Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 13: Ray Bradbury – Der illustrierte Mann (1951)
Teil 13:
Ray Bradbury – Der illustrierte Mann
(1951)
Als Ray Bradbury 1950 die Mars-Chroniken veröffentlichte, sah sich der 30jährige bereits auf dem ersten Höhepunkt seines Ruhms. Bradbury hatte sich von einem zweitklassigen, wenig beachteten Pulp-Writer „hochgeübt“. Das heißt, er versuchte, durch massenweisen Ausstoß von Geschichten einfach zu lernen, wie man es richtig macht. In den 1980er Jahren bekannte er:
„Jeden Montag schrieb ich die erste Fassung irgendeiner Geschichte nieder, die mir grade in den Sinn kam. Am Dienstag schrieb ich die zweite Fassung. Am Mittwoch, Donnerstag und Freitag folgten die dritte, vierte und fünfte Fassung. Am Sonnabend ging die endgültige Fassung in die Post. Am Sonntag spannte ich einen Tag am Strand aus, und am Montag saß ich wieder da und fing die nächste Story an. So geht es nun schon 44 Jahre.“
Da Bradbury diese Technik schon seit den späten 1930er Jahren pflegte, sah er 1950 bereits auf eine beeindruckende Anzahl von Geschichten aller Art zurück, miese und brillante.
Und obwohl er immer besser wurde, wuchs er doch in eine Epoche hinein, wo die so populäre Kurzgeschichte allmählich an Boden verlor. Nach dem 2. Weltkrieg verdrängten Taschenbücher, Comics und nicht zuletzt das Fernsehen die vielen Short-Story-Magazine allmählich vom Markt. Um so bewunderungswürdiger, dass sich ein Kurzgeschichtenautor reinsten Wassers wie Bradbury dennoch durchsetzen konnte.
Er machte sich seinen Geschichten-Vorrat aus diversen Magazinen auf unnachahmliche Weise zunutze, als er die Mars-Chroniken plante. Dafür baute er zahlreiche seiner besten SF-Erzählungen so um, dass ein homogener Gesamteindruck entstand. Sein Ziel –ein Buch zu schreiben, das zwischen Roman und Erzählband angesiedelt ist.
Solche hybriden Formen gabs natürlich schon. Die Erzählungen wurden in diesen Modellen einfach durch Rahmenhandlungen unterbrochen. In der deutschen Romantik waren Ludwig Tiecks „Phantasus“ und E.T.A. Hoffmans „Serapionsbrüder“ von enormer Leuchtkraft als Vorbild für solche Arrangements phantastischer Geschichten. Doch Bradbury ging noch einen Schritt weiter – er kam in den Mars-Chroniken ohne Rahmenhandlung aus. Es stellte seine Erzählungen über die Besiedlung des Mars thematisch so engmaschig zusammen, dass sich aus den Einzelepisoden eine Art Gesamtpanorama ergibt. Alle Geschichten entstammen dem gleichen Kosmos – etwa vergleichbar mit Howards Conan-Geschichten.
Der Erfolg war ungeheuer, und natürlich versuchte Bradbury daran anzuknüpfen. Sein neues Buch, „Der illustrierte Mann“ (1951) bot wieder den Versuch, SF-Kurzgeschichten thematisch zu verbinden.
Doch diesmal ging das Ganze nach hinten los. Das muss wohl auch Bradbury selbst gespürt haben, denn seine Rahmenhandlung fadet allmählich aus, wird immer dünner, bis sie ganz erlischt.
Auch weckt sie Erwartungen, die dann nicht eingelöst werden – nämlich an eine Sammlung von Horror-Stories. Der Ich-Erzähler begegnet bei einer Wanderung durch Wisconsin auf der Landstraße einem unheimlichen Mann, der über und über mit Tätowierungen bedeckt ist, beide übernachten zusammen am Lagerfeuer, und während der Mann schläft, scheint es dem Erzähler, dass die Tätowierungen sich in der Dämmerung bewegen und alle je eine Geschichte erzählen, indem sie den Betrachter in eine Art psychodelischen Zustand versetzen.
Zwischen den ersten Erzählungen taucht der illustrierte Mann noch sporadisch auf – dann wird er fallengelassen und bekommt nur am Schluß noch einen unspektakulären Auftritt.
Versammelt werden hier 17 gar nicht homogene, sondern extrem unterschiedliche SF-Storys. Einige sind Kreuzungen aus Horror und SF – da erweist sich Bradbury als Kind der düsteren Pulp-Magazine. Doch grade diese Tradition setzt er vielleicht kreativer fort als irgendein anderer amerikanischer Autor – seine SF-Horror-Stories gehören wirklich zu den originellsten der Ära nach Lovecraft. Gleich die erste Geschichte, „Das Kinderzimmer“ zählt zu seinen besten überhaupt.
Zentrum ist wie öfter bei Bradbury das vollautomatische Haus der Zukunft, eins seiner Lieblingsthemen – manchmal vermute ich, es könnte sich sogar immer um dasselbe Haus handeln, in verschiedenen Zeitepochen der Zukunft. Es spielt auch schon eine Hauptrolle in der Geschichte „Sanfte Regen werden kommen“ aus den Mars-Chroniken. Hier nun enthält DAS HAUS ein Kinderzimmer mit virtuellem Schnickscknack – die Kinder können selbst dreidimensionale Welten in ihm erschaffen. Am liebsten spielen sie in einer Art afrikanischer Wüste. Die dort herumlaufenden Raubtiere wirken so real, dass die Eltern beunruhigt sind und beschließen, das Kinderzimmer abzuschalten. Die Kinder locken die Eltern in das Kinderzimmer, wo sie von Löwen zerrissen werden – eine schöne surreale Pointe, ein atemberaubendes Herüberschwappen des Virtuellen in die Wirklichkeit. Und eine SF-Geschichte mit echter Vision – aktueller denn je in Zeiten virtuellen Überflusses und der Diskussion, wie Kinder damit umgehen sollten...
Überhaupt thematisiert Bradbury in seinen Geschichten gern das Außer-Kontrolle-Geraten von scheinbar leicht kontrollierbaren Dingen wie kleinen Kindern und Maschinen.
Eine der furchteinflößendsten Erzählungen im „Illustrierten Mann“ ist „Stunde Null“. Erzählt wird ein Kinderspiel aus dem Blickwinkel gutmütiger, ein wenig blasierter Eltern. Die Kinder haben ein neues Spiel: Marsinvasion. Sie bauen aus metallischen Schrott-Teilen sonderbare Maschinen und behaupten, Stimmen im Kopf zu hören, die ihnen das vom Mars aus befehlen. In dem Moment, als die Eltern ahnen, dass es sich um echte Transmitter handelt, ist es schon zu spät. Sie verstecken sich auf dem Dachboden. Der Schluss der Geschichte gehört zu den makabersten der Nachkriegs-Horrorliteratur :
„Mami?“ rief Mink [die kleine Tochter]. „Papi?“ Eine Pause. „Wo seid ihr“?
Schwere Schritte, schwere, sehr schwere Schritte kamen die Treppe herauf. Mink führte sie an.
„Mami?“ Ein Zögern. „Papi?“ Abwartende Stille.
Summen. Die Schritte näherten sich der Bodenkammer. Mink vorneweg.
Schweigend und zitternd standen Mr. und Mrs. Morris in der Bodenkammer. Das elektrische Summen, das seltsame, kalte Licht, das plötzlich durch den Spalt unter der Tür fiel, der merkwürdige Geruch, der zu ihnen hereindrang, und der fremde kalte Eifer im Klang von Minks Stimme waren schließlich auch zu Henry Morris durchgedrungen. Erschauernd standen beide, dicht aneinandergedrängt, im schweigenden Dunkel.
„Mami! Papi“
Schritte. Ein zischendes Geräusch. Das Schloß der Bodenkammer zerschmolz. Die Tür ging auf, Mink blinzelte herein. Große, blaue Schattengestalten standen hinter ihr.
„Kuckuck“, sagte Mink.
Das ist genial...
Weltberühmt auch die Erzählung „Marionetten-A.G“. , die für die Fernsehserie „Alfred Hitchcock presents“ verfilmt wurde – ein Ehemann der Zukunft ersetzt sich selbst durch einen Automaten-Double, um seinem tristen Eheleben zu entkommen. Der Automat verliebt sich dann aber in sein neues Dasein und will nicht mehr zurück in die Kellerkiste, wenn er nicht gebraucht wird. Er tötet den Ehemann und führt dessen Leben weiter.
Nicht alle Geschichten sind so gut – für einen selbst zusammengestellten Band ist das Buch sogar erstaunlich mittelmäßig. Vermutlich beruht sein Ruhm eben auf der Handvoll wirklich grandioser Erzählungen, die in ihrem Glanz die Blässe der anderen verdecken. Oder ist vielleicht die Erwartungshaltung bei einem so berühmten Autor zu groß? Fest steht, dass zwar viele Geschichten schön erzählt und auch kurzweilig sind (Nur wenige wie Kaleidoskop, Der Raumfahrer und Der lange Regen wirken seltsam zäh und pointenlos), aber eigentlich eben bestes Pulp-Garn spinnen. So gehört zwar „Der Fuchs und die Hasen“ zu meinen absoluten Lieblings-Geschichten von Bradbury, aber ich muss einräumen, dass auch Routiniers wie Robert Leslie Bellem das hinbekommen hätten, ein Autor wie Robert Sheckley hätte vielleicht sogar mehr draus gemacht. Es ist die spannende Verfolgungsjagd von Zeitreisenden aus einem dystopischen Amerika der Zukunft - im Mexiko des Jahres 1938 suchen Agenten einer zukünftigen Diktatur inmitten des Karnevalstrubels Dissidenten.
Eine hübsche, aber 1951 eigentlich fast schon wieder angestaubte Geschichte ist die von einer menschenfressenden toten Stadt auf einem fremden Planeten, die eine irdische Expedition ziemlich brutal ausradiert.
Um eine interessante Note werden viele Geschichten kann trotz mancher konventioneller Züge doch bereichert. Viele Kritiker haben sie als „gesellschaftskritisch“ beschrieben, aber das trifft es nicht genau, der „Bradbury-Touch“ hat seine Wurzeln noch woanders. Sie sind schwer zu benennen. Da ist eher eine gewisse Müdigkeit, eine misantropische Traurigkeit, eine Art resignierendes Wissen um die Schlechtigkeit des Menschen. Und dennoch gibt es dann in dieser Düsternis immer wieder Helden, die dagegen ankämpfen. Manchmal schlagen die Wogen des Pessimismus aber auch über ihnen zusammen, wie in der Erzählung „Der Zementmixer“. Sie wird geschildert aus der Sicht eines einfachen marsianischen Soldaten, der an der Invasion der Erde teilnimmt. Er hat große Angst vor der Wehrhaftigkeit des legendären Menschengeschlechts. Doch die Menschen haben gar nichts gegen die Invasoren einzuwenden – die schwerbewaffneten Truppen werden in Amerika mit Blaskapelle feierlich empfangen. Die Amerikaner wittern neue Absatzgebiete – und freuen sich auf kaufkräftige Marsianer. Viele Soldaten sterben dann ganz profan bei Verkehrsunfällen – ihr gut organisierter Sozialstaat kann mit der Privatisierung des Verkehrs nichts anfangen und versteht das Prinzip des ungebunden herumrasenden Autos nicht. Unser Soldat wird zum Schluss schnöde überfahren.
Insgesamt gehört die Sammlung zu den sicher unterhaltsamsten Autoren-Anthologien in Sachen SF der 50er Jahre, doch mir schien beim Wiederlesen, dass ihr der Zauber der Mars-Chroniken letztendlich fehlt. Bis auf drei, vier Meisterwerke des Short-Story-Genres abgesehen, bleiben die Erzählungen doch in der Routine hängen, während auch noch den schlechtesten der Mars-Chronik-Episoden ein sonderbarer poetischer Zauber anhaftet, eine moderne Wehmut und ein Trauern über die Dummheit des Menschen.
Dies hier sind dann doch mehr oder weniger geniale Fingerübungen – von einem großen Erzähler, ohne Zweifel, aber eben nicht immer perfekt gelungen, gemessen an anderen großen Büchern von ihm.
Wer beide Erzählbände nicht kennt, sollte sie in umgekehrter chronologischer Folge lesen – erst den Illustrierten Mann und dann die Mars-Chroniken. Dann könnten ihm wirklich genussreiche, sich allmählich in der Intensität steigernde Schmöker-Stunden bevorstehen. Empfehlenswert sind die beiden ungekürzten Taschenbücher bei Diogenes. .
Nächste Folgen:
Curt Siodmak – Donovans Gehirn (1942) (13. Juli)
Joseph Sheridan Le Fanu: Carmilla (1873) (27. Juli)
Friedrich de la Motte Fouqué: Undine (1811) (10. August)
Clark Ashton Smith: Die phantastischen Erzählungen (1926-35) (24. August)
Kommentare
Ich persönlich habe mit Bradbury nie viel anfangen können, was vielleicht auch daran lag, dass der sehr amerikanische Hype um ihn seinerzeit meines Empfindens nach so undifferenziert in Deutschland übernommen wurde. Hätte er in den 50ern nicht den - für seine Art Genreautor - Sprung in die angeblich so gehaltvollen Hochglanzmagazine geschafft und vor allem so viel fürs Fernsehen verkaufen können, wäre sein Name in Amerika nicht so berühmt. Ich will seinen kommerziellen Erfolg nicht kleinreden, aber er gehört M.E. zu den Autoren, deren Reputation am Ende einen größeren Schatten als sein Werk werfen.
Aber man muss neidlos anerkennen, dass er abseits von Ghettoautoren wie Assimov oder Heinlein viele Eckpunkte der phantastischen Literatur erschaffen hat, die über den Tellerrand der SF-Szene hinaus reichten. Von "Something Wicked This Way Comes" zehren King und Gaiman noch heute. Und auch wenn der "Illustrierte Mann" längst von der heutigen Tätowierkultur überholt wurde, findet er in der Popkultur immer noch Erwähnung. Letztens gab es mal eine Folge von "Criminal Minds", in der ein tätowierter Serienkiller speziell mit Bradburys Figur verglichen wurde, die Story war sogar ein wichtiges Plotelement. Hätte sich der Gute vermutlich auch nicht träumen lassen