Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 14: Curt Siodmak – Donovans Gehirn (1942)
Teil 14:
Curt Siodmak – Donovans Gehirn
(1942)
In meiner geliebten und zerlesenen Ausgabe von Stephen Kings „Danse macabre“ gibt es eine Menge Striche und Kringel. Zur Erinnerung: Danse macabre ist kein Roman, sondern ein sehr amüsantes und informatives, in den frühen 1980er Jahren entstandenes Sachbuch über Horrorliteratur und Horrorfilm. Nicht nur kluge theoretische Überlegungen finden sich hier – das Buch ist auch ein dickes Kompendium an Film-Anregungen und Lesetipps.
Kaum ein Kringel ist so dick wie der um die Auslassungen zu „Donovans Hirn“ von Curt Siodmak.
Ich muss davon total angefixt gewesen sein.
King kommt zu folgender sensationeller Einschätzung:
„Siodmak ist ein gründlicher Denker und ein akzeptabler Schriftsteller. Es ist ebenso aufregend, dem Strom seiner spekulativen Einfälle zu folgen wie dem Ideenfluss eines Romans von Isaak Asimov oder Arthur C. Clarke oder meinem Lieblingsautor in diesem Genre, dem verstorbenen John Wyndham. Aber keiner dieser geschätzten Herrschaften hat je einen Roman wie Donovans Gehirn geschrieben – tatsächlich hat das sonst keiner geschafft.“
Wow! Ein relativ unbekannter Autor in der Nachbarschaft von Weltklasse-Schriftstellern der Phantastik. Wer war Siodmak?
Der Name klingt nicht zufällig deutsch, Siodmak wurde 1902 in Dresden geboren. Der deutsch-jüdische Romancier versuchte sich schon in Deutschland an SF-Themen und veröffentlichte verschiedene Bücher im phantastischen Genre. 1933 emigrierte nach Amerika.
Dort schrieb er vor allem Hollywood-Drehbücher zu Horrorfilmen. Einige davon wurden zeitlose Klassiker, wie „Der Wolfsmensch“ (1941) und „Ich folgte einem Zombie“ (1943), letzterer der erste bedeutende Zombie-Film überhaupt. Siodmak lebte sehr lange, er wurde fast 100 Jahre alt und starb 2000. Er geriet schon in seiner zweiten Lebenshälfte fast vollständig in Vergessenheit, obwohl er in den 1990er Jahren eine bemerkenswerte Auto-Biographie schrieb, die auch ins Deutsche übersetzt wurde (Unter Wolfsmenschen) und sogar spät als Versöhnungsgeste das Bundesverdienstkreuz bekam – überreicht bei einem Festakt von Richard von Weizsäcker persönlich. Curt Siodmak stand trotz all seiner Talente auch immer im Schatten seines glamourösen Bruders, Robert Siodmak, mit dem er hin und wieder verwechselt wird – auch Robert stieg im Exil ins Horrorgeschäft ein und führte bei einigen Klassikern Regie, etwa bei „Draculas Sohn“ (1943) und „Die Wendeltreppe“ (1945).
Curt versuchte immer, seine Talente so weit wie möglich zu streuen, und blieb, obwohl erfolgreicher Drehbuchautor, zeitlebens dem Horror- und Thrillergenre auch literarisch verbunden. (Am Ende seines Lebens verkündete er ironisch, jetzt wolle er Maler werden.)
Zwischen seinen berühmtesten beiden Filmen präsentierte sein literarisches Hauptwerk, Donovans Gehirn (1942), ein Roman, der übrigens auch viermal verfilmt wurde. Die meisten Horrorfilmfreaks schätzen keine der vier Varianten besonders.
Oberflächlich betrachtet, knüpft Siodmak hier an einen in den 1930er und 40er Jahren in der Spannungsliteratur äußerst populären Topos an – den Mad Scientist, den Verrückten Wissenschaftler. Dieser Typus läßt sich durch die gesamte phantastische Literatur zurückverfolgen bis zu Ihren Anfängen, über Doyles Professor Challenger, Shelleys Frankenstein, das Faust-Volksbuch... King merkt in einer Fußnote poetisch an:
„Ein Stammbaum, der direkt in den Schlund der Hölle führt.“
Doch nie war die Figur des wahnsinnigen Wissenschaftlers so populär wie im Amerika zwischen 1930 und 45 – vielleicht als Reaktion auf die schwindelerregenden Fortschritte der Moderne, als untergründige pulsierende Angst... ein Preis, den man zahlt, wenn die technische Entwicklung immer schneller voranschreitet und man sie rezipiert, ohne sie genau zu verstehen. Das ist uns heute wieder sehr nahe.
Aus dem Wust an Trivialliteratur ragt Siodmaks intelligent gesponnenes Garn wohltuend heraus. Besonders die Hommage an Frankenstein ist in jeder Zeile zu spüren. Auch in dieser neuen Variante wird der Tagebuch führende Ich-Erzähler, ein Hirnforscher, von seinem selbsterschaffenen Monster terrorisiert, aber auf eine viel subtilere und vielleicht auch schrecklichere Weise als sein Kollege aus dem frühen 19. Jahrhundert. Hier agiert ein Frankenstein, der in Freudschen Schrecken erstarrt, dessen Qualen vor allem psychologisch motiviert sind.
Dr. Corey ist ein kleiner Provinzarzt in einem abgeschiedenen amerikanischen Wüstendorf. Sein Hobby: Hirnforschung. In seinem Labor experimentiert er mit Affenhirnen. Leider mangelt es an einem echten menschlichen Hirn. Da kommt ihm ein sonderbarer Zufall zur Hilfe. In der Nähe stürzt ein Kleinflugzeug ab. Es gibt einen Überlebenden, der geborgen und in die Praxis gebracht wird. Dort stirbt er, trotz aller Wiederbelebungsversuche. Jetzt sieht Dr. Corey seine große Chance – er entfernt das Gehirn und legt es in einen Tank mit Nährlösung, während er die hirnlose Leiche nach Ausstellung des Totenscheines zur Bestattung für die Verwandten freigibt. Das Hirn bleibt am Leben. Bald erfährt der Arzt, dass der Tote kein Unbekannter war, sondern der schwerreiche Industriemagnat W. D. Donovan, ein herrschsüchtiger Kapitalist und Menschenschinder übelster Sorte. Corey versucht, mit Donovan Kontakt aufzunehmen, auf telepathischem Wege. Das gelingt.
Doch die erste Freude weicht bald dem Entsetzen. Das Hirn wächst im bestürzendem Maße in der Flüssigkeit, und füllt bald den ganzen Tank aus. Und Donovan übernimmt immer mehr den Willen seines Hirn-Retters. Ja mehr noch – er frisst ihn parasitär auf, besetzt ihn wie ein Dämon. Corey hat irgendwann nicht nur die gleiche Handschrift wie Donovan, sondern auch dieselben Schmerzen und Gebrechen, ja denselben Gang wie sein mentaler Tyrann.
Immer mehr wird der Arzt zum Sklaven der düsteren Machenschaften des Magnaten, der über den Tod hinaus versucht, sein Imperium zu retten, sich an alten Feinden zu rächen (schließlich ist das Flugzeug nicht zufällig abgestürzt) und seine Familie zu manipulieren.
Endlich gelingt es dem Doktor im letzten Moment, den Bann zu brechen – mit Hilfe eines meditativen, immer wieder hergebeteten Spruchs kann er dem hypnotischen Sog des teuflischen Hirns entgehen und den Tank zertrümmern:
„He thrusts his fists against the posts and still insists he sees the gosts.“
Dieser Schluss wird einen der besten King-Romane nachhaltig beeinflussen. In „Es“ kann das Monster ebenfalls durch Bill mit einem meditativen Spruch gebändigt werden. Eigentlich sagt Bill ihn zunächst immer wieder auf, um sein Stottern in den Griff zu bekommen. Doch dann nutzt er ihn auch, um sich der negativen suggestiven Kraft von „Es“ zu entziehen.
King hat diesen Spruch Wort für Wort aus „Donovans Gehirn“ übernommen – eine späte Verneigung vor einem seiner Lieblingsromane.
Das Besondere, die Herausforderung für einen Autor ist nicht so sehr die Geschichte selbst, sondern die Erzählperspektive. Einen allwissenden Erzähler zu schaffen oder das Ganze aus der Sicht eines Gehilfen zu erzählen wäre einfach gewesen. So leicht macht es sich Siodmak nicht. Er wählt die Perspektive des Arztes, stellt alle geistigen Kämpfe mit dem aggressiven Hirn-Dämon lebhaft und plastisch dar.
Dennoch kann ich Kings Begeisterung nur teilweise nachvollziehen.
Man spürt am Plot die Begabung des genialen Drehbuchautors. In den einzelnen Tagebuchpassagen wird es dann aber oft zäh, die Schizophrenie wird detailreich ausgebreitet. Immer wieder streut Siodmak aktionsreiche Elemente ein, die den inneren Monolog (oder Dialog?) aufhellen sollen, so die schöne Episode eines Erpressers, der Coreys Machenschaften durchschaut hat, und den beide, Donovan und Corey, die sonst im bittersten Kampf um die Macht ringen, in schönster Einmütigkeit ausschalten. Da werden auch moralische Fragen aufgeworfen: Sind nicht beide längst perfide Täter? Ist Corey nicht auch ein williges Werkzeug des Bösen und gar nicht so sehr Opfer, wie er zu sein vorgibt? Wieviel Donovan steckte schon vorher in Corey?
Der Roman ist nicht lang, auf ca. 200 Seiten wird die Geschichte abgehandelt. Und doch beschlich mich oft beim Lesen das Gefühl, auf nur 50 Seiten wäre das eine der ganz großen Novellen der amerikanischen Literatur geworden, eine Art US-Version von Kafkas „Verwandlung“.
Aber Siodmak, obwohl natürlich zutiefst geprägt von der unheimlichen deutsch-jüdischen Literatur seiner Kindheit, von Kafka bis Meyrink, hat nicht die Talente der großen Kollegen.
Das muss er auch nicht, würde King einwenden, er will ja eine gute, packende Horrorgeschichte schreiben und kein literarisches Meisterwerk.
Ich weiß nicht recht. Der Roman bewegt sich zwischen den Welten. Er hat sich schon freiwillig aus dem Bereich der typischen Pulp-Horror-Story wegbewegt und strebt in das Gebiet des Psycho-Dramas der Hoch-Literatur. Da kommt er aber nie an. Genau dazwischen ist das Buch steckengeblieben, auf verquere Weise: Es befriedigt wahrscheinlich weder den Leser von Spannungsliteratur ganz, noch den Genießer gehobenerer Sphären.
Siodmak ist ein Werk mit meisterhaften Zügen gelungen, aber kein Meisterwerk. Das ist ein sehr eigenartiges Zwitterwesen, das trotz aller Originalität nie so richtig in Schwung kommt.
Dennoch ist der Einfluss des Romans auf die Entwicklung der modernen Thriller- und Horror-Literatur unübersehbar, der subjektivistische Ansatz macht es zu einem Pionierwerk.
Gehört das Buch zu den großen des Genres?
Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einem geschätztem Musikjournalisten-Kollegen im rbb über Carl Philipp Emanuel Bach. Und der brachte die Rolle des Bach-Sohns auf eine griffige Formel:
„Ein wichtiger Neuerer in seiner Zeit – doch seine Ideen sind dann von noch wichtigeren aufgegriffen worden. Ein Talent, das von Genies absorbiert wurde“.
An diese Einschätzung muss ich oft denken, wenn ich diesem Typus Künstler begegne – ein tragischer Typus. Curt Siodmaks Roman selbst scheint mir heute noch bemerkens- und lobens- aber nicht unbedingt lesenswert, es sei denn, man hat ein Faible für wichtige Zwischenschritte in der Literaturgeschichte. Seine Ideen finden sich glänzender und ambitionierter wieder bei seinen Bewunderern – wie Stephen King.
Nächste Folgen:
Joseph Sheridan Le Fanu: Carmilla (1873) (27. Juli)
Friedrich de la Motte Fouqué: Undine (1811) (10. August)
Clark Ashton Smith: Die phantastischen Erzählungen (1926-35) (24. August)
Kommentare
Siodmak ist schon interessant. Er hat zumindest ein trendgebendes Projekt geschrieben und sonst nur mittelmäßige B-Filme. Darunter solche Heuler wie "Sherlock Holmes & das Halsband des Todes". Aber der Klassiker - The Wolfman, den Einfluss von Zombie halte ich für von der Kritik überschätzt - IST ein echter Klassiker, fast jeder öde Werwolffilm kommt nicht daran vorbei, konzeptionelle Teile davon zu übernehmen.
Und auf seine Weise ist Donovan' Brain genauso einflussreich. Das Konzept ist zig mal nachgemacht worden.
Das ist wirklich keine schlechte Bilanz.
Ist es wirklich so schlimm oder sind wir "alten Säcke" nur zynischer und abgebrühter geworden?
OT: wen ich gerne mal potraitieren möchte, ist Edgar Pangborn...allerdings weiß ich persönlich nicht, ob der Name echt ist oder Pseudonym...einige Fachleute wissen da sicher mehr...ebenso Christopher Priest...
Klar sind wir das, , aber Horrorromane, die a) neue Märkte definiert oder b) nachvollziehbaren literarischen Einfluss auf ihre Zeitgenossen gehabt haben? Also nicht das Nischenzeugs, das mittlerweile auf Kleinverlage reduziert ist?
Ich bin mir nicht sicher, wo King da den Schnitt gemacht hat (und komme jetzt auch nicht an meine Ausgabe ran), aber das sind (imho):
Anne Rice: Interview mit dem Vampir - die Mutter des ganzen Pseudo-Gothic Zeugs. Könnte noch auf Kings Radar aufgetaucht sein.
Clive Barker und Co 80er/90er - obwohl das hauptsächlich Kurzgeschichten sind.
Stephanie Meyers Twilight - ist zwar nur Möchtegern-Horror, hat aber eine Tür für zig hundert Imitate geöffnet. Von YAs bis zur Paranormal Romance.
Mehr kommt da eigentlich nicht zusammen. Und schon Meyers hätte in DM eigentlich nichts zu suchen.
Es ging ja um eine Aufnahme in Danse Macabre. King selbst selbst zählt da nicht Herbert war glaube ich schon drin in DM, genau wie Wagner, Laymon nicht auch? Wen hat King damals noch mal so verrissen? Hutson? Ich muss DM mal wieder rauskramen.
Klar gibt es ein paar gute Einzelromane. Nimm jeden beliebigen Michael McDowell, McNaughtons großartigen Throne of Bones (der sollte dich eigentlich interessieren, da du ja noch über CAS schreiben willst). Aber das ist was für die Insider. Das ist ja alles nie übersetzt worden.
Genau, Saul war das. Stimmt, für den hatte kaum einer ein gutes Wort. Dafür war er damals recht erfolgreich, New York Times Bestseller usw. Viel von diesem "Böse Kinder"-Zeugs, das deutsche Verlage eher gemieden haben. So, wie sich King und andere zu der Zeit als "Genreautoren" verstanden haben, war Saul natürlich nur ein Schundautor. Aber für einen Nachmittag am Strand war der ganz passabel, vor allem für die "Nicht-Horrorleser", die mal sowas lesen und letztlich das Geld einbringen.
Immerhin war er einer von nur drei Autoren, die in Amerika mit diesem "Serial Novel" Marketing Trick auf den Markt kamen. Ich meine Kings The Green Mile, wo dann jeden Monat ein Kapitel als Buch rauskam. Sauls Blackstone Chronicles erschien zeitgleich mit King. Wird ihn gefreut haben
Aber du hast recht. Heute taucht Saul nur gelegentlich in Retro-Blogs auf, wo er mit seinen alten Sachen selten gut wegkommt. Aber der Mann ist über 70, da wird wohl nicht mehr viel Neues kommen.