Zweite Chance für Claus - »Die Klassefrau«
Zweite Chance für Claus
»Die Klassefrau«
Natürlich gibt es Ausnahmen von dieser Regel, wenn die Fernsehfilme mit hochkarätigen Stars besetzt sind, die beim Publikum eine dermaßen hohe Popularität genießen, dass das auch Jahrzehnte nach der Produktion noch als Anreiz für eine Fernsehwiederholung genügt. Doch die meisten Eigenproduktionen der Öffentlich-Rechtlichen werden von diesen selbst schon nach kurzer Zeit als nicht mehr quotenrelevant genug eingestuft. Das ist bei Produktionen wie „Die Klassefrau“ besonders schade, da es sich um Qualitätsprodukte handelt, die nichts von ihrem Unterhaltungswert eingebüßt haben und darüber hinaus im Laufe der Jahre nun noch interessante Einblicke in längst vergangene Jahrzehnte und die damalige Mentalität liefern können. „Die Klassefrau“ wurde von Jochen Ziem („Nachrichten aus der Provinz“) geschrieben und vom umtriebigen Rainer Wolffhardt in Szene gesetzt, der erst kurz davor vierzehn Episoden der erfolgreichen und gleichfalls gelungenen Romanverfilmung „Jauche und Levkojen“ nach Christine Brückner inszeniert hatte.
Claus Müller (Laiendarsteller Detlef Kessler) entstammt dem Berliner Arbeitermilieu und hat gerade eine knapp einjährige Haftstrafe wegen wiederholten Diebstahls abgesessen. Seine Freundin (May Buchgraber) hat einen Neuen, auch bei seiner Mutter (Inge Wolffberg) kann er nicht unterkommen, weil deren alkoholkranker und arbeitsloser neuer Freund (Michael Chevalier) keinen zweiten Mann in den engen vier Wänden duldet. Über einen eigennützigen Fotografen (Manfred Günther) macht Claus aber die Bekanntschaft mit der selbstbewussten Hertha (Viola Sauer), die sich rührend um den Vorbestraften kümmert. Zunächst hilft sie ihm, eine eigene Bleibe zu finden, die sie dann sogar gemeinsam beziehen. Aus dem anfänglichen Untermieter wird recht schnell der neue Geliebte Herthas, die nach einer zehnjährigen Ehe mit einem machohaften Patriarchen frisch geschieden ist. Dementsprechend erwartet sie von Claus nun etwas gänzlich Anderes. Auch intellektuell ist sich das Paar nicht unbedingt gewachsen, denn die verwöhnte und gebildete Tochter aus gutem Hause muss schnell erkennen, dass Claus in einfachsten Verhältnissen groß geworden ist und weder etwas vom Spazierengehen noch dem Lesen eines Buches weiß.
„Die Klassefrau“ entstand 1982 und atmet noch den Geist der 1970er Jahre, als sich in Deutschland selbstbewusste Frauen um ihre Rechte kümmerten, auf die Barrikaden gingen und sich in Arbeitsgemeinschaften zusammenschlossen, in denen sie überkommene Geschlechterkonventionen bekämpfen und anderen Frauen Mut zusprechen wollten. Der erste Teil von Rainer Wolffhardts Film behandelt noch die schwierigen Resozialisierungsversuche des Vorbestraften. In der Mitte verflacht die Geschichte ein wenig, als sich zwischen den beiden Protagonisten zaghaft Liebesbande entwickeln. Doch danach wird es wieder interessanter, wenn die Diskrepanz zwischen den beiden jungen Menschen in den Vordergrund rückt und sich die Titelheldin zunehmend politisch und schließlich auch mit eigenem Frauenbuchladen kulturell engagiert. Von guten Darstellern getragen (Detlef Kesslers mangelnde Schauspielausbildung unterstreicht größtenteils sogar die Authentizität seiner Figur) und überwiegend straff inszeniert, bietet der Fernsehfilm nach wie vor spannende Einblicke in gesellschaftliche Diskurse im Westdeutschland zur Entstehungszeit. Die DVD-Erstveröffentlichung bietet ein nicht weiter zu beanstandendes Bild (im Vollbildformat 1,33:1) und einen stets gut verständlichen Originalton (Deutsch in Dolby Digital 2.0). Bonusmaterial ist nicht vorhanden.