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Die sieben Schwestern - Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 2/3))

FanfictionDie sieben Schwestern
Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 2/3)

Bereits nach dem dritten Klingeln wurde am anderen Ende abgehoben. Eine männliche Stimme, rau und brüchig vom Alter, meldete sich.

"Vincente Pellegrini."

"Oberinspektor John Sinclair, Scotland Yard. Buongiorno, padre. Sie hatten mich um Rückruf gebeten?"

"Gott sei Dank, Herr Oberinspektor. Ja, ja! Sie müssen mich anhören. Aber ich fürchte, dass das, was ich Ihnen mitzuteilen habe, Ihre schlimmsten Erwartungen noch bei weitem übertreffen wird."

Pater Pellegrini sprach lupenreines Englisch, wenn auch mit leichtem Akzent. Und war offenbar gewillt, auf den bei einem Gespräch unter einander Fremden obligatorischen einführenden Smalltalk zu verzichten und gleich zur Sache zu kommen. Damit kam er meinem Partner Suko und mir nur entgegen, denn die Zeit drängte fürwahr.

Am Tag zuvor waren wir mit drei Leichen konfrontiert worden, drei Mordopfern, denen bei lebendigem Leib die Herzen herausgeschnitten worden waren. Der Mörder hatte an jedem Tatort eine Nachricht hinterlassen, geschrieben mit dem Blut der Opfer: die lateinischen Namen von je einer der sieben Todsünden, wie sie nachgewiesenermaßen im Mittelalter, aber wahrscheinlich schon viel, viel früher, von christlichen Mystikern und Theologen identifiziert worden waren. Jedem Opfer war dabei eine Sünde zugeordnet worden, die - zumindest vordergründig - seinem Charakter, seinem Herzen entsprach: Das Zorn-Opfer war ein mehrfach vorbestrafter Gewalttäter gewesen, für Habsucht hatte ein Banker sterben müssen. Der Gipfel der Perversion war das Trägheit-Opfer gewesen: eine Frau, die seit ihrer Kindheit im Koma gelegen hatte.

Uns war schnell klar geworden, dass wir es hier mit keinem "gewöhnlichen" kranken Serienkiller zu tun hatten. Wer immer hier zugange war, bezweckte letztendlich, die personifizierten sieben Todsünden zu beschwören und auf die Erde und die Menschheit loszulassen. Würde dies gelingen, würde die Welt unabwendbar in Sünde und Chaos versinken, der Prolog, das Präludium, Vorspiel zur Apokalypse, dem endgültigen Höllensturz der Menschheit. Dies galt es um jeden Preis zu verhindern. Leider hatten mein Partner und ich bisher keinerlei Hinweis, der uns zum Täter führen konnte, um ihm das blutige Handwerk zu legen, bevor er seine Siebenerserie vollenden und die Inkarnation der sieben Schwestern, der leibhaftigen leiblichen Töchter Luzifers, die die sieben Todsünden waren, Wirklichkeit werden lassen konnte.

Pater Vincente Pellegrini hatte sich vom Vatikan aus per Mail bei uns gemeldet und um Rückruf gebeten. Was er mir nun am Telefon erzählte, bestätigte zumindest unsere schlimmsten Befürchtungen. Und er gab unserem Täter zumindest schon mal ein Gesicht und einen Namen.

Pellegrini arbeitete seit mehr als einem halben Jahrhundert in den Archiven des Vatikans. Dort hatte er auch die Aufsicht über die verbotenen Schriften. Nicht alle diese Schriften, das wussten wir nur zu gut, waren verboten worden, weil sie den offiziellen Ansichten, Dogmen und Statuten der Kirche widersprachen oder ihre Macht und Autorität untergruben, infrage stellten oder leugneten. Dort waren auch Bücher zu finden, die aus gutem Grund der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Nicht zuletzt magische, meist schwarzmagische Texte, mit denen viel Unheil angerichtet werden konnte. Besonders, wenn sie in die falschen Hände gerieten.

Vor nun beinah zehn Jahren hatte Pellegrini einen jungen Novizen namens Damian oder Damiano zugeteilt bekommen, den er zu seinem Nachfolger ausbilden sollte. Ein frommer Mann mit festem Charakter, wie er für eine solche Aufgabe geboten war. Eines Tages nun stieß Bruder Damian im Archiv zufällig auf einen alten Folianten, das Liber de ressurrectione septem peccatis mortalibus, das Buch von der Auferstehung der sieben Todsünden, eine zurecht geächtete und verbannte Schrift, eine vorchristliche Anleitung zur Anrufung und Inkarnation der sieben Schwestern. Damian begann sich zu verändern, wurde geradezu besessen von dem Text. Pellegrini schwante Böses. Kurz darauf, so berichtete Pellegrini weiter, sei Damian spurlos verschwunden, zusammen mit besagtem Buch sowie einigen anderen wertvollen Texten. Das war vor sieben Jahren.

"Vermutlich hat er die anderen Bücher verkauft, um zu Geld zu kommen und finanziell unabhängig zu sein. Damian hatte sieben Jahre Zeit, um die Inkarnation der sieben Schwestern in aller Ruhe vorzubereiten. Als ich im Internet von den Morden bei Ihnen in London gelesen habe, wusste ich sofort: Das ist Damian. Es ist so weit. Jetzt beginnt er sein furchtbares Werk, das uns alle ins Unglück aller Unglücke stürzen soll."

Pater Pellegrini seufzte schwer. Und auch Suko und mir war nach Pellegrinis Erzählung kein Deut wohler zumute.

Nun, immerhin hatte unser Gegner, unser Feind, unser John Doe nun endlich einen Namen. Indes: Wenn Damian seine Mordserie seit sieben Jahren geplant hatte, würde er sich als erstes einen Decknamen zugelegt haben. Der Name half uns also erstmal kein Stück weiter. Das war auch Pater Pellegrini klar.

"Ich maile Ihnen Damians Personalakte. Dann haben Sie zumindest ein Foto von ihm. Wenn auch fast zehn Jahre alt."

Ich bedankte mich bei dem Pater für seine Hilfe und Unterstützung. Er beschwor uns, Damian aufzuhalten, koste es was es wolle, versprach, für uns und unser Gelingen zu beten und sandte uns Gottes Segen.

Ich hatte in langen Jahren und auf manch bittere Weise gelernt, dass im Kampf gegen das Böse ein Projektil Kaliber 9 Millimeter aus purem Silber, ein schlichter, zugespitzter Holzpflock oder eine aus Dämonenhaut gefertigte Peitsche wesentlich effektivere und verlässlichere Waffen waren als ein Vaterunser oder ein Ave Maria; nichtsdestotrotz fühlte ich mich nach dem Telefonat mit Pater Vincente Pellegrini auf seltsame Weise bestärkt. Vielleicht gab es ja doch irgendwo eine Macht, noch über dem Erzengel Michael, dessen persönliche Bekanntschaft ich schließlich schon gemacht hatte. Eine Macht, die über mich und die meinen wachte. So häufig, wie ich Tod und Teufel schon von der Schippe gesprungen war, war der Gedanke keineswegs völlig abwegig.

Bevor mir der Gedanke jedoch allzu sehr zu Kopf steigen konnte, kam Glenda herein, den Ausdruck der Personalakte in der Hand, die Pellegrini ihr, wie angekündigt, gemailt hatte.

Mein Partner und ich starrten auf das Foto auf der ersten Seite.

Das war er.

Der Typ, dem wir ahnungslosen Trottel in der Tiefgarage des St. Thomas´ Hospital geholfen hatten, die Herzmaschine, das "Künstliche Herz", in den Rettungswagen zu laden und mit dem ebenfalls gestohlenen Wagen unerkannt zu verschwinden.

Wir wiesen Glenda an, das Foto umgehend an alle Streifen zur Fahndung rauszugeben. Sie war noch nicht wieder zur Tür raus, da klingelte das Telefon auf meinem Schreibtisch.

Der Anrufer war Inspektor Kopelson, der Beamte von der Metropolitan, der mich tags zuvor zum Tatort des ersten Mordes bestellt hatte. Wo eine mit Blut geschriebene Nachricht auf dem Badezimmerspiegel mich persönlich gewarnt hatte, mich "rauszuhalten". Inspektor Kopelson, der nicht müde geworden war, mir vorzuschwärmen, wie sehr er mich und meine polizeiliche Arbeit bewunderte.

Er meldete sich nicht mit Namen, aber ich erkannte seine Stimme. Obwohl sie seltsam brüchig klang.

"Ich verstehe jetzt, was er tut. Hören Sie, Sinclair? Ich verstehe es. Er ist ein Künstler."

Ich fragte Kopelson, wo er sei, von wo er anrufe, und er sagte, er sei zuhause.

"Er ist hier, hören Sie? Hier bei mir! Ich verstehe jetzt alles! Kommen Sie schnell! Beeilen Sie sich! Das ... das müssen Sie sich ansehen!"

Noch bevor Kopelson aufgelegt hatte, hatte Suko via Intranet des Yard seine Privatadresse ausfindig gemacht.

Wir rannten die Treppe hinunter in die Tiefgarage.

Auf den Lift zu warten hätte zu lange gedauert.  

***

Fallbericht Aktenzeichen: ***/***/*
Nur für den internen Dienstgebrauch
Sicherheitskategorie 12
verfasst von: Suko, Inspektor, Abteilung X
leitender Vorgesetzter: Powell, James, Superintendent
Fortsetzung
Etwa zwanzig Minuten nach Inspektor Kopelsons Anruf beim Yard erreichten Oberinspektor Sinclair und ich Kopelsons Privatadresse in Whitechapel. Die Haustür des Mehrparteienhauses stand offen. Die Tür zu Inspektor Kopelsons Wohnung war geschlossen. Als nach mehrmaligem Klingeln und Klopfen nicht geöffnet wurde, öffneten wir die Tür gewaltsam.

Wir sicherten die Wohnung. Wir fanden Inspektor Kopelson im Schlafzimmer. Außer ihm hielt sich niemand in der Wohnung auf.

Inspektor Kopelson war zum Zeitpunkt unseres Eintreffens noch am Leben und bei Bewusstsein. Er lag rücklings, mit entblößtem Oberkörper, auf dem Bett, Hände und Füße waren mit Handschellen ans Bettgestell gefesselt. In seiner Brust, linksseitig, klaffte ein Loch, dort, wo sein Herz gewesen war. Das Herz war offensichtlich entfernt worden, jedoch führten zwei Schläuche in die Wunde, die mit dem neben dem Bett stehenden so genannten "Künstlichen Herzen" verbunden waren. Die Maschine summte, eine Diode blinkte etwa im Sekundentakt. Durch die Schläuche wurde im selben Takt Blut gepumpt.
 

An die Wand überm Bett war mit Blut, in Versalschrift, das Wort INVIDIA geschrieben.

Oberinspektor Sinclair forderte unverzüglich telefonisch notärztliche Versorgung an.

Wir beschworen Inspektor Kopelson, durchzuhalten.

Seine letzten Worte waren an Oberinspektor Sinclair gerichtet: "Ich habe Sie immer bewundert, Sinclair. Offenbar ist Neid meine Sünde. Denken Sie stets daran, wenn Sie in Zukunft in den Spiegel sehen. Das bisschen Zukunft, das Sie noch haben, bevor die sieben Schwestern ..."

Inspektor Kopelson brachte den Satz nicht zuende. Unvermittelt setzte das "Künstliche Herz" aus. Das Summen verstummte, die Diode erlosch. Dem Notarzt, der nur Minuten später eintraf, blieb nurmehr, Inspektor Kopelsons Tod festzustellen.

Wie sich bei der folgenden, oberflächlichen Tatortbesichtigung herausstellte, war das "Künstliche Herz" zur Stromversorgung an eine Steckdose in der Wand angeschlossen. Zwischengeschaltet war eine Zeitschaltuhr, wie man sie für ein paar Pfund Sterling in jedem Baumarkt bekommt. Über diese war die Stromzufuhr nur Minuten nach unserem Eintreffen am Tatort unterbrochen worden.

***

Suko nahm wortlos die Kreide und strich Sünde Nummer vier auf unserer Tafel durch, auf der Glenda die sieben Todsünden in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet hatte:

ACEDIA - Trägheit
AVARITIA - Habsucht
GULA - Maßlosigkeit
INVIDIA - Neid  
IRA - Zorn
LUXURIA - Wollust
SUPERBIA - Hochmut

"Bleiben noch drei", brachte ich das Offensichtliche auf den Punkt.

"So langsam geht uns der Arsch auf Grundeis."

Bevor mir eine noch herbere Antwort einfiel, kam Glenda in unser Büro gestürmt.

***

Fallbericht Aktenzeichen: ***/***/*
Nur für den internen Dienstgebrauch
Sicherheitskategorie 12
verfasst von: Suko, Inspektor, Abteilung X
leitender Vorgesetzter: Powell, James, Superintendent
Fortsetzung
Von einer Kollegin, die in der Zentrale des allgemeinen Polizeinotrufs des Yard arbeitete, war ein Gespräch zu Miss Perkins durchgestellt worden. Laut der Kollegin habe der Anrufer angegeben, Informationen zur Todsünden-Mordserie mitteilen zu wollen. Als Miss Perkins das Gespräch entgegennahm, hat der Anrufer ihr gegenüber jedoch lediglich den Satz "Oh Gott, ich hab´s schon wieder getan!" geäußert. Danach hat der Anrufer die Leitung jedoch nicht unterbrochen, sondern offenbar lediglich den Hörer irgendwo abgelegt, worauf ein auf die Mitteilung folgender Klopfton hinwies. Miss Perkins spielte uns unverzüglich die automatisch erfolgte Aufzeichnung des Anrufs vor, sodass wir ihre Angaben bestätigt fanden. Inspektor Suko und ich waren uns zudem sicher, dass die Stimme identisch war mit der des Mannes, dem wir in der Tiefgarage des St. Thomas´ Hospital begegnet waren und der zu diesem Zeitpunkt unser einziger Tatverdächtiger war.

Bruder Damiano.

Damian.

Miss Perkins hatte ihrerseits die Telefonverbindung aufrecht erhalten. Eine telefonische Nachfrage bei der Zentrale, von Oberinspektor Sinclairs Anschluss aus getätigt, ergab, dass der Anrufer sich dort anonym gemeldet und es abgelehnt habe, seinen Namen zu nennen. Da die Verbindung zum Gerät, von dem der Anruf erfolgt war, nach wie vor intakt war, hatte Miss Perkins bereits die zuständige Abteilung kontaktiert, um den Anruf zurückverfolgen zu lassen. Die Kollegen meldeten unverzüglich, der Anruf werde von einer Festnetznummer getätigt, und nannten uns die entsprechende Adresse. Diese lag, wie Oberinspektor Sinclair und ich mit einigem Verdruss feststellen mussten, lediglich drei Straßen entfernt von Inspektor Kopelsons, des letzten Opfers, Adresse in Whitechapel entfernt, von der aus wir keine halbe Stunde zuvor zum Yard zurückgekehrt waren.

***

Fallbericht Aktenzeichen: ***/***/*
Nur für den internen Dienstgebrauch
Sicherheitskategorie 12
verfasst von: Sinclair, John, Oberinspektor, Abteilung X
leitender Vorgesetzter: Powell, James, Superintendent
Fortsetzung
Inspektor Suko und ich begaben uns unverzüglich zur von den Kollegen der Recherche-Abteilung angegeben Adresse. Es handelte sich wiederum um ein Mehrparteienhaus.

Da auf unser Klingeln und Klopfen hin nicht reagiert wurde, trafen wir den Entschluss, die Wohnungstür gewaltsam zu öffnen.

Wir sicherten die Wohnung.

Im Bad fanden wir den Mieter der Wohnung, Mister William Bradley Morgan. Mister Morgan saß nackt in der Duschwanne. Er war offensichtlich nicht mehr am Leben. Wie die später am Tatort angefertigten Fotos der Spurensicherung (siehe Anlage) belegen, war die Todesursache nicht auf den ersten Blick erkennbar. Da Mister Morgan extrem übergewichtig war, war das faustgroße Loch auf der linken Brustseite durch zahlreiche Hautlappen respektive Körperfettwülste über- bzw. verdeckt. Da mein Partner, Inspektor Suko, und ich jedoch bezüglich der Todesursache einen berechtigten Verdacht hegten, konnten wir diese unverzüglich eruieren und verifizieren.

Auch bei diesem Opfer war das Herz durch gewaltsamen Eingriff von außen extrahiert worden.

Auf die weißen Kacheln über dem Kopf von Mister Morgan stand mit - wie mittlerweile von der Gerichtsmedizin bestätigt - dem Blut des Opfers geschrieben: GULA.

Bei der Sicherung der Wohnung war uns auf dem Küchentisch ein altertümliches Festnetztelefon mit Wählscheibe aufgefallen. Der Hörer lag neben der Gabel.

Als ich ihn aufnahm, vernahm ich kein Freizeichen. Ich meldete mich mit Namen, und meine Vermutung wurde bestätigt, dass die Verbindung zu unserer Sekretärin die ganze Zeit über weiterbestanden hatte.

Miss Perkins meldete sich umgehend. Sie machte einen aufgelösten Eindruck. Sie habe gedämpfte Schreie gehört, während mein Partner Suko und ich zum Tatort unterwegs waren. Sie habe Schritte und auch die Wohnungstür - mutmaßlich - zufallen gehört. Ein späterer zeitlicher Abgleich ergab, dass der Mörder weniger als drei Minuten, bevor Inspektor Suko und ich uns gewaltsam Zugang zur Wohnung verschafft hatten, diese verlassen haben musste.
 

***

Und wieder im Yard. Diesmal nahm Glenda die Kreide und strich Sünde Nummer fünf von der Tafel.

Gula.

Maßlosigkeit. Völlerei.

Ich blätterte mich durch den ersten, vorläufigen Bericht der forensischen Spurensicherung.

"Der Mörder hat William Bradley Morgan offenbar über längere Zeit in der Wohnung gefangen gehalten und systematisch gemästet. Womöglich über Wochen, Monate."

"Die Nachbarn haben wie immer nichts mitbekommen." Suko, der die Vernehmungsprotokolle der Kolleginnen und Kollegen durchsah, klang bitter.

 "Nichts gehört, nichts gesehen. Wie diese drei Affen. Laut Eigentümergesellschaft wurde die Miete bis zuletzt regelmäßig pünktlich zum Monatsersten überwiesen."  

Glenda ließ sich mir gegenüber auf den Stuhl fallen, der für Besucher bestimmt war.

"Ich hab´ ihn schreien gehört, John. Ich habe ihn sterben gehört. Durchs Telefon." Ihr Blick ging zwischen Suko und mir hin und her, und er gefiel mir überhaupt nicht. Ich hätte gern was Versöhnliches, Beruhigendes gesagt, doch mir fiel nichts ein. Nur:

"Ja. Ich weiß."

Suko wippte auf seinem Stuhl vor und zurück und starrte dabei aus dem Fenster. Es hatte seit gestern Morgen ununterbrochen geregnet, und es regnete immer noch weiter.

"Der Typ muss ein Herz gehabt haben, so groß wie ein Schinken." Mein Partner blickte erst Glenda an, dann mich, und auch sein Blick ließ mich schaudern. Er lächelte säuerlich.

"Fette Beute für Damian und Schwester Gula."

Glenda sah mich an, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Sie schüttelte den Kopf.

"Ich hab´ Angst, John. Das wird nicht gut ausgehen. Diesmal nicht. Nicht diesmal."

Ich hätte gern was Aufmunterndes, Ermutigendes gesagt. Auch zu mir selbst. Nicht zuletzt zu mir selbst. Aber da war nichts. Ich fühlte mich nur leer, unendlich leer.

Nebenan, in Glendas Büro, klingelte das Telefon. Sie stand auf und lief hinaus, bevor ich antworten konnte.

Und Suko starrte hinaus in den Regen.
 
***

Es war Mittagszeit, aber niemand von uns verspürte Hunger, geschweige denn Appetit.

In diesem Zusammenhang fiel mir ein Traum wieder ein, den ich in der Nacht zuvor gehabt hatte.

Ich war mit Jane Collins bei Luigi, unserem notorischen Lieblings-Italiener, zum Lunch verabredet gewesen. Jane hatte einen Salat mit Meeresfrüchten bestellt. Ich sah zu, wie sie einen kleinen Tintenfisch mit der Gabel aufspießte. Der Tintenfisch lebte offenbar noch, träge bewegten sich seine blass-purpurnen Ärmchen. Jane betrachtete ihn eingehend, sah mich an, lächelte, hielt mir die Gabel entgegen und sagte: "Der ist für dich."

Ich hatte den Mund geöffnet, und Jane hatte mir das Tier in den Mund geschoben.

Ich hatte es ohne zu kauen geschluckt und gespürt, wie es sich in meinem Magen bewegte.

Ich war aus dem Schlaf aufgeschreckt, klatschnass geschwitzt. Mir war speiübel gewesen.

Ich hatte den Traum auf eine TV-Sendung geschoben, die ich einige Tage zuvor gesehen hatte. Darin ging es, nebst anderem, um Sannakji, eine Spezialität der koreanischen Küche. Man schneidet dabei einem Oktopus bei lebendigem Leib die Fangarme ab und verzehrt sie roh. Da die Nervenbahnen in den Armen noch intakt und aktiv sind, bewegen sich die Arme weiter, während man sie verzehrt. Dabei besteht die Gefahr, dass sie sich in Mundhöhle oder Hals mit ihren Saugnäpfen festsaugen. Es sollten schon einige Gourmets an dieser Spezialität erstickt sein.

Mir war schon vom bloßen Zusehen schlecht geworden. Und es fiel und fällt mir zugegebenermaßen schwer, Bedauern zu empfinden für Leute, die durch solche Genüsse ihr Leben verlieren.

Dass indes mein Alptraum, der kleine Kraken auf der Spitze von Janes Gabel, mit dem Fall der sieben Schwestern zusammenhängen könnte, ja sogar einen quasi-prophetischen Hinweis auf dessen letztendliche Auflösung bereithielt - darauf wiederum wäre ich in meinen wildesten Träumen nicht gekommen.

***

"John?"

Glenda blieb im Türrahmen stehen.

"Da hat gerade eine Kollegin von unten vom Empfang angerufen. Unten sei ein Mann, der dich sprechen will. Er habe gesagt -"

Sie schluckte trocken.

"- er heißt Damian, ihr wärt miteinander verabredet, und du wüsstest Bescheid."

***

Der Mann war über zwei Meter groß, er trug einen knöchellangen schwarzen Mantel, das schulterlange Haare war zurückgekämmt und klebte nass am Schädel. Er kam offenbar direkt aus dem Regen. Er stand mit dem Gesicht zur Wand, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, neben dem Empfangstresen im Haupteingangsbereich des Yard. Wir hatten die Kolleginnen und Kollegen vom Büro aus telefonisch angewiesen, ihn unverzüglich festzunehmen, und darauf hingewiesen, dass er möglicherweise bewaffnet sei. Zumindest aber potenziell gefährlich.

Als Suko und ich in die Halle stürmten, standen drei Uniformierte in sicherem Abstand hinter Damian, die Waffen gezogen und auf ihn gerichtet.

Einer der Kollegen blickte mich über die Schulter hinweg an.

"Wir haben ihn durchsucht. Keine Waffen. Allerdings auch keine Brieftasche oder sonstige Papiere."

"Schon gut." Ich klopfte ihm auf die Schulter. "Ab hier übernehmen wir."

Suko und ich hatten unsererseits unsere Waffen gezogen. Ich trat hinter Damian.

"Oberinspektor Sinclair, nehme ich an. Da sind Sie ja endlich." Seine Stimme klang tief und rau. Ich erkannte sie augenblicklich wieder.

Ich richtete die Mündung des Laufs auf seinen Nacken.

"Umdrehen!"

Er drehte sich um. Tatsächlich. Das war er. Damian. Der Mann aus der Tiefgarage des St. Thomas´ Hospital, der Mann vom Foto aus Pater Pellegrinis Personalakte.

Ein blasses Gesicht, lang, hager, mit eingefallenen Wangen. Laut Pellegrinis Akte war er Mitte dreißig.

Er grinste.

"Sie suchen mich doch."

Er trug einen knöchellangen schwarzen Mantel, vorne offen, darunter ein weißes Hemd. Die dunklen, rostroten Spritzer und Flecken darauf waren zweifelsohne - da musste man kein Experte sein - relativ frisches, bestenfalls halb getrocknetes Blut.

Suko trat neben mich, seine Waffe ebenfalls auf Damian gerichtet.

"Vorsicht, John."

Ich trat zurück, deutete mit der Waffe den Gang hinunter.

"Gehen wir."

Damian nickte nur und ging voraus.

***

"Dass der sich so einfach stellt, ergibt überhaupt keinen Sinn."

Superintendent Sir Powell, Suko und ich standen in der abgedunkelten Kammer neben dem Verhörraum im Keller des Yard und sahen durch die einseitig verspiegelte Scheibe zu, wie Damian, der nebenan am Tisch saß, den Teebeutel in seine Tasse tunkte. Er schien die Ruhe selbst. Er trug mittlerweile graue Häftlingskleidung. Die Sachen, die er zuvor getragen hatte, hatten wir der Forensik übergeben. Nicht zuletzt, um die Blutspuren auf dem Oberhemd analysieren zu lassen.

"Na, schön", sagte Powell. "Aber er sitzt da. Und Sie sagen, das ergibt keinen Sinn?" Er sah mich an. "Was denken Sie, John?"

"Suko hat recht", sagte ich. "Das ergibt keinen Sinn. Wir wissen nur von fünf Morden, fünf Herzen. Es fehlen also noch zwei, um seinen Plan zu verwirklichen."

"Es sei denn", gab Powell zu bedenken, "Damian hat seine Mission bereits vollendet. Er hat bereits sieben Herzen zusammen und die Beschwörung vollzogen."

"Dann wäre bereits alles zu spät", sagte ich. "Nein, daran glaube ich nicht. Warum hätte er sich dann stellen sollen? Er könnte ruhig zuhause sitzen und darauf warten, dass die Apokalypse losbricht."

Ich blickte durch die Scheibe. Damian hatte uns den Kopf zugewandt, als könne er uns ebenfalls sehen. Aber er sah nur sein eigenes Spiegelbild.

"Das passt nicht. Die sieben Schwestern können nur zusammen gerufen werden. Um das Ritual zu vollenden, fehlen noch zwei Herzen."

"Sag´ ich doch", schnaubte Suko. "Das ergibt überhaupt keinen Sinn."

Ich klopfte ihm auf die Schulter. "Abwarten. Hören wir uns doch erstmal mal an, was der Bursche selbst dazu zu sagen hat."

Ende des zweiten Teils

Kommentare  

#1 Hellhannes 2020-05-27 22:49
*Daumen hoch*
#2 Robert Martschinke 2020-05-29 13:38
Vielen lieben Dank, Hellhannes! :-)
(So megaviel Feedback kriegt man hier ja nicht ...)
#3 Laurin 2020-05-29 18:17
Stimmt, mit dem Feedback ist es auch ziemlich ruhig geworden. Früher war da hier schon mal mehr los was Kommentare anging. Kann aber auch sein, dass den Lesern auch hier vor Staunen der Mund offen stehen bleibt und die Finger sich über der Tastatur vor lauter Adrenalin seltsam versteifen. :P ;-)
Macht aber nix, ich find die Fan- und Kurzgeschichten auch wirklich gelungen. :-)
#4 Robert Martschinke 2020-05-29 21:05
Solange es nur die Finger sind ... :-*

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