Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 3 Arthur Conan Doyle – Geschichten am Kamin (1908)
Teil 3:
Arthur Conan Doyle – Geschichten am Kamin
(1908)
Dazu: Historische Schinken a la Alexandre Dumas, wegweisende Scifi-Romane wie den wunderbar visionären Apokalypse-Thriller „Im Giftstrom“ (1913), in dem ein giftiger Komet die Erde kreuzt, und natürlich die Mutter aller Lost-World-Fantasy-Romane; die Gattung ist nach Doyle benannt. (The Lost World, 1912).
Diese Titel ist auch programmatisch für Doyles Gesamtwerk, das tatsächlich größtenteils wie eine wunderbare verlorene Welt anmutet, vor allem in Deutschland, wo der visionäre Autor fast ausschließlich als Holmes-Erfinder bekannt ist. Dabei liegt ein Hauptaugenmerk seines Schaffens neben den angedeuteten Verdiensten auf der Horror-Short-Story. Ein großer Teil seiner Geschichten thematisiert den Horror in irgendeiner Spielart.
Zum erstenmal begegnet bin ich Doyles immensem Talent fürs Unheimliche, Makabre und Grausame 2000 in einer kleinen Anthologie, die der Haffmans-Verlag unter dem eher unspektakulären Titel „Das Fiasko von Los Amigos“ herausbrachte. Hinter dem harmlosen Etikett verbirgt sich eine wunderbare (Nerven)Giftflasche - aber nicht nur der Haupt- sondern auch der Untertitel „Gesammelte Abenteuergeschichten“ führt in die Irre. Erstens handelt es sich hier fast ausschließlich um Horror-Geschichten, und zweitens suggeriert das Wort „gesammelt“, dass hier eine große Menge von Doyles Erzählungen außerhalb des Holmes-Kanons enthalten sind. Wie sich aber herausstellt, ist das in einem Band kaum möglich, denn seit einigen Jahren bringt der „Verlag 28 Eichen“ sämtliche Conan-Doyle-Stories in ca. 20 Bänden heraus. (Alle sind noch nicht erschienen.) Und davon sind bekanntlich nur 5 Sherlock-Holmes-Sammlungen.
Ich habe mir eine der in England bekanntesten Sammlungen bestellt, „Geschichten am Kamin“. Wie fast immer hat Arthur Conan Doyle hier ältere Zeitschriftenbeiträge, u. a. fürs Strand Magazin, für das auch der Holmes entstand, zusammengestellt. Die 17 Erzählungen stammen aus dem dem Jahrzehnt zwischen 1998 und 1908. Eine thematische Verbindung gibt es hier nicht – und genau das macht den Reiz des Buches aus. Es zeigt nämlich Doyles Talent in allen Spielarten des Horrors und Grusels. Furchterregend sind hier nicht nur viele Geschichten selbst, sondern vor allem die schier unerschöpfliche morbide Phantasie des Altmeisters. Dabei spielt das Übernatürliche nur selten eine Rolle – erstaunlich für einen Autor, der so besessen von okkultistischen Themen war. Die Gespenstergeschichten bleiben auch etwas ungelenk, wie etwa in „Die braune Hand“. Ein Arzt amputiert einem schwarzen Patienten die Hand – der läßt sich das nur unter der sonderbaren Bedingung gefallen, dass sie nach seinem Tod mit ihm begraben wird. Der sorglose Arzt verspricht das – aber als der Schwarze Jahre später wirklich stirbt, ist die Hand natürlich längst verrottet und kann nicht ersetzt werden, weswegen dann ein einarmiger Untoter den armen Mediziner fast in den Wahnsinn treibt. Ganz hübsch ist sicher die Idee, hier schon mal - lange vor Grasmück & co. - zu versuchen, Splatter und Grusel zusammenzuführen, aber die Story verblasst doch gegen den Schrecken anderer Erzählungen. Ganz scheußlich ist die kurze, merkwürdige Erzählung „Der Ledertrichter“, ein frühes Beispiel für Torture porn, in der eine Frau mit einem riesigen ekelhaften Wassertrichter gefoltert wird. Eher amüsant ist ein Ausflug in den Bereich des brutalen Spionagethrillers, in der zwei feindliche Spionageringe sich heftig bekämpfen. Die bedauernswerten Kundschafter der einen Couleur mieten einen Sonderzug werden von den andern auf falschen Schienen in einen Bergwerksstollen umgeleitet, wo sie unter Getöse fast schon in Comic-Manier draufgehen. Sehr hübsch. Die Sammlung enthält auch eine der berühmtesten Geschichten Doyles außerhalb der Holmes-Welt: Die Erzählung eines Mannes, der von einem Verwandten in einen Pantherkäfig gesperrt wird, auf dass er elendiglich umkomme. Wie immer in den besten (Horror)Geschichten Conan Doyles ist hier alles ganz einfach und doch grandios, weil so schlicht, knapp und nahe am Geschehen geschildert – der Plot ist sicher nicht grade raffiniert, aber wie der Ich-Erzähler mit seiner Angst im Käfig umgeht, wie es allmählich dunkel wird und er mit der Großkatze im Finstern allein ist – das liest sich wunderbar, ist Suspense vom Feinsten.
Insgesamt ist der Horror-Doyle also eine Entdeckung wert – seine Geschichten fesseln oft auch dann den Freund des gepflegten literarischen Schreckens, wenn sie gar keine phantastischen Elemente enthalten. „Die Kaviardose“ ist sicher jedem für immer unvergesslich, der sie einmal gelesen hat, eine Kriegsnovelle, die in China während der Boxeraufstände spielt. Eine kleine Gruppe von englischen und deutschen Zivilisten hockt verängstigt in einer Mission, während draußen die Schlacht tobt – einer von ihnen ist fest überzeugt davon, dass sie alle in kurzer Zeit sterben müssen und durch die Chinesen grausam zu Tode gefoltert werden. Während die fröhliche Gesellschaft den baldigen Sieg der deutschen und englischen Truppen feiert, mischt der Ungläubige tödliches Gift unter den Kaviar, der zur Feier das Tages aufgetragen wird.
Alle bis auf eine junge Frau, die Kaviar nicht ausstehen kann, sterben. Die grausame Pointe: Der baldige Sieg der Chinesen war ein bloßes Gerücht, tatsächlich zieht kurz darauf die siegreiche englische Armee ein und findet eine einzige Überlebende.
Conan Doyle ist wieder ein schöner Beweis dafür, dass es sich um ein weitverbreitetes Vorurteil handelt, die Horrorliteratur des 19. Jahrhunderts sei zaghaft und größtenteils verstaubt – man muss natürlich eine ganze Weile auf einer Menge Bücherbergen herumklopfen, bis man auf eine schaurige Goldmine stößt. Dies hier ist eine.
Nächste Folge: Teil 4 - F.G. Wilkins: Der grüne Regen (1959) (Leihbuch)