Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 23: Giambattista Basile: Das Märchen aller Märchen (1634)
Teil 23:
Giambattista Basile: Das Märchen aller Märchen
(1634)
Eben wie die Märchen von Giambattista Basile.
Als die deutsche Romantik das Märchen für sich entdeckte, bestand durchaus keine Einigkeit darin, wie man diese Form des Geschichtenerzählens überhaupt für die (damalige) Moderne gestalten solle. Einige wie Ludwig Tieck sahen im Märchen nicht nur Steilvorlagen für satirische Ausfälle, sondern auch für Horror-Erzählungen. Tieck, der (von frühen Versuchen von Christian Spiess abgesehen) wohl die ersten echten Horror-Storys der deutschen Literatur verfasst hat, lehnte sich dabei gern an alte Legenden an. So beschreibt er etwa in der Novelle "Liebeszauber" (1811) einen grässlichen Ritualmord an einem Kind. Sein Kurzroman „Die sieben Weiber des Blaubart" (1797), fußend auf einem Märchen von Charles Perrault, gilt als erster deutscher Thriller mit Serienkiller-Thema.
Auch Brentano und E.T.A. Hoffmann verfassten ihre hochkomplexen Märchen für ein erwachsenes Publikum.
Geprägt durch Grimms Märchen, überrascht es uns trotzdem, wenn wir heute von Märchensammlungen hören, die ausschließlich für Erwachsene verfasst wurden und nicht für Kinder gedacht sind – vor allem wegen ihres hohen Anteils an Sex-Szenen bzw. sexuellen Anspielungen.
Ein Problem für die biederen Deutschen Mitte des 19. Jahrhunderts stellte vor allem Perraults Märchensammlung dar. Die 1697 erschienenen, zum Teil sehr erotischen Geschichten gehörten schon bald zum volkstümlichen Erzählschatz der Deutschen, denn sie enthielten einige Urfassungen der berühmtesten Märchen aller Zeiten, etwa Dornröschen, Rotkäppchen, Der gestiefelte Kater und natürlich Blaubart. Die Grimms taten sich schwer damit, die galanten Urtexte für ihre Sammlung zu verwenden, mussten es aber tun, denn ohne die Perrault-Vorlagen hätte man einige der populärsten Plots aller Zeiten ausklammern müssen, die in Deutschland immer wieder nacherzählt wurden.
Besonders schwierig wurde es bei so eindeutigen Sex-Geschichten wie Rotkäppchen und Blaubart. Blaubart wurde gar später als unsittlich wieder aus den Grimm-Märchen entfernt. Rotkäppchen hat wie durch ein Wunder als deutsche Kindervariante überlebt.
Die Kastrierung der schönen Perrault-Märchen zu harmlosen Kindertexten ist in der Literaturgeschichte recht offen diskutiert und dokumentiert worden, zum Teil schon von den Grimms selbst, die ja beide Literaturwissenschaftler waren und in einem (für uns normalsterbliche Wald- und Wiesenleser von den Verlagen fast nie mitgelieferten) 3. Band genauestens über die von ihnen veröffentlichten Märchen berichten und die Quellen und Varianten aufzeigen.
Doch viel weniger bekannt ist, wieviel die Grimms einer merkwürdigen, rätselhaften Märchendichtung zu verdanken haben, die in den 1630er Jahren in Italien entstand. Sie trägt den schönen Superlativ-Titel „Das Märchen aller Märchen“. In Fachkreisen ist sie auch unter dem viel prosaischeren Titel „Il Pentamerone“ (etwa: Das 5-Tage-Werk) bekannt. Und zwar deshalb, weil sie 50 Märchen enthält – 49 abgeschlossene, die eingebettet sind in ein Rahmenmärchen, das an fünf Tagen spielt, an denen sie erzählt werden.
Das erinnert an Boccaccios Dekameron (Das 10-Tage-Werk). Entstanden im 14. Jahrhundert, war es jahrhundertelang für viele italienische Schriftsteller ein großes Vorbild. Es gibt Parallelen – die Idee von Leuten, die sich treffen, um sich sich gegenseitig deftige Geschichten zu erzählen, ist beiden gemeinsam, auch halten beide Sammlungen mit sexuellen Themen nicht hinter dem Berg. Der große Unterschied: Während Boccaccio ganz selten das Genre der Phantastik streift (ich kann mich an eins, zwei Spukgeschichten erinnern), sind Basiles Erzählungen echte Märchen.
Nicht alle strotzen von bizarren, ja psychodelischen Einfällen – aber viele. So züchtet der König in „Der Floh“ einen riesigen Floh. Als der stirbt, zieht er ihm die Haut ab, und die Freier seiner Tochter müssen raten, von welchem Tier sie stammt.
In „die drei Zitronen“ bekommt ein Prinz eben diese drei Früchte geschenkt. Seine Aufgabe: Sie aufzuschneiden und die darin befindlichen Mini-Feen mit Wasser zu tränken, bevor sie verschwinden! Klingt wie eine frühe Version eines Computerspiels.
Ein anderer Prinz, der eine schöne Pflanze in einem Blumentopf ersteht, muss erleben, wie ein ihr innewohnender Parasit ihn jede Nacht besucht. Allerdings ist es einer, um den wir ihn beneiden können:
Da er aber, beim weiteren Herannahen des Geräusches die Hand ausstreckend, einen glatten Gegenstand erfaßte und statt, wie er dachte, die Spitzen eines Stachelschweines zu packen, etwas berührte, das sich zarter und weicher anfühlte als Wolle aus der Gerberei, milder und sanfter als der Schwanz eines Murmeltieres, geschmeidiger und elastischer als Stieglitzfedern, sprang er gerade darauf los, faßte, da er es für eine Fee hielt, wie's auch wirklich der Fall war, diese so fest wie ein Polyp, und indem sie beide keinen Laut von sich gaben, fingen sie an, das Liebesspiel zu spielen.
Über den Autor all dieser wunderschönen, oft in ironischem, oft im zynischen, manchmal hochpoetischen Stil verfaßten Märchen, in denen das Blut in Strömen fließt und ständig gevögelt wird, ist bis heute so gut wie gar nichts bekannt. Nicht mal das genaue Geburtsjahr. Vermutet wird die Zeit um 1575. Basile war ein vom Hof bezahlter Berufspoet in Neapel, dessen Faulheit legendär war. 1611 gründete er gar eine „Akademie der Müßigänger“. 1632 starb er, ohne irgendein für die Literaturgeschichte relevantes Werk hinterlassen zu haben.
Aber Moment – was ist mit dem Märchen aller Märchen? Das erschien erst 1636, also 4 Jahre nach seinem Tod. Herausgegeben wurde es von Adriana Basile, der Schwester des Dichters, einer damals sehr erfolgreichen Sängerin. Italienische Sängerinnen waren bis ins 19. Jahrhundert hinein eine äußerst emanzipierte Berufsgruppe. Stammen die Märchen etwa von ihr? Oder hat sie skizzenhafte Ideen ihres Bruders weitergesponnen und ausgeschrieben?
Hier sind der Spekulation Tür und Tor geöffnet. Fest steht, dass der Anteil an weiblichem Personal erstaunlich hoch ist – viele Motive nehmen die späteren populären Feenmärchen vorweg, die vor allem von Französinnen verfasst wurden. Es war also vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, dass hier eine Frau die Hauptarbeit geleistet hat.
Heute jedenfalls lesen sich die Märchen erstaunlich modern und kein bisschen verstaubt. Natürlich ist da ein gewisser barocker, ausschweifender Stil, aber der wird schon im Original immer parodistisch benutzt. Zum Beispiel erzählt uns der Autor, dass die Hofgesellschaft im Rahmenmärchen die Zeit bis zur nächsten Märchen-Erzähl-Runde mit Gesellschaftsspielen zubringt:
...dann aber begannen sie, um die Zeit bis zum Essen auf angenehme Weise hinzubringen, tausenderlei Spiele zu spielen, und vergaßen dabei weder Hans Niclas; noch Stoss zu; noch Sieh dich vor, Frau; noch Covalera, noch Bruder, ich bin verwundet; noch Ausruf und Bekanntmachung; noch Willkommen, Meister; noch Rentinola, liebe Rentinola, noch Mach's Fass zu; noch Spring hoch; noch Stein im Busen; noch Seefisch; noch Engel; noch Anola Tranola; noch König Keulenträger; noch Blinde Katze, noch Lampe zu Lampe; noch Schieb meinen Vorhang vor; noch Podex und Pauke; noch Langen Balken, noch Das Hühnerspiel; noch Der Alte ist nicht gekommen; noch Lade das Fass ab; noch das Tragespiel; noch Männchen spring auf; noch Das Räuberspiel; noch Pack zu, Pfiffikus; noch Komm her, komm her; noch Wer hat die Nadel und den Zwirn?; noch Vögelein, Vögelein, hüte dich vor dem Kettelein; noch Wein oder Essig; noch Öffnet, öffnet die Türen dem armen Falken.
Da wüsste man doch zu gerne, wie diese Spiele funktionieren, Podex und Pauke klingt z.B. nach einem echt tollen Zeitvertreib an Silvesterabenden.
Eine Besonderheit des Buches ist die meines Wissens erste Etablierung eines richtig großen und guten Running-Gags in der Literaturgeschichte. Abend, Morgen und Nacht nämlich werden auf über 500 Seiten immer aufs neue mit lustigen bis schwachsinnigen Metaphern geschildert, deren Abgedrehtheit nie nachlässt.
Etwa:
Um die Stunde aber, wenn alle Geschöpfe, von den Gerichtsdienern der Nacht vorgefordert, der Natur die Steuer des Schlafes abzahlen...
oder:
Ehe jedoch die Sonne gleich einem Arzt ihre Besuche bei den matten und kranken Blumen abzustatten begann...
Obwohl es sich hierbei nicht nur um eine der originellsten, frechsten und schönsten Märchensammlungen Europas handelt, sondern um die allererste überhaupt, verbreitete sie sich nur langsam. Das lag daran, dass das Original im neapolitanischen Dialekt erschien. Es musste also für ausländische Übersetzer erst einmal eine gute Übertragung ins Hochitalienische erfolgen. Nur wenige einigermaßen verlässliche Übertragungen waren bis ins 19. Jahrhundert hinein zu bekommen. Wir Deutschen haben Glück – die klassische Übertragung stammt von Felix Liebrecht. Der war ein seltsamer Kauz, ein Studienabbrecher, der mit größter Genauigkeit und viel Charme in den 1840er Jahren das Buch direkt aus dem Neapolitanischen übersetzte. Seine Arbeit gilt neben Tiecks Don-Quichotte-Übertragung und August Wilhelm Schlegels Shakespeare-Übersetzungen als eine der größten Leistungen auf diesem Gebiet im 19. Jahrhundert. Alexander vom Humboldt höchstselbst verschaffte ihm seiner großartigen Märchenübersetzung wegen später eine Stelle in Lüttich als Literaturdozent, obwohl Liebrecht nie ein Examen abgelegt hatte.
Die Grimms schätzten seine Arbeit auch – was sie nicht nur durch ein lobendes Vorwort zu seiner Ausgabe ausdrückten, sondern vor allem durch Abschreiben bei ihm dokumentierten. Der Pentameron-Kenner Walter Boehlich wies nach, dass sich die Grimms aus 39(!) der 50 Märchen bedienten, was ihre Sammlung anging. In den meisten Fällen wurde das Material natürlich drastisch entschärft.
So erfahren wir erstaunt in der Ur-Version von Aschenbrödel, die sich in der Sammlung Basiles befindet, dass die Story sich doch etwas anders abgespielt hat, als Grimm, Disney & co. uns das immer ausgemalt haben. Das liebe Brödel hat nämlich selbst ihre erste Stiefmutter, die gar nicht so übel war, gekillt, indem sie den schweren Deckel einer Holztruhe auf ihren Schädel sausen ließ. Eingefädelt hatte sie den Mord mit Hilfe ihrer zweiten Stiefmutter, der damaligen Geliebten ihres Vaters, die ihr versprach, Aschenbrödel könne in Saus und Braus leben, wenn die die Konkurrentin umlegte. Dass sie dann ihr Versprechen nicht hielt – tja, wer hoch pokert...
Trotz solcher Enthüllungen verdämmerte das schöne Buch fast unbeachtet seine Zeit in den Regalen der Bibliophilen. Selbst eine moderne Neuübersetzung von 2000 (Rudolf Schenda, Beck-Verlag) vermochte das nicht zu ändern. Erst die bildgewaltige Verfilmung dreier der durchgeknalltesten Märchen in einem raffiniert komponiertem Epos durch Regisseur Matteo Garrone 2015 (der Film lief bei uns seit August) geriet sie wieder in Erinnerung. In Szene gesetzt wurden die Märchen Der Floh, Die hinterlistige Hirschkuh und Die geschundene Alte.
So beeindruckend der Film auch ist, so sehr verfehlt er doch das Ambiente der originalen Geschichten. Das fängt damit an, dass nur eine Episode, nämlich „Die geschundene Alte“ eng bei der Vorlage bleibt. (Es geht um eine häßliche Greisin, die durch einen Jugendzauber wieder schön wird und einen sexsüchtigen König bezirzt, während ihre Schwester, ebenso rollig wie der König, leider das Nachsehen hat, potthässlich bleibt und am Ende grauenvoll stirbt, indem sie sich die alte runzlige Haut freiwillig vom Leib streifen lässt). Die anderen beiden Märchen weichen in wesentlichen Teilen von Basiles (oder Frau Basiles?) Erzählstrang ab. Immerhin - wenn hier auch kein echter Basile zu sehen ist, so bleiben die veränderten Versionen doch typisch für die Fabulierungskunst des Werks. Bedauerlicher finde ich, dass zwar die blutrünstige Seite des Pentamerons gut dokumeniert wird, aber der ironisch-fröhliche, ja oft gleichmütige Tonfall des Originals, in dem all das Schreckliche und Wunderbare geschildert wird, hier bis auf wenige Szenen wegfällt – und genau der macht aber den Esprit des Originals aus! Tarantinos Erzählweise hätte den Charakter der Märchen wohl besser eingefangen. Dennoch ein sehenswerter Streifen, der jedem Fan der Phantastik empfohlen sei!
Nächste Folgen:
Richard Wunderer: Rick Masters - Die Anfänge (1974) (30. November)
Karl May - Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde (1882-84) (14. Dezember)
Pierre Boulle - Planet der Affen (1963) (28. Dezember)
Richard Michaelis - Ein Blick in die Zukunft (1890) (11. Januar)
Stanislav Lem - Solaris (1961) (25. Januar)
Arthur Conan Doyle: Der Hund von Baskerville (1902) (8. Februar)
Kommentare
Sehr schöner, weil informativer Artikel. Wollte den Film
unbedingt sehen, werde ihn aber jetzt anders wahrnehmen.
Wenn von fünfzig Geschichten nur drei übrig bleiben,
dann hat da jemand etwas falsch gemacht.
Hollywoods Märchenneuauflage scheint ja vorbei zu sein, obwohl ich mich frage, was die Grimms dazu gesagt hätten, wenn sie sich als Geisterjäger im Film wiedergefunden hätten
Der Basile war mir allerdings auch neu. Ich habe immer nur über den Boccaccio gelesen und natürlich die Canterbury Tales, die so oft zitiert werden. Es ist erstaunlich, wie viele aktuelle Ausgaben vom Decameron lieferbar sind.
Da sind ja wieder ein paar sehr interessante Artikel in der Ankündigung. Wunderer vs Doyle Toll.