch noch, bis er schließlich ganz stehen blieb und sich betont lässig seinem Gast zuwandte. In seinen Augen glitzerte es komisch. Jedoch kaum lustig komisch. Der Zahnstocher wechselte wieder in die linke Hand hinein.

„Fühlst du dich etwa unterbeschützt, oder was soll die Fragerei?“

Dabei waren seine Arme seitwärts vom Körper angewinkelt, die Handflächen zeigten dabei nach oben, aber so, dass sie rein zufällig auch auf seine Soldaten zeigten, die sie begleiteten.

„Relax, Derron. Etwas steifer, und ich könnte mit dir surfen gehen.“

„Hör zu, Feldmann. Ich habe hier eine Station zu beschützen. Das schaut vielleicht nicht gerade nach viel Arbeit aus, aber ich sage dir das eine: Wenn du das Gefühl hast, dass es nicht nach viel Arbeit aussieht, dann habe ich meinen Job gut gemacht. Und wenn ich dann von oben her zum Begrüßungskommando verdonnert werde, dann bleibt meine Arbeit liegen. Denkst du vielleicht, dass mich das zu einem glücklichen Menschen macht?“

„Ich hätte schwören können, dass du dich darum gerissen hast, mich am Eingang abzuholen“, versetzte Dieter Feldmann im selben kalten Ton, ohne dabei seine Stimme anzuheben.

„Träum ruhig weiter! Es ist dann was anderes, wenn du gehst. Da bin ich dann dabei, um mich zu vergewissern, dass du auch wirklich weg bist.“

„Sieh an, sieh an. Aber es heißt doch, dass man seine Freunde in der Nähe halten soll; seine Feinde jedoch noch näher?“

Aldega Derron musterte ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck. Er wollte bereits zu einer Antwort ansetzen, als er realisierte, dass er etwas Falsches sagen würde, das mehr Emotionen zeigte, als er bereit war zu offenbaren. Dieter Feldmann sah, wie er hinter den Augen auf die Bremsen trat und dann mit sichtlicher Anstrengung den nächsten Satz aussprach:

„Du bist nicht mein Feind, Banker!“

„Aber zur ersten Kategorie scheine ich es ja auch nicht geschafft zu haben?“

Auf einmal trat ein überlegenes Grinsen in Aldega Derrons Gesicht, und er schob sich den Zahnstocher zurück in den Mund. An ihm vorbei meinte er: „Lass es mich mal so ausdrücken: Ich bin überrascht, dass du Kanes gründliche Untersuchung in der Limousine überstanden hast.“

„Warum?“, ging Dieter Feldmann darauf ein.

„Na ja, wenn du in deinem Job einigermaßen erfolgreich sein willst – und das sollst du ja sein – dann müsstest du doch etwas von einem Blutsauger haben. Und daher müsste von dir eigentlich nur ein Häufchen Asche auf dem Boden des Wagens übrig geblieben sein.“

„Ts, ts, nicht mal deine Leute scheinen den Witz für gut zu befinden. – Bring mich lieber zu Ma Kirby!“

„Yes, Sir!“

Es klang spöttisch. Dann schaffte er es erneut, das Salutieren locker ausfallen zu lassen. Er drehte sich aber wortlos um und nahm den Weg erneut unter die Füße. Dieter Feldmann und die Soldaten folgten. Letztere schweigend.

„Warum magst du mich nicht?“, meinte Dieter Feldmann, als er zu ihm aufgeschlossen hatte.

„Wir sind nicht hier, um uns zu mögen. Und falls du das doch willst, dann leg dir einen Hund zu. Wir anderen, wir haben eine Aufgabe zu erfüllen ...“

„Ich weiß das“, unterbrach Feldmann.

„Dann tue die deinige, und ich tue die meinige. Und falls sich diese beiden Prozesse kreuzen sollten, dann lass mich meine Aufgabe erledigen. Und ich versuche der deinigen aus dem Weg zu gehen.“

„Klingt nach einem Plan.“

Die weiteren paar Schritte verliefen in stummem Schweigen. Die Fußtritte der Männer hallten von der hohen Decke zurück. Vor ihnen tauchten Aufzüge auf, die Aldega Derron anpeilte. Als sie vor den geschlossenen Toren anhielten, griff der Chef der TS in seine Montur und förderte einen ganzen Bund von Magnetschlüssel zutage. Obwohl alle ähnlich aussahen, ergriff er einen mit Bestimmtheit und brachte damit den kleineren Personenaufzug dazu, sich sofort zu öffnen.

„Aha, auf uns wurde gewartet.“

Aldega sah ihn mit einem ausdruckslosen Gesicht an.

„Erkläre bitte nicht das Offensichtliche“, meinte er nur.

Dann begaben sie sich hinein. Die Männer und Frauen der TS blieben beidseitig davor stehen, bis sich das Tor wieder schloss.

Und dann ging es abwärts.

„Derron. Darf ich gemäß deiner Aussage davon ausgehen, dass ich der Erste des Ordens bin, der hier in Palermo aufgetaucht ist?“

„Das ist richtig.“

„Werde ich auch der Einzige bleiben?“

„Aus Sicherheitsgründen, ja. Wir haben es für zu gefährlich gehalten, alle Meister des Ordens unter einem Dach zu versammeln.“

„Was ist mit Fabio Cassani?“

„Was soll mit ihm sein?“, fragte Aldega Derron zurück.

„Er hat mich angerufen und dazu aufgefordert, hierher zu kommen. Ist nicht er wenigstens da? In Rom haben wir uns nicht getroffen. Darum nahm ich an ...“

„Nein. Der Mafioso hat es vorgezogen, dir den Vortritt zu lassen, damit du deine Erfahrungen sammeln kannst.“

„Fabio ist kein Mafioso“, fühlte Feldmann sich verpflichtet, den Großmeister zu verteidigen.

Derron grinste, ging aber nicht näher auf den Einwand ein.

„Wir wissen von Mark Larsen, dass er sein Kommen angekündigt hat“, schnitt er stattdessen ein neues Thema an.

„Aha.“

„Aber es hängt natürlich von vielem ab, ob es gelingt.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Dieter Feldmann kratzte sich den Kinnbart.

„Dann wären ja wohl Hinnerk und Christine auch dabei.“

Der TS-Chef schüttelte den Kopf.

„Wie ich schon sagte: Es ist zu gefährlich, wenn zu viele bedeutende Leute des Ordens zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind.“

„Ja, ja, schon gut.“ Und nach Sekunden des Schweigens, wo er auch einen demonstrativen Blick auf die Uhr warf: „Wie tief geht das denn noch?“

„Warum?“

Dieter Feldmann hatte begonnen, mit dem Zeigefinger im Ohr rumzustochern.

„Schlägt es dir aufs Gehör?“

„Allerdings! Bereits die Helireise hat mir zugesetzt.“

Aldega Derron klaubte in einer Außentasche seitlich der Oberschenkel rum und hielt ihm schließlich eine Kaugummipackung hin.

„Ist immer noch das Beste.“

„Danke.“

„Es sind an die zwei Kilometer“, nahm Derron den Faden wieder auf. „Also nicht, dass wir die selber gebuddelt hätten“, schränkte er gleich wieder ein. „Ein natürliches Höhlensystem verläuft unter uns“, er deutete dabei um sich und dann nach oben auf die Strecke, die sie bereits passiert hatten, „das wir einfach weiter ausgebaut haben.“

„Aber nicht erst in den letzten paar Wochen, nehme ich an?“

„Nein, natürlich nicht. Die Station ist eine Basis des Ordens, die schon seit Längerem besteht und in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ausgebaut wurde. Und jetzt kommt die Größe der Höhle zupass.“

„Weswegen?“

„Na, du weißt schon: Wegen der Maschine.“

„Die ist nicht wirklich groß“, korrigierte Dieter Feldmann. „Ich habe sie bis jetzt zwar nur ein einziges Mal gesehen, aber die ist nicht größer als ein VW-Beetle.“

„Das ist korrekt. Aber du wirst es dann selber sehen. Wir sind gleich da.“

„Schon? Waren das schon zwei Kilometer?“

„Natürlich nicht“, winkte Aldega Derron ab. „Unter uns wird immer noch gebaut.“ Und wie um ihm Recht zu geben, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, verlangsamte sich ihre Fallgeschwindigkeit, und schließlich glitten die Tore des Aufzugs auf.

„Was sehen?“, ließ Dieter Feldmann nicht locker, als sie aus dem Lift traten.

„Dieter. Gestatte mir, dich mit Ma Kirby bekannt zu machen.“

Aldega Derron war nach ein paar Schritten stehen geblieben, als er den Aufzug verließ, und hatte dadurch einer Person, die unweit des Einganges zum Lift auf sie gewartet hatte, die Möglichkeit gegeben, näher zu kommen. Sie fiel Dieter Feldmann erst jetzt auf. Sie war eine Erscheinung, auf die er gar nicht vorbereitet war. Nicht hier unten in dieser Tiefe!

Blaue Augen, mit einem winzigen Touch ins Grüne, musterten ihn über einen dunklen Brillenrand hinweg.

Ein Lächeln umspielte dabei ihren ausgeprägten Mund, der selbst ohne Lippenstift ein einziges Versprechen darstellte. Ein Versprechen, dem er sich zu einer anderen Zeit gerne hingegeben hätte.

„Mister Feldmann“, begrüßte sie ihn mit einer Stimme, der er gerne am Abend als Letztes und am Morgen als Erstes zugehört hätte. Überraschend leicht und hell für eine Frau ihrer Größe, da sie gut und gerne seine eigenen hundertneunzig Zentimeter messen musste.

Was machte eine solche Frau so weit unter der Erde, so weit weg von Bern und nun so unerwartet nah bei ihm? Fragen, denen er sich später widmen musste, versprach er sich.

„Verzeihen Sie doch bitte meine Unhöflichkeit, Miss Kirby. Ich bin etwas sprachlos.“

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, und ein noch herzlicheres Lachen umspielte dabei ihren Mund.

Ma Kirby war ungefähr Anfang vierzig und strahlte einen Charme aus, der ihn sofort einnahm. Ihr dunkles und volles Haar trug sie offen über einem weißen Kittel, das dadurch einen scharfen Kontrast abgab, aber den Rest ihrer Erscheinung vor ihm verhüllte. Was er mit einem gewissen Bedauern zur Kenntnis nahm.

Dieter Feldmann ergriff ohne nachzudenken die ausgestreckte Hand, aber er bereute es sogleich, als sie herzhaft zudrückte. Ein Schmerzenslaut entrang sich ihm. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie der TS-Chef einen Sekundenbruchteil später zusammenzuckte. Er hob wie zur Beruhigung die freie Hand und schüttelte den Kopf.

„Oh, habe ich Sie verletzt?“, fragte sie erschrocken.

„Keineswegs!“, versuchte er sie zu beruhigen und gleichzeitig die Hand der Begrüßung zu entwinden. Keine Chance! Im Gegenteil: Sie drehte sie sogar noch hin und her, da sie sich vergewissern wollte, ihn ja nicht verletzt zu haben. Es war eine Bewegung, die ihn aufstöhnen ließ und fast in die Knie zwang. Unglücklicherweise fehlte ihm die Kraft, sie einfach zu entreißen.

Aldega Derron mischte sich ein und schob Ma Kirby etwas unsanft auf die Seite, ohne ihr dabei weh zu tun, aber so, dass sie unweigerlich Dieter Feldmann loslassen musste. Anschließend stellte er sich zwischen die Beiden.

„Lass ihn einen Augenblick zu Atem kommen, Ma.“

Aus großen Augen sah sie, wie sich Dieter Feldmann entspannte, nachdem er ein paar Mal tief Luft geholt hatte. Die malträtierte Hand hatte er wie zum Schutz unter die linke Armbeuge gelegt. Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

„Was ist mit ihm, Aldega?“, wollte sie wissen.

„Dieter?“

Der Meister des Ordens winkte ab.

„Lass sie los. Es geht wieder.“

„Habe ich was falsch gemacht?“, wollte Ma Kirby wissen, als sie sich an Aldega Derron vorbeidrängte.

„Nein, natürlich nicht ...“, presste der Meister des Ordens mit merklicher Mühe zwischen den Lippen hervor.

„Was ist denn geschehen?“

„Ein Unfall mit dem Auto“, setzte Dieter Feldmann zu einer Erklärung an. „Nichts Weltbewegendes, aber es dauert eben seine Zeit, bis wieder alles ausgeheilt ist.“

Ma Kirby blickte ihn durchdringend an, als wusste sie für einige Sekunden nicht, was sie von der Erklärung halten sollte, aber dann meinte sie:

„Wie lange ist es denn her?“

„Zehn Wochen.“

„Und wie lange ist der Verband weg?“

„Eine.“

Ma Kirby verzog das Gesicht, als würde ihr mit seiner Antwort bewusst werden, welchen Grad von Schmerz sie ihm gerade unfreiwillig zugefügt hatte.

„Das konnten Sie ja nicht wissen. Keine Bange“, versuchte er das Ganze etwas zu bagatellisieren, aber er sah ihrem Gesicht an, dass er schlechte Überzeugungsarbeit leistete.

„Sorry, Mister Feldmann. Es tut mir wirklich leid.“

Sie legte ihm kurz die Hände auf die Schulter, zuckte jedoch zurück, als würde sie ihm auch da weh tun.

Er musste grinsen.

„Geht’s wieder?“, wollte Aldega Derron wissen.

„Langsam ...“

Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an, dass sein Herz beinahe zu schmelzen anfing. Es trug jedenfalls viel dazu bei, dass das Schmerzzentrum unempfindlicher wurde.

„Sie müssen mir bei Gelegenheit mal genauer erzählen, wie das passiert ist.“

„Werde ich doch gerne machen.“

„Meine Damen und Herren, wir haben noch etwas vor“, drängte Aldega Derron zur Eile.

„Wo geht’s denn hin?“, ging Dieter Feldmann darauf ein, als sie den Weg entlangliefen, der vom Lift wegführte. Er war etwas unsicher auf den Beinen, aber das gab sich dann, je mehr er ging.

Es war ein metallischer Steg, den sie benutzten, und ihre Schritte hinterließen ein dumpfes Geräusch, als sie sich darüber fortbewegten. Der Steg selber war an der Felswand festgemacht, und als er kurz über die Brüstung lehnte, sah er, dass sie nur zwei Stockwerke über dem Boden gingen. Jedenfalls über dem in dieser Höhle.

„Ich habe mir gedacht, dass Sie vielleicht zuerst einen Blick auf die Maschine werfen möchten“, kam Ma Kirby dem TS-Chef zuvor, der schon zu einer Antwort ansetzte.

„Aber klar doch. Liebend gern.“

Und er erwischte sich dabei, dass sie ihm auch den Weg zur Hölle hätte zeigen können, und er wäre freudig mit ihr dorthin gegangen.

„Ganz schön viele Rohre, die da oben verlegt wurden. Die sind ja in jeder Größe vorhanden.“

Ma Kirby warf einen Blick nach oben, als wäre ihr das erst jetzt, wo Dieter Feldmann dies aussprach, aufgefallen.

„Man wollte eben auf alles vorbereitet sein, Sir. Damit, wenn es benötigt wird, man nur noch die Kabel verlegen muss.“

„Es ist auch für Kanalisation und andere Dinge, die der Mensch zum täglichen Leben benötigt, gesorgt. Schließlich produzieren wir ja auch Abfall.“

„Und es gilt zu berücksichtigen, dass hier unten Leute leben.“

„Ach was?“

Dieter Feldmann blickte Aldega Derron ungläubig an, als könne er ihre Worte nicht ganz ernst nehmen, und erwarte nun von ihm, dass er ihn in den Spaß einweihte.

„Es ist so. Nicht alle Techniker und Wissenschaftler kehren nach der Arbeit an die Oberfläche zurück. Da, wo es Truppenquartiere hat und so. Dwight zum Beispiel ...“

„Einer Ihrer Leute?“

Sie nickte.

„Ich bringe Sie gerade zu ihm.“

„Ist er gut auf seinem Gebiet?“

„Ein absolutes Genie. Es sind eher die alltäglichen Dinge, die ihm Schwierigkeiten bereiten.“

„Was denn zum Beispiel?“, fragte er, neugierig geworden, nach.

„Er ist nicht gerade ein großer Menschenfreund. Und auch mit dem Reden tut er sich etwas schwer.“

„Man könnte auch sagen“, kam Aldega Derron zu Hilfe, „wenn es sich nicht gerade auf ein Gebiet bezieht, das er am Erforschen ist, muss man ihm die Wörter einzeln aus der Nase ziehen.“

„Genau. Dwight also, der lebt nun schon seit Wochen hier unten. Seit man die Maschine aus der Halle der Geheimnisse gebracht hat und er hierher abkommandiert wurde. Er würde am liebsten auf der Maschine übernachten.“

„Na ja, hoffentlich duscht er sich wenigstens und wechselt ab und zu seine Klamotten.“

Ma Kirby lächelte und zeigte nach oben.

„Deshalb auch diese Einrichtungen, Sir.“

Sie kamen gerade aus einem kurzen Tunnel heraus, und vor ihnen öffnete sich eine Halle, in der mehrere Büros untergebracht waren. Man konnte dies gut erkennen, weil sie nur durch Glaswände abgetrennt waren. Die meisten waren leer, aber in dem einen oder anderen waren Leute, die sich über Schreibtische oder sonst irgendwelche Gegenstände oder Apparaturen beugten, die es genauer anzublicken oder zu untersuchen galt. Dieter Feldmann konnte nicht sehen, ob all die Arbeiten mit der Maschine in Zusammenhang standen, aber das war ihm egal.

Die Halle war an die fünfzig Meter lang, wobei die Gänge, die sie durchzogen, wie ein X gebaut waren. Über ihnen war die Decke des Höhlensystems gut sichtbar. Vom Boden, auf dem sie gingen, trennten sie nur zehn bis fünfzehn Meter, und der Dekorateur hatte versucht, die Glasbüros in die Natur einzuarbeiten. Es wirkte harmonisch. Etwas kalt zwar, aber dennoch schön.

Dieter Feldmann wollte gerade etwas in der Richtung erwähnen, als aus einem der Büros laute Stimmen erklangen, anschließend gab es ein dumpfes Poltern.

Alle Köpfe ruckten in diese Richtung, aber nur Aldega Derron reagierte und spurtete los. In der einen Hand hielt er plötzlich eine Pistole. Als wäre sie schon immer da gewesen!

Ma Kirby und Dieter Feldmann folgten ihm mit ein paar Metern Abstand.

„Das ist Billie“, vernahm er, als er zu ihr aufgeholt hatte. Von vorne kam ein grunzendes Geräusch, das sowohl Bestätigung als auch etwas anderes sein konnte.

In einem der Kuben war zu erkennen, wie sich ein Mann in Kittel einer Frau zu erwehren suchte, die die TS-Uniform trug und ihn mit einer Waffe bedrohte. Auf seiner weißen, glänzenden Stirn sah man etwas Blut. Wahrscheinlich war sie es gewesen, die mit dem Glas der Wand kollidiert war und das polternde Geräusch hervorgerufen hatte. Im krassen Gegensatz dazu stand ihre Haut, die einen schokoladenfarbigen Ton besaß, aber auch vor Schweiß glänzte.

Aldega Derron erreichte die Tür als Erster, stieß sie vorsichtig und lautlos auf. Plötzlich waren die Stimmen verständlich, die vorhin nur undeutlich zu vernehmen gewesen waren.

„Du bist doch wirklich das Allerletzte!“, schrie die Frau.

Überall auf dem Boden lagen Ordner und Mappen herum. Teilweise hatte sich der Inhalt gelöst und lag verstreut. Aldega Derron stieg langsam darüber, als er sich den zwei Kontrahenten näherte. Sie schienen ihn nicht wahrzunehmen; waren in ihrer eigenen Welt gefangen.

„Tu sie weg. Tu sie weg“, war vom Bedrohten zu vernehmen, als die Pistole dessen Schläfe berührte. Seine Stimme klang hoch und sehr ängstlich, beinahe wimmernd.

Aldega Derron wusste, dass er es nicht schaffen würde, wenn sie den Abzug wirklich durchzog. Und er wollte niemanden seiner Leute einfach in den Rücken schießen. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ.

Mit eiskalter, aber leiser Stimme fuhr er dazwischen.

„Billie! Leg die Waffe weg!“

Er bemerkte, wie sie zusammenzuckte, aber sogleich wieder bewegungslos dastand.

„Das ist nicht dein Kampf, Derron. Verschwinde.“

Sie blickte sich nicht einmal um, sondern fixierte das Bündel Mensch vor sich, über den ausgestreckten Arm hinweg. Ihre Stimme klang, als hätte sie sich heiser geschrien.

„Das ist kein Kampf, den du da führst.“

„Dann eben ausgleichende Gerechtigkeit.“

„Wohl eher Rache.“

„Er hat ihn getötet“, spie sie Derron entgegen.

„Billie. Sam ist nicht tot.“

Seine Stimme hatte den eiskalten Schimmer verloren und klang nun voller Mitgefühl.

„Was macht das hier für einen Unterschied, hä?!“

„Für dich vielleicht wenig, aber in den Augen der Justiz ist Dwight kein Mörder. Mach dich selber nicht zu einem!“

„Billie, lass ihn in Ruhe“, kam nun auch noch Ma Kirbys Stimme dazu. Sie hatte sich von der Tür wegbewegt und näherte sich Aldegas Standort. Dieter Feldmann verharrte an der Tür. Es war nicht sein Kampf.

„Helft mir“, brachte Dwight mit zitternder Stimme hervor. Er versuchte sich zu bewegen – sich sogar etwas aus der Schussrichtung der Waffe zu winden - aber Billie drückte ihn mit der Pistole an die Wand zurück. Sein Gesicht war überall mit Schweiß bedeckt, aber vielleicht waren es auch Tränen der Angst.

„Du bleibst hier.“

Sie zischte es ihm ins Gesicht, als sie sich ihm bis auf wenige Millimeter näherte. Ihre Gesichtszüge waren verzerrt, lockerten sich aber plötzlich und wichen einem Grinsen, das Aldega Derron gar nicht gefiel, der sich etwas seitwärts zu ihr gestellt hatte, um sich bessere Übersicht zu verschaffen.

„Billie!“

Doch anstatt zu schießen, riss sie die Waffe zurück, dass Dwight beinahe die Balance verlor und gegen den Boden gefallen wäre. In letzter Sekunde konnte sie ihn jedoch noch packen, riss ihn hoch, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte, wenn er sie geöffnet und den Kopf nicht abgewendet hätte. Dann tat sie etwas, womit niemand gerechnet hatte: Sie fuhr ihm mit der Zunge übers Gesicht!

„So schmeckt also Angst ...“

Dwight schrie auf. Ob vor Ekel oder aus Angst ließ sich nicht genau bestimmen, und ihr glockenhelles Lachen vermischte sich mit seinem Ausruf.

Aldega Derron legte die letzten Meter zurück, die ihn noch von den zwei trennten, und riss Billie von Dwight los. Sie ließ dies ohne Weiteres geschehen. Als er sie gegen die Glaswand drückte, sah sie draußen fünf ihrer Kollegen stehen, in voller Kampfmontur, die Waffen auf sie gerichtet. Sie hätte keine Chance gehabt, wenn sie den Wissenschaftler hätte abknallen wollen!

Dwight stolperte in Richtung Ma Kirby und wurde von ihr aufgefangen.

„Sie ist verrückt“, begann er zu zetern. Sein Gesicht war verzerrt, als müsse er einen Weinkrampf unterdrücken.

Ma Kirby versuchte, ihn zu beruhigen, aber er hörte gar nicht erst auf sie. Sie reichte ihm ein Taschentuch, das er nicht wahrnahm. Als sie ihm das Blut auf der Stirn selber wegwischen wollte, schlug er ihre Hand weg. Er schien sie nicht zu sehen.

„Die gehört in eine Irrenanstalt. Die gehört hinter Gitter ...“

Dann bekam er links und rechts eine verpasst, dass ihm die nächsten Worte im Hals stecken blieben. Mit großen Augen sah er Dieter Feldmann an, der sich genähert und seinen Beitrag abgeliefert hatte. Dwight schüttelte verdattert den Kopf, bis sich seine Augen langsam zu fokussieren begannen.

„Wer, zur Hölle ...“

„Kein Wort mehr, junger Mann. Machen Sie, dass Sie Land gewinnen und verschwinden.“ Dieter Feldmann drohte mit erhobenem Zeigefinger.

Ma Kirby versuchte, Dwight aus dem Büro zu drängen, aber er gab noch etwas Gegenwehr.

„Ma, der kann doch nicht so mit mir umspringen.“

Empörung klang aus seiner Stimme, doch er sah an ihrem Blick, dass er von ihr keine Hilfe erwarten konnte.

„Halt die Klappe, Dwight. Geh! Wir versuchen, das mit Billie zu regeln.“

Bereits an der Türe angekommen, ließ ihn der Name noch einmal umdrehen.

„Das wird ein Nachspiel haben ...“

Ein Ausfallschritt Dieter Feldmanns ließ Dwight zurückzucken, und die nächsten Meter, die er zurücklegte, waren wesentlich schneller getan als die vorherigen.

Inzwischen hatte Aldega Derron Billie umgedreht, sodass sie nun mit dem Rücken zur Wand dastand. Er wollte in ihre Augen sehen, aber sie wich ihm aus und schaute stattdessen auf den Boden.

„Was, in Gottes Namen, ist in dich gefahren?“

Sie versuchte, seine Hände wegzuwischen, die sie an die Wand pressten. Nach Sekunden des Wehrens gab der TS-Chef nach und ließ sie schließlich los.

„Ich will wissen, was das gerade sollte!“ Es klang, als wäre der Satz mit siebzehn Ausrufezeichen versehen und dulde keine Widerrede.

Bevor sie antworten konnte, wischte sie die Tränen aus dem Gesicht. Es war nicht ganz klar, ob es Tränen der Wut waren oder solche, die Sam gegolten hatten. Sie schniefte.

„Du weißt genau, was das sollte.“

Aldega Derron schüttelte den Kopf.

„Kein Richter der Welt würde Dwight für schuldig befinden.“

„Dann ist es aber Zeit, dass man zur Abwechslung mal mir mein Recht zuspricht.“

„Du hast keine Ahnung, was du da verlangst, Billie“, mischte sich Ma Kirby in die Auseinandersetzung.

„Ihr habt keine Ahnung, was ihr von mir verlangt!“, schrie sie ihnen entgegen.

Dieter Feldmann zeigte sich überrascht, wie die Leute hier miteinander umgingen. Aber da er keine Ahnung hatte, worum es sich drehte, hielt er sich raus.

„Tagtäglich muss ich mit Dwight arbeiten. Und jedes Mal erinnert er mich an Samuel.“

„Aber Sam lebt.“

Aldega Derron hatte Billie an den Aufschlägen gepackt und schüttelte sie bei diesen Worten. Als wolle er ihr das Gesagte eintrichtern. Ma Kirby blickte sie mit Augen an, die sie beschwörten, mit dem Unsinn aufzuhören. Billie konnte oder wollte es jedoch nicht einsehen. Sie streifte erneut Aldegas Hände weg und drängte sich an beiden vorbei, blieb jedoch nach einigen Schritten stehen.

„Wenn ihr das Leben nennt!“

Ihre Stimme, ihre ganze Haltung war anklagend. Zwar an niemand Bestimmten gerichtet, aber voller Anklage gegen die Welt.

Dann wandte sie sich zum Gehen.

„Lieutenant Holiday!“

Die Stimme des TS-Chefs klang so scharf und befehlsgewohnt, dass sich beinahe noch Dieter Feldmann in Achtungstellung geworfen hätte. Sie verfehlte jedoch ihre Wirkung nicht. Sie blieb an der Tür stehen, als wäre sie gegen einen Pfosten gelaufen.

„Ich erwarte einen vollständigen Bericht über den Vorfall, in einer Stunde in meinem Büro. Ist das klar?“

„Jawohl, Sir.“ Ihre Stimme war kaum zu vernehmen, trotz der Stille, die sich gebildet hatte.

„Ob das klar ist?“, wollte Aldega Derron noch einmal wissen.

„Kristallklar.“

„Wie bitte?“

„Kristallklar, Sir!“

„Hau ab, Billie.“

Als wäre das ihr Stichwort gewesen, machte sie sich aus dem Staub. Dieter Feldmann sah nur, wie sie sich beim Weggehen erneut die Augen wischte. Dann verschwand sie im Gang, aus dem sie selber vor wenigen Minuten gekommen waren.

„Was ist das denn für eine Geschichte mit dieser Billie?“, wollte Dieter Feldmann beim Nähertreten wissen.

„Ihr Mann, ihr Freund, war bei einem der Experimente dabei und fiel einem Unfall zum Opfer. Leider.“

Dieter Feldmann fixierte Ma Kirby und begann dann schmerzlich zu grinsen. Es erreichte jedoch seine Augen nicht.

„Es scheint noch etwas komplizierter zu sein, nehme ich mal an.“

„Das ist es“, mischte sich Aldega Derron ein. „Unser famoser Dwight Leach hatte da seine Hände im Spiel, was nach diesem Schauspiel wohl unschwer zu erahnen war.“

Dieter Feldmann nickte. „Allerdings.“

„Das Problem war nur, dass alles so weit ausgetestet war und funktionsbereit, als Dwight eine neue Einstellung an der Maschine vornahm ...“

„Lass mich raten: Und plötzlich fiel die Scheiße auf den laufenden Ventilator?!“

„Haargenau.“

„Wohin wird eigentlich unsere Reise gehen? Steht das schon fest?“, wechselte Dieter Feldmann das Thema.

„Jetzt oder dann mit der Maschine?“

„Beides.“

Derron zeigte auf Ma Kirby, die den Blick erwiderte und lächelnd nickte.

„Ist doch kein Geheimnis, oder?“, fragte Feldmann nach, weil sie nicht sofort antworte.

„Kommen Sie, Mister Feldmann. Wir sehen uns zuerst die Maschine an und werden uns dann genauer und in allen Einzelheiten mit den Tests auseinandersetzen.“

„Und wenn ich dann ganz lieb bin, erfahre ich dann auch, wohin die Reise geht?“

„So ungefähr.“

Sie musterte ihn interessiert und ließ ihre Brille im Kittel verschwinden.

„Okay. Ich kann damit leben. - Gibt es da auch was zu trinken? Ich habe nämlich langsam Durst.“

„Aber klar.“

Aldega Derron hob kurz eine Hand, damit sie auf ihn aufmerksam wurden.

„Geht schon mal vor. Ich komme dann in fünf Minuten nach.“

Dieter Feldmann und Ma Kirby verließen den Bürokubus.

„Und wohin jetzt?“, wollte er wissen.

„Einfach nur mir nach, Mister Feldmann.“

„Das klingt doch nach einem Plan. Dann gehen Sie doch bitte voraus, Ma Kirby.“

Eine Verbeugung andeutend, fächelte er sie an sich vorbei.

Das brachte sie zum Grinsen.

Der weiße Kittel spannte sich an den richtigen Stellen über ihrem Po, stellte Dieter Feldmann fest, als er hinter ihr herging.

Im Augenblick spürte er nur noch ein leichtes Brummen im rechten Arm, den er an der Seite ausgestreckt hielt, während die Linke wie zum Schutz davor lag. Ob es an der Aussicht lag, die den Schmerz linderte, vermochte er nicht zu sagen. Es war jedoch eine Beschäftigung, der er stundenlang nachkommen konnte. Es war total sexistisch, darüber war er sich im Klaren, aber mein Gott, er war doch auch nur ein Mann! Für die Frauen war es eine Entschuldigung, für ihn eine Erklärung. Oder umgekehrt.

Wie sie da so vor ihm herging, sah es fast so aus, als würden zwei Welpen unter einem Seidentuch balgen.

War das schön, ein Mann zu sein!

 

 

***

 

 

Als Koller zum Wachraum hoch kam, in jeder Hand eine Tasse, einmal Kaffee und einmal Tee, diskutierten Siegel und Schuster immer noch über Fußball. Es handelte sich dabei um die letztjährige Fußball-WM und deren erfolgreichen Ausgang für die Italiener, und da sie schon gefachsimpelt hatten, als er nach unten in die Küche ging, konnte Koller davon ausgehen, nichts verpasst zu haben. Sie sonnten sich im Erfolg der Italiener, ohne wirklich etwas dazu beigetragen zu haben. Für ihn hatten Sportarten dieser Art vor allem auch mit Glück zu tun, mochte eine Mannschaft noch so überlegen sein. Nämlich Glück in der Ausscheidung, in welcher Gruppe sie zuerst spielen durfte, um sich dann langsam die Liste hinaufspielen zu können. Dann noch auf dem Feld selber. Aber für ihn war es müßig solche Gespräche des „Was-wäre-wenn“ zu führen, oder wer denn nun welches Tor wann geschossen hatte. Vorbei war vorbei.

Er setzte sich hin, stellte die Tassen auf den Tisch und widmete sich dem Radar. Nichts auszumachen. Abgesehen davon, dass er sich gemeldet hätte, wenn in der Zwischenzeit etwas aufgetaucht wäre. Die zwei Enthusiasten waren ja wohl für den Wachdienst kaum zu gebrauchen.

Er nahm einen vorsichtigen Schluck Kaffee und tippte am Computer ein paar Daten ein, sodass sich die Ausschnitte der Kameras auf dem Bildschirm abwechselten.

„He, Koller. Du hättest mir auch eine Tasse mitbringen können“, schrie Siegel auf einmal.

Wahrscheinlich war ihr Gespräch doch mal auf Treibsand gestoßen. Ohne aufzusehen, erwiderte er abwesend:

„Hatte gerade nur zwei freie Hände.“

„Was war mit dem Tablett?“

„Bin ich dein Serviermädchen, oder was?“

„Hätte dir auch ein hübsches Trinkgeld gegeben“, schmunzelte Siegel und schürzte die Lippen wie zu einem Kuss.

Schuster fügte mit einem dreckigen Grinsen hinzu: „Der Klaps auf den Hintern hätte dir gefallen, Koller.“

Beide fingen zu lachen an, das dem Meckern einer Ziege ähnelte. Koller schüttelte den Kopf. Es war schon schlimm, wenn der IQ tiefer als die Zimmertemperatur war!

Plötzlich ging im Nebenraum die Tür auf, schlug wieder zu, was alle drei Anwesenden hochfahren und zu ihren Waffen greifen ließ. Koller begann zu fluchen, da er sich Kaffee über die Hände gegossen hatte, weil er gerade einen Schluck hatte nehmen wollen. Aber als dann Billie Holiday an ihnen vorbeistürmte, in ihr Büro ging und auch diese Tür hinter sich zuschlug, sahen sie sich nur verdutzt an. Das gekrauste Haar ihres Kurzhaarschopfes hatte sich dabei nicht einmal bewegt, obwohl sie einen beachtlichen Stampfschritt an den Tag legte.

„Frauen!“

Siegel sagte es in einem Ton, dass wohl jeder Mann verstand, was er meinte, ohne dass er es aussprach. Koller schüttelte erneut den Kopf.

„Hey, Schuster. Halt du mal die Geräte im Auge.“

Dieser stand auf und kam langsam nach vorne. Aus der Brusttasche nahm er einen Flachmann und setzte ihn an die Lippen. Koller packte ihn am Arm.

„Derron sieht es nicht gerne, wenn im Dienst getrunken wird!“

„Was soll das, Koller? Ist nur Medizin“, begehrte er auf.

Siegel lachte aus dem Hintergrund sein meckerndes Lachen.

Die beiden Männer funkelten sich bösartig über den Flachmann an. Keiner wollte nachgeben. Keiner wollte der Schwächere sein.

„Derron sieht es nicht gerne“, wiederholte Koller noch einmal. Dann fügte er hinzu: „Und ich auch nicht! Wenn mein Arsch dabei drauf geht, komme ich von den Toten zurück und bring dich um.“

„Ist das eine Drohung, Koller?“

„Das ist ein Versprechen!“

„Ha, als ob mich dieser Schluck aus dem Flachmann betrunken machen würde!“

„Reaktionszeit“, sagte Koller nur.

„Lass ihn in Ruhe, Mann.“

Siegel war nun ebenfalls aufgestanden, hielt sich aber vorerst noch im Hintergrund. Sein junges Gesicht war von den Zeichen der Pubertät geprägt. Narben hatten sich in sein Gesicht gefressen, die sein Aussehen härter erscheinen ließen, als er es in Wirklichkeit war. Koller wusste, dass Siegel des Öfteren auf diese Karte setzte, wie jetzt zum Beispiel. Er hätte gerne gegrinst, aber dann hätte er ihm gezeigt, dass er sein Spiel durchschaute. Er wollte sich selber nicht zu tief in die Karten sehen lassen.

Siegel blieb stehen, wo er gerade war. Er wusste nicht genau, wem gegenüber er seine Loyalität ausdrücken wollte. Einesteils war Schuster sein Kumpel, aber andererseits Koller der Ranghöhere.

Mit einem Grunzen ließ Koller Schuster los, was dieser mit einem dollen Schluck aus dem Flachmann zu genießen schien. Er grinste ihm hinterher, setzte sich aber dann doch vor den Bildschirm. Siegel setzte sich wieder hin und beobachtete Koller, wie dieser die Richtung zu Billie Holidays Büro einschlug. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch abgelenkt, als die Rückmeldungen von den verschiedenen Außenstationen reinkamen und er diese bestätigen musste. Dazu drehte er den Stuhl mit dem Rücken in Richtung der Funkstation und stieß sich mit den Füßen am Boden ab. Wenn er kein Faulpelz gewesen wäre, dann hätte er sich erhoben, aber er war nun mal einer.

Koller blieb an der Tür stehen und klopfte. Als er nichts hörte, ging er einfach rein. Das heißt, er wollte dies gerade tun. Er war gerade dabei, einen Schritt in Billies Büro zu machen, als hinter ihm plötzlich das Radar anfing, Meldung zu geben. Es gab diverse hohe Töne, die jeder für sich eine Signatur darstellten.

Koller hatte sich umgewandt, und plötzlich wurde ihm die Tür aus der Hand gerissen, die er immer noch am Griff festhielt. Er zuckte zusammen. Billie stand im Türrahmen und drückte ihn in das Vorzimmer zurück. Ihre Augen waren etwas blutunterlaufen, stellte er beiläufig fest.

„Meldung“, rief sie Schuster zu, der vor dem Radarbildschirm hochgefahren war und sich über den Bildschirm beugte. Er rieb sich nachdenklich das Kinn, als er die verschiedenen Punkte auf dem Radar näher ausmachte und so tat, als würde er diese zählen, bevor er antworten wollte.

„Wo bleibt die Meldung?“, fuhr sie Schuster an.

„Verschiedene kleine Gegenstände, die auf die Station zuhalten, Ma'am.“

„Wie viele?“

„Fünfzehn bis zwanzig.“

„Abstand?“

„Luftlinie: Achthundert Meter. Abstand schnell kleiner werdend.“

„Richtung?“

„Aus allen Richtungen. Wir sind ziemlich eingekreist.“

Billie war mittlerweile hinter Schuster getreten und blickte ihm über die Schulter, nur um seine Meldung bestätigt zu finden.

„Wie gehabt, in den letzten paar Wochen“, flüsterte sie. Schuster nickte bestätigend.

„Es hat wohl doch etwas mit den Experimenten zu tun, die sie da unten machen.“

Billie sah ihn an, ohne etwas darauf zu erwidern. Sie wusste, was er meinte, gab ihm jedoch keinen Grund anzunehmen, dass sie über die Vorkommnisse unter der Erde informiert war.

Siegels Hand näherte sich dem Mikrofon, das ihn mit den Bodentruppen verbinden würde. Er wusste, was zu tun war, wartete jedoch den direkten Befehl noch ab. Ein aufmunternder Schlag auf seine Schultern und ein „Tun Sie’s!“ ließen ihn anschliessend handeln.

Während er die Außentruppen auf den bevorstehenden Besuch vorbereitete, wandte sich Billie an Koller.

„Station gefechtsbereit machen und den stillen Alarm auslösen. Ich will, dass die Leute wissen, dass wieder ein Angriff auf uns zukommt.“

„Alles klar“, rief dieser und machte sich an die Arbeit. Er setzte sich an die Abschussvorrichtung, lud durch und wartete, bis die Angreifer die optimale Schussnähe erreicht hätten. Dann würde er sie vom Himmel pflücken. Einen nach dem anderen.

Nur, das Warten war oftmals das Furchtbarste!

Während Siegel sich damit beschäftigte, diverse Knöpfe zu drücken, die die Insassen der Station auf das vorbereitete, was draußen vor sich ging, nahm Billie eine der Tassen hoch, die Koller vor wenigen Minuten raufgetragen hatte, und nahm einen Schluck von jener, die noch voll war. Sie spie den Inhalt aber gleich wieder aus und setzte die Tasse unsanft auf den Tisch zurück. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Ekel.

„Wäh! Was ist das denn für eine Brühe?“, fragte sie.

Bevor Koller sich umwenden und antworten konnte, sah Schuster vom Radar hoch und meinte lapidar: „Tee, nehme ich mal an.“

Billie sah ihn entsetzt an.

„Das war kein Tee. Das stinkt ja wie ein Fußbad nach mehrmaligem Gebrauch.“

„Es ist Fencheltee“, meldete sich Koller zu Wort. Er grinste dabei entschuldigend, als müsse er sich für seine Vorlieben entschuldigen. „Also ich mag ihn“, sagte er wie zu sich selbst.

Billie wischte sich mit dem Handrücken über die Zunge, die sie undamenhaft ausgestreckt hatte.

„Und was ist in der anderen Tasse?“

„Kaffee.“

Sie griff danach, warf den Kopf in den Nacken und schüttete sich den Rest der Tasse in den Rachen. Ein gurgelndes Geräusch war zu vernehmen. Die Anwesenden grinsten. Unsanft kam auch diese Tasse auf den Tisch zurück.

„Ich bin doch nicht krank, Mann! Und was war wirklich drin?“

„Bambus-Kaffee“, kam ihr Koller zu Hilfe.

„Was soll das denn sein, um Gottes willen?“

Schuster begann zu grinsen und rezitierte etwas, was er wohl von Koller selber schon des Öfteren zu hören bekommen hatte:

„Schmeckt wie Kaffee, riecht wie Kaffee ...“

„... ist aber keiner!“, vollendete sie mit Ekel im Gesicht.

„Ma'am, Aldega Derron will Sie sprechen. Er will wissen, was los ist“, schnitt nun Siegels Stimme in den Raum. Er hatte laut gesprochen, ohne sich vom Funk abzuwenden. Auf diese Weise hörte er gleich wieder mit, was an neuen Meldungen reinkam.

„Fünfhundert Meter und abnehmend.“

Siegel klang höchst konzentriert. Billie wandte sich zuerst an Koller, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:

„Sie wissen, wann ...“

„Ja, Ma'am!“

Und an Siegel gewandt: „Derron soll warten ...“

Sie sah noch, wie er nickte, dann wurde ihre Stimme vom Krach der Automatikwaffen unterbrochen. Sie wusste, dass auf den anderen Stationen in diesen Sekunden ebenfalls die Geschütze zu sprechen begannen. Derron würde sie jetzt kaum verstehen. Und abgesehen davon hatte sie keine Lust, mit ihm zu sprechen. Nicht nachdem, was gerade geschehen war. Später. Vielleicht ...

Sie blickte sich nach etwas Trinkbarem um, etwas, das den widerlichen Geschmack wegspülen würde, aber da war nichts.

„Die Blutsauger sollen nur kommen“, meinte sie zu sich selbst. Und wie als Nachgedanke: „Wir haben mehr als genug Munition, um einigen davon die Rückkehr zu verunmöglichen.“

 

 

***

 

 

Aldega Derron hörte nur noch, wie der Soldat zu einer Antwort ansetzte, bevor alles vom Lärm verschluckt wurde. Mit einem Laut des Schmerzes zog er das Telefon vom Ohr weg und ließ es zu Boden fallen.

„Ah, verdammt.“

Er war nicht schnell genug gewesen, und der Ton hatte sich bis in sein Gehirn vorgedrängt. Es tat höllisch weh!

Derron wurde das Telefon von einem Wissenschaftler ausgehändigt, der es für ihn vom Gang aufgehoben hatte. Er bedankte sich mit einem Kopfnicken und wandte sich bereits wieder seinen Leuten zu, die vor wenigen Minuten den Befehl von ihm bekommen hatten, sich wieder an ihren Posten zu begeben.

Er sah, dass Esposito hinter ihren Leuten zurückgeblieben war und sich das Headset gegen die Ohren drückte. Wahrscheinlich bekam sie gerade ein Update der Situation. Kurz beschleunigte er seine Schritte und holte zu ihr auf. Ihre Leute wollten auch stehen bleiben, aber sie winkte sie mit einem Arm an sich vorbei.

Für ihn selber gab es hier nichts mehr zu tun. Aldega Derron wusste, dass er das Problem damit noch nicht gelöst hatte. Dwight Leach und Billie Holiday waren wie Nitro und Glycerin, denen es vorbestimmt war, sich zu treffen: Wenn man sie zu stark mischte, würde es einen Knall geben! Er nahm sich vor, die beiden im Auge zu behalten.

„Was? ... Ja, gerade eben ... Okay. Verschieben und Bereithalten. Wie gehabt. Alles klar.“

Dann unterbrach sie den Kontakt und die Geräusche des Kampfes verstummten. Unterhalb der Erde ließen sich die automatischen Waffen nicht ausmachen. Solange man die Kanoniere nicht einsetzte, würde es hier unten normal zugehen. Aber so weit war es zum Glück noch nie gekommen.

„Du hast es gerade gehört?“

Jane Esposito nickte. „Sie versuchen es mal wieder.“ Ihre Stimme klang verächtlich und doch irgendwie, als sei sie auf der Hut. Sie hatte selber schon mehrmals mit den Angreifern zu tun gehabt, und nicht bloß hinter den Mauern des Centers. Sie wusste den Gegner einzuschätzen, ohne ihn zu unterschätzen.

„Du weißt, was zu tun ist.“

Erneutes Nicken. Sie war keine Frau von vielen Worten. Das schätzte Derron. An ihrer mexikanisch-tahitischen Abstammung konnte es nicht wirklich liegen. Wahrscheinlich war es einfach der Typ Frau, der lieber zur Tat schritt, als lange um den heißen Brei herumzureden.

„Solange sich an der Situation nichts ändert, bleibe ich hier unten und bin bei meinem Gast. Ma Kirby ist auch dabei.“

„Verstanden, Sir.“

„Bei der geringsten Änderung erwarte ich einen Bericht.“

„Geht klar.“

Jane Esposito salutierte ungezwungen, kehrte sich ab und lief in dieselbe Richtung, in die bereits ihre Leute verschwunden waren. Aldega Derron schaute ihr mit einem Grinsen auf den Lippen nach. Er musste etwas gegen dieses saloppe Grüßen machen.

Dann wandte er sich in die andere Richtung, in die wenige Minuten zuvor Ma Kirby und der Meister des Ordens verschwunden waren.

Er wusste, dass in dieser Richtung auch die Maschine stehen und auf sie warten würde ...

 

 

***

 

 

Der Mann, der Aldega Derron das Telefon zurückgegeben hatte, war einen Moment verunsichert, als dieser hinter ihm hergelaufen kam. Hatten sie ihn entdeckt? War er aufgeflogen? Seine Muskeln spannten sich an, und er war bereit, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Auf seiner Stirn begann sich Schweiß zu bilden, und auch sonst fing er an zu transpirieren. Er wischte ihn mit einer nervösen und heftigen Bewegung von der Stirn weg.

Aber schlussendlich war alles nur falscher Alarm, und Derron hetzte an ihm vorbei, weiter den Gang hinunter. Seine Schritte hallten blechern von der Decke zurück. Er selber setzte seinen Weg fort und ging seiner Arbeit nach, wie er dies bislang auch getan hatte. Fast hätte er sich verraten!

Seine Zeit würde erst kommen!

 

 

***

 

 

„Ma'am, was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte. Wie kamen Sie zu diesem komischen Übernamen: Ma Kirby?“

„Wieso komisch? Wieso Übernamen?“

Ups!

Dieter Feldmann sah sie erstaunt an, dann bemerkte er das Zucken um ihre Mundwinkel.

„Kommen Sie schon: Ma?“, versuchte er es erneut.

Ma Kirby schwieg. Sie drängte ihn mit einer Handbewegung in einen weiteren Arm des Labyrinthes, der vom Hauptgang abzweigte. Weiter vorne war ein großes Tor zu sehen, vor dem ein Wachhäuschen stand, ein Soldat darin und direkt vor den Flügeln der Tore zwei bewaffnete Wächter, die ein Gesicht aufgesetzt hatten, das allein schon als Abschreckung gedient hätte.

Ma Kirby blieb stehen und hielt Dieter Feldmann mit einer leichten Berührung am Arm zurück, die fast so leicht wie die eines Schmetterlings war. Dieter Feldmann wich ihr nicht aus, aber sie zuckte mit der Hand zurück, als hätte sie in eine Mausefalle gelangt. Oder eher in eine Bärenfalle.

„Sorry. Ich hab ...“

„Vergessen Sie es. Es tut nicht mehr weh.“

Mit dieser Aussage log er zwar ein wenig, aber den Umständen entsprechend konnte er es verantworten, ohne gleich im Fegefeuer zu landen. Und falls dies dann für ihn doch das definitive Ziel sein würde, hatte es sich wenigstens gelohnt!

Er griff mit der Rechten nach ihrer Hand, die sie erschrocken hinter den Rücken ziehen wollte. Sobald er sie zu fassen kriegte, erlosch jedoch der Fluchtgedanke. Dann wurde ihm auf einmal bewusst, dass sie nur noch eine Handspanne voneinander trennte, und plötzlich wurde es im Gang unheimlich warm. Eine Wärme, die aus ihnen beiden zu kommen schien.

Ma Kirby war eine Frau, die aus einem natürlichen Bedürfnis heraus die Menschen berührte, wenn sie mit ihnen sprach oder sich einfach in deren Gegenwart aufhielt. Dagegen anzukämpfen und sich gegen ihr Naturell zu verhalten, bereitete ihr etwas Mühe. Ein tiefer Blick in seine Augen, und sie wusste, dass er ihre Berührung als angenehm betrachtete.

„Aber ...“

Dieter Feldmann schüttelte den Kopf. Er setzte zu einer Antwort an, brachte jedoch keine Silbe über die Lippen. Anschließend ließ er sträubend ihre Hand los, die noch für Sekunden da verharren blieb, wo er sie festgehalten hatte, um sich dann plötzlich doch hinter ihren Rücken zu verziehen, als würde sie dort Schutz suchen.

„Es gibt für alles eine Zeit und einen Platz.“

„Ja?“

Es klang äußerst vorsichtig und mit Bedacht gesprochen.

„Und das ist der falsche Platz.“

Sie nickte.

„Es mag vielleicht die richtige Zeit sein ...“

„... aber definitiv der falsche Platz!“, vollendete sie und Dieter Feldmann nickte.

Dann bog Aldega Derron aus dem Hauptgang. Und der Augenblick war so oder so vorbei.

 

 

***

 

 

„Lieutenant Holiday!“

„Ja, Siegel?“

„Die Bodentruppen sind alle in Alarmbereitschaft, während die Truppen rund um die Station die Vampire, oder was sich sonst auf diesem Weg nähert, vom Himmel holen.“

Vom Waffenleitstand vernahmen sie eine Bestätigung anderer Art: „Yyyhhaahh!“

Koller war in seinem Element. Der einzige Ort, an dem er aus sich herausging. Eventuell noch beim Gamen, aber das war fast dasselbe.

„Alles klar“, bestätigte Billie die Meldung.

„Noch was: Gegenüber den früheren Angriffen hat sich doch was geändert. Die Lasertaster melden Bewegungen, die nichts mit Untoten zu tun haben. Und dieses Mal am Boden.“

„Bedeutung?“

„Wird ausgewertet. Es soll nur sehr schnell sein und sehr warm. Nicht so wie Vampire.“

„Wie viele?“

„Wie mir bis jetzt mitgeteilt wurde, sind es nur wenige. Aber ich dachte mir, dass Sie es wissen sollten.“

„Verstanden. Danke.“

Dann zog Siegel wieder das Kopfset an die Ohren, aber ohne es überzustülpen. Er begann angestrengt zu lauschen, wobei er hin und wieder ein paar Worte zur Bestätigung in das Mikrofon sprach, das vor seinem Mund baumelte.

Billie kam der Befehl von Aldega Derron wieder in den Sinn, dass sie innerhalb der Stunde einen Bericht über ihr Verhalten abliefern sollte. Sie hatte das erfolgreich verdrängt und würde es auch weiterhin tun. Derron konnte warten. Das hier war wichtiger! Das eine war für Derron. Dies hier war für sie alle.

„Koller! Wie sieht die Situation aus?“

„Sie haben keine Chance. Die letzten fünf werden gerade zerfetzt.“

„Wie halten die Bannsprüche?“

„Sind noch gar nicht zum Zuge gekommen. Die Abwehr hat sie vorher vom Himmel geholt.“

„Gut!“

Plötzlich war wieder Siegels Stimme zu hören. Sie klang aufgeregt und mit Angst vermischt.

„Chef. CHEF!“

„Was ist, Siegel?“

„Oh, Shit. Ich bekomme gerade übermittelt, dass große Hunde gesichtet wurden.“

„Wie sieht es mit Kojoten, Schakalen und Wölfen aus?“

„Äpfel und Birnen, Ma’am.“

„Was?“, herrschte sie ihn an.

„Kann doch niemand unterscheiden, bei diesen Lichtverhältnissen“, gab Siegel etwas kleinlaut zurück. „Es ist dunkel, und die Infrarotgeräte bringen nicht die perfektesten Bilder.“

Nun war es an Billie zu fluchen. „Shit!“ Hunde: Das konnte alles und nichts bedeuten!

Die Sippen gingen ihre eigenen Wege, da sie einander oft nicht ausstehen konnten und sich auch nichts zu sagen hatten. Aber was, wenn sich dies plötzlich änderte? Gab es eventuell einen Zusammenschluss der Monster? Hatten sich die Wertiere mit den Vampiren vereint? Es klang verrückt und machte doch auf eine irritierende Art Sinn.

Eine verdammte Allianz! Das würde den Damen und Herren im Orden zu denken geben, falls das zutraf. Und ihnen würde es das Leben erschweren, wenn es der Wahrheit entsprach. Dummerweise würde Letzteres wohl eher eintreffen!

„Sofort Meldung machen! Alle Trupps müssen darüber in Kenntnis gesetzt werden.“

„Ay, Ma’am.“

„Dauerfeuer oder Silbergeschosse. Die Reservetruppen sollen sich ausrüsten lassen und die Wachen an den Toren mit der nötigen Munition versorgen. Wenn sie nicht schon ausgerüstet sind, heißt das. Es gilt, keine Zeit zu verlieren!“

„Verstanden. Wird gemacht.“

Der anschließende Satz war nur für sie bestimmt. Er ging auch im nachfolgenden Durcheinander unter, das auf ihren Befehl hin startete. Für sie und Gott war er bestimmt:

„Mögest Du uns beistehen!“

 

 

***

 

 

Station, Westpoint, fünf Minuten vorher

Fred hasste es, draußen zu sein, wenn es einnachtete. Er wusste genau, dass dies die dümmste Zeit war. Kaum nämlich war die Sonne hinter dem Horizont untergegangen, war es für sie ein Leichtes zu kommen. Und mit ‚Sie’ meinte er die Monster!

Meistens kamen sie, wenn man es nicht erwartete. Gut, sie kamen auch, wenn man sie erwartete, aber das spielte keine Rolle. Er hasste es einfach, draußen zu sein und dieses Wissen mit sich rumzuschleppen.

Als dann noch die Waffen zu sprechen begannen, wusste er, dass er gemäß Murphys Gesetz mal wieder das große Los gezogen hatte! Er zog den Kopf ein und drängte sich noch tiefer in die Öffnung in der Mauer.

„Scheiße!“, flüsterte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Seine Backenknochen knirschten protestierend.

Sergeji, der neben ihm still in Stellung lag, blickte ihn schief an.

„Hast du Angst?“, wurde er gefragt.

Fred schüttelte den Kopf.

„Junge, es gibt zwei Dinge, die ich nie hatte: Geld und Angst.“

Sein Kumpel begann, neben ihm wie ein kleines Mädchen zu kichern. Fred verabreichte ihm einen Kick, der ihn verstummen ließ.

Er beneidete ihn um dessen Ruhe, musste er eingestehen. Hatte er eigentlich schon immer. Seit ihrer gemeinsamen Zeit in Rom, wo sie ausgebildet wurden.

Sie hatten viele Gespräche über Leben und Tod geführt, und Sergeji hatte seinen Standpunkt klargemacht, ohne dabei bekehrerisch zu wirken. Und obwohl in seinem Heimatland jahrelang offiziell wegen des Sozialismus kein Glaube praktiziert worden war, besaß Sergeji eine Größe – eine erhabene Art – die ihm manchmal fast schon unheimlich war.

„Wenn deine Zeit gekommen ist, dann ist sie eben gekommen. Du kannst deine Haut so teuer wie möglich verkaufen, aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo du dich entscheiden musst, ob es noch rentabel ist, sich zur Wehr zu setzen, oder ob es besser wäre, sich die letzte Kugel selber in den Kopf zu jagen.“

Fred selber war ja mal gläubiger und praktizierender Katholik gewesen, aber das Leben hatte ihm so einige Seiten im Buch des Schicksals gezeigt, auf die die Kirche keine Antworten besaß. Jedenfalls keine klar verständlichen. Und so war es nicht einmal sehr abwegig, Sergejis Auslegung anzuhören und sich das Ganze mal zu überlegen, wie es sein könnte, wenn der besagte Fall dann eintreffen sollte. Er hatte nicht einmal das Verlangen verspürt, sich bei einer Beichte von diesen Gedanken zu befreien. Und schließlich war mit der Zeit der Wille überhaupt gestorben, etwas in der Richtung zu unternehmen.

Aber es war alles nur immer hypothetischer Natur gewesen. Doch mit jedem Angriff bekam es Substanz und wurde ihm wieder und wieder vor Augen geführt. Und er mochte das überhaupt nicht. Nein, er mochte das wirklich nicht, dass er darüber nachdenken musste.

„Siehst du was? Kannst du was erkennen?“

Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Sergeji den Kopf schüttelte.

Er konnte auch noch nichts ausmachen, da Radar und Laser auf einer größeren Distanz funktionierten, als er überhaupt sah. Und meistens bekamen sie auch nicht mehr zu tun. Doch alleine das Wissen, was sich da näherte, reichte aus, dass er sich unwohl fühlte.

Mit leicht zittrigen Fingern klaubte er das Foto seiner Freundin aus der Brusttasche. Es zeigte eine Frau mit rundem Kopf, kurzen Haaren, die jedoch sehr angenehm anzublicken war.

„Ich schwöre dir, Sergeji, ich werde diese Frau heiraten, Kinder kriegen und mich von diesem Scheißjob verabschieden, sobald ich nur kann.“

„Ist es Miriam?“, fragte Sergeji harmlos.

„Wer denn sonst, du Blödmann.“

„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch immer.“

Ein Klaps auf die Schultern zeigte ihm, was sein Kumpel von seiner Antwort hielt. Fred ließ das Bild wieder in der Tasche verschwinden, bevor er es noch verdreckte oder – Gott bewahre – verlor.

„Und wenn diese Scheißschicht vorbei ist, kannst du mich zu einem Glas von deinem billigen Wodka einladen.“

„Außerhalb von Mütterchen Russland ist jeder Wodka billig. Und schmecken tun sie auch alle so.“

„Dann lass mich mal von deinem privaten Lager versuchen?“

„Bist du von Sinnen! So gut kennen wir uns auch wieder nicht.“

„Du bist ein Depp, Sergeji. All die Jahre in Rom. All die Jahre!“

Er wollte gerade zu ihm rüberlangen und ihm eine verpassen, als er dachte, eine Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen zu haben. Augenblicklich war es vorbei mit dem Spaß. Als er jedoch in die Richtung sah, konnte er nichts mehr ausmachen. – Ob er sich getäuscht hatte?

„Was ist?“, wollte Sergeji wissen, der ihn scharf beobachtete.

„Ich hab’ was gesehen.“

„Echt?“

Es klang interessiert. Jedenfalls interessierter, als Sergeji bis jetzt den Tag über geklungen hatte.

„Jedenfalls denke ich, dass ich was gesehen habe. Aber jetzt ist alles wieder ruhig. Frag mal nach, wie es so aussieht.“

Das tat Sergeji dann auch. Er hörte ihn rumfragen und dann über das Funktelefon, das er umgehängt hatte, auch Antworten bekommen. Sie beruhigten ihn etwas. Jedenfalls bis zu einem gewissen Grad.

„Ich schalte mal auf Nachtsichtgerät um.“

„Tu dir bloß keinen Zwang an, Fred.“

 Das war das Letzte, was er von Sergeji zu hören bekam. Fred konnte noch im leuchtenden Grün ein paar Tiere vor sich ausmachen, die in ungefähr dreißig Metern Entfernung im gegenseitigen Abstand von zirka zehn Metern herankamen. Sie sahen aus wie Hunde.

Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er bereits wusste, dass es sich um Wölfe handeln musste. Wölfe oder Kojoten. Wertiere! Aber wie konnte das sein? Die waren doch Einzelgänger, die sich nie zu Rudeln zusammenschlossen!

„Scheiße!“

Fred war gerade dabei sich aufzurichten und an Sergeji Meldung zu machen, dass er diese Beobachtung sofort weiterleiten müsse, als er sah, wie dieser seitwärts gepackt und hochgerissen wurde. Ein Schmerzenslaut entfuhr seiner Brust, aber vielleicht war es auch nur ein Laut der Überraschung.

Als Fred an dem Schatten hochschaute, der sich neben ihnen aus dem Dunkel des Schutzwalles löste, war er zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Die Augen quollen ihm zwar fast über vor Angst, aber er brachte kein Wort über die Lippen.

Dann wurde Sergeji vor seinen Augen in Stücke gerissen! Blut troff auf ihn herab, und er musste seinen Blick abwenden.

Aus dem Rachen des Werwolfs erschall ein triumphierendes Heulen, das von allen Seiten erwidert wurde. Es waren entsetzliche Geräusche, die an Freds Ohren drangen. Nicht zu reden von den visuellen Eindrücken. Aber sie führten dazu, dass er aus seiner Lethargie erwachte, die Waffe packte, die schlaff an ihm hing, herumriss und schreiend den Auslöser durchzog, bis sie leer klickte. Der Werwolf wurde gegen die Wand geschleudert und sank daran herunter. Aus unendlich vielen Wunden quoll Blut, das im Licht des Vollmonds wie flüssige Kohle wirkte.

Mit einem tollkühnen Satz warf sich Fred zur Seite und landete bei Sergejis Torso. Der Unterkörper lag in der anderen Richtung. Er packte das Funkgerät, das dieser an einem Riemen um den Hals gewickelt hatte, und schrie hinein, was ihm gerade in den Sinn kam. Es war ihm egal, was er sagte und wie. Es musste einfach gesagt werden! Dabei versuchte er, Sergejis gebrochene Augen zu ignorieren, die ihn anklagend anstarrten.

„Sie sind da! Wölfe! Kojoten! Werwölfe ...“

Dann schlug ihm jemand das Gerät aus den Händen. Als sein Kopf herumfuhr, sah er den Werwolf über sich stehen, auf den er vorhin geschossen hatte. Er konnte es sich zwar nicht erklären, aber dazu war auch die Zeit zu knapp bemessen.

Es war ein Riesending von einem Tier, und Fred sah sich ein weiteres Mal in der Situation, dass ein Werwolf über ihm stand und auf ihn runterblickte. Seine Reflexe meldeten sich erneut, und er wollte gerade nach der Waffe greifen, als eine Klaue ihn packte, hochhob und ihm ein fauler Schwall Atemluft entgegenschlug. Das Vieh hatte ihn dabei vollgesabbert, als es ihm in einer knirschenden Sprache etwas entgegenfauchte, das nur entfernt nach menschlichen Lauten klang. Es hörte sich ungefähr nach „Ich entscheide, wer lebt oder stirbt“ an, aber auch nur mit viel Fantasie.

Ein Arm des Werwolfs hing nach unten, aber auch mit dem einen funktionierenden kam Fred verdammt nah an den Rachen des Untieres heran. Zu nah für seinen Geschmack!

Er wehrte sich, zappelte, schrie und hatte dabei doch nur eines im Sinn, all das zu verwirklichen, was er vor wenigen Minuten Sergeji gesteckt hatte. Waren das wirklich erst ein paar Minuten gewesen?

Dann hatte er plötzlich seinen Revolver in den Händen, riss ihn hoch und sah für einen Sekundenbruchteil Erstaunen in den Augen des Werwolfes auftauchen. Dann war das vorbei, und plötzlich klafften Löcher im Kopf anstatt Augen, die einen allzu menschlichen Eindruck gemacht hatten. Die Schüsse waren ohrenbetäubend!

Fred fiel auf die Füße, sackte augenblicklich zusammen, aber rappelte sich gleich wieder hoch.

Er musste weg von hier, jagte ein einziger, immer wiederkehrender Gedanke durch seinen Kopf. Für mehr war kein Platz mehr.

Fred kam hoch, schüttelte sich, wie um sich von den letzten Sekunden, die sich gerade ereignet hatten, zu lösen. Sie würden für immer in seinem Gehirn eingebrannt sein. Dann wischte er sich mit der rechten Hand das Blut, das ihm die Sicht verdeckte, von den Augen.

Er sah gerade noch, wie der nächste Wolf zu einem Sprung auf ihn ansetzte. Der Rest des Rudels folgte. Er hatte keine Zeit mehr, den Revolver auf sich zu richten.

Er hatte nie eine Chance gehabt ...

 

 

***

 

 

„Danke, dass ihr auf mich gewartet habt.“

Aldega Derron kam vor den beiden zu stehen. Sein Atem hatte sich nicht einmal besonders stark beschleunigt. Er war für sein Alter wirklich erstaunlich fit, ging es Dieter Feldmann durch den Kopf.

„Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?“, wollte der Sicherheitschef wissen.

Als beide den Kopf schüttelten und fast übertrieben noch zusätzlich verneinten, blickte er schnell jeden mit zusammengekniffenen Augen an. Dann zuckte er die Schultern, als wolle er sagen: „Wenn ihr nicht wollt, dann lasst es eben bleiben!“, und übernahm gleich die weitere Führung auf das Tor zu. Die anderen folgten ihm nach kurzem Zögern.

Es war eine riesige Einrichtung, die man da in diesen natürlichen Höhlen gebaut hatte. Dieter Feldmann war beeindruckt. Die Höhe musste an dieser Stelle an die zwanzig Meter betragen, schätzte er. Und eine Flügeltür kam in der Spannweite auf fast vier Meter zu stehen. Er hätte fragen können, wie dick das Tor selber sei und sich dann mit den Sicherheitsvorkehrungen befassen können, die es bot. Mit Freuden hätte Aldega Derron sein Wissen weitergegeben, da war er sich sicher. Aber das lag ihm im Augenblick am entferntesten! Er hatte Fragen, aber die bezogen sich eher auf Ma Kirby. Und eine stille Ecke in einem Pub hätte er jetzt gerne dem hier vorgezogen.

An der einzelnen Wache blieben sie stehen und zeigten ihre Ausweise. Für Dieter Feldmann übernahm Aldega Derron die Verantwortung, da er für dieses Center keine Ausweispapiere besaß. Der Wache schien es zu genügen. Sie ging ins Wachhäuschen zurück und sprach etwas in ein Mikrofon, was außerhalb unverständlich blieb.

Erst jetzt, wo sie etwas näher gekommen waren, erkannte Dieter Feldmann eine kleinere Tür, die in das Tor eingebaut war. Sie war in ihrer Erscheinung recht belanglos. Einfach eine Stahltüre, die sich nur mit einem bestimmten Schlüssel öffnen ließ. Natürlich hatte der Sicherheitschef einen solchen bei sich. Er griff wieder zum Bund voller Magnetschlüssel und klaubte mit einem Griff den richtigen hervor, wie er das auch schon beim Lift getan hatte. Dabei sahen diese alle gleich aus!

Ungefähr auf Kopfhöhe war ein Sichtfenster eingebaut, das von dieser Seite her jedoch verspiegelt war. Das Einzige, was er sah, waren der Gang und die Gestalten seiner Gefährten. Die Wachen spiegelten sich nicht, da sie zu nah an dem Tor waren.

Es sah aus wie das Bullauge eines Schiffes. Falls man es öffnen konnte, dann nur von der anderen Seite.

Auf diese Tür hielten sie zu. Kurz bevor sie sie erreichten, erklang von der anderen Seite – oder von innen her – ein Geräusch, als würden Stahlträger automatisch verschoben. Anschließend gab es einen lauten, dumpfen Ton und die Türe – schon eher ein Tor in Kleinformat – schwang auf. Die zwei bewaffneten Wächter vor den Toren machten keine Anstalten, sie am Betreten zu hindern.

Aldega Derron blieb mit einem Bein draußen stehen, als er sich noch einmal zu Dieter Feldmann umdrehte, der das Schlusslicht machte, da er Ma Kirby den Vortritt gelassen hatte.

„Dieter, gestatte mir, noch einen guten Rat zu geben, bevor wir jetzt in die Halle gehen.“

„Ja, und der wäre?“

„Lass dich nicht zu fest von Äußerlichkeiten blenden.“

„Warum meinst du denn? Steht es so schlimm um mich?“, fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen.

Aldega Derron grinste mit ihm, als er den Kopf schüttelte.

„Schlimm ist auf jeden Fall das falsche Wort. Es ist nur so, dass Erwartungen auf jeden Fall enttäuscht werden.“

Und nach einer kurzen Pause:

„Jedenfalls war es bei mir so.“

„Derron, ich habe die Maschine schon mal zu Gesicht bekommen. Oder was meinen Sie, Ma Kirby?“

„Aldega hat schon recht. Einfach offen sein für alles. Dann kommt es schon gut“, warf sie ihm mit einem Blick über ihre Schulter zu.

„Also, für mich sprecht ihr in Rätsel.“

Ma Kirby hatte wieder das Leuchten in ihren Augen, aber auch Aldega Derron schien sich an seiner Ratlosigkeit zu amüsieren, auch wenn er das nie zugegeben hätte.

„Wie auch immer. Es wird wohl das Beste sein, wenn er sich ein eigenes Bild davon macht.“

„Das wird es wohl“, pflichtete Ma Kirby ihm bei.

Dieter Feldmann konnte dem nur wortlos beipflichten. Er war so weit gekommen, und jetzt trennten ihn nur noch gerade eine Tür und zwei sich wichtig nehmende Hobby-Komiker von seinem Ziel.

Dann war auch diese Hürde genommen, und Dieter Feldmann kam auf der anderen Seite des Tores raus – die Tür selber war sicher fast einen Meter dick, wie er bewundernd mit einem Pfiff feststellte. Die Lippen noch gespitzt, sah er auf und der anhaltende Ton erstarb langsam.

Was hatte er erwartet? Viel. Sehr viel sogar. Ehrlich gesagt sogar etwas wie ein Spektakel. So, als ob man den Nationalfeiertag und Silvester zusammen feiern würde. Und das nicht etwa in der Schweiz, sondern in Amerika. Aber wenn er sich schon so fühlte, wie musste es da Aldega Derron ergangen sein?

Deshalb wohl seine gut gemeinten Ratschläge ...

Die Halle war hoch, auch an die zwanzig Meter. Der Raum selber an die fünfzig breit. An einer Wand standen eine ganze Reihe Rechner, die unbeaufsichtigt ihre Arbeit verrichteten und einen Computer speisten, den er von hier aus nicht sehen konnte.

Vor der Glaswand, die die Rechner vom Rest des Raumes trennte, waren zwei Tische aufgestellt, an deren Seiten Stühle standen, die leuchtend orange Lehnen aufwiesen. Auf den Tischen selber standen vereinzelte Styroporbecher rum, Ordner, die aufgeschlagen waren und eigentlich ein Bild der Unordnung in Dieter Feldmann hervorriefen.

Einen ebensolchen Eindruck hinterließ die Postkutsche, die mitten im Raum stand. Ein Relikt aus der Zeit des Wilden Westens. Und nicht mal ein gutes Exemplar davon, durchfuhr ihn ein Gedanke. Sie musste wohl gerade einem Überfall zum Opfer gefallen sein, da die Räder und alle anderen Kleinigkeit verschwunden waren, die sie dazu befähigt hätte, ihren Dienst aufzunehmen. Nicht einmal mehr die Deichseln für das Gespann waren vorhanden. Und erst die Farbe! Die war an vielen Stellen so abgeschossen, dass man sie unmöglich noch als Schwarz bezeichnen konnte.

Er erinnerte sich an den Eindruck, als er die Zeitmaschine das erste Mal in der Halle der Geheimnisse zu Gesicht bekommen hatte. Damals hatte sie wie ein Gegenstand auf ihn gewirkt, den man besser nicht aufweckte, wollte man sein Leben behalten. Es war eine Bedrohung und gleichzeitig ein Flair der Erhabenheit von ihr ausgegangen, die sich nur aus dem Wissen ihres Könnens ergeben konnte. Trotzdem hatte er sich des Eindruckes nicht erwehren können, dass er Geschichte atme.

Dieter Feldmann trat näher heran. Die ihm zugewandte Tür stand offen. Ein Blick hinein ließ ihn erkennen, dass die Sitzeinrichtungen rausgenommen worden waren. Auch sonst war der Innenraum beängstigend leer. Es lagen zwar im Raum Werkzeuge und Gerätschaften herum, die darauf schließen ließen, dass daran gearbeitet wurde, aber das Ganze wirkte irgendwie trostlos auf ihn.

Die Zeitmaschine stand vor ihm, als hätte man ihr die Eingeweide rausgenommen, um sie dann einfach sterben zu lassen. Natürlich war es nur eine Maschine, aber was für eine! Es tat ihm weh zu sehen, wie sie behandelt worden war.

„Warum?“, fragte er zu niemand Bestimmtem, aber durch die Halle klang seine Stimme kraftvoll, da sie noch verstärkt wurde.

 Er drehte sich dazu nicht einmal um.

„Wegen des Experiments“, klang Derrons Stimme auf. „Es hätte sonst zu wenig Platz für alle Teilnehmer gehabt.“

Er schloss die Tür. Ein Kleber fiel ihm ins Auge. Der hatte damals die Maschine noch nicht geziert. Es handelte sich dabei um eine menschliche Karikatur, die mit laufender Nase abgebildet war. Darunter der Spruch: „You may think it’s funny, but it’s Snot.“ 

Im wahrsten Sinn des Wortes!

Er nahm den Kleber ab, zerknüllte ihn und steckte den Abfall in die Außentasche seines blauen Sakkos. Dann wandte er sich um und blickte Ma Kirby und Aldega Derron nacheinander in die Augen.

„Derron. In all der Zeit, in der wir früher zusammenarbeiteten, hast du mich da jemals einen Drink nehmen sehen?“

„Nein. Nicht, dass ich mich erinnern könnte.“

„Dann bring mich jetzt zu einer Bar.“

 

 

***

 

 

Draußen gingen die Angriffe unerwartet heftig weiter. Man war es im Center gewohnt, dass dies in gewissen Abständen geschah, jedoch nicht mit dieser Stärke. Normalerweise waren es einfach die Vampire, die versuchten einzudringen oder doch wenigstens ausfindig zu machen, weshalb der Orden so viel Manpower dafür verwendete, das Gebäude zu beschützen. Manchmal griffen sie mit etwas mehr, öfters jedoch mit etwas weniger Ehrgeiz an. Dieses Mal war es aber ganz anders. Diese Mal gab es eine Allianz zweier oder sogar mehrerer Rassen, die sonst das Heu nicht unbedingt auf derselben Bühne hatten. Und das verlieh dem Ganzen einen ganz anderen Aspekt.

Beim genaueren Hinsehen wurde jedoch klar, dass es schlimmer hätte kommen können. Als würden sie ihre Kräfte zurückhalten. Als ginge es nur darum, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Ort zu lenken.

Was niemand wusste: Als kurz vor Mitternacht die Angriffe etwas nachließen, wurde eine Vorrichtung über die Mauer gebracht, die wie ein Zirkel aussah. Dieser begann sich zu drehen, sobald er Bodenkontakt aufnahm, wurde aber schon bald darauf von den magischen Abwehrkräften erkannt und neutralisiert. Der Schaden war jedoch schon angerichtet.

Innerhalb des Centers wurde ein Abgesandter der Schwarzen Familie aktiv. Aber davon bekam vorerst niemand etwas mit.

Vorerst ...


<!--[if !supportLists]-->1.      <!--[endif]-->Kapitel:

Herren der Zeit

Die letzten paar Jahre waren einige unserer besten, aber gleichzeitig auch einige unserer schlechtesten Zeiten gewesen. Die besten, weil immer noch ein Nachfahre Christi unter uns Menschen weilte und allein schon durch seine Anwesenheit mithalf, dass die Mächte der Finsternis in ihre Schranken verwiesen wurden! Es war zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber doch immerhin ein Tropfen. Und ist es nicht bekanntlich der Tropfen, der durch seine Stetigkeit den Stein höhlt?

Allein schon dadurch gab es Hoffnung auf dieser Welt. Und es war dieses Gefühl, das dem Orden verhalf, den Kampf gegen die Schwarze Familie zu führen, ohne sich einfach still in eine Ecke zu flüchten, die Haare zu raufen und aufzugeben.

Selten ging der Orden wirklich siegreich aus diesen Auseinandersetzungen hervor. Meistens sprang er dem Sensenmann nur ganz knapp von der Klinge. Es gab natürlich Todesfälle zu verzeichnen. Sehr viele sogar! Und das über die meisten Jahre, in denen der Orden seine Verteidigungstaktik beibehielt. – Und das waren noch die guten Jahre!

Dass es gleichzeitig auch unsere schlechteste Zeit war, lag darin begründet, dass das Zünglein an der Waage nicht wirklich zu unseren Gunsten schwang. Der Orden war immer nur einen knappen Schritt voraus. Es reichte immer gerade den Schatz in Sicherheit zu bringen oder wichtige Personen mit Müh und Not an einen anderen, geheimen Ort zu schleusen.

Nur stellte sich hier die Frage: Würde es auch in Zukunft reichen?

Was wäre, wenn auf einmal der Aufwand zu wenig war? Wenn alle Gleichungen zuungunsten des Ordens ausfielen und er an einem Punkt angegriffen wurde, der zwar wichtig, aber nicht von ihm in Betracht gezogen wurde?

Was geschähe, wenn der Orden plötzlich alle Trümpfe in den Händen hielt und er dann mit Schrecken feststellen musste, dass die Schwarze Familie eigentlich mit ihnen Schach spielte?

Die Folgen für die Menschheit wären von umfangreicher Konsequenz! Tod und Verderben würden kommen und reiche Ernte halten. Mehr, als es jetzt schon da draußen geschah. Und in einem Umfang, der, um einen Vergleich heranzuziehen, den Zweiten Weltkrieg als ein Geplänkel erscheinen ließe.

Das Schlimmste wäre jedoch, dass mit dem letzten Schatz und dem letzten Hüter auch das Licht von der Erde verschwinden würde. Licht, das den Menschen bislang Leuchtturm gewesen war in einer Zeit der Finsternis und die Dunkelheit erfolgreich vertrieben hatte.

Dann gäbe es nur noch den Weg des Bösen! Alles andere, Freude, Glück, Liebe und freier Wille, würden verkümmern, und wahrscheinlich sogar für immer von dieser Welt verschwinden.

Darum war es nur recht und billig, dass die Ziele mit dem neuen Hüter eine andere Richtung bekamen. Weg von der Mentalität, dass die Guten bei einer Auseinandersetzung die andere Wange hinhalten sollten. Der Gute soll immer einschreiten, wenn Unrecht geschieht! Denn nur, wo das Gute die Augen verschließt, hat das Böse die Möglichkeit, sich niederzulassen!

Kämpfe für dein Recht! Kämpfe für das Licht! Kämpfe für das Gute! Kämpfe für dich!

 

Es klang wie ein Schlachtruf, dachte Ma Kirby, als sie die Rede noch einmal durchlas, die sie vor wenigen Tagen auf einem Symposium des Ordens gehalten hatte. Viele hatten es an der Zeit gefunden, dass endlich etwas geschah und man damit aufhörte, nur die Hände in den Schoß zu legen, um Däumchen zu drehen. Der Orden hatte dies schon zu lange getan! Und sie hatte diese Tendenz in Worte gefasst.

Das Auftauchen des neuen Hüters war wie eine längst fällige Antwort auf ein ausstehendes Gebet gewesen, das von Gott endlich gewährt wurde. Der verheißene und letzte Hüter war schlussendlich gekommen! Die Entscheidung war nahe!

Sie konnte noch nicht schlafen, obwohl sie müde war. Die Aufregung des Tages hielt sie immer noch fest im Griff. Der Gedanke an Dieter Feldmann ebenso, musste sie sich in mädchenhafter Verlegenheit eingestehen. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, dabei hatte sie ihn gerade erst kennengelernt. Sie konnte den Finger nicht wirklich darauf legen, aber sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart, ohne sagen zu können, warum das so war. Dabei hätte sie ihm eigentlich etwas kritischer gegenüberstehen sollen. Sie mochte es nicht, dass jemand zu viel über sie wusste. Und wie es aussah, war sie für Dieter Feldmann ein offenes Buch. Aber irgendwie brachte das in ihr andere Gefühle hervor als etwa Angst oder Unsicherheit.

Vielleicht waren es aber auch die vielen Kaffees, die sie seit dem frühen Morgen stetig zu sich nahm, und sie in Tat und Wahrheit vom wohlverdienten Schlaf abhielten, versuchte sie sich einzureden. - Aber meist erfolglos.

Dann war da noch der „kleine“ Umstand des Vollmondes. Normalerweise bekam sie ihn nicht einmal mit, aber vielleicht hatte das ja etwas mit dem Alter zu tun. Sie wurde älter, das war unbestreitbar, und reagierte dadurch auch eher auf den Mond. Möglich war ja schließlich alles.

Und wenn man obige Punkte alle zusammen nahm, ergab das doch eine glänzende Kombination von einem Wachhalter!

Sie erhob sich etwas ungelenk vom Bett, auf das sie sich niedergesetzt hatte, um in Gedanken zu wühlen, bevor sie dann die Seiten mit der Rede ein weiteres Mal durchlas, die daneben auf einem kleinen Tischchen lag. Die Worte waren ihr einfach so aufs Papier geflossen. Als hätte jemand anders ihre Hand geführt.

Sie legte die Brille auf die Blätterstapel. Den weißen Kittel hatte sie über eine Stuhllehne gelegt, den sie jetzt erneut überzog, als sie ein weiteres Mal in die Schuhe schlüpfte, die sie zuvor achtlos an der Tür abgelegt hatte, als sie die Zweizimmerkammer vor etwas über einer Stunde betreten hatte. Es brachte nichts, hier rumzulungern und wie ein eingesperrtes Tier von einer Wand zur anderen zu laufen. Sie würde nicht schlafen können. Da war sie sich sicher. Sie konnte also genauso gut in die Kantine gehen und anschließend nachschauen, was sich in ihrem Büro angehäuft hatte. Zum Glück war sie nicht wirklich darauf angewiesen, dass sie den Tag durch ihre Arbeit verrichten musste. Und zu schlafen vermochte sie dann, wenn sie sich der Müdigkeit ergeben konnte und das Koffein seine Wirkung verloren hatte.

Auf dem Gang herrschte eine schummrige Dämmrigkeit, was jedoch nichts damit zu tun hatte, dass es Nacht war. In den Quartieren wurde immer etwas reduziert beleuchtet. Die Absätze ihrer Schuhe waren deutlich zu vernehmen und kamen sogar als Echo zurück. Welcher Konstrukteur kam auch auf den Gedanken, Parkett zu verwenden? Sie hoffte nur, dass sie niemanden um seinen oder ihren Schönheitsschlaf brachte.

Sie musste erneut an Dieter Feldmann denken, als sie den Weg zum Lift einschlug. Und wie sie dies tat, verzogen sich ihre Lippen zu einem Grinsen.

Sie hatten ihn zu der Kantine im Center gebracht, die zu dieser Zeit normalerweise angefüllt war mit Leben. Jetzt, zur Zeit des Angriffes, machte sie einen verlassenen Eindruck. Es brannte zwar überall Licht, aber niemand ließ sich blicken. Aus der Küche drangen verhaltene Geräusche, die aber kaum wahrnehmbar waren.

Die Einsamkeit des Raumes schlug sich nicht gerade positiv auf ihre Stimmung aus, und so war das Amüsement von zuvor relativ rasch verflogen.

Es dauerte nicht lange und Dieter Feldmann bekam etwas Hochprozentiges angeboten. Er stürzte es in den Rachen, ohne wirklich zu wissen, was er da genau trank. Es schien ihn aber auch nicht groß zu interessieren. Er schüttelte sich kurz und verlangte noch einen, der ebenso rasch weggesteckt wurde.

Dieter Feldmann zeigte sich betroffen, dass dieses – wie hatte er es genannt? – „Gerippe von einem Fortbewegungsmittel“ einfach so dastand. Wie bestellt und nicht abgeholt. Repräsentierte es doch ein Gerät, das so fortgeschritten und hoch technisiert war, dass es durch die Zeit reisen sollte. Und erst noch von einer Person erdacht worden war, die man im fünfzehnten Jahrhundert als ein Genie bezeichnet hatte: Leonardo da Vinci. Man beachte: Vor über fünfhundert Jahren! Dem Meister der italienischen Hochrenaissance, der sowohl Maler und Zeichner, Bildhauer und Architekt, Ingenieur und Naturwissenschaftler, Literat und Philosoph gewesen sein soll. Wie, um alles in der Welt, hatten diese Leute nur die Zeit für diese Dinge gefunden? Vor allem, weil sie erst noch weniger alt als die Menschen von heute wurden.

„Mann, ich habe zuhause einen Toaster der nach mehr Hightech aussieht als diese Zeitmaschine.“

Ma Kirby hatte zu diesem Zeitpunkt gemerkt, dass Dieter Feldmann nicht wirklich nur über die Zeitmaschine sprach, als vielmehr einem Schmerz Ausdruck verlieh, der ihn wegen etwas anderem in seinem Leben verletzt haben musste. Es war jedoch der desolate Zustand der Maschine gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Sie hörte ihm einfach zu und ließ ihn reden. Vielleicht nahm dadurch der Schmerz etwas ab.

Etwas später war eine der Wachen eingetreten, die sie vor dem Tor kontrollierte, und hatte Aldega Derron auf die Seite genommen. Er wirkte etwas fahrig, als habe er eine Schreckensmeldung zu verkünden und fürchte sich davor, als Überbringer von schlechten Nachrichten dafür verantwortlich gemacht zu werden.

Ma Kirby bekam trotzdem alles mit, was gesprochen wurde, da der Raum eine spezielle Resonanz abgab, die einem Theater glich. Man musste sich nicht einmal anstrengen.

Der Angriff auf das Center laufe immer noch, wurde Aldega Derron informiert. Eine Mitteilung, die der TS-Chef relativ ruhig entgegennahm, wie ihr auffiel.

Erst die weitere Nachricht, dass es wahrscheinlich eine Allianz zwischen Vampiren und Werwölfen gebe, brachte bei ihm ein erstauntes Gesicht zutage. Jedoch keine Furcht oder etwa Besorgnis. Er nahm es zur Kenntnis und war wahrscheinlich nur über den Umstand überrascht, dass es so etwas überhaupt gab. Konnte es sein, dass die Schwarze Familie nach all den vielen Jahren noch zu lernen bereit war?

Es schien so zu sein. Ein Gedanke, der in sich weitere Möglichkeiten barg, denen man sich zu gegebener Zeit umfangreicher widmen musste.

Sie hatten sich dann an einen anderen Ort begeben. Das Sitzungszimmer beziehungsweise eines der fünf, würde ihnen für einige Zeit Ruhe geben. Dieter Feldmann nahmen sie einfach mit. Er schien sich einigermaßen gefasst zu haben. Als sie den Sitzungsraum betraten, hatte sich der Gemütszustand des Ordensmitgliedes grundsätzlich geändert, und er trug plötzlich eine Maske der Verschlossenheit, die ihn unnahbar erscheinen ließ.

Einen Teuro für deine Gedanken, ging Ma Kirby durch den Kopf.

Sie wollte das Wort an ihn richten, aber sie drang mit ihrer Anwesenheit nicht wirklich zu ihm vor. So ließ sie den halbherzigen Versuch schließlich bleiben. Stattdessen ließ sie Essen und Trinken kommen, wie sie das Dieter Feldmann vor einiger Zeit versprochen hatte. Dieser griff auch herzhaft zu, wobei er dabei nicht wirklich in ein Gespräch zu verwickeln war. Sie konnte ihm das nicht einmal verdenken.

Aldega Derron war mit den Meldungen beschäftigt, die ihn über das Comsystem erreichten, das etwas abseits in die Wand eingelassen war. Funk kam hier unten nicht mehr durch, dazu waren sie nun zu tief.

Da die Herren so einen beschäftigten Eindruck machten und auch gut ohne sie auskommen würden, beschloss sie, sich zurückzuziehen, und ihr Büro aufzusuchen. Irgendetwas würde ihr da schon einfallen zu machen, dachte sie etwas mürrisch. Vor allem auch, weil keiner der beiden groß auf ihre Erklärung, zu verschwinden, reagierte.

Als sie nach gut zwei Stunden zurückkam, waren beide Männer verschwunden und die Kantine abgedunkelt. Es trieben sich zwei kleinere Einheiten zu drei Leuten rum, die Snacks und Getränke aus den Automaten holten, aber sonst war die Kantine zu. Das Licht fast schon gelöscht, wobei nur das der Automaten die Tische und Stühle erhellte und etwas aus der Dunkelheit holte.

Sie beschloss ebenfalls, in ihr Zimmer zu gehen und dort hoffentlich etwas Ruhe zu finden. Was ihr leider versagt blieb und sie zu so später – oder auch früher – Stunde wieder auf den Weg zur Kantine brachte.

Die Schwingtür quietschte etwas in den Angeln, als sie sie durchdrückte, eintrat und den schummrigen, leeren Raum dahinter betrat. Es war drei Uhr morgens. Was hatte sie auch anders erwartet ...

Sie fand den richtigen Schalter, der über einem der Tische Licht machte, an dem sie sich niederlassen wollte, und ging anschließend etwas Kaffee aufsetzen. Der Koch sah es zwar nicht unbedingt gerne, wenn jemand in sein Reich eindrang und eine Unordnung veranstaltete, wie er es zu bezeichnen pflegte, aber sie hütete sich davor, etwas in der Richtung zu machen. Schließlich war er selber schuld, wenn er es vergaß. Sie hatten so etwas wie eine stille Abmachung, da sie den Kaffee aus dem Automaten nicht vertrug.

Sie wollte sich gerade mit einer dampfenden Tasse an den Tisch setzen, als die Schwingtür aufgestoßen wurde und Dieter Feldmann eintrat. Er tat dies etwas schnaufend und mit einem leicht angespannten Gesichtsausdruck, da er in den Händen einen ganzen Haufen Ordner und Unterlagen trug, die sie ihm bereitgelegt hatten. Zusammen mit den Dokumenten, die er bei seiner Anreise mitgebracht hatte, ergab das einen so großen Stapel, dass er bedauerte, wegen eines Geburtsfehlers nur zwei Arme zu haben. So balancierte er jetzt alles vor sich her, was es über die Experimente zu wissen gab. Er war ja gekommen, um an einem solchen teilzunehmen. Umso besser, wenn er sich etwas in deren Geschichte auskannte.

Als er sie sah, verharrte er erstaunt, kam dann aber schließlich doch näher.

„Ist der Platz noch frei?“, fragte er übertrieben freundlich. Ein Lächeln umspielte dabei seine Lippen, als wisse er mehr, als er offenbarte, aber vielleicht interpretierte sie das auch ganz falsch.

Sie nickte und deutete mit einer galanten Bewegung auf die Stühle, die den einzigen beleuchteten Tisch umrahmten und an dem sie sich gerade anschickte, sich niederzulassen. Sie setzte sich. Anschließend nahm sie einen Schluck Kaffee und stieß mit dem Fuß einen weiteren Stuhl zurecht, auf dem sie ihre Beine ausstrecken konnte, und machte es sich gemütlich.

„Was treibt denn Sie um diese gottlose Zeit in die Kantine, Mister Feldmann?“

Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als die Unterlagen auf den Tisch polterten, auf die er die Last niedergelegt hatte. Wild griff er um sich. Und bevor der ganze Haufen vollständig ein Eigenleben entwickeln konnte, half sie mit, nach Ordnern und Folien zu greifen. Aus einem großen Haufen wurden schließlich ein paar kleinere, aber die hielten wenigstens still.

„So, das hält wohl vorerst.“

Dieter Feldmann setzte sich endlich, als der blaue Sakko über der Lehne lag: Schwer, müde und ausgelaugt sah er aus. Anschließend streckte er sich und begann gleichzeitig die Krawatte mit der linken Hand zu lösen. Ma Kirby bekam mit, wie er die rechte wieder schonte. War wohl doch etwas zu schwer gewesen, aber sie sagte nichts. Ihr fiel nur auf, dass er so gelöst doch gleich viel menschlicher aussah.

„Die Räume haben mich etwas depressiv gemacht“, meinte er, als er die Schlinge aufrollte und neben ihre Tasse stellte.

„Für uns ist es gerade gut genug.“

„Das glaube ich gerne. Aber ich habe eine leichte Klaustrophobie. Und nach Möglichkeit gehe ich der gerne aus dem Weg. - Ist eigentlich eine alte Sache aus dem Militär ...“ Er winkte ab, als sei sie kaum mehr der Rede wert, bevor er fortfuhr.

„Und da es im Raum gar keine Fenster gibt, da wir so weit unter der Erde sind, schlug es mir aufs Gemüt. Von der Größe der Gemächer will ich gar nicht erst reden. – Jedenfalls kam in mir das Gefühl auf, dass in diesen Raum Probleme hingehen, um zu sterben.“

„So schlimm wird ja hoffentlich nicht sein“, meinte sie schmunzelnd.

„Jedenfalls ist es hier viel offener und erträglicher. Und mit Ihnen als Gesellschaft doch eine Freude ...“

Sie schnitt ihn ab:

„Es sieht aber ganz danach aus, als würde ich Sie von etwas sehr Wichtigem abhalten.“ Dabei deutete sie auf seinen Lesestoff.

Dieter Feldmann blickte zuerst auf die vielen Mappen und Folien, die aus den Ordnern gerutscht waren, bevor er ihren Blick erwiderte.

„Es gibt einiges zu tun, das gebe ich zu. Aber viele der Unterlagen sind so zäh zu lesen und so statisch und leblos, dass ich Sie fragen wollte, ob Sie mir mit Ihren Worten erzählen könnten, was hier geschehen ist.“

„Das haben Sie vorher aber nicht gewusst, dass ich da bin, oder?“

„Nicht wirklich. Gehofft ja, aber gewusst: Nein.“

Sie musste ihn etwas skeptisch angeschaut haben, da er sogleich nachdoppelte:

„Von der späten Stunde ganz zu schweigen. Bis ich das alles durch habe, brauche ich sicher zwei bis drei Tage. Und etwas schlafen würde ich ja auch ganz gerne.“

Ma Kirby setzte sich gerader hin und musterte ihn misstrauisch. Eigentlich war ihr ja nach Grinsen zumute, aber sie ließ ihn doch ganz gern noch etwas zappeln.

„Ganz sicher, dass der Ordensmeister Feldmann keine tiefgründigeren Motive hat als das Gesagte?“

Er sah sie ihn gespieltem Entsetzen an, als wäre er beleidigt, dann meinte er in einem gekünstelten französischen Akzent: „Madame, gönnen dies’ Augen lügen?“

„Wer weiß? Können sie? – Kaffee?“

„Eigentlich wäre mir nach etwas Stärkerem zumute, aber ich denke mir, dass in Anbetracht der Situation Kaffee doch eher gerechtfertigt ist.“

„Also ja?“

„Gerne.“

Sie erhob sich und ging in die Küche eine weitere Tasse holen. Den Pott nahm sie anschließend mit raus und stellte ihn auf einem Untersatz auf den Tisch. Dieter Feldmann folgte aufmerksam jeder ihrer Bewegungen. Als sie es bemerkte, wurde sie etwas verlegen.

„Was ist?“

„Nichts.“

Aber er grinste dabei breit. Ein Umstand, der sie noch verlegener machte.

Als beide Tassen gefüllt waren, gab sie ihm die seine, und sie prosteten sich zu, als würden sie sich auf dem Oktoberfest befinden und aus Humpen trinken.

„Ich bin Dieter.“

„Ich weiß ... oh.“

Sie verschluckte sich fast an dem heißen Gebräu. - Was war bloß los mit ihr?

Dieter Feldmann prostete ihr noch einmal zu und meinte dann sinnierend:

„Ma. Woher kommt das?“

„Woher kommt was?“

Sie hatte das Gefühl, dass er wieder etwas von ihr wissen wollte, dass sie noch mehr in Verlegenheit bringen würde. Sie kam sich wie ein pubertierendes Mädchen vor, wusste sich aber nicht dagegen zu wehren.

„Das Ma? Ich weiß, dass du mir schon früher am Abend etwas darüber erzählen wolltest, aber wir wurden gestört ...“

„Oh, klar.“ Und nach Sekunden des Überlegens, und ohne dabei rot zu werden: „Ich bin einfach die Ma hier. Jeder kommt zu mir, wenn er ein Wehwehchen oder sonst ein Problem hat, als ob ich ihre Mutti wäre. Und das hat sich schließlich auf meinen Rufnamen abgefärbt: Ma Kirby.“

Dieter Feldmann nahm ihre Erklärung auf und schien noch etwas ihrer Aussage nachzuhängen, als sie plötzlich zu lachen anfing.

„Was ist? Was habe ich gemacht?“, wollte er in gespieltem Entsetzen wissen.

„Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du hast mir das doch glatt abgekauft.“

„Aber klar doch. Weshalb sollte ich nicht?“

„Weil es totaler Quatsch ist!“

Er schüttelte leicht den Kopf, wobei sein nach hinten gekämmtes, weißes Haar in der Deckenbeleuchtung schimmerte.

„Mein Name ist Mathilda Kirby Otash. Aber gewisse Individuen haben Schwierigkeiten mit langen Namen. Ich gebe es ja zu, dass ich die Leute gerne etwas bemuttere, aber schlussendlich ist es nur die Abkürzung von Mathilda.“

„Und das ist’s dann schon gewesen?“, fragte er misstrauisch nach.

„Aber klar doch“, erklärte sie mit einem unverschämten Grinsen.

Dann wiederholte sie den Ausspruch von vorher, während sie schelmisch mit den Augenaufschlägen zu klimpern begann:

„Gönnen dies’ Augen lügen?“

„Wie es scheint schon. – Touché.“

Es verstrichen ein paar Sekunden, in denen sie sich musterten, aber doch jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Als Ma Kirby spürte, dass ihr die Röte in die Wangen fuhr, griff sie zur Kaffeetasse und nahm langsam ein paar Schlucke zu sich. Dieter Feldmann tat es ihr nach, und sie starrten sich einige Zeit so an.

„Was ist?“

Er schüttelte nur leicht den Kopf und zog anschließend eine Unterlage zu sich und öffnete diese demonstrativ.

Sie selber griff zu ein paar Heften der Klatschpresse, die auf dem Nebentisch lagen, und blätterte diese unmotiviert durch. Sollte sie etwa sagen, welche Wirkung er auf sie ausübte, oder musste er die Initiative ergreifen und das Thema ansprechen?

„Aldega Derron hat früher auch noch etwas erwähnt, das er nicht ganz fertig erklären konnte“, fing Dieter Feldmann an zu sprechen. „Etwas wegen der Zeitmaschine, die in dem großen Raum ganz gut aufgehoben sei. Aus was für einem Grund wäre das?“

Ma Kirby schürzte die Lippen, bevor sie antwortete:

„Das kann damit im Zusammenhang stehen, dass die Maschine ein Feld knisternder Energie aufbaut, das wächst und wächst, um dann in einem entladenen Blitz zusammenzufallen.“

Mit den Händen vollführte sie Bewegungen, die ihre Aussage noch verdeutlichen sollten.

„Wuuusch! Als knalle Luft in ein Vakuum, an dessen Ort Sekundenbruchteile zuvor noch ein Gegenstand von massiver Materie den Platz eingenommen hatte.“

„Woher baut sich die Energie eigentlich auf? Kommt die aus der Maschine selbst oder von irgendwo außerhalb?“

„Das ist eine gute Frage.“ Sie blickte ihn durchdringend an. „Wie soll ich das jetzt ausdrücken? Wir müssen keine Energie zuführen. Also muss sie aus der Maschine selbst kommen.“

„Das klingt so, als wäre das noch nicht alles gewesen,“ konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Allerdings.“

Sie setzte sich auf dem Stuhl nach vorne und holte tief Luft.

„Unsere Überwachungsgeräte haben ohne Zweifel festgestellt, dass die Energie aus der Maschine kommen muss, aber ...“

Dieter Feldmann nickte und gab zu verstehen, dass sie seine totale Aufmerksamkeit hatte. „Aber?“

„... aber das Dumme ist nur, dass da nichts ist!“

„Wie ‚nichts ist’?“, hakte der Ordensmeister nach.

„Genau so, wie ich es gesagt habe. Sie haben die Maschine soweit auseinander genommen, wie es ihnen möglich war und sie es auch wagten. Nur war da nichts, was auf eine Energiequelle hinwies, die einen Gegenstand dazu befähigte, mit so viel Power aufzuladen, dass er durch die Zeit reisen konnte.“

„Als würde aus dem Nichts eine Zufuhr vonstatten gehen.“

Es war keine Frage, die er da von sich gab, als vielmehr eine Feststellung. Sie sah, dass er das Problem – sollte es sich denn um ein solches handeln – kapiert hatte. Es tat der Zeitmaschine und ihrem Nutzen soweit keinen Abbruch. Nur hätten sich die Wissenschaftler wohl um etliches besser gefühlt, wenn sie das Kind beim Namen hätten benennen können.

„Es ist beinahe wie bei Tesla“, sagte Ma Kirby.

„Bei wem?“

„Nikolai Tesla. Der Erfinder des Gleichstroms.“

„War das nicht Edison?“

„Der hat den Wechselstrom erfunden. Aber was ich damit sagen wollte ist folgendes: Tesla experimentierte gegen Ende seines Lebens auch mit Energie, die er, seinen Ausführungen nach, direkt aus dem Universum zapfte.“

„Du nimmst also an, dass sich beide der selben Energiequelle bedienten?“

Ma Kirby nickte nur.

„Und was ist diese Energie? Woher stammt sie?“

Sie lächelte ihn mit dem nächsten Wort überlegen an.

„Gott.“

Er musste grinsen.

„Das ist jetzt sicher deine Interpretation und nicht die der Wissenschaftler?“

„Aber sicher.“

„Hast du sie einem von ihnen schon mal unterbreitet?“

Sie winkte sofort ab.

„Ich werde mich doch hüten einem Mann der Wissenschaft eine solche These zu unterbreiten! Vor hundert Jahren wäre das vielleicht noch möglich gewesen, doch heutzutage halten sie nicht mehr so viel vom alten Mann mit Bart. – Aber es soll mir einer das Gegenteil beweisen!“

Das meinte sie lächelnd, obwohl Bestimmtheit aus ihren Worten drang.

„Allerdings. Ist diese Energie gefährlich?“

„Nicht wirklich. Aber man sieht es natürlich. Vor allem in der Dunkelheit.“

Das Ordensmitglied nickte verstehend. Er ließ ihr Zeit, Luft für weitere Ausführungen zu holen, die unweigerlich folgen mussten.

„Es kann ja sein, dass Aldega Derron meinte, dass es besser sei, diese Experimente unter Tage zu machen als dort, wo sie von jedermann gesehen oder auch angepeilt werden können. Schließlich muss man den Italienern nicht auf die Nase binden, dass im Center Dinge geschehen, die am besten in ein Tuch des Schweigens gehüllt werden.“

„Wird das immer so bleiben?“

„Was?“

„Die Blitzentwicklung.“

„Wir sind dabei, etwas dagegen zu unternehmen. Schließlich soll man nicht schon auf Meilen sehen, dass die Zeitmaschine irgendwo landet oder sich auch wieder davonmacht.“

„Gut gedacht.“

Gedankenversunken strich er sich dabei mit Daumen und Zeigefinger über den knappen Oberlippenbart.

„Es gibt jedoch etwas, das wir noch nicht ganz im Griff haben.“

Neugierig blickte Dieter Feldmann hoch.

„Bei jedem Sprung ereignet sich so etwas wie eine Schockwelle, die sich auf der Richterskala messen lässt, die eigentlich Erdbeben vorbehalten ist.“

„Ist es schlimm?“

„Nicht gerade schlimm, wenn man ein normales Erdbeben zum Vergleich zieht, aber doch messbar.“

„Was halten die Italiener davon“, wollte er wissen.

„Wir wurden natürlich sehr direkt auf politischer Basis darauf angesprochen, ob wir unterirdische Waffen testen würden, aber bis jetzt verhielt sich die italienische Regierung sehr kulant. Die Frage, die sich hier aber stellt, ist wie lange noch.“

„Und auch wie lange es dauert, bis die Schwarze Familie ihre Spione an Ort und Stelle hat. Sprich: Hier.“

„Allerdings.“

Dieter Feldmann ergriff den Pott und schenkte sich einen weiteren Kaffee ein. Ma Kirby verneinte kopfschüttelnd.

Einen bestimmten Ordner in der Hand schwenkend, fragte er anschließend:

„Hier steht, dass das erste Zeitexperiment durch einen dummen Zufall ausgelöst wurde.“

„Das ist richtig. Ohne diesen sogenannten Zufall wären wir wohl alle nicht hier.“

„Warst du damals schon dabei?“

Ma Kirby schüttelte den Kopf, dass ihre dunkle Haarpracht in Wallung geriet.

„Nicht wirklich. Aber ich habe einiges mitbekommen. Wenn du willst ...?“

„Gerne. Das Zeug da“, und er deutete erneut auf die mitgebrachten Unterlagen, „wurde wohl von Bürokraten geschrieben. Es kommt mir nicht so vor, als wären Menschen daran beteiligt gewesen, geschweige denn darin umgekommen. Es liest sich eher wie eine Milchbüchlein-Rechnung.“

So begann Ma Kirby zu erzählen.

 

 

***

 

 

Vergangenheit: Die Entdeckung

PHASE eins: Diese berücksichtigte, dass das Tunnelsystem im Kyffhäuser für alle Unbefugten sofort abgesperrt wurde. Die Schwarze Familie hatte bereits einmal einen Weg in dieses Labyrinth gefunden. Diesem Treiben hatte Rotbarts Fluch zwar bereits entgegengewirkt, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. Zu viele Leute hatten ihren Weg bereits dahin gefunden, und es galt, diesem Tun einen Riegel vorzuschieben. Vor allem wenn man bedachte, welche Schätze hier unten vom Orden in all den Jahren angereichert wurden. Und damit sind nicht einmal die Geldwerte gemeint, die hier gehortet werden.

Inwieweit der Orden auch in Zukunft seine Versammlungen an diesem Ort abhalten würde, musste sich erst noch zeigen. Es galt abzuwarten und zu sehen, was sonst noch so passierte.

Der Eingang zum Glückshaus blieb vorläufig bestehen, da Mark Larsen sich als Hüter bewährt hatte. Und mal davon abgesehen, wusste niemand so richtig, wie dieser Eingang überhaupt funktionierte. Man schritt im Glückshaus durch eine Tür in der Küche, die eher aussah, als würde sie in eine Besen- oder Vorratskammer führen, als Hunderte von Meilen in einem Höhlengebirge zu enden.

 

PHASE zwei: Was aber nur die wenigsten wussten, ist, dass zuvor noch von TS-Leuten alles geräumt wurde, was gefährlich sein konnte. Oder dessen Funktionsweise verloren gegangen war und was sich als eine Gefährdung herausstellen konnte, sobald das Gerät oder der Gegenstand in falsche Hände fiel. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen! Vor allem ging es darum, all die Gegenstände zu verteilen, damit der Verlust nur gering wäre, sollte einmal etwas gestohlen werden.

An die zwanzig Leute kamen eines frühen Morgens am Eingang des Kyffhäuser-Labyrinthes an, um diese Aufgabe zu bewerkstelligen. Diverse große Trucks, vom Militär ausgeliehen, suchten sich den mühsamen Weg in die Höhe, um dann nach Stunden wieder zu verschwinden. In alle vier Himmelsrichtungen!

Es war eine belastende Zeit, da niemand sagen konnte, wie lange es dauern würde, bis Ableger oder Schergen der Schwarzen Familie auftauchen würden. Falls sie kamen und beobachteten, bekam jedenfalls niemand etwas davon mit.

Es war eine Operation, die die Treasure Security schon öfters gemacht hatte: Unbeachtet rein, Staub aufwirbeln und, während sich dieser wieder legte, verschwinden.

Mark Larsen spielte an diesem Tag mehrmals den „Pförtner“, damit Rotbarts Fluch wenigstens für seine Helfer aufgehoben wurde, wenn er mit ihnen die Sperre durchschritt. Mittlerweile nahm er dieses Los einigermaßen stoisch hin. Es brachte ja nichts, sich aufzuregen. Machen musste er es so oder so, und helfen konnte ihm dabei niemand.

Es ging auch einigermaßen alles wie geplant, bis man zur Zeitmaschine kam. Über deren Zweck wusste man zwar Bescheid, aber keiner konnte genau sagen, wie sie auf den Transport reagieren würde. War sie gesichert? Hatte man sie sogar als Falle aufgestellt? Jedenfalls waren die TS-Leute zur äußersten Vorsicht angehalten worden.

Als es darum ging mit dem Gabelstapler die Zeitmaschine hochzuheben, gingen vorab zwei Mann in die Postkutsche, um sich ein Bild davon zu machen, wo man die Bänder festzurren konnte. Und auch, um die Sache ein bisschen im Auge zu halten. Während diese Männer im Innern ihre Arbeit verrichteten, hantierte ein weiterer außerhalb der Kutsche an deren Rückseite rum. Da diese keine Räder besaß, musste sich jener Mann nicht einmal groß strecken, um die Riemen durchzureichen.

Innerhalb der Kutsche hatten die TS-Leute provisorisch auf den Sitzbänken rechts und links Platz genommen. Viel gab es davon nicht wirklich! Mit etwas Glück brachte man auf beiden Seiten zwei Leute hinein, die aber in den Schultern nicht zu breit gebaut sein durften, und tief einatmen konnte dabei niemand wirklich.

Es stand ihnen aber auch nicht der Sinn nach ausruhen, als vielmehr die Riemen festzuzurren, die ihnen von außen und auch von hinten gereicht wurden. Dabei versuchten sie natürlich, dem Gerätekasten möglichst nicht zu nahe zu kommen. Was ein schwieriges Unterfangen war, da das Gehäuse mit der Skala etwas in den Raum ragte. Von den Schaltern und Hebeln gar nicht zu reden, die ihnen bei jeder Bewegung im Weg standen.

Hin und wieder streifte ein ängstlicher Blick die Zahl „1899“, die sowohl auf der Skala eingestellt war, als auch auf der Platte daneben, die von Leonardo da Vinci und einem Gregory van Vos sprach, wenn die Zeitmaschine wieder mal zu fest hin- und herschwankte.

Die Postkutsche sah aus, als wäre sie schon lange nicht mehr in Gebrauch gewesen. Eine dicke Staubschicht lag darauf, die zwar an einigen Stellen leicht verschmiert war, als hätten andere schon versucht etwas Genaueres über das Gerät ausfindig zu machen, aber sie regte dadurch zum Husten an. Einer der Männer griff sich bei einem solchen Anfall in einer Unachtsamkeit an den Mund, ohne bemerkt zu haben, dass sich eine Schlinge am Arm über einen der Hebel gelegt hatte, wie man später herausfand. Für alle anderen TS-Leute, die sich noch im Labyrinth aufhielten, gab es auf einmal einen lauten Knall, und der Platz, auf dem zuvor noch ein Gegenstand gestanden hatte, war plötzlich leer. Und die Luft trug den herben Beigeschmack von Ozon. Den Männern selber standen von der Energie, die hier entfacht worden war, die Haare zu Berge.

Es vergingen Stunden, in denen krampfhaft nach den verschwundenen Männern gesucht wurde, ohne sie zu finden. Es war ein Rätsel. Und obwohl der Name der Schwarzen Familie fiel, hielt sie niemand wirklich für schuldig an diesem Schlamassel. Es fanden sich keine schwarzmagischen Unreinheiten in der Luft. Diese war so weit sauber, was auch zu Erstaunen und Kopfschütteln führte.

Dann auf einmal gab es ein Geräusch, als würde ein Rennwagen vorbeisausen, um dann unmittelbar vor einem zum Stehen zu kommen. Dinge, die nicht am Boden festgemacht waren, wurden weggefegt. Als die Kutsche wieder vor den ungläubigen Augen der Männer materialisierte, kam ihnen ein Schwall heißer Luft entgegen, der dem einen oder andern die Kopfbedeckung wegriss oder ihn sogar zurücktaumeln ließ. Dann war es wieder ruhig und die Kutsche stand da, als wäre sie nie weg gewesen.

Die Männer der TS hatten ängstlich ihre Waffen im Anschlag, aber es zeigte sich niemand, den man hätte beschießen können.

Ein Team von drei Mann näherte sich dem Eingang zur Kutsche mit einem eher unguten Gefühl, und als sie die Tür aufrissen, sahen sie die zwei verschwundenen Kundschafter. Diese starrten sie so erschrocken an, dass ihre Augen fast nur weiß zeigten. Und das Komische daran war noch, dass sie aneinanderhingen, als würde ihr Leben davon abhängen. Aber sonst waren sie wohlauf.

Als sie wieder einigermaßen beisammen waren und man sie vernahm, bestanden sie darauf, dass sie nur für Sekunden verschwunden gewesen waren – wenn überhaupt! Es gelang ihnen jedoch nicht zu erklären, wo sie sich in diesen fehlenden Sekunden aufgehalten hatten.

Das einzige Opfer, das es zu beklagen galt, war jener Mann, der außerhalb der Postkutsche die Riemen hatte festzurren wollen. Mit dem Verschwinden der Maschine beziehungsweise dem Aufbau des Energiefeldes hatte es diesen in Stücke gerissen, da sich das Feld seitwärts nur knapp über die Postkutsche verbreiterte. Es hatte ihn senkrecht halbiert, und er musste tot gewesen sein, bevor der verbliebene Körper auf den Boden schlug, wo er noch für Sekunden hin- und herzuckte. - Es war ein fürchterlicher Anblick, der sich da den Leuten bot.

Bei der Rückkehr der Maschine tauchte die andere, fehlende Hälfte ebenfalls wieder auf. Sie bestätigte quasi die Aussage der zwei TS-Leute. Sie zuckte nämlich noch, als sie fast auf die gleiche Stelle fiel, wo Stunden zuvor noch die andere gelegen hatte. Und war dann genauso still wie diejenige, die zwei Meter daneben auf einer Bahre lag, von einem weißen Tuch bedeckt.

 

PHASE drei: Fabio Cassani ließ augenblicklich die Maschine nach Palermo verschieben. Noch wusste man nicht, was sie konnte, was sie jedoch an den Tag gelegt hatte, war grandios gewesen, trotz des Opfers, das es zu beklagen galt. Man musste sie austesten. So schnell wie möglich.

Er wusste, dass wertvolle Dinge in den Höhlen des Kyffhäuser-Labyrinthes lagen. Das Problem war nur, dass man noch von den wenigsten Gegenständen wusste, worum es sich dabei handelte und wozu sie gut waren. Sie hätten den Stein der Weisen herumliegen haben können, aber solange niemand wusste, wie er aussah oder wozu er genau zu gebrauchen war, konnte er irgendwo als Briefbeschwerer dienen und für immer verschwinden.

Aber nun, da der prophezeite, kämpfende Hüter gefunden war, würden sich diese Sachen unter Umständen als sehr hilfreich herausstellen. Vor allem galt es, diese Gegenstände auszutesten, deren Kapazität ausfindig zu machen und diese dann im Kampf gegen die Schwarze Familie einzusetzen.

Falls sich damit Wunder vollbringen ließen, wollte er der Erste sein, der davon Kenntnis erhielt. Oder wie er zu sagen pflegte: „Die Sphinx weiß es. Ich will es auch wissen!“

Er setzte also alle Hebel in Bewegung, damit er seinen Willen bekam. Er ließ seinen Charme sowie seinen Einfluss spielen, der ihn diesem Ziel näher brachte. Seine Argumentation war auch, dass er dieses Wunder von Maschine kaum einem anderen in die Hände geben wolle, da er mit Gewissheit wisse, dass er nur sich selber trauen konnte! Selbst dem Orden nicht, und er wolle doch keinen der anderen Meister in Versuchung treiben, erneut einen Verrat zu begehen!

Die Vorwürfe der Ordensmitglieder konnte er einigermaßen erfolgreich auf die Seite wischen und schließlich zum Verstummen bringen: Was wäre denn, wenn er zu einem Verräter werden würde und nun hiermit seinen Willen bekam? Was dann?

 

 

***

 

 

Gegenwart

„Hat sich der Vertrauensentzug negativ auf Fabio und seine Geschäfte ausgewirkt?“, bat Dieter Feldmann um eine genauere Definition.

„Am besten fragst du ihn dazu selber. Was ich dir sagen kann, ist Folgendes: Irgendjemandem musste man ja vertrauen! Vor allem musste endlich etwas getan werden. Da ging der Orden lieber mit einem mulmigen Gefühl auf den Vorschlag von Fabio ein, als vor Angst zu erstarren. Denn das war es ja, was die Schwarze Familie bezwecken wollte.“

Die Schwingtür ging auf, und ein Team von drei Frauen trat ein, um sich an den Automaten mit etwas zu versorgen, was wie ein Mitternachtssnack aussah. Ihre Uniformen hatten den glänzenden Eindruck verloren und waren mit Staub geradezu überzogen. Schwarz und Braun vermischten sich zu einer Farbe, die sich sehr gut zum Tarnen eignete. So, wie es aussah, war dies wohl das Ende einer langen Schicht.

Sie grüßten freundlich, und waren nach Minuten wieder verschwunden. Die Stimmen verklangen langsam in der Ferne.

Als sie wieder allein waren, richtete Dieter Feldmann eine Frage an sie, die ihn schon länger beschäftigte.

„Was sind denn das alles für Dinge, die man im Kyffhäuser weggeschafft hat?“

Ma Kirby schaute ihn ob dieser Frage etwas erstaunt an.

„Müsstest nicht gerade du das am besten wissen?“

„Du meinst, weil ich Ordensmitglied im höheren Range bin?“

„Du-uhh!“

Er sinnierte zuerst über seine Antwort nach, bevor er sie laut aussprach. Er beugte sich sogar näher zu ihr, als wolle er es vermeiden, dass noch andere Ohren mitbekamen, was er ihr zu sagen hatte. Ohren, für die seine Antwort nicht bestimmt war.

„Ich weiß sehr viel, was einem Haufen von Leuten einen Riesenschreck einjagen würde, wenn sie nur die Hälfte davon wüssten. Vor allem auch, weil ich Dinge gesehen habe, von denen schon Goethe nur Andeutungen machte.“

„Welche denn?“

„Über die Dinge zwischen Himmel und Erden, von denen sich die Schulweisheit nicht zu träumen wagt, dass sie existieren. Und dann kommt noch dazu, dass ich wissen will!

Je mehr ich weiß, desto mehr fühle ich, dass da noch mehr sein muss, das es zu wissen gilt. Es ist wie ein Drang, der einen packt. Man könnte es auch schon als Sucht bezeichnen.“

„Ist es mit der Aussage des Philosophen zu vergleichen: Je mehr ich weiß, desto klarer wird mir, dass ich noch gar nichts weiß?“

„Absolut! Und jedes Wissen bringt neues Wissen. Türen gehen plötzlich auf, die vorher keinen Sinn ergaben. Und das Erstaunliche ist ja, dass auf einmal Dinge in einem Zusammenhang zu etwas anderem stehen, von dem man sich nie auch nur geträumt hätte, dass diese zusammengehören. Und es zeigt sich dann auch ganz deutlich, dass Wissen Macht ist! Aber diese dann so einzusetzen, dass sie dem Wohle eines jeden Einzelnen zukommt, ist schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Und je mehr man weiß, umso deutlicher wird, dass Menschen an den Schalthebeln der Macht stehen, die diese Verantwortung nicht so ernst nehmen, wie sie sollten.“

Dieter Feldmanns Stimme erstarb zu einem resignierenden Flüstern. Es sah so aus, als habe er der Welt etwas zu bieten gehabt, und die Welt habe dieses Geschenk mit Füßen getreten. Es verschmäht.

Nach wenigen Sekunden der Stille fing er wieder zu sprechen an.

„Je mehr sich dieser Vorhang zu lichten begann, desto erstaunlicher war die Erkenntnis, dass all die Informationen vor einem liegen. Vor jedem Menschen. Man muss sie nur hochheben! Man findet sie sogar in den Zeitungen oder im Fernsehprogramm. Sie sind aber so versteckt, dass man sie übersieht. So offensichtlich sind sie platziert.

Das Erschreckende ist aber, dass es der größte Teil der Menschen vorzieht, unwissend zu bleiben.“

„Das ist nicht dein Ernst?“, versuchte Ma Kirby einzuwenden, was er jedoch beiseite wischte.

„Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe es nämlich versucht, die Leute aufzuwecken. Aber viele Menschen ziehen das Leben in Unwissenheit vor, als wissend etwas zu verändern. Denn sie haben ja ein Leben, ein Auto, einen Fernseher. Sie zahlen brav ihre Steuern und erfreuen sich an den erholsamen Ferien, die ihnen ein Job einbringt, den sie eigentlich hassen. Stimmt aber Ende Monat die Kasse, dann stimmt alles.“

„Das ist aber etwas harsche Kritik, die du da anbringst. Dann verallgemeinerst du ganz schön.“

„Ich weiß“, winkte er ab. „Es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es stimmt. Ob ich nun verallgemeinere oder nicht.“

Er blickte sie erwartungsvoll an, und sie musste schließlich nicken, obwohl sie dabei ein Gefühl hatte, als würde sie die Menschheit an den Pranger stellen.

„Ich bin ja auch nur ein Mensch, Mensch“, gab sie klein bei.

„Ich weiß, und ich doch genauso.“

Er nahm ihre Hand in die seine und drückte sie aufmunternd. Es war überhaupt nichts Sexuelles dabei, und doch gab es ihr ein warmes Gefühl in der Brust, da, wo das Herz seinen Platz innehatte. Spürte er ihre Gefühle? Als sie ihn aufmerksam beobachtete, bemerkte sie, dass er wieder in seine Gedanken abgedriftet war.

„Ich weiß viel, Ma. Aber es gibt Zeiten, wo ich mir auch wünschte, dass ich so wäre wie all die anderen. Wo ich einfach die Augen schließen könnte und denken: Es kommt schon gut. Einfach die Verantwortung jemand anderem überlassen. Sollen doch die anderen die Kohlen aus dem Feuer holen!“

Es klang wie eine Anklage. Und das war es sicher auch.

„Warum weißt du nicht, was alles im Kyffhäuser weggeschafft wurde?“, versuchte sie das Thema zu wechseln.

„Es gibt einige im Orden, die viel wissen. Keiner weiß alles. Das wäre auch zu gefährlich, falls einer von uns in die Hände der Schwarzen Familie fallen würde.“

„Ich dachte immer, dass an der Spitze des Ordens alle Fäden zusammenliefen?“

„Das tun sie auch. Ich würde sagen, dass Fabio Cassani als Großmeister das meiste Wissen hat. Wahrscheinlich weiß er als Einziger über alle Artefakte Bescheid.“

„Und der Rest?“

„Basiert quasi auf einer Need-to-know-Basis, und bis jetzt wurde es nicht für nötig befunden, mehr darüber verlauten zu lassen. Jedenfalls für mich nicht. Jedenfalls nicht, was über das Wissen der Zeitmaschine hinausgeht. Ich weiß zwar von einigen Gegenständen, die erforscht werden, der Großteil aber ist mir unbekannt.“

„Findest du das nicht etwas komisch?“

„Nicht im Geringsten. Es ist das, was unseren Orden die Jahre über am Leben erhalten hat. Es ist wie in einem Pokerspiel, Ma. Wir halten unsere Karten nah an die Brust. Nur so können wir uns vor Falschspielern schützen.“

Erneut schwang die Tür nach innen und dieses Mal betrat eine bekanntere Figur den Raum: Aldega Derron. Mehr schlurfenden Schrittes als sonst irgendwie. Er sah sehr müde aus. Und sein ausgemergeltes Gesicht sah noch älter aus, als es sonst schon den Anschein erweckte.

„Sieh an, noch mehr Mitternachtsspechte“, ließ er als Gruß fallen. Ma Kirby und Dieter Feldmann nickten ihm zu. Der TS-Chef blieb an ihrem Tisch stehen, streckte sich, dass es überall an seinem Körper knackte, und ließ sich schließlich in einen Sitz fallen. Was nach dem Strecken aussah, als habe er sich wieder etwas erholt, wirkte nach der unsanften Landung auf dem Stuhl wieder verpufft. Er sah müder aus als sonst. Zudem fiel Dieter Feldmann auf, dass sein Zahnstocher irgendwo verloren gegangen sein musste, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

„Was gibt’s Neues, Derron?“, wollte er wissen.    

Aldega Derron blickte ihn mit gezeichneten Augen an, bevor er rechts und links schaute und erst jetzt genau aufnahm, dass er um diese Zeit hier nicht bedient wurde. Mühsam erhob er sich wieder, und als Antwort auf die Frage wedelte er schwach mit der Linken ab. Er ging auf die Automaten zu, klaubte dabei einige Münzen aus dem TS-Trikot, warf etwas Geld ein und sprach dabei gleichzeitig nach hinten mit beiden am Tisch.

„Eigentlich nichts Neues im Westen, wie man so schön zu sagen pflegt.“

Der Automat gab ein surrendes Geräusch von sich, und Sekunden später konnte der Sicherheitschef eine Packung Chips und etwas Süßes in Empfang nehmen.

Aus dem Kasten daneben nahm er einen Espresso entgegen, der stark nach konzentriertem Kaffee roch. Damit kam er an den Tisch zurück.

„Dann ist also alles ruhig?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

Sie blickten ihn gespannt an, als er die Chips-Packung öffnete, eine Handvoll in den Mund steckte und ihnen – wie als Nachgedanke – die Tüte hinhielt. Ma Kirby griff hinein, während Dieter Feldmann passte.

„Wie ihr mitbekommen habt, lief da draußen einiges“, wies er mit dem Daumen nach oben. „Wir wurden angegriffen, aber das ist hier schon öfters geschehen. Und daher auch kaum erwähnenswert.“

„Warum nicht? Ein bestimmter Grund?“

Dieses Mal hakte der Ordensmeister nach.

„Es sieht einfach danach aus, als wolle man uns beschäftigen und als wolle man unsere Kräfte messen. Es sah so aus, als wollten sie nicht wirklich hineingelangen.“

„Ist es nicht etwas gefährlich, diese Einstellung zu haben?“

Aldega Derron schaute von seinem Espresso auf, den er mit einem genüsslichen Schluck wegzauberte. Die leere Plastiktasse stellte er zerknüllt auf den Tisch zurück.

„Warum?“

„Na ja, es könnte dann gut sein, dass du sie unterschätzt.“

Er brauchte nicht näher darauf einzugehen, wer „sie“ waren. Das wusste an diesem Tisch jeder. Eigentlich wusste das im Center jeder!

„Dieter“, klang Derrons Stimme bestimmt auf, „der Tag, an dem ich diese Dinger unterschätze, ist der Tag, an dem du mich zu Grabe tragen wirst. Ich bin vorsichtig und habe dies schon in meiner Antwort ausgedrückt.

Und du weißt höllisch gut, dass ich die Bekanntschaft mit diesen Biestern schon oft genug geschlossen habe, als dass mir das passieren würde.“

„Du hast Recht. Und ich entschuldige mich dafür.“

Aldega Derron nickte und blickte dann erneut suchend um sich. Auf dem Nichtraucherzeichen an der Wand am Eingang blieb sein Blick hängen. Seine Augen begannen, sich zu verfinstern.

„Was ich jetzt für eine Zigarette geben würde!“

Er ließ offen, was das genau war.

„Du rauchst noch?“, ging Dieter Feldmann darauf ein.

„Klar. Du?“

„Das letzte Mal bei der Hochzeit eines Kollegen. Ich bin ein Gelegenheitsraucher geworden“, winkte er dabei mit der Hand ab, wie um seine Antwort zu untermalen.

Wieder nickte Derron und ließ offen, was er davon hielt.

„Ich hielt den Zahnstocher für einen Ersatz. Weil du das Rauchen aufgegeben hast.“

Derron schüttelte den Kopf.

„Versuch du mal, in einem öffentlichen Gebäude in Italien eine Zigarette oder eine Zigarre anzuzünden. Dann weißt du gleich, wie es um den italienischen Charme bestellt ist.

Mann, von allen Ländern, die es gibt, versetzt man mich ausgerechnet nach Italien! Die sind hier ja fast noch schlimmer als zuhause, in den guten alten US of A! Und das will was heißen!“

„Was genau ist also da draußen geschehen?“, nahm Ma Kirby den Faden wieder auf. Sie hasste es, wenn etwas nicht zu Ende diskutiert wurde und man zu einem späteren Zeitpunkt wieder darauf eingehen musste. So wie jetzt.

Aldega Derron räusperte sich, bevor er zu einer Antwort ansetzte. Seine Hände griffen dabei zu einem der Ordner, die vor Dieter Feldmann lagen, und blätterten diesen durch, obwohl er den Augenkontakt zu Ma Kirby hielt. Es war, als hätten seine Hände ein Eigenleben entwickelt.

„Zum ersten Mal gab es eine Verbindung, wo sich Lykanthrop und Vampir verbanden, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Eine sogenannte Allianz.“

„Und was hat es damit auf sich?“

„So, wie es aussah, wurden die Angriffe etwas ausgeklügelter durchgeführt. Was heißen will, dass ein paar kluge Köpfe in der Schwarzen Familie sich zusammengetan haben müssen.“

„Lykanthropen? Ich dachte, die sind Einzelgänger!“

„Ja, das dachte ich bisher auch. Aber offenbar hat jemand sie zu einer Gruppentherapie überredet und gleich noch ein paar Vampire dazu eingeladen.“

„Was wird das für Auswirkungen auf uns haben?“

Er blickte sie beide nacheinander an, bevor er mit den Schultern zuckte und meinte: „Wir werden noch vorsichtiger zu Werke gehen, als das bis jetzt schon der Fall war.“

„Nicht mehr?“, fragte Ma Kirby etwas ungläubig nach.

„Was willst du von mir hören, Ma? Schließlich kann ich nicht noch vorsichtiger sein, als ich es schon vorher war. Diese Scheißdinger jagten mir vorher schon Angst ein. Jetzt noch mehr! Aber ich kann erst etwas machen, wenn auch etwas geschieht.“

„Ich weiß“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen.

„Und jetzt, wo das heute geschehen ist, müssen wir uns mal genauer darüber unterhalten, was das für den Orden bedeutet“, fuhr Dieter Feldmann fort. „Ich meine, ein Ziel hatte die Hölle ja schon vorher. Nämlich die Zerstörung des Schatzes. Und diese einzelnen Familien agierten gemeinsam unter der Schwarzen Familie. Und doch hatte jede Art ihre eigenen Wege, dies in die Tat umzusetzen. Die einen etwas erfolgreicher als die anderen. - Jetzt spannen sie aber zusammen. Was mag der Grund sein?“

„Keine Ahnung. Aber es macht sie gefährlicher als vorher“, warf Aldega Derron ein.

„Genau.“

Ma Kirby nickte zustimmend, bevor sie fragte: „Was wird nun geschehen?“

„Auf das Experiment hin?“

„Auch. Ich meine sonst noch.“

„Hmh, ich würde mal sagen, dass das Experiment so vonstattengeht, wie es geplant war, damit du“, wobei er Dieter Feldmann zunickte, „dem Orden Bericht erstatten kannst. Vor allem auch den Nutzen im Kampf aufzeigst. Und für das andere würde ich sagen, dass sich etwas ereignet hat, aber vorläufig wird sich nichts ändern.“

„Also eine Vogel-Strauß-Politik: Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass alles an uns vorbeigeht.“

Er blickte sie etwas verwundert an, bevor er blinzelnd zu einer Antwort ansetzte: „Du bist ganz schön gut drauf, Ma. Ist dir was über die Leber gelaufen? Hab ich dir was getan, von dem ich nichts mehr weiß?“

„Wir sind alle etwas müde“, warf Dieter Feldmann ein. „Ist doch so, Ma, oder?“

„Wird wohl so sein.“

Mit einem Seufzer stand Aldega Derron auf, der gleichzeitig Bestätigung wie auch Ausdruck seiner Müdigkeit sein konnte, und warf achtlos den Ordner zurück zu den anderen. Bevor er sich dann mit einem „Gute Nacht“ verabschiedete und sich davonmachte. Seinen Abfall ließ er einfach auf dem Tisch zurück. Aber auch den Schokoriegel.

Dieter Feldmann beäugte Ma Kirby aufmerksam, bevor er den Riegel ergriff und ihn ihr zuwarf.

„Was soll das?“, fragte sie mürrisch, nachdem sie ihn im Flug auffing.

„Das wollte ich auch gerade fragen.“

Sie zeigte in Richtung Schwingtür, durch die der TS-Chef verschwunden war.

„Das?“

Er nickte nur.

„Frust, Druck, Angst, Müdigkeit. Such dir was aus.“

„Erzähl mir lieber noch etwas über die Geschehnisse, die hier mit den Experimenten ihren Lauf nahmen“, versuchte er das Thema zu wechseln. Sie riss die Packung des Riegels auf und ignorierte seine Bitte so lange, bis sie ihn gegessen hatte. Sie bot ihm nicht einmal an, diesen mit ihm zu teilen. Erst dann schaute sie ihn wieder an, und meinte lapidar: “Okay.“

 

 

***

 

 

Vergangenheit: Die Experimente - Der Anfang

Über die Reise an den Schuh Italiens, oder genauer in die Nähe von Palermo, einer Stadt, die sich auf dem angrenzenden Fußball befand, gab es nichts Spezielles zu erwähnen. Darüber wusste sie nichts zu sagen und hatte auch nichts mitbekommen. Was sowohl hieß, dass der Trip ohne bestimmte Vorkommnisse verlaufen sein musste, oder auch, dass alles unter den Deckmantel „Streng geheim“ fiel.

Dafür waren die Tests, die man mit der Maschine machte, von erstaunlichen Ergebnissen geprägt und auch detailliert in den Berichten beschrieben worden.

Es wurden Kameras montiert, die mit erstaunlichem Bildmaterial zurückkamen. Vor allem eben auch, weil man es langsam abspielen konnte und so klar wurde, dass sich die Maschine in der Zeit zurückbewegte. Es war wie im Film „Die Zeitmaschine“ mit Rod Steiger, als sich die Welt im Zeitraffer vor seinen Augen veränderte. In diesem Fall war es jedoch so, dass sich alles rückwärts bewegte und veränderte, da die Maschine in die Vergangenheit ging.

Dwight Leach war von Anfang an dabei, als die Experimente in Angriff genommen wurden. Er war der tatsächliche Kopf des Ganzen. Wahrscheinlich war dafür sein Hintergrund mitverantwortlich, der es ihm erlaubte etwas außerhalb der normalen Bahnen zu denken. Von Kindesbeinen an war er ein begeisterter SF-Fan gewesen und mit dieser Faszination für das Denken ohne Grenzen dann in die reale Wissenschaft abgedriftet. Mit seinem beweglichen Geist war es ihm möglich, Experimente zu machen, die anderen vielleicht nie in den Sinn gekommen wären. Er und sein Team brachten jedenfalls Beachtliches zustande, und viele Fragen wurden dabei beantwortet.

Es zeigte sich, dass die Zeitmaschine immer wieder zurückkam, auch wenn keine Zeit eingegeben wurde, wie lange sie fernbleiben sollte. Als hinge sie an der Gegenwart. Als wäre diese so etwas wie ein Anker.

Dann gelang es, sie so einzustellen, dass sie länger wegblieb, aber die Zeit für die Zurückgebliebenen kürzer war und für sie nur Sekunden verstrichen, während die Reise, beziehungsweise der Aufenthalt, Stunden in Anspruch nahm, und somit auch wieder mehr Daten zur Auswertung geliefert wurden.

Die Steuerung, die sich innerhalb der Postkutsche befand, besaß keine wirkliche Zeitangabe mehr, da sie bei einem der Experimente zu Bruch gegangen war. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass sich die Leute zu sehr darauf konzentrierten, nichts kaputt gehen zu lassen. Und schon war es passiert!

Man versuchte behelfsmäßig eine andere Möglichkeit in die Wege zu leiten, damit die Experimente weitergezogen werden konnten, indem die Energiemenge, die verbraucht wurde, an den Jahren abgelesen wurde, die man schlussendlich reiste. Das heißt anders ausgedrückt: Je mehr Energie verbraucht wurde, desto weiter ging die Reise in die Vergangenheit! Aber das war natürlich nur durch viel Sprünge möglich, diese einigermaßen zu justieren.

Mittlerweile gelang es ihnen wieder eine Art Anzeige zu bauen, die anhand dieser Energiemenge die ungefähre Zahl in Jahren, Monaten oder Tagen ausdrücken konnte. Es handelte sich dabei um einen Computer in der Größe einer PSP, der unheimlich leistungsfähig war. Man musste ihn nur an der Wand befestigen und das reichte bereits aus, damit er seine Arbeit aufnehmen konnte. Noch immer wurde diese Anzeige mit jedem Sprung verfeinert.

Diese Energiemenge brachte es auch mit sich, dass bei einem Sprung in die Vergangenheit Schmerzen auftauchten. Es war einer, der im Nacken begann und sich von da aus über den ganzen Körper ausweitete. Ein Krampf war dann die Folge, der sich sogar in epileptische Zuckungen zeigen konnte. Je weiter man sprang, desto größer wurden diese Schmerzen. Man konnte sich zwar einigermaßen daran gewöhnen, aber kein Mitglied des „Pathfinder“-Teams war dagegen gefeit. Inwieweit diese Schmerzen jedoch gefährlich waren, merkte man erst, als man ein Team in die Vergangenheit schickte.

Nachdem man zuerst nur mit kleinen Energiemengen experimentiert hatte, wollte man mal einen größeren Zeitsprung tätigen. Versuche mit Kameras und Tieren hatten gezeigt, dass keine Gefahren bestanden.

Wie hatten sie sich dabei getäuscht!

Die Timeonauten, die nach einem Zeitsprung zurückkamen und plötzlich nicht mehr denselben Menschen entsprachen, die sie zuvor gewesen waren. Auf den Aufzeichnungen konnte man nachträglich sehen, dass die Schmerzen sie in den Wahnsinn getrieben hatten, ohne dass sie etwas dagegen hatten ausrichten können. Sie waren einer stundenlangen Folter unterworfen worden, in der ihr Geist schließlich den Kürzeren gezogen hatte. Als die Zeitmaschine aus der Vergangenheit zurückkam, waren aus den sportlichen, vor Kraft und Lebensfreude strotzenden Menschen sabbernde, dümmlich aussehende Idioten geworden.

Dann begann Dwight Leach, an der Maschine herumzuexperimentieren. Das heißt, er verstellte mehr als die Datumsanzeige und damit die Energiezufuhr, was zu verheerenden Folgen führte. Unfälle geschahen plötzlich!

Leute wurden auf einmal in den umliegenden Fels materialisiert, ohne dass sich die Maschine von der Stelle bewegte. Die Energie machte sich innerhalb der Kutsche bemerkbar, nicht mehr außerhalb.

Immerhin war es beruhigend zu wissen, dass sich die Zeitmaschine immer in den nächsten freien Raum materialisierte, wenn der angepeilte schon von jemandem oder etwas besetzt war. Die Timeonauten besaßen eine solche Vorrichtung nicht!

Natürlich starben diese Leute sofort einen schmerzlichen Tod. Und obwohl niemand aus dem Team dabei gewesen war, kamen doch plötzlich Stimmen über das Philadelphia-Experiment auf. Schließlich gab es genügend Material aus der Zeit – auch wenn es die amerikanische Behörde am liebsten verboten hätte - dass man es beinahe schon als allgemeines Wissen sehen konnte.

Auch da gab es einen ähnlich gearteten Unfall, als im Jahre 1943 das US-Militär einen neuartigen Radarschutz testen wollte, der den Zerstörer „Eldridge“ unsichtbar machen sollte. Unsichtbar im Sinne einer speziellen Tarnkappe, die sich wie eine Flasche um das Schiff legen würde.

Das Experiment ging schief, das heißt, das Schiff wurde schon unsichtbar, aber nur, weil es Hunderte von Meilen entfernt in Norfolk, Virginia, materialisierte. Für viele Menschen der Besatzung verlief der Transport katastrophal, da sie sich in der Schiffswandung wiederfanden, als sie wieder zum Vorschein kamen.  Für viele ein qualvoller Tod.

Es waren Parallelen vorhanden, aber hier handelte es sich um eine Maschine, die es bereits im fünfzehnten Jahrhundert gegeben hatte ...

Es konnte nicht sein, dass das US-Militär auf Wissen aus dieser Zeit zurückgriffen hatte. Jedenfalls hatte sich bis zum heutigen Zeitpunkt nichts in der Richtung ergeben. Was nicht hieß, dass es nicht doch so war, oder?

Richtig schlimm wurde es aber erst, als das Wissenschaftlerteam die Raum- und Zeitkontingente löschte. Ob es dies willentlich tat oder aus einer fehlerhaften Eingabe heraus, ließ sich im Nachhinein nicht mehr herausfinden. Fakt war jedoch, dass erneut Menschen starben und beinahe die Zeitmaschine zerstört wurde.

Welche Bedeutung dies hatte, machte vielleicht der Ausspruch Leonardo da Vincis klar, dass „Raum und Zeit eine Einheit bilden würden. Trennt man sie, herrsche das Chaos“. Aber über diese Aufzeichnung stolperte man erst später, als der Schaden bereits angerichtet war. Wie bei Nostradamus’ Voraussagen: Sie machten erst im Nachhinein Sinn!

Physikalisch betrachtet war wohl jedem klar, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Dies tut sie mit ungefähr zweiunddreißig Stundenkilometern! Die Sonne selber dreht sich wiederum um das Zentrum der Milchstraße, die selbst auch eine Geschwindigkeit aufweist, die wir jedoch auch nicht speziell wahrnehmen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht doch da ist!

Wenn man nun also bereits eine Sekunde in der Zeit zurückging, hielt sich die Erde nicht mehr am selben Ort auf, wie sie dies noch vor einer Sekunde getan hatte. Und da die Zeitmaschine an und für sich kein räumliches Transportmittel war, wäre dies bereits ihr Verlust gewesen und sie wäre hoffnungslos im All verloren gegangen. Glücklicherweise sprang sie wieder in die Gegenwart, an ihren Ausgangspunkt zurück!

Ebenso, als eine falsche Raumkoordinate die Maschine in die Sonne schickte. Ein Anblick, der so ergreifend und mächtig war, dass die Teilnehmer noch Wochen später nicht in der Lage waren, von ihren Eindrücken zu sprechen. Später sagten sie dann aus, es sei gewesen, als habe sie das Antlitz Gottes berührt. Die Kameras selber hatten nichts dergleichen feststellen können.

Die Unversehrtheit der Zeitmaschine brachte als Nächstes die Magier aufs Parkett, da sich sonst keine andere Erklärung anbot. Jede naturwissenschaftliche Begründung scheiterte. Magie war die logische Weiterentwicklung eines Gedankens, den Dwight Leach eines späten Abends gehabt hatte.

Eines war jedoch sogleich klar, als die Magier ihre Beschwörungen sprachen und Zeichen in die Luft vollführten: Es gab etwas, das die Zeitmaschine umhüllte, dem sie noch nie zuvor begegnet waren. War Leonardo da Vinci zusätzlich noch ein Magier gewesen? Hatte er altes Wissen sein Eigen genannt, das auf die Atlanter oder vielleicht sogar auf die Lemurer zurückging?

Es galt, dies bei einer zukünftigen Reise mal genauer unter die Lupe zu nehmen ...

 

 

***

 

 

Vergangenheit: Die Experimente – Teilerfolge

Ein weiteres, erst in letzter Zeit durchgeführtes Experiment brachte die Jumper in eine Zeit Frankreichs, in der der junge, sechzehnjährige König Louis XVI an der Macht war. Es ging darum, Daten zu sammeln und vor allem Beobachter zu spielen. Man wählte das Jahr 1790 aus, da es von Aufruhr geprägt war und wohl niemand auf die Timeonauten achten würde, da zu jener Zeit die Französische Revolution im Gange war. Im Nachhinein war man etwas gescheiter geworden, da gerade durch diese wirre Zeit auch das Leben der Jumper hätte in Gefahr geraten können.

Aus den Überlegungen, dass die Maschine nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum reisen konnte, resultierten einige Versuchsreihen, bei denen man neben der Zielzeit auch noch den Zielort bestimmen konnte. Die Ergebnisse waren zwar ermutigend, aber noch nicht gesichert genug, um dies bei der nun anstehenden Reise zu wagen.

Zum Zweck des Experiments transportierte man die Zeitmaschine deshalb eigens nach Frankreich, was dank der Verbindungen, die der Orden in alle Welt hegte, keine Schwierigkeiten bereitete. Obwohl natürlich ein Sicherheitsrisiko blieb, dass sie entdeckt wurden. Zum Glück verlief jedoch alles gut.

Der junge König war so von sich eingenommen, dass er sich übernahm und sich unter dem Volk Feinde schaffte, die ihn schließlich in einer Revolte vom Thron stürzten. Die Aussage seiner Frau Marie Antoinette: „Wenn das Volk schon kein Brot zu essen habe, dann soll es sich gefälligst von Kuchen ernähren“, war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte und ihm und seinem Gefolge – im wahrsten Sinn des Wortes – den Kopf kostete. Wobei die Timeonauten herausfanden, dass die Aussage von Jean Jacques Rousseau erfunden und den richtigen Leuten zugeführt worden war, um den Ruf des in Saus und Braus lebenden Herrscherpaares zu schädigen, während es dem gemeinen Volk wirklich schlecht ging.

Der Trip wurde ein voller Erfolg. Die Zeitmaschine brachte sie mit der relativ neuen Datumsanzeige fast auf die Stunde an den richtigen Zeitpunkt heran. Nur die Filmaufnahmen waren im Eifer des Gefechtes etwas unscharf und verrüttelt ausgefallen. Deshalb wollte man noch einmal in diese Zeit zurück, um diesen Punkt zu beheben. Am besten mit demselben Team.

Erstaunlicherweise gelang es nicht, das Geschehen rückgängig zu machen. Die Maschine bewegte sich keine Sekunde in der Zeit. Erst als das Team nach einem Schichtwechsel ausgetauscht wurde, funktionierte sie wieder. Die neuen Timeonauten gingen zu der exakt gleichen Zeit zurück, an dem die anderen schon aufgetaucht waren. Auf einmal funktionierte die Zeitmaschine wieder!

Weitere Sprünge ließen vermuten, dass ein Mensch immer nur einmal an den genau gleichen Ort zurückkehren konnte, ohne damit ein Zeitparadoxon auszulösen, das heißt, sich selber zu begegnen, und weiß Gott was für Gefahren damit heraufzubeschwören!

Da es nicht funktionierte, ließ sich auch nicht herausfinden, welche Folgen dies gehabt hätte. Aber das war vielleicht besser so.

Was den Wissenschaftlern jedoch zu denken gab, war die Frage: Lag es an der Zeitmaschine oder an den physikalischen Gesetzen, die das verunmöglichten? Eine definitive Antwort gab es nicht wirklich darauf. Das war für das Team um die Zeitmaschine eine Knacknuss, die ihnen zu denken gab!

Die meisten Sprünge hatten noch eine Gemeinsamkeit: Bei einer Zeitverschiebung – wo auch immer die hinging – konnte es zu einem Nachsprung kommen. Das heißt nichts anderes, als dass nach dem Erreichen des Zieles die Maschine noch einmal wegsprang, um dann bei der eingegebenen Zeit erneut zu erscheinen, die man angepeilt hatte. Eine Erklärung, warum das so war, konnte bislang niemand wirklich geben. Es brachte auch nichts, dies weiter zu erörtern. Schließlich konnte man ja die Existenz der Zeitmaschine auch nicht wirklich begründen. Sie tat einfach, was sie tat. Das Wie musste man hinnehmen. – Mit der Zeit wusste man einfach, worauf man sich einzulassen hatte, aber am Anfang kamen die Jumper ganz schön ins Schwitzen, als die Zeitmaschine plötzlich verschwand, kaum waren sie ausgestiegen, und sie einfach so zurückließ, gestrandet im Irgendwann!

Es gab auch keine Richtlinien, an die man sich hätte halten können. Einmal sprang sie kurz in die Gegenwart, um dann wieder aufzutauchen. Oder eben auch weiter in die Vergangenheit, wie festgestellt wurde. Die ganze Sache stank ein wenig zum Himmel, aber Dwight Leach meinte, dass man das Problem erkannt habe und nun versuche, es zu lösen.

 

 

***

 

 

Dann war da noch ein weiteres Experiment, das es zu erwähnen galt. Das „Samuel-Brunner-Experiment“, wie es mittlerweile genannt wurde. Es handelte sich dabei um einen Soloversuch, das heißt, dass nur eine Person in die Vergangenheit reiste. Es sollte eigentlich ein groß aufgemachter Test werden, mit dem man dem Orden aufzeigen wollte, auf welchem Stand die Erkenntnisse bereits waren. In letzter Sekunde entschied man sich aber noch dagegen. Die Zeit war einfach noch nicht reif, dass zu viele Leute davon wussten. Selbst innerhalb des Ordens nicht!

So machte er sich auf den Weg, die Reise im etwas kleineren Stil anzutreten. Als die Zeitmaschine nach einer Minute wieder erschien und Samuel nicht von selbst ausstieg, wurde man im Kontrollstand schon etwas unruhig. Nach weiteren Minuten des Zuwartens - die auch ereignislos verstrichen - ließ Aldega Derron eine Truppe zur Maschine führen, die diese mit vorgehaltenen Waffen stürmte. Zum allgemeinen Erstaunen fand sie aber nichts Beunruhigendes vor. Samuel saß an dem Platz, den er zuvor schon innegehabt hatte, und stierte seelenruhig vor sich hin, als würde er über eine Gleichung nachdenken. Kein Problem also.

Und doch war etwas geschehen ...

Aber was genau?

Die Kameras zeigten später, dass der Jumper während des Transports, der 2,2 Millionen Jahre umfasste, frühzeitig aus seinem Schlaf erwachte, der ihn vor dem Irrsinn bewahren sollte. Das war an und für sich nicht weiter tragisch, denn: Er war auf die Schmerzen gefasst, die ihn bei dieser großen Distanz anspringen mussten.

Das Bild zeigte, dass das Befürchtete in diesem Fall nicht eintraf! Mit ruhigen Worten sprach Samuel Brunner seine Erfahrungen in das Mikrofon. Auf dem Gesicht zeigte sich eine gewisse Verwunderung, dass er überhaupt keine Schmerzen wahrnahm. Sonst verhielt er sich ganz normal. Jedenfalls die Daten, die aufgezeichnet wurden, ließen darauf schließen. Er sah sogar zwischendurch aus dem Fenster der Zeitmaschine, um den Verlauf der Reise zu beobachten und diese aufzuzeichnen. Das ging auch ein paar Minuten gut, wie man dem Filmmaterial entnehmen konnte. Aber irgendwann wurde klar, dass das, was er sah, und das, was die Kameras aufnahmen, nicht dasselbe waren! Mensch und Technik reagierten ganz anders auf den Zeitstrom. Hatte er auch Gott gesehen, wie etwa das Team, das in der Sonne materialisierte?

Plötzlich riss das Bildmaterial ab, nicht ohne noch schnell Samuel zu zeigen, wie er sich mit verklärtem Gesicht der Kamera zuwandte, sodass er das gesamte Bild einnahm, und „Ich weiß es!“ schrie.

Dann war Schluss!

Erklären konnte sich dies niemand. Es entsprach nicht dem, was man mit all den anderen Versuchen vermeinte herausgefunden zu haben. Es war ein Mysterium.

Samuel Brunner befand sich bei guter Gesundheit, wie die Ärzte schließlich mitteilten. Nur war kein Wort aus ihm herauszuholen, was er denn gesehen habe, das ihn zu dem Ausspruch „Ich weiß es!“ veranlasst hatte. Oder anders ausgedrückt: Dies war der einzige Satz, den er immer und immer wieder von sich gab, und dabei ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht zeigte, dass man sich fragen musste, was denn seinen Geist so verwirrt hatte.

WAS dies auch immer bewirkt hatte, es sah so aus, als habe es ihn zum glücklichsten Menschen auf Erden gemacht. Auch wenn er diese Erfahrung nicht mehr weitergeben konnte ...

Er lebte zwar noch, aber für Billie war es ein Verlust, der mit schönen Worten und aufrichtigen Entschuldigungen nicht wieder in Ordnung zu bringen war. Vor allem auch, weil sie drei Wochen später hatten heiraten wollen. Von daher stammte ihr Hass Dwight Leach gegenüber, auch wenn Samuel dieses Experiment aus freien Stücken angetreten hatte. Der Wissenschaftler war an allem schuld, und sie würde ihm das nie verzeihen können.

Selbst bei der Gedenkfeier, die man Samuels wegen durchführte (obwohl er noch lebte und nun in den tiefsten Tiefen des Centers eine selig lächelnde Existenz fristete), schwor sie, Dwight Leach dies büßen zu lassen! Es war eine Szene gewesen, die viele Leute zutiefst erschreckt hatte.

Das konnte das Center natürlich nie zulassen, da Dwight Leach ein geniales und auch sehr produktives Genie war, aber bislang hatte man es verschlafen, diese zwei Geister zu trennen, bevor es zum Schlimmsten kommen konnte.

Er – Dieter Feldmann – hatte ja bereits einen leichten Vorgeschmack darauf bekommen.

Dwight Leach ließ die Anschuldigungen von Billie nicht einfach so auf sich sitzen und versuchte, mit weiteren Experimenten Samuels Schicksal rückgängig zu machen. Das Erstaunliche daran war jedoch, dass dies in diesem Fall auch nicht gelang! Wie damals mit dem Sprung in die Französische Revolution. Als würde ein einmal eingeschlagener Weg nicht mehr aufgehoben werden können! Es war eine erschreckende Entdeckung, glaubte man da doch, die Nutzlosigkeit der Zeitmaschine gefunden zu haben.

Wäre sie nur gut für Reisen und für Anschauungsmaterial, um mehr aus der Vergangenheit zu lernen? Um all die Löcher zu füllen, die in den Geschichtsbüchern standen (oder besser: eben nicht standen)?

Das glaubte man zuerst allen Ernstes!

Dann begann man sich vermehrt Gedanken zu machen, dass es eventuell ja gerade diese Zeitmaschine war, die es der Menschheit ermöglichte, überhaupt zu existieren! Es häuften sich nämlich die Anzeichen, dass vermehrt Leute in der Vergangenheit gelandet waren, um dort am Rad der Zeit zu drehen. Timeonauten kamen zurück und sprachen davon, dass sie sich beobachtet gefühlt hatten, ohne wirklich jemanden gesehen zu haben.

Waren es Helfer einer höheren Macht? Vielleicht waren es ja sie selber, die da etwas ausrichteten? Und sie wussten einfach noch nichts davon, weil es für sie noch in der Zukunft lag. In der Vergangenheit war es jedoch längstens geschehen.

Die Sache mit der Zukunft fand auch schnell ein Ende. Tests verliefen ergebnislos. Die Zeitmaschine bewegte sich überhaupt nicht. Lag es daran, dass es die Zukunft noch gar nicht gab, sondern erst aus ihren Taten heraus entstand? Es musste wohl daran liegen. Eine andere Möglichkeit gab es momentan nicht. Jedenfalls keine befriedigendere.

Damit war jedoch klar, dass man sich auf die Vergangenheit konzentrieren konnte. Aber bereits das gab genug zu tun!

 

 

***

 

 

Gegenwart:

Es dauerte einige Sekunden, bis Dieter Feldmann in der Lage war, etwas zu sagen. Er hatte aufmerksam ihren Worten gelauscht, und als sie zum Schluss kam, hatten diese eine Ergriffenheit in ihm ausgelöst, die er sich nicht ganz erklären konnte. Er kannte ja diese Person überhaupt nicht, die durch den Zeitsprung zum glücklichsten Menschen auf diesem Erdball geworden war. Und doch hätte er zu gern gewusst, was sie gesehen hatte. War es Gott gewesen? Oder etwas noch Überwältigenderes, falls es das überhaupt gab?

Er räusperte sich: „Was wurde aus diesem Jumper? Lebt er noch?“

„Aber natürlich! Was glaubst du denn, was wir mit ihm anstellen würden?“

„Keine Ahnung. Erzähl du es mir.“

„Er ist in Behandlung. Nur ist die bis jetzt erfolglos verlaufen.“

„Bei uns? Ich meine beim Orden?“, fragte er neugierig nach.

„Bevorzugt. Ja. Man kann ja nie wissen, ob nicht doch irgendwann ein Durchbruch gelingt. Und dann ist es am besten, wenn gleich die richtigen Leute zur Stelle sind.“

„Das stimmt. – Dann ist er noch hier? Im Center?“

Bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, näherten sich Stimmen aus dem Gang. Anschließend schwang die Tür auf und ein paar Leute kamen herein, die unüblich für das Center, in weiße Schürzen gekleidet waren. Es wurde freundlich gegrüßt, und anschließend verzogen sie sich in die Küche, aus der dann auch weiterhin reges Stimmengewirr nach draußen drang.

„Das sieht nach der ersten Schicht des Personals aus.“

Ma Kirby nickte und gähnte hinter vorgehaltener Hand.

„Und sie sehen erholter und weniger müde aus als etwa du.“

„Das ist sogar sehr gut möglich. Es ist immerhin auch etwas nach sechs“, wie sie mit einem Blick auf die Uhr feststellte.

„Dann ist es wohl Zeit, ins Bett zu gehen?“

Die Art und Weise, wie er dies sagte, mit einem Grinsen auf den Lippen, veranlasste sie, ihm mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herumzuwedeln.

„Nein, nein, Mister. Bett ja, aber getrennt. Und dann schlafen!“

„Ts, bin ich so leicht zu durchschauen?“ Er machte dabei keine großen Anstalten, sein lausbübisches Grinsen zu unterdrücken. Er ergriff ihre Hand, öffnete sie ohne viel Mühe und drückte einen nur angedeuteten Kuss auf den Handrücken.

„Es war mir eine Ehre.“

Dann stand er auf, schob den Stuhl an den Tisch zurück und begann, die Ordner einzusammeln. Ein schwieriges Unterfangen, da sie immer wieder wegrutschten.

Ma Kirby kam ihm erneut zu Hilfe.

„Wie hast du es denn überhaupt geschafft, mit diesen lebendigen Unterlagen hierher zu kommen?“

Er grinste.

„Wahrscheinlich habe ich von meinem Quartier an eine Ordnerstraße gelegt. Nur im Fall, dass ich mich verlaufen sollte.“

„Komm, ich bring dich hin.“

„Kein Problem. Ich finde den Weg“, winkte er ab. Dann blieb er plötzlich stehen, als habe ihn eine Erkenntnis gestreift. „Du willst sicher sein, dass ich auch wirklich nicht vor deinem Zimmer den Mond anheule!“

„Komm schon, du großer, böser Wolf. Ab mit dir.“

 

 

***

 

 

Der nächste Tag, beziehungsweise derselbe Tag, aber etwas später und mit ausgesprochen wenig Schlaf: Dieter Feldmann vor dem Bett und krumm wie ein gespannter Bogen. Er wusste von sich, dass er ein Nachtmensch und zu der Zeit eigentlich am produktivsten war. Das Aufstehen war das Schlimmste! Vor allem, wenn man wusste, dass man früh aufstehen musste. Wer sagt denn, dass man im Alter gescheiter würde? Es gibt ein Sprichwort, dass diese Aussage macht, aber es muss schließlich nicht auf jeden Erwachsenen zutreffen ...

Es hatte vom Eingang her geklingelt, und bis er sich aus seinem Traum gerissen hatte, knurrend und murrend aufgestanden war, während er sich unter dem Pyjamaoberteil die Brust kratzte, war schon niemand mehr da gewesen, dem er seine morgendlichen Grüße hätte an den Kopf werfen können. Zuerst hielt er es für einen schlechten Witz, und mit einem schiefen Blick auf den Wecker wollte er sich noch einmal hinlegen – nur für fünf Minuten, natürlich! – als es schon wieder klingelte. Aber dieses Mal reagierte er schneller. Auch wenn ihm ganz kurz ein Schmerz durch den Kopf fuhr, der jedoch schnell wieder verebbte.

Dieter Feldmann riss die Tür auf und blickte Harry Kane ins Gesicht, der einen Schritt zurückwich. Er konnte ihm ansehen, dass er nur mit äußerster Anstrengung die Waffe im Halfter ließ, die sich unweigerlich unter seiner Schulter befinden musste. Wahrscheinlich sah er wirklich so aus, wie er sich fühlte, ging ihm ein Gedanke durch den Kopf. Nämlich so, als wäre er gerade einem Grab entstiegen. Und da Kane darauf trainiert war, Zombies zu exekutieren, konnte er von Glück reden, dass er noch lebte.

Heute trug dieser die Uniform der TS. Die gestrige, modischere Kleidung trug er wohl nur, wenn es Einsätze gab, die draußen über die Bühne gingen. Auf der linken Brust hing ein Strichmännchen, was Feldmann als da Vincis Zeichnung interpretierte. Über dem Arm trug Kane eine weitere Uniform, die noch in das Plastik der Wäscherei gehüllt war.

„Was ist?“, knurrte er ihn an.

„Sir, ich bin hier um Sie abzuholen.“

„Was? Um die Zeit? Das Ganze fängt doch erst in einer Stunde an“, maulte er wie ein kleines Kind.

„Das schon“, überging Harry Kane zum größten Teil den Einwurf, „aber Mark Larsen ist eingetroffen, und der Chef meinte, dass ich Sie zur Begrüßung abholen soll.“

Und mit einem Blick auf seine Uhr: „Wie lange brauchen Sie?“

Dieter Feldmann kratzte sich am Kopf.

Eine halbe Stunde sicher, wollte er gerade sagen, als er sah, wie Ma Kirby an ihnen vorbeiging, und dabei aussah, als habe sie einen erfrischenden Schlaf von mindestens zwanzig Stunden hinter sich. Lächelnd warf sie ihnen ein „Guten Morgen“ entgegen und verschwand anschließend um die Ecke, wo den Gang entlang die Aufzüge waren. Auch sie trug heute die übliche schwarze Uniform der TS. Sie stand ihr gut. Sogar sehr gut.

Die Uniform war um ihren Po so eng anliegend, dass Dieter Feldmann vermeinte, das durchdrückende Label ihrer Unterwäsche ausmachen zu können. Und wenn dem nicht so war, dann spielte ihm seine Müdigkeit bestimmt einen Streich.

Kane reichte ihm die Uniform. Das riss ihn wieder in die Gegenwart zurück. Dieter Feldmann schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Was ist damit?“, knurrte er erneut. Wenn er nicht so müde gewesen wäre, dann hätte er es wohl sofort kapiert, aber so wurde es ihm erst klar, als die Frage bereits seinen Mund verlassen hatte. Mit kleinen Augen und einem entschuldigenden Grinsen auf dem Gesicht meinte er:

„Das werde ich wohl besser anziehen.“

Es war keine Frage gewesen, aber bevor die Tür ins Schloss fiel, sah er noch, wie Kane fast unmerklich nickte.

„Wie lange brauchen Sie, Sir?“, rief dieser ihm durch den geschlossenen Eingang zu.

Er bat sich eine halbe Stunde aus.

„Und wenn Sie mir einen schwarzen Kaffee bringen, dann kann ich es vielleicht sogar fünf Minuten eher hinbringen.“

 

 

***

 

 

Es wurden genau dreißig Minuten, aber Kaffee und Dusche hatten doch ein regelrechtes Wunder an ihm bewirkt. Er fühlte sich wach und einigermaßen aufnahmefähig. Die Augen waren zwar noch etwas müde und brannten, als hätte er Zwiebeln geschnitten, aber sonst ging es erstaunlicherweise. Der Tag würde zeigen, wie lange das andauerte. Zum Glück sollte es nur ein kurzer Ausflug werden, wie ihm Aldega Derron versichert hatte. Wobei er das wohl eher auf die Mannschaft gemünzt hatte, die zurückblieb. Für die Timeonauten konnten gut und gerne mehrere Stunden vergehen. Wahrscheinlich musste er es mit einem Transatlantikflug vergleichen, wenn der Tag plötzlich aus sechsunddreißig Stunden bestand statt aus vierundzwanzig. Aber es würde schon gehen. Irgendwie ...

Und es würde keine gewöhnliche Reise werden, wie er sich immer wieder vor Augen halten musste. Sie würden eigentlich an Ort und Stelle bleiben, nur das mit der Zeit veränderte sich. Er war ja gespannt, wie sich dieses Schauspiel anfühlen würde, beziehungsweise, wie es aussah. Gehört und gelesen hatte er mittlerweile ja schon einiges, aber das Erlebnis aus erster Hand zu erfahren war doch immer noch am besten.

Die Reise ins fünfzehnte Jahrhundert drängte sich einem geradezu auf. Vor allem ein Besuch bei Leonardo da Vinci! Aber weil es nur ein kurzer Ausflug werden sollte, war man davon abgekommen. Ein Team zu einem späteren Zeitpunkt könnte sich mehr Zeit nehmen, um das Genie aufzuspüren, und dann vielleicht sogar nachempfinden, was diesen großen Geist ausgemacht hatte.

Der Trip sollte ins zwölfte Jahrhundert führen. In Palermo selber waren Archäologen auf eine Gruft gestoßen, die sich unter einem Kapuzinerkloster befand. Darin fand man bis zu achttausend Mumien in unterschiedlichen Verwesungszuständen. In alten Aufzeichnungen war die Rede davon, dass hier die sterblichen Überreste eines Hüters liegen würden. Sie sollten dem auf den Grund gehen. Vor allem auch, weshalb es diese Gruft überhaupt gab. Unter Umständen reichte ihnen die angesetzte Zeit bereits.

Waren sie eigentlich so was wie die Herren der Zeit? Es kam ihm nicht wirklich so vor. Jedenfalls nicht nach dem, was er an Information bekommen hatte. Wenn er sich gegenüber ehrlich war, dann dachte er als Vergleich eher an den Zauberlehrling, den Mickey Mouse so unnachahmlich dargestellt hatte. Da, wo er das Handwerk des Meisters ausprobierte und schließlich die Sache eine Eigendynamik entwickelte ... Er hoffte bloß, dass ihnen diese Zeitmaschine nicht über den Kopf wuchs. Es war nämlich niemand da, den sie zu Hilfe holen konnten, falls das Ganze bachab ging.

Eigentlich sollte es funktionieren, aber dieses „Eigentlich“ brachte es fertig, dass es trotz allem Wissen zu einer Mission ausarten konnte, die vergleichbar war mit russischem Roulette. Aber statt nur einer Kugel in der Trommel war nur eine einzige Kammer leer! Und in diesem Verhältnis betrachtet, standen die Erfolgschancen auf einmal nicht mehr sonderlich gut.

Er verwarf seine negativen Gedanken und wandte sich seinem Begleiter zu, der neben ihm den Gang entlangschritt, der sie zum Aufzug bringen sollte.

„Kane, was wissen Sie über die Besatzung, die neben mir teilnimmt?“

Kane zählte an der linken Hand die Leute ab, die an dem Trip teilnahmen. Dabei konnte Dieter Feldmann sehen, dass er, typisch für einen Amerikaner, für die Eins den Zeigefinger ausstreckte.

„Da ist erst mal Allan Whitey Snyder. Ein guter Soldat, aber etwas quirliger Typ. Wir kennen uns vom Sehen, aber sonst weiß ich eigentlich nichts von ihm.“

Sie erreichten den Aufzug, und Kane drückte den Knopf.

„Ist er zu gebrauchen?“, fragte Dieter Feldmann nach Sekunden des Schweigens, als der Lift nicht gleich kam.

„Sir, hier arbeiten oder sind eigentlich nur Leute beschäftigt, die zu gebrauchen sind.“

Seine Stimme klang fast etwas beleidigt, wie er das sagte. Dieter Feldmann winkte ab. „Weiter“, forderte er ihn auf, als die Aufzugstüren sich endlich öffneten und sie eintreten konnten. Ein Wissenschaftler stand drin, der mit einem Nicken ausstieg. Sie nickten zurück. Kane drückte mit der rechten Hand einen Knopf, und die Türen schlossen sich erneut.

„Dann ist da noch Flavio Peronino.“

Dieses Mal ging an Kanes Hand der Mittelfinger raus, um die Zwei anzudeuten, stellte Dieter Feldmann fasziniert fest. Es sah wie das Victoryzeichen aus.

„Was wissen Sie über ihn?“

„Ein Kasten von einem Mann. Hat die zwei Meter für sich gepachtet. Ist eigentlich eine gutmütige Seele, aber wenn er gebraucht wird, dann ist man froh, diesen Typen neben sich zu haben, der mit einem kämpft statt gegen einen.“

Dann ging der Daumen raus.

„Jane Esposito haben wir auch noch. Und bevor Sie mich fragen, ob sie brauchbar sei: Sie ist Derrons Vizechef.“

Der Ordensmeister nickte beeindruckt.

„Ich glaube, dass ich sie schon kurz gesehen habe. Längliche, brünette Haare, die sie auch im Nacken zusammengebunden hat, wie ihr Chef. Und dabei hat sie irgendwas Mexikanisches an sich, aber nicht zu ausgeprägt. Einfach so, dass sie eine Spur exotisch aussieht.“

„Das scheint sie zu sein. Und, Sir, damit wir uns richtig verstehen: All dies sind Leute, die auf ihrem Gebiet Spezialisten sind. Sie gehören mit zu den Besten ihres Faches.“

„Wer noch? Oder sind das schon alle?“

Um die Vier anzuzeigen, nahm Kane den Daumen wieder zurück und fuhr dafür die restlichen Finger aus. Dieter Feldmann konnte dies aus dem Augenwinkel heraus belustigt feststellen.

„Alfredo soll auch mit von der Partie sein.“

„Sehr gut, sehr gut. - Wie in alten Zeiten.“ Letzteres war jedoch mehr für ihn selber bestimmt.

„Des Weiteren haben wir noch Mark Larsen, den Sie ja schon kennen. Aber der soll nur als Beobachter teilnehmen. Der Orden ist noch nicht bereit, ihn bei einer Expedition einzusetzen.“

Dieter Feldmann wollte aufbegehren, dass er das komisch finde. Als ob alle anderen einfach so zu ersetzen wären, als Kane weitersprach:

„Es ist jedenfalls das, was mir Fabio Cassani persönlich mitgeteilt hat, Sir. Larsens Zeit würde noch kommen. Im Augenblick sei er für den Orden zu wertvoll.“ Und um das Thema zu wechseln: „Ma Kirby soll ebenfalls mitkommen, wie ich dem Datenblatt entnommen habe.“

„Komisch ...“

„Was ist komisch, Sir?“

„Dass sie davon nichts erwähnt hat.“

Kane zog es vor, darauf nicht einzugehen, aber er blickte Dieter Feldmann an, als erwarte er eine ausführlichere Antwort. Als diese jedoch ausblieb, fuhr er fort: „Und dann ist noch meine Wenigkeit dabei und natürlich Sie selber.“

„Also sieben Personen. Das sind ganz schön viel, die da in diese Postkutsche, ähm ... Zeitmaschine reinwollen.“

„Es wird schon gehen, Sir. Schließlich wurde sie ausgeschlachtet und soweit umgebaut, dass liegend mehrere Leute darin Platz finden.“

„Na ja, das nehme ich doch schwer an. Ich meinte eigentlich mehr im Sinn von, dass es viele Leute seien für dieses Experiment.“

Kane blickte erneut fragend zu ihm rüber, als sie aus dem Lift traten und auf dem direktesten Weg zu der Höhle liefen, in der das Wundergerät stand.

„Experiment ist ein Ausdruck für Dinge, die gefährlich sind, Sir. Der Trip ist ein Ausflug. Die Zeitsprünge sind alles andere als gefährlich.“

„Da habe ich aber ganz andere Dinge gehört, Junge“, dachte sich Dieter Feldmann, als sie an der Wache vorbei die Halle betraten. Er hütete sich davor, den Gedanken laut auszusprechen. Er wusste von der offiziellen Version. Ma Kirby hatte ihm als Ordensmeister Insiderwissen vermittelt. Aber er konnte nicht sagen, was ihm besser gefiel. Zu wissen, dass etwas schiefgehen konnte, oder einfach mitzugehen und zu schauen, was sich ereignen würde. – Da war es wieder, dieses zu viel wissen!

Mittlerweile waren so viele Trips gemacht worden, dass es wirklich sicher sein sollte, aber gerade das, was beim letzten Versuch geschehen war, sollte den Verantwortlichen doch etwas zu denken geben. - Bei ihm war es auf jeden Fall so.

Es war schon schlimm genug, dass sie nicht wussten, warum die Zeitmaschine funktionierte. Schlimmer war, dass, wenn mal etwas schiefging, niemand sagen konnte, warum, wenn sie sonst immer anders funktioniert hatte. Aber eigentlich war es so: Die Maschine arbeitete immer gleich. Die Menschen reagierten unterschiedlich darauf.

Es waren bereits Leute in der Halle, und es hatten sich Gruppen gebildet, in denen angeregt miteinander diskutiert wurde. So wie es aussah, war er der Letzte gewesen, der noch gefehlt hatte. Kaum war er drin, wurden von außen die Schleusentore verriegelt.

Dieter Feldmann sah Dwight Leach an den Computern sitzen und die Bildschirme betrachten, über die Zahlencodes schwirrten. Es sollte ihm ja niemand erzählen, dass der die lesen konnte, kam ihm ein böswilliger Gedanke. Ihr Zweck bestand zwar nur im Erfassen der Daten, dennoch handelte es sich dabei um eine ganze Menge!

Er sah heute etwas besser aus als beim letzten Treffen, wo er ihn gleich unter schlechten Umständen zu Gesicht bekommen hatte. Er wirkte ausgeruht und auch etwas stolz. Jedenfalls ließ sein Profil darauf schließen. Ihm zur Hand standen zwei Mann in weißen Kitteln, die emsig miteinander sprachen und immer wieder am Computer Schalter betätigten oder Knöpfe drückten. Es sah fast so aus, als würden sie das Prozedere im Schlaf beherrschen.

Mark Larsen stand mit dem Rücken zu ihm, drehte sich jedoch um, als er die Veränderung seiner Gesprächspartnerin wahrnahm, die an ihm vorbei Dieter Feldmanns Auftritt beobachtete. Ein freundliches Lächeln überzog sein hageres Gesicht, das seit ihrem letzten Treffen noch eingefallener wirkte. Das zeigte doch, dass die Aufgabe als Hüter ihren Tribut forderte.

„Hallo, Mark. Schön, dich zu sehen.

„Dieter.“

Mark Larsen deutete eine leichte Verbeugung an, die der Ordensmeister mit einem Nicken seinerseits erwiderte.

Er war älter geworden, stellte Dieter Feldmann fest. Älter aber auch reifer. Die einen würden sagen interessanter, da ihn ein Flair umgab, das den Hauch des Mystischen mit sich trug. Und gleichzeitig konnte er feststellen, dass Mark Larsen eine Kraft umgab, in der man sich gerne gesonnt hätte. Wenn man es nicht besser wüsste, dass diese Kraft gleichzeitig auch die Garantie für ein kurzes Leben sein konnte, wenn man nicht aufpasste. – Wie hieß es doch im Volksmund: Die Sterne, die am hellsten leuchten, vergehen am ehesten.

Mit einem Nicken trat er zur kleinen Gruppe und begrüßte so auch Ma Kirby, die in der TS-Uniform zum Anbeißen aussah. Das lange und dunkle Haar fiel ihr sanft über die Schultern. Dieses Mal war kein weißer Kittel im Weg, der ihm die Sicht versperrte. Von Nahem konnte er nun feststellen, dass die Uniform doch nicht so eng war, wie er dies vorhin vermeinte gesehen zu haben. Vielleicht war es auch nur eine Wunschvorstellung gewesen. Sie machte darin aber trotzdem eine gute Figur.

Unter den Augen hatte sie etwas Mascara aufgetragen, die ihre blaugrünen Augen noch exotischer wirken ließen, als sie es am frühen Morgen noch waren, als sie den Gang in Richtung Bett gingen. Er zu seinem – wie es sich gehörte – und sie zu ihrem – wie sie es verlangte. Obwohl er auch unter der Müdigkeit litt, seit sie sich erhoben hatten, wäre er doch bereit gewesen, diese für ein paar weitere Minuten in ihrer Gegenwart zu ertragen. Aber sie kannte kein Pardon! Als er unter dem Eingang stand, die restlichen Ordner ebenfalls wieder auf dem Arm, die sie zuvor getragen hatte, wollte er ihr gerade eine gute Nacht wünschen, als sie ihm einen Kuss auf den Mund drückte. Nur schnell, aber es reichte vollkommen aus, ihm die Sprache zu rauben. Und bevor er mehr sagen konnte, war sie schon um die Ecke verschwunden, nicht, ohne noch schnell etwas von „Zahmer Wolf“ in seine Richtung zu werfen.

Und jetzt stand sie wieder vor ihm und sah so verführerisch und ausgeruht aus, dass ihm beinahe das Herz zersprang. Er war doch erwachsen. Weshalb kam er sich vor, als wäre er zwanzig und zum ersten Mal richtig verliebt?

Sie grinste ihn an, aber bevor er etwas sagen konnte, zischte Aldega Derron ihm etwas ins Ohr.

Er entschuldigte sich und entfernte sich mit dem TS-Chef ein paar Meter von der Gruppe. Mark Larsen und Ma Kirby nahmen ihr unterbrochenes Gespräch wieder auf, während er Derron auf die Seite folgte.

„Was gibt’s?“, wollte er wissen.

„Wie du vielleicht gesehen hast, befinden sich Dwight Leach und Billie Holiday im selben Raum.“

Dieter Feldmann schüttelte den Kopf und blickte sich um. Billie Holiday hatte er übersehen. Sie stand im entgegengesetzten Teil des Raumes, nippte an einem Getränk und versuchte krampfhaft, locker zu wirken.

„Was ist mit ihr? Probleme?“

Der TS-Chef gab einen Laut von sich, der schlecht einzuordnen war. „Nicht wirklich“, meinte er dann. „Aber ich habe mich bis jetzt auch immer erfolgreich zwischen den beiden bewegen können. Sie haben genug Abstand zueinander. Von daher gibt es keine Schwierigkeiten. Es ist nur so, dass ich dich darum bitten wollte, die zwei etwas im Auge zu behalten. Ein zusätzliches Augenpaar wird sicher nicht schaden.“

„Kann ich machen ...“, brachte er mit gespieltem Enthusiasmus hervor. Warum Derron dabei gerade auf ihn kam? Von seinen Leuten gab es ja wirklich mehr als genug, die ebenso gut hätten aufpassen können – wenn nicht sogar besser als er.

„Gut. Danke.“

Aldega Derron entfernte sich wieder von ihm und wandte sich dem Kontrollstand zu. Dwight Leach sah von seinem Bildschirm auf, und Dieter Feldmann bekam mit, wie sie anfingen, miteinander zu sprechen. Dabei verwies der Wissenschaftler gelegentlich auf den kleinen Kasten, den er in den Händen hielt.

Er selber ging zur Zeitmaschine rüber. Sie war ohne Räder ungefähr so hoch wie er.

An der befensterten Tür hatten sie eine Flagge befestigt, die den vitruvischen Mann zeigte. Gutes Symbol, musste er sich eingestehen. Auch sehr passend.

Daneben hing wieder ein Kleber, den wohl einer der Mannschaft angebracht haben musste. Er sah alles andere als offiziell aus: „No one dies as virgin. Life fucks everyone.“

Wohl wahr, dachte er. Wohl war.

Rechts und links konnte er durch die Fenster ins Innere sehen. Noch war nicht wirklich etwas drin, das sie groß von einer anderen Postkutsche unterschieden hätte. Man hatte Holzlatten gelegt, damit sich die Pathfinder-Teilnehmer alle ausstrecken konnten. Und das auf zwei Etagen. Es würde etwas eng werden, aber trotzdem reichen. Im ehemaligen Beinraum hatte es sogar Platz, um diverse Gerätschaften zu verstauen. Was auch genutzt wurde. Jemand hatte sogar das Messing glanzpoliert, und auch die Griffe aus Porzellan glänzten verführerisch.

„Ob wir damit wieder lebend zurückkommen werden?“, riss ihn eine Stimme aus den Betrachtungen. Dieter Feldmann sah zu dem großen Mann hoch, der lautlos zu ihm aufgeschlossen hatte. Er hatte ein freundliches Gesicht und blickte sinnierend die Zeitmaschine an, als würde er etwas sehen, das ihm zu denken gab. Dicke Augenbrauen dominierten den Kopf, da er sonst keine Haare besaß. Glatze bis zum Nacken war wohl sein Motto. Nur ein leichter Schatten ums Kinn zeigte etwas dunklere Stellen. Auch er war in die schwarze Uniform gekleidet. Auf seiner linken Brust prangte ein weiteres Mal das Abzeichen des vitruvischen Mannes. In der Linken hielt er ein Glas, das unmerklich schwappte, dessen Inhalt entweder Wasser oder Wodka sein musste. Dieter Feldmann tippte auf Ersteres, da sie kurz vor einem wichtigen Schritt standen. Er konnte sich schlecht vorstellen, dass der Mann sich zu etwas anderem hatte entschließen können.

 „Oh, Entschuldigung. Ich bin Flavio. Flavio Peronino.“

Eine Riesenhand flog auf ihn zu, die dann auf halbem Weg zum Stehen kam.

„Sorry, aber die Hand ist noch nicht ganz verheilt“, meinte  Dieter Feldmann, als er ihm die Linke hinhielt.

Der Hüne winkte ab.

„Kampf?“

„Unfall, wirklich ganz normal. – Dieter Feldmann ist mein Name.“

„Kann uns auch passieren. – Sie fliegen mit?“

„Na ja, wenn man das so sagen kann ...“

„Ich weiß, es ist der falsche Ausdruck, aber in der Vorstellung ist es immer noch wie ein Abheben und Ankommen.“

Dazu konnte er nur nicken. Ma Kirby gesellte sich dazu und brachte Dieter Feldmann ein Glas zu trinken. Er bedankte sich und sie erkundigte sich, worüber sie sprachen.

„Mister Peronino hier sinnierte gerade, ob wir lebend zurückkommen würden.“

„Keine Bange“, versprach sie ihm mit einem zuversichtlichen Lächeln, „wird schon schiefgehen. – Und was hast du darauf geantwortet?“

„Ich bin noch gar nicht dazu gekommen. Aber ich denke mir, dass deine Antwort schon stimmen wird. Ja ... absolut.“

Sie blickten ihn beide mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mr. Spock hätte es nicht besser hingekriegt.

„Was ist? Was habe ich gesagt?“, wollte er wissen.

„Das Ja klang überzeugend“, meinte Ma Kirby, wobei sie gleich von Flavio Peronino unterbrochen wurde, der bestätigend nickte und den Faden weiterspann:

„Ja, aber das angefügte Absolut warf das Ganze dann gleich wieder über den Haufen“, meinte er zweifelnd, wobei sein Gesicht einen säuerlichen Ausdruck bekam, als habe er auf eine Zitrone gebissen.

„Es ist eine Zeitmaschine, Leute“, verteidigte er sich. „Ich kriege schon eine Krise, wenn ich wegen der Sommerzeit meine Uhren umstellen muss.“

Ma Kirby nahm ihn an der Schulter und führte ihn von der Postkutsche weg.

„Sie wurde getestet und für einsatzfähig befunden.“

Er musste an sich halten, damit er den Lacher, den er tief in seiner Kehle spürte, nicht rausließ.

„Was kann schon groß passieren, Sir?“, rief ihnen Flavio Peronino hinterher.

„Es wird schon schiefgehen“, winkte Dieter Feldmann beteuernd ab. Und für einen Augenblick konnte er nicht genau sagen, wie er diese Antwort selber auslegte. Der Gedanke ließ einen schalen Geschmack auf der Zunge zurück ...

 

 

***

 

 

„Also gut, meine Damen und Herren. Es ist so weit.“

Augenblicklich verstummten die Gespräche, obwohl sich Aldega Derron nicht einmal laut geäußert hatte, aber alle Blicke richteten sich sofort auf ihn. Wenn die Leute eines waren, dann vollkommen aufgeregt! Wie kleine Kinder vor dem ersten Weihnachtsfest.

Wahrscheinlich hätte er nur eine Nadel fallen lassen müssen, und die Anwesenden wären in die Höhe gesprungen, als hätte er aus nächster Nähe einen Kanonenschuss abgefeuert. Trotzdem wusste er ihre Erwartung zu schätzen und führte sie vor allem auf sich zurück. Er war jedoch nicht so anmaßend zu glauben, dass sie alle auf seine Person gewartet hatten, sondern vielmehr auf das, was er zu sagen hatte. Er beschloss, dem Warten nun ein wohlverdientes Ende zu bereiten.

„Wenn ich die Teilnehmer nun bitten darf, sich zu den anwesenden Ärzten zu begeben. Diese wären bereit.“

Er wies auf die drei Personen, die ein paar Meter neben dem Tisch mit den Getränken einen weiteren, kleineren aufgestellt und diesen mit ein paar wenigen Utensilien belegt hatten. Sogar eine jungfräuliche Decke war darauf ausgebreitet worden. Die Leute selber waren vollständig in Weiß gekleidet und verströmten so einen Ausdruck von Krankenhaus.

Wie Dieter Feldmann dies von seiner Stelle ersehen konnte, handelte es sich um Hochdruckspritzen, die sie nebeneinander ausgelegt hatten. Na glänzend, ging ihm ein Gedanke durch den Kopf, immer wird gepiekst!

Er ging trotzdem hin. Eigentlich musste er ja fast. Ein Blick nach hinten, und er blickte Mark Larsen direkt in die Augen, der ihn belustigt musterte. Dessen Gedanken ließen sich unschwer auf der Stirn ablesen: Lieber du als ich. Und dabei hatte er ein stolzes Gesicht aufgesetzt, das wohl jeden außer Dieter Feldmann täuschte. Das Zucken um die Mundwinkel verriet ihn.

Da waren sie nun also, die sieben Auserwählten. So richtig glorreich kam er sich dabei aber nicht vor. Gut, der Gedanke, auf dem Weg zu einer Schlachtbank zu sein, kam ihm als Vergleich auch sehr ungelegen, und er versuchte, ihn so gut es ging zu verdrängen. In der Reihe stand bereits Alfredo, den er bisher noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Dieser hielt bereits eifrig seinen haarigen – wie konnte es auch anders sein – entblößten Unterarm hin, und einer der anwesenden Ärzte verpasste ihm eine Dosis des Schlafmittels. Dieter Feldmann nahm wahr, dass Alfredo seine Mähne unter eine Bandana gestülpt hatte. Durch das Fehlen der Haare bekam sein Gesicht das Aussehen eines Vollmondes. Und es schien etwas Wichtiges, Prägendes zu fehlen.

Hinter Alfredo sah er einen weiteren Mann, den er als Einzigen noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Es musste sich dabei um Allan Whitey Snyder handeln. Wie Flavio Peronino trug er eine Glatze, aber der Vollbart würde die Unterscheidung doch sehr erleichtern, war er doch von der Größe her ähnlich gebaut wie dieser. Wurden hier die Kolosse alle aus derselben Form gedrückt?

Dann war bereits er an der Reihe. Ein kurzer Stich, und es war schon ausgestanden. Die Ärzte arbeiteten speditiv und ruhig. Es war kaum etwas zu spüren, außer einem kurzen Druck im Arm, der gleich wieder nachließ.

Aldega Derron bat ein weiteres Mal um Ruhe. Während sich die Teilnehmer der Expedition vor der Zeitmaschine aufstellten, zeigte er auf den anwesenden Fotografen, der bereit war, vor dem Start noch schnell ein paar Bilder zu schießen. Es ging rasch und ohne großes Tamtam über die Bühne. Die Timeonauten warfen sich schnell alle in künstliche Posen, bevor Aldega Derron in gespieltem Entsetzen ausrief:

„So nicht, meine Damen und Herren. Etwas mehr Professionalität, wenn ich bitten darf. Und das ist ein Befehl!“

Schließlich wollte man nachfolgenden Generationen doch zeigen, dass gebildete Leute an dieser Expedition teilnahmen und nicht eine Handvoll Komiker und Clowns, wie er noch mit einem Augenzwinkern anhängte.

Dann war es soweit die Zeitmaschine zu besteigen, bevor die Teilnehmer stehend einschliefen. Die ersten Anzeichen zeigten sich bereits, als der eine oder andere unverschämt zu gähnen anfing. Leute von der TS kamen ihren Kollegen zu Hilfe und rissen die Türe der Zeitmaschine auf, nahmen dann einen nach dem anderen an der Hand, um ihn sicher in den Innenraum zu geleiten. Sie achteten vor allem auch darauf, dass sich die Timeonauten nicht die Köpfe stießen, indem sie diese mit ihren Händen abdeckten. Genauso, wie man es in amerikanischen Krimis darstellt, wenn die gefangenen Räuber in den Einsatzwagen gebracht wurden. Fehlte nur noch, dass ein Witzbold auf die Idee kam und anfing, die Rechte zu verlesen. Aber nichts dergleichen geschah.

 

 

***

 

 

Mark Larsen hatte sich der Zeitmaschine bis auf wenige Meter genähert und schaute dem Vorgang gespannt zu. Es sah aus, als wäre er wirklich froh, heute und jetzt nur als Zuschauer dabei zu sein. Er wusste, dass ihm eine solche Reise früher oder später auch bevorstand, aber bis dahin verging noch etwas Zeit.

Der Hüter sah, dass sich die Assistenten, die zuvor mit dem Kopf des Wissenschaftlerteams zusammengearbeitet hatten – Dwight Leach hieß er, wenn er sich richtig entsann – hinten an der Postkutsche zu schaffen machten, während sich der Chef weiter um die Angaben auf dem Bildschirm kümmerte. Was ihm dieses Geflimmer auch immer zu sagen vermochte, blieb Mark Larsen ein Rätsel. Er hoffte einfach, dass er wusste, was er im Begriff war zu tun.

Mittlerweile waren die TS-Leute mit ihren „Patienten“ fertig geworden. Wie Sardinen lagen sie auf- beziehungsweise nebeneinander, aber es würde gehen. Für sie würde es nur ein kurzer Trip werden. An Ort und Stelle gelandet, würden sie sogleich zu sich kommen, da es sich um ein intensives, aber relativ schnell abbaubares Mittel handelte, und bald darauf ihren zugeordneten Aufgaben nachgehen. Auch wenn dies nur hieß: Die Augen offen halten und alles aufnehmen, was es aufzunehmen gab. Vielleicht fand man ja wirklich schon beim ersten Ausflug etwas über das Gerücht und die Mumien heraus.

Unter den Liegen gab es Fächer, die Waffen beinhalteten. Man musste mit allem rechnen! Probleme konnten sich jederzeit ergeben. Dann durften natürlich Geräte nicht fehlen, die zu wissenschaftlichen Zwecken mitgenommen wurden. Man hatte sich wegen des Platzproblems darauf geeinigt, nur kleinere Sachen mitzunehmen, wie z. B. Mikro- und Teleskop. Weitere Hochdruckspritzen lagen für den Rückweg bereit. Man war auf alles vorbereitet, erkannte Mark Larsen.

Als sich Aldega Derron zu ihm gesellte, sagte er ihm das auch. Ein stolzes Lächeln zeigte sich kurz auf dessen Gesicht, dann war es bereits wieder verflogen, um einer Professionalität zu weichen, die von einer Selbstverständlichkeit sprechen wollte, es aber nicht ganz hinbekam. Er erklärte dem Hüter kurz die Funktion des Energiesensors, der gerade von einem Assistenten in die Zeitmaschine gelegt worden war, nachdem man diesen mit den Daten der Rechner gleichgeschaltet hatte. Dann war die Zeit des Abfluges schon fast heran.

„Komm, Mark. Die Maschine ist am Aufstarten. Es wird wohl am besten sein, wenn wir uns etwas zurückziehen.“

Damit meinte er wohl das sich langsam aufbauende Geräusch, das mittlerweile auch von menschlichen Ohren aufgenommen werden konnte, da es in dessen Hörbereich kam. Zuerst war es nur im Hochfrequenzbereich zu vernehmen, wie sie festgestellt hatten, wurde aber immer tiefer, umso bereiter die Zeitmaschine war.

Er wollte sich gerade mit Aldega Derron abwenden, als er aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung sah. Neugierig blickte er sich um und sah gerade noch, wie einer der Assistenten hinter der Zeitmaschine zusammensackte. Der andere hatte ihm mit einer langläufigen Pistole in den Kopf geschossen, erkannte er erstaunt. Der Schalldämpfer musste das Geräusch verschluckt haben. Noch bevor er reagieren konnte, erkannte er, wie der Lauf der Schusswaffe in seine Richtung fuhr und dann der Abzug durchgezogen wurde. Ein stechender Schmerz an der rechten Schulter ließ ihn zusammenzucken. Einen Sekundenbruchteil zuvor war an dieser Stelle noch sein Herz gewesen, doch Aldega Derron hatte ihn aus der Schussbahn geworfen, oder wenigstens versucht, dies zu tun. Auf jeden Fall hatte er ihm das Leben gerettet. Doch im Moment war nicht die Zeit für große Dankesreden. Mark Larsen fiel in Richtung der Zeitmaschine, während sich der Assistent von der Rückseite der Maschine schwang und nach vorne kam, während er weiterhin seine Pistole gebrauchte.

 

 

***

 

 

Aldega Derron wurde am Oberschenkel getroffen, während er sich hinter einem Tisch in Deckung warf. Wobei es eher ein Fallen war. Neben ihm gingen Personen zu Boden, die von der Situation total überrascht wurden. Schreie drangen an seine Ohren, aber das Einzige, was er selber zu rufen imstande war, dass niemand auf den Attentäter schießen sollte. Er wusste nicht, ob es seinen Leuten selber in den Sinn kam, die dem Schauspiel beiwohnten, aber er hatte es vor allem an jene seiner Einheit gerichtet, die durch das Schott hereinkamen, die Waffen im Anschlag und bereit waren auf alles zu schießen, was sich nur bewegte. Nicht auszudenken, was geschah, wenn die Schützen die Zeitmaschine trafen anstelle des Mannes.

„Tod der Menschheit!“

Der Ausruf drang noch an seine Ohren, als das allseits bekannte Geräusch erklang, wenn sich Luft Raum zurückeroberte, den zuvor noch ein großer Gegenstand eingenommen hatte. Da wusste er, dass er nichts mehr ausrichten konnte. Humpelnd wollte er sich erheben, als ihm schon von einem seiner Leute unter die Arme gegriffen wurde.

„Sir. Alles in Ordnung?“

„Nichts ist in Ordnung, verdammt noch mal!“, blaffte er die Frau an. Sie zuckte leicht zurück, als habe sie einen Kübel Wasser ins Gesicht bekommen, ließ sich aber sonst durch das frostige Verhalten ihres Vorgesetzten nicht von ihrem Tun abhalten. Wahrscheinlich war sie es gewohnt. Er musste sich helfen lassen, da er sonst wieder eingeknickt wäre. Ein sauberer Durchschuss, stellte er nebenbei fest, während er sich an ihr festhielt.

„Kümmern Sie sich um Mark Larsen“, rief er einem anderen zu, während er sich dem Punkt zuwandte, an dem zuvor noch die Zeitmaschine gestanden war. Er ist auch verletzt, erstarb ihm auf der Zunge, denn als er sich umblickte, erkannte er, dass Mark Larsen ebenfalls verschwunden war. Da, wo er den Hüter vermutet hatte, zeugten nur Tropfen von Blut davon, dass ein Mensch hier angeschossen worden war. Ein paar Meter weiter lag der andere Assistent in einer Lache, die aus dessen Kopf floss. Ein Teil seines Beines war ihm durch die Zeitmaschine abgetrennt worden, aber das würde den Toten nicht weiter stören. Auch da war Blut ausgeflossen, aber nur sehr wenig.

Verdammt, ein weiterer Verräter hatte zugeschlagen! Und das mitten unter ihnen! An einem sehr wichtigen Ort.

Was zum Teufel hatte jener mit dem Ausspruch gemeint: „Tod der Menschheit!“ Aldega Derron graute vor der Vorstellung, welche Möglichkeiten sich mit einer Zeitmaschine ergeben würden ...

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<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Siehe Band 8 „Tod dem Verräter“ von Oliver Fröhlich (Dass der wirkliche Verräter keineswegs tot ist, kann Dieter Feldmann natürlich nicht wissen.)

<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> Schweizerischer Ausdruck für „Handy“.

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