Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Eine Legende wird vierzig Jahre alt - Die Kürzungen in der DK-Neuauflage - 118. Teil - Der Unersättliche

  Dämonenkiller zum 40.Eine Legende wird 40 Jahre alt
Die Kürzungen der Neuauflage
Der Unersättliche

Als am 12. April 1983 die Neuauflage der Dämonenkiller-Serie startete, war ich hocherfreut, denn es bestand für mich die Chance, daß ich endlich das Ende des Baphomet-Zyklus (Dämonenkiller 130 – 149) in Heftformat erhalten könnte. Leider wurde nichts daraus und das lag unter anderem daran, dass der Erich Pabel-Verlag auf eine glorreiche Idee kam.


Im Sinne des Jugendschutzes begann man damit, sämtliche (möglicherweise) jugendgefährdenden Stellen in den Dämonenkiller-Romanen zu entfernen.

Auf der Leserkontaktseite von Dämonenkiller Neuauflage 121 schrieb Ernst Vlcek folgendes:

"Und nun noch ein Nachtrag zu Band 118  "Der Unersättliche". Da der Roman - nach Urteil des prüfenden Rechtsanwalts - einige Unzulänglichkeit aufwies, mußte er neu geschrieben werden.Die Neufassung enthält enthält aber alle wesentlichen Handlungselemente der Erstfassung. Dies ist vor allem an die Adresse der Sammler: Es lohnt sich nicht, für DK 118 de Erstauflage Phantasie-Preise zu zahlen!"

Hier könnt ihr jetzt beide Fassung vergleichen:

Der Dämonenkiller erscheint "Im Zeichen des Bösen" (Vampir Horror Bd. 23)Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 3, 1. Spalte, 1. Absatz - Seite 7, 2. Spalte, 4. Absatz

Buzios.
Das batacuda genannte Samba-Happening hatte seinen Höhepunkt längst überschritten, so daß sich der Gastgeber Marcos Freyre etwas einfallen lassen mußte, um seine Gäste bei Laune zu halten.
„Bringt ein Ferkel“, befahl er seinen Dienern.
Zustimmendes Gemurmel der Männer und verzückte, ängstliche Ausrufe der Damen zeigten an, daß man ahnte, was das kommende Schauspiel bringen würde.
Marcia da Rochas fröstelte. Sie wollte sich ins Haus zurückziehen, um das blutig-grausame Schauspiel nicht mit ansehen zu müssen.
Aber das tauchte Lonrival da Silva vor ihr auf und versperrte ihr tänzelnd den Weg. Wollte sie nach links ausweichen, bewegte er sich im Samba-Rhythmus in dieselbe Richtung, machte sie einige Schritte nach rechts, erschien er plötzlich dort.
Er grinste, schüttelte die silberne Rassel, die Adja, und machte unnachahmliche schlenkernde Bewegungen.
Unter seinem breiten Strohhut war nur die dunkle Sonnenbrille und der breite grinsende Mund zu sehen. Manchmal gab er seltsame Laute von sich.
Im Hintergrund quiekte kläglich das Ferkel, das von drei Dienern hinauf zum Teich geschleppt wurde, der das Anwesen von Marcos Freyre abgrenzte. Die Gäste folgten ihnen in einer ausgelassenen Prozession.
Marcia vergaß ihr Vorhaben und bewegte sich mit Lonrival im Samba-Rhythmus. Sie tänzelte hinter ihm drein. Die batidinha schwappte aus ihrem halbvollen Glas, aber Marcia merkte es nicht. Es schien ihr auch gar nicht bewußt zu sein, daß Lonrival da Silva sie zum Teich hinaufführte.
Sie war wie in Trance - Xango, wie man hier sagte.
Da war der Teich. Wenn man auf die ruhige, leicht gekräuselte Wasseroberfläche blickte, konnte man nicht ahnen, was für Schrecken darunter lauerten. Aber Freyres Gäste waren Eingeweihte, und wer neu war, wie etwa der deutsche Weltenbummler Hubert Keller, wurde schnell aufgeklärt.
„Paß gut auf, Hugh, was passiert, wenn das Ferkel ins Wasser geworfen wird. Da ist die Hölle los... Es ist unglaublich, welchen Heißhunger Marcos' Tiere entwickeln. Er verfüttert täglich ein Dutzend Schweine an sie. Ein teurer Spaß, aber er kann sich diesen Luxus leisten.“
Marcia fand wieder zu sich selbst zurück. Sie begegnete kurz dem Blick von Keller.
Er lächelte sympathisch. Eigentlich paßte er gar nicht in diese versnobte Clique.
Marcia wollte sich abwenden, aber da versperrte ihr Lonrival da Silva den Weg, adjarasselnd. Seine drei Priesterinnen tanzten und zupften ihre Gitarren. Seinem Bann konnte sich Marcia nicht entziehen. Sie mußte bleiben.
Jetzt banden die Diener das Ferkel an den Beinen an ein langes Seil, dessen anderes Ende sie über einen Ast eines am Ufer stehenden Baumes warfen. Sie zogen das Ferkel daran hoch - und ließen es dann ins Wasser fallen.
Im Nu begann die Oberfläche förmlich zu brodeln. Unterarmlange, rötlich schimmernde Körper peitschten das Wasser, und eine Wolke von Blut verfärbte das Wasser. „Hochziehen!“ befahl Marcos Freyre zwischen zwei Schlucken aus seinem Glas.
Die Diener hievten das Ferkel hoch. Als es aus dem Wasser kam, hing eine Traube zappelnder Raubfische daran - viel war von dem armen Tier nicht mehr übrig.
„Piranhas?“ entfuhr es Hubert Keller.
„Und zwar rote Piranhas“, klärte ihn jemand auf. „Sie sind die größten und gefräßigsten.“
„Ich habe gar nicht gewußt, daß es sie In Buzios gibt“, sagte Hubert Keller angewidert.
„Marcos hat sie vom Amazonas einfliegen lassen und im Teich ausgesetzt, Sie bewachen sein Grundstück, Aber es sind die kostspieligsten Wächter der ganzen Knochen-Bay.“
„Dafür auch die verläßlichsten”, meinte Marcos Freyre grinsend.
Marcia betrachtete ihn. Er war groß und schlank und braungebrannt. Sein hübsches graumeliertes Gesicht hatte einen harten Zug. Es lag etwas Bösartiges, Perverses darin. Wie hatte sie nur auf ihn hereinfallen können! Nun, sie kam aus ärmlichen Verhältnissen. Ihre Wiege stand in einer Senzala in den leavelas, den Slums von Rio. Sie hatte sich von seinem Reichtum blenden lassen.
Sein von Alkohol getrübter Blick erfaßte sie. Lässig gab es den Dienern ein Zeichen, den Kadaver des Schweines wieder ins Wasser zu lassen. Dann kam er auf unsicheren Beinen zu ihr. Bevor sie sich davonmachen konnte, hatte er sie erreicht und packte sie am Arm.
„Schäbiger Paulista, laß mich los!” zischte sie.
Aber er drückte nur noch fester zu und grinste breit. Sein Blick wurde hart. Der brutale Ausdruck seines Gesichts ängstigte sie.
„Nimm den Mund nicht zu voll“, sagte er drohend. „Sonst schicke ich dich in die Gosse zurück, du billiges Flittchen.“
Sie straffte sich und erwiderte seinen Blick.
„Ich erwarte ein Kind von dir.“
„Das hast du dir so gedacht.“ Er lachte schallend. Seine Alkoholfahne schlug ihr ekelerregend ins Gesicht und raubte ihr fast den Atem. „Aber sowas zieht nicht bei mir. So klug waren viele andere schon vor dir. Frag Rose, Karla, Fernanda und die anderen.“
Er führte sie vom hell erleuchteten Teich fort. Im Hintergrund schüttelte Lonrival da Silva tänzelnd seine Adja. Seine Begleiterinnen sangen melancholisch.
„Was willst du damit sagen?“ fragte Marcia unsicher.
Marcos Freyre nahm einen letzten Schluck aus seinem Glas und warf es achtlos hinter sich.
„Wir machen es heute nacht noch weg“, sagte er brutal. „Lonrival weiß Bescheid.“
Er stieß sie in die Richtung des unermüdlich tänzenden Hohepriesters. Jetzt erst wurde Marcia bewußt, daß Lonrival da Silva im Ruf stand, einer der größten Geistheiler Brasiliens zu sein. Selbst anerkannte Mediziner hatten eingestehen müssen, daß er die schwierigsten Operationen mit primitivsten Hilfsmitteln und unter fragwürdigsten Bedingungen durchführte. Man sagte ihm nach, daß er im Besitz magischer Kräfte sei...
Marcia schrie gequält auf. Aber dann sah sie das dunkel bebrillte Gesicht des Ogas vor sich. Sie meinte zu sehen, daß ihr seine glühenden Augen durch das dunkle Glas entgegenstarrten... Und da war sie in seinem Bann.
Mit spitzen unverständlichen Ausrufen setzte er sich in Bewegung. Seine drei Begleiterinnen nahmen Marcia in die Mitte, und so näherten sie sich tanzend dem Haus.
Marcia konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles drehte sich um sie, und die Welt zuckte im Samba-Rhythmus. Die Gläser unter ihren Füßen wiegten sich im gleichen Takt, und die Äste der Sträucher und Bäume bogen sich mit ihrem Körper.
Wie im Traum sah Marcia ein Mädchen auftauchen. Trotz der beginnenden Trance erkannte sie Karla, die derzeitige Favoritin von Marcos. Sie lachte - hämisch, wie es Marcia schien. Lonrival da Silva scheuchte sie mit Zischlauten davon.
Doch Karla ließ es sich nicht nehmen, Marcia zuzurufen: „Es tut nicht weh! Du wirst sehen. Der Schock kommt erst danach, wenn du erfährst, was Marcos mit deinem Abortus gemacht hat.“
Marcia bildete sich ein, daß Karla zum Teich deutete, aber sicher war sie sich nicht. Sie schrie auf.
Aber da hatten sie das Haus erreicht.
Da war das Schlafzimmer. Über das runde Bett war ein weißes Leintuch gebreitet worden. Der Oga drängte Marcia mit Tanzbewegungen auf das Lager. Sie bog ihren Körper nach hinten, die Beine gespreizt, und ließ sich einfach fallen.
Die Priesterinnen hatten ihre Instrumente weggelegt. Sie fingen Marcias schlanken Körper geschickt auf und betteten ihn auf das blütenweiße Leinen. Ihre flinken Finger nestelten an ihrer Kleidung, und ehe sie sich versah, war sie nackt.
Unter dem beschwörenden Gemurmel der drei Frauen erlahmte Marcias letzter Widerstand. Sie ließ alles mit sich geschehen, als sei sie eine Unbeteiligte.
Der Curandeiro, wie Lonrival da Silva als Geistheiler genannt wurde, setzte eine volle Schnapsflasche an die Lippen, während seine Assistentinnen mit dem Zeremoniell begannen.
Sie banden Marcia Raffia-Stricke um Arme und Beine und schnürten ihr damit den leicht gewölbten Bauch zu. Dabei sangen sie einschläfernd. Xango! Marcia verfiel immer mehr in Trance.
Lonrival da Silva hatte die Schnapsflasche halb geleert. Unvermutet schrie er einen Namen.
„Kether! Kether! Kether!“
Plötzlich flatterte etwas über Marcias Kopf. Sie sah einen Hahnenkopf mit weit aufgerissenem Schnabel, aus dem die rote Zunge phallusartig heraushing. Aber der Hahn krähte nicht. Er gab auch keinen Laut von sich, als sein geschwollener Kamm unter einem Scherenschnitt fiel.
Und dann blitzte ein Messer. Der Kopf fiel mit dem Halsansatz zurück. Blut sprudelte aus der Wunde. Es ergoß sich über Marcias Körper. Flinke Hände erschienen und verrieben das Blut über Marcias Bauch, massierten es in ihre Haut.
Der Curandeiro schrie wieder in höchster Verzückung: „Kether!“
Und Marcia schien es, als bringe er die Buchstaben durcheinander. Denn für sie hörte es sich so an:
„Kether!
Ethere!
Thereh!
Hereht!
Erehte!
Rethek!“
Was für ein eigenartiger Rhythmus! Das war keine Samba mehr. Man streifte Marcia eine Spitzenhose über, und dann band man ihr ein Spitzenhäubchen auf den Kopf.
Der Curandeiro klapperte mit der Schere und stutzte dem toten Hahn, der in der Luft zu schweben schien, die Flügel. Und dann machte er plötzlich einen Schnitt im Bereich von Marcias Bauch, so daß sie das Gefühl hatte, er würde damit ihren Körper öffnen. Aber das verursachte ihr keinen Schmerz.
„Kether! Kether! Kether!“ keuchte Lonrival, und Marcia wiederholte den Namen.
Lonrival hielt auf einmal zwei schmutzige Küchenmesser in der Hand. Er wetzte die Klingen aneinander und tanzte dazu. Seine Assistentinnen sangen.
Marcia sah, daß sich auf den Messerklingen noch Speisereste befanden. Sie fragte sich bange, ob er mit diesen schmutzigen Instrumenten den Eingriff vornehmen wollte. In der Tat, er senkte die Klingen auf ihren Unterleib und ließ sie zwischen ihren Beinen verschwinden! Aber sie zog keine Schlußfolgerungen aus dieser Erkenntnis. Sie war willenlos, ließ alles mit sich geschehen.
Bildete sie es sich nur ein, oder spürte sie tatsächlich den kalten Stahl auf ihrem Bauch?
Lonrival leerte den letzten Rest aus der Schnapsflasche und schleuderte die Flasche gegen die Wand. Sie barst klirrend.
Jetzt war er bereit für seine große Aufgabe. Aber er dachte nicht daran, die Abtreibung an Marcia vorzunehmen. Was er bisher unternommen hatte, war nur Show gewesen. Er hatte so getan als ob... Marcia sollte nicht merken, was er wirklich mit ihr anstellte.
Ihr Körper sollte nicht entehrt und verstümmelt werden. indem er die Frucht aus ihrem Leib schnitt. O nein! Sie war für höhere Aufgaben bestimmt. In einer seiner Visionen hatte Lonrival da Silva gesehen, daß sie auserwählt worden war, einem kommenden Gottwesen zur Seite zu stehen - zusammen mit vielen anderen Dienerinnen.
Und er, Lonrival da Silva, war der Oga, der Hohepriester des neuen Gottes.
Lonrival fühlte sich stark genug für seine Aufgabe. Er spürte unbändige Kraft durch seinen Körper fluten. Xango - Marcia war in Trance.
Er hielt die beiden Küchenmesser mit den Spitzen auf ihren Bauch, diese beiden profanen Hilfswerkzeuge, die in seinen begnadeten Händen zu göttlichen Instrumenten wurden.
Und er stieß zu. Ritzte Marcias Bauchdecke, schnitt in Sekundenschnelle eine Anzahl von Worten in ihr Fleisch. Insgesamt waren es sechsunddreißig Buchstaben, die er quadratisch und in einer bestimmten Reihenfolge anordnete.
Die Buchstaben hoben sich blutrot von Marcias dunkler Haut ab und bildeten in dieser Anordnung ein magisches Quadrat aus sechs Worten. In dieser Konstellation hatten sie eine besondere Bedeutung. Doch alle Worte waren von einem einzigen Begriff abgeleitet: Kether.
Der Oga des neuen Gottes betrachtete ergriffen sein Werk.
Ein zufriedener Seufzer entrang sich seiner Kehle.
Das Werk war gelungen.
Nun ließ Oga seine gespreizten Hände über dem aus Narbenbuchstaben gebildeten magischen Quadrat kreisen, bis diese sich in Luft aufzulösen schienen und für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar waren.
Marcias Bauch war flach und fest. Die dunkle Haut spannte sich makellos und samtig.
Lonrival da Silva ergriff ihre Hand. Sie erhob sich bei dieser Berührung und ließ sich von ihm ins Bad führen.
Zurück blieb das vom Hahnenblut getränkte Leintuch, auf dem sich die Umrisse ihres wohlgeformten Körpers abzeichneten.

Der Dämonenkiller erscheint "Im Zeichen des Bösen" (Vampir Horror Bd. 23)Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 6, 1. Spalte, 1. Absatz - Seite 9, 2. Spalte, 8. Absatz

Buzios.
„Kether!“
Marcia de Rochas wirbelte herum, aber da war niemand, zu dem die rauhe, krächzende Stimme gehören konnte, die sie schon die ganze Zeit über verfolgte, das machte ihr Angst.
Das Samba-Happening, batacuda genannt, hatte seinen Höhepunkt längst überschritten, so daß sich der Gastgeber Marcos Freyre etwas einfallen lassen mußte, um seine Gäste bei Laune zu halten.
„Bringt ein Ferkel“, befahl er seinen Dienern.
Zustimmendes Gemurmel der Männer und verzückte, ängstliche Ausrufe der Damen zeigten an, daß man ahnte, was das kommende Schauspiel bringen würde.
„Kether!“
Marcia da Rochas zuckte zusammen. Fröstelnd sah sie sich um, aber wieder war niemand in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie wollte sich ins Haus zurückziehen.
Aber das tauchte Lonrival da Silva vor ihr auf und versperrte ihr tänzelnd den Weg. Wollte sie nach links ausweichen, bewegte er sich im Samba-Rhythmus in dieselbe Richtung, machte sie einige Schritte nach rechts, erschien er plötzlich auf dieser Seite.
Er grinste, schüttelte die silberne Rassel, die Adja, und machte unnachahmliche schlenkernde Bewegungen.
Unter seinem breiten Strohhut war nur die dunkle Sonnenbrille und der breite grinsende Mund zu sehen. Manchmal gab er seltsame Laute von sich. Marcia fröstelte, denn sie kamen ihr bekannt vor.
„Kether!“
Jetzt verstand sie das Wort ganz deutlich.
Im Hintergrund quiekte kläglich das Ferkel, das von drei Dienern hinauf zum Teich geschleppt wurde, der das Anwesen von Marcos Freyre abgrenzte. Die Gäste folgten ihnen in einer ausgelassenen Prozession.
„Kether!“
Marcia vergaß ihr Vorhaben und bewegte sich mit Lonrival im Samba-Rhythmus. Sie tänzelte hinter ihm drein. Die batidinha schwappte aus ihrem halbvollen Glas, aber Marcia merkte es nicht. Es schien ihr auch gar nicht bewußt zu sein, daß Lonrival da Silva sie zum Teich hinaufführte.
Sie war wie in Trance - Xango, wie man hier sagte.
Da war der Teich. Wenn man auf die ruhige, leicht gekräuselte Wasseroberfläche blickte, konnte man nicht ahnen, was für Schrecken darunter lauerten. Aber Freyres Gäste waren Eingeweihte, und wer neu war, wie etwa der deutsche Weltenbummler Hubert Keller, wurde schnell aufgeklärt.
„Paß gut auf, Hugh, was passiert, wenn das Ferkel ins Wasser geworfen wird. Da ist die Hölle los... Es ist unglaublich, was für einen Appetit Marcos' Tiere haben. Er verfüttert täglich ein Dutzend Schweine an sie. Ein teurer Spaß, aber er kann sich diesen Luxus leisten.“
Marcia fand wieder zu sich selbst zurück. Sie begegnete kurz dem Blick von Keller. Er lächelte sympathisch. Eigentlich paßte er gar nicht in diese versnobte Clique.
Sie wollte sich abwenden, aber da versperrte ihr Lonrival da Silva den Weg, adjarasselnd. Seine drei Priesterinnen tanzten und zupften ihre Gitarren. Seinem Bann konnte sich Marcia nicht entziehen. Sie mußte bleiben.
„Kether!“ zischte ihr Lonrival zu.
Nun ließen die Diener das Ferkel an einem über einen Ast geschlungenes Seil ins Wasser fallen. Im Nu begann die Oberfläche zu brodeln. Unterarmlange, rötlich schimmernde Körper peitschten das Wasser.
„Piranhas?“ entfuhr es Hubert Keller.
„Und zwar rote Piranhas“, klärte ihn jemand auf.
„Sie sind die größten und gefraßigsten.“
„Ich habe gar nicht gewußt, daß es sie In Buzios gibt“, sagte Hubert Keller angewidert.
„Marcos hat sie vom Amazonas einfliegen lassen und im Teich ausgesetzt, Sie bewachen sein Grundstück, Aber es sind die kostspieligsten Wächter der ganzen Knochen Bay.“
„Dafür auch die verläßlichsten”, meinte Marcos Freyre grinsend.
Marcia betrachtete ihn, Er war groß und schlank und braungebrannt. Sein hübsches graumeliertes Gesicht hatte einen harten Zug. Es lag etwas Bösartiges, Perverses darin. Wie hatte sie nur auf ihn hereinfallen können! Nun, sie kam aus ärmlichen Verhältnissen, Ihre Wiege stand in einer Senzala in den leavelas, den Slums von Rio. Sie hatte, sich von seinem Reichtum blenden lassen.
Sein von Alkohol getrübter Blick erfaßte sie. Lässig gab es den Dienern ein Zeichen, das Ferkel endgültig den Piranhas zu überlassen. Dann näherte er sich ihr auf unsicheren Beinen. Bevor sie sich davonmachen konnte, hatte er sie erreicht und packte sie am Arm.
„Schäbiger Paulista, laß mich los!” zischte sie.
Daraufhin drückte er ihren Arm nur fester und grinste breit. Sein Blick wurde hart. Der brutale Ausdruck seines Gesichts ängstigte sie.
„Nimm den Mund nicht zu voll“, sagte er drohend. „Sonst schicke ich dich in die Gosse zurück, du billiges Flittchen.“
Sie straffte sich und erwiderte seinen Blick. Der Stolz war in ihr erwacht.
„Die Gosse stinkt nicht so wie dein Geld!“ sagte sie abfällig.
Er lachte schallend. Seine Alkoholfahne schlug ihr ekelerregend ins Gesicht und raubte ihr fast den Atem.
 „Wieviel kostet dein Stolz?“ fragte er anzüglich. „Egal, wie hoch du ihn ansetzt, ich bezahle ihn. Du bist ja nur in deiner Eitelkeit gekränkt, weil du auf dem Abbstellgeis stehst. Dabei habe ich Großes mit dir vor. So wie mit Rose, Karla, Fernanda und den anderen.“
Er führte sie vom hell erleuchteten Teich fort. Im Hintergrund schüttelte Lonrival da Silva tänzelnd seine Adja. Er ließ Marcia dabei nicht aus den Augen. Seine Begleiterinnen sangen schnulzig.
„Was soll das?“ fragte Marcia unsicher.
„Du wirst schon sehen“, sagte Marcos kalt lächelnd. „Lonrival wird das übernehmen.“
Er stieß sie in die Richtung des unermüdlich tänzenden Hohepriesters. Jetzt erst wurde Marcia bewußt, daß Lonrival da Silva im Ruf stand, einer der größten Geistheiler Brasiliens zu sein. Selbst anerkannte Mediziner hatten eingestehen müssen, daß er die schwierigsten Operationen mit primitivsten Hilfsmitteln und unter fragwürdigsten Bedingungen durchführte. Man sagte ihm nach, daß er im Besitz magischer Kräfte sei...
Marcia schrie gequält auf. Sie wollte fort, egal wohin, nur weg von hier. Sie wollte mit diesem ganzen versnobten Pack nichts mehr zu tun haben - und am allerwenigstens mit dem unheimlichen Lonrival. Aber dann sah sie das dunkelbebrillte Gesicht direkt vor sich. Sie meinte zu sehen, daß die glühenden Augen des Ogas hinter  dem dunklen Glas geradewegs auf sie gerichtet waren. Ihr Blick brannte sich in ihre Seele und da stand sie in seinem Bann.
„Kether!“
Er sprach dieses eine Wort heiser, wie in unterschwelliger Erregung aus. Er wiederholte es einige Mal mit immer anderer Betonung aus, dazwischen gab er schrille Laute von sich. Er setzte sich wieder tänzelnd in Bewegung. Seine drei Begleiterinnen nahmen Marcia in die Mitte, und so näherten sie sich trippelnd und hüftschwingend dem Haus.
Marcia konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles drehte sich um sie, und die Welt zuckte im Samba-Rhythmus. Der Boden unter ihren Füßen wiegten sich im gleichen Takt, und die Äste der Sträucher und Bäume bogen sich mit ihrem Körper.
Eine eigene Lust durchströmte sie. Ihr Geist fieberte auf einmal in Erwartung eines großen Ereignisses.
Wie im Traum sah Marcia ein Mädchen auftauchen. Trotz der beginnenden Trance erkannte sie Karla, die derzeitige Favoritin von Marcos. Sie lachte - hämisch, wie es Marcia schien. Lonrival da Silva scheuchte sie mit Zischlauten davon.
Karla machte eine bezeichnende Geste in Richtung des Piranha-Teich. Marcia schrie auf.
Aber da hatten sie das Haus erreicht.
Da war das Schlafzimmer. Über das runde Bett war ein weißes Leintuch gebreitet worden. Der Oga drängte Marcia mit Tanzbewegungen auf das Lager. Sie ließ sich kraftlos nach hinten fallen.
Die Priesterinnen hatten ihre Instrumente weggelegt. Sie fingen Marcias kraftlosen Körper geschickt auf und betteten ihn auf das blütenweiße Leinen. Ihre flinken Finger nestelten an ihrer Kleidung, und ehe sie sich versah, war sie nackt.
Unter dem beschwörenden Gemurmel der drei Frauen erlahmte Marcias letzter Widerstand. Nun war sie völlig willenlos und würde alles mit sich geschehen, egal, was es auch wäre. Sie war nur noch eine unbeteiligte Zuschauern in ihrem Körper.
Der Curandeiro, wie Lonrival da Silva als Geistheiler genannt wurde, setzte eine volle Schnapsflasche an die Lippen, während seine Assistentinnen mit dem Zeremoniell begannen.
Sie betupften Marcias Gesicht, die Arme und die Beine, den ganzen Körper, mit einer ätherischen Flüssigkeit, deren Dämpfe ihre Sinne noch mehr benebelten. Dabei gaben sie monotone Gesänge mit einschläfernder Wirkung von sich. Marcia verfiel immer mehr in Trance! Sie begann sich so leicht zu fühlen, als habe sie keinen Körper mehr, sei nur noch Seele.
Lonrival da Silva hatte die Schnapsflasche halb geleert. Aber er stand immer noch sicher auf den Beinen. Und dann rief er unvermittelt dreimal hintereinander den fremdartigen Namen, mit dem er Marcia schon die ganze Zeit gequält hatte.
„Kether! Kether! Kether!“
Plötzlich flatterte irgend etwas über Marcias Kopf. Sie glaubte, einen Hahnenkopf zu sehen, mit geschwollener Kamm und weit aus dem Schnabel hängende Zunge. Und dann blitzten zwei Messer über ihr.
Wiede schrie der Curandeiro in höchster Verzückung:
„Kether!“
Und auf einmal klang der Name Marcia nicht mehr fremd. Nun dachte sie, daß Lonrival da Silva bereits zu betrunken war, um den Namen richtig auszusprechen. Denn bei den weiteren Wiederholungen brachte er die Buchstaben durcheinander. was sich für sie so anhörte:
„Kether!
Ethere!
Thereh!
Hereht!
Erehte!
Rethek!“
Was für ein eigenartiger Rhythmus! Das war keine Samba mehr.
„Kether! Kether! Kether!“ Lonrival wiederholte den Namen so oft, bis  Marcia die Marcia die Aufforderung begriff und ihn nachsprach.
Es war ein faszinierender Name, ein Name mit tiefgründiger Bedeutung. Ein Name, der ganz neue Perspektiven eröffnete.
„Kether!“
Der Curanderio schien zufrieden. Er leerte den letzten Rest aus der Schnapsflasche und schleuderte die Flasche gegen die Wand. Sie barst klirrend.
Jetzt hob er die beiden blitzenden Messer hoch über Marcia. Sie fürchtete sich sich nicht vor dieser drohenden Geste. Sie wußte, daß ihr der Curanderio kein Leid zufügen würde. Die Messer würden ihren Körper nicht einmal ritzen. Was Lonrival tat, das tat er mit magischer Kraft.
Während Lonrival hoch über ihr mit den Messern Zeichen in der Luft schrieb, spürte Marcia einen Druck auf ihrem Körper, gerade so, als würde eine unsichtbare Kraft die Buchstaben auf ihre Haut übertragen. Das verursachte ihr, trotz der Trance, ein wohliges Kribbeln.
Und Lonrival sprach zu ihr. Sie erinnerte sich später nicht mehr seiner Worte, aber sie verstand die Bedeutung.
Er sprach davon, daß Marcia für höhere Aufgaben bestimmt sei. Lonrival verkündete, daß er in einer seiner Visionen das Kommen eines Überwesens vorausgesehen habe. Sie, Marcia, sollte diesem Wesen dienen, zusammen mit viel anderen Dienerinnen.
Und er, Lonrival da Silva, war zum Oga auserkoren, zum Hohepriester des Kultes, der den neuen Gott verehrte. Lonrival fühlte sich stark genug für seine Aufgabe. Er spürte unbändige Kraft durch seinen Körper fluten und übertrug einen Teil davon auf Marcia.
Xango - Marcia war in Trance.
Sie sah das magische Quadrat aus sechsunddreißig Buchstaben über sich leuchten. Die Worte waren alle einem Namen gebildet:
Kether!
„Er wird kommen und die Hilfe seiner Dienerinnen brauchen!“ verkündete Lonrival. Er schlug die Messerklingen gegeneinander, und das metallische Klirren begleitete Marcia hinüber in das Dunkel eines traumlosen Schlafes.
 


Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 7, 2. Spalte, 5. Absatz - Seite 15, 2. Spalte, 3. Absatz

Januswelt Malkuth.

Als Dorian in New York das Tor zur Januswelt betrat, wußte er be­reits, was ihn erwartete. Die Finster­nis überraschte ihn nicht, und sie war auch nicht so erschreckend wie bei seinem ersten Durchgang.
Diesmal störten ihn nicht einmal mehr die Sinnestäuschungen. Er war vorbereitet, als seine Hautsinne plötzlich Hitze registrierten. Dorian schien geradewegs durch eine Hölle zu schweben, und die Hitze wurde so unerträglich, als befinde er sich im Kern einer Sonne.
Doch Dorian ignorierte sie. Er achtete auch nicht darauf, als Spinnweben seine Haut zu kitzeln schienen. Er wartete geduldig darauf, daß sich die Dunkelheit erhellte und sich seinem Auge unbekannte, exotische Landschaften darboten.
Hatte er Visionen? Oder lagen die­se endlosen saftig-grünen Wälder tatsächlich vor ihm? Der Vulkan, der Rauch, Asche und Lava ausspie, schien keine zehn Kilometer ent­fernt. Existierte er wirklich, oder handelte es sich um ein Traumgebil­de?
Vielleicht war es eine Luftspiege­lung... Irgendwann einmal, wenn ihm im Überlebenskampf gegen Dä­monen und Janusköpfe eine Pause gegönnt wurde, würde er diese frem­den Dimensionen erforschen.
Die Oasen im Nichts, wie Dorian die vorüberziehenden Landschaften nannte, verschwanden.
Dorian erreichte den pulsierenden Tunnel, der in den Farben des Regenbogens strahlte. Er versuchte nicht, den Tunnel zu durchschreiten, denn aus Erfahrung wußte er, daß er nicht vom Fleck kommen würde. Vielmehr ließ er die in verschiedenen Farben leuchtenden Tunnelwände an sich vorbeiziehen.
New York lag hinter ihm. Wie weit war es entfernt? Dorian konnte es nicht sagen. Er wagte nicht einmal Spekulationen, weil er keine Ahnung hatte, ob die Januswelt auf einem anderen Planeten oder in einem anderen Universum lag. Er hatte auch keine Ahnung, wieviel Zeit inzwischen vergangen war.
Er mußte sich auf den Kampf gegen die Janusköpfe konzentrieren, die sich auf die Invasion der Erde vorbereiteten.
Zusammen mit Coco und Tim Morton hatten sie die „Spiegel des Verderbens“ des Januskopfes Jaso entschärft. Jaso selbst war nicht mehr. Aber seine Arbeit würde Früchte tragen.
Die Janusköpfe wußten nun, daß der menschliche Geist im Unterbewußtsein Ungeheuer schuf, und auf ihre Welt projizierte, wo sie Wirklichkeit wurden. Auf Malkuth, der Januswelt, wurden die Produkte des menschlichen Geistes zur psychischen Realität.
Das stimmte mit Olivaros Aussage überein, daß es zwischen der Erde und der Januswelt eine magische Verbindung gab.
Olivaro!
Er war der Grund, warum Dorian zusammen mit Coco nach Malkuth zurückkehrte. Sie wollten den hilflosen Januskopf aus der Gewalt seiner Artgenossen retten, denn er war der einzige, der dem Dämonenkiller die Zusammenhänge erklären konnte.
Olivaro, der durch die Wirkung des Ys-Spiegels zu einem lallenden Idioten geworden war. Dorian war es ihm schuldig, daß er den Versuch einer Rettung unternahm. Immerhin hatte Olivaro in letzter Zeit die Tendenz gezeigt, dem Bösen abzuschwören. Vielleicht war er noch nicht verloren und konnte für den Kampf gegen die Schwarze Familie gewonnen werden.
Dorian trug es Olivaro nicht nach, daß er ihn in einem seiner früheren Leben zu seinem grausamen Sklaven gemacht hatte: zu dem teuflischen Samurai Tomotada.
Der Dämonenkiller schloß unwillkürlich die Augen vor der blendenden Grelle, die plötzlich von überallher auf ihn einstürmte. Als er sie wieder öffnete, fand er sich in der Januswelt.
Für weitere Überlegungen blieb ihm keine Zeit, denn er wurde sofort mit den tödlichen Gefahren kon­frontiert, die auf Malkuth zum All­tag gehörten.
Und Dorian stand diesen Schrec­ken der Januswelt fast hilflos gegenüber, denn er hatte schon bei seinem ersten Durchgang all sein magisches Gerät eingebüßt. Er besaß nur noch den Ys-Spiegel.
Und in New York hatte er gerade noch Zeit gefunden, sich neu einzukleiden.
„Coco!“ rief er erleichtert. Wenigstens war er diesmal nicht von seiner Gefährtin getrennt.

* * * 

„Achtung!“ rief Coco.
Sie war wenige Atemzüge vor Do­rian auf Malkuth herausgekommen. Besser gesagt, „in Malkuth“ - denn wie beim erstenmal fand sie sich in­nerhalb eines Gebildes, das zu leben schien.
Vor ihr zog sich ein gewundener Korridor dahin, dessen Wände aus Knorpeln zu bestehen schien. Sie waren mit einer schleimigen Masse überzogen. Seltsame Leuchtkörper - Geschwüren nicht unähnlich - wa­ren unregelmäßig über den Korridor verteilt und spendeten ein schatten­loses Licht. Sie strahlten in verschie­denen Farben und pulsierten.
Dorian tauchte auf. Da löste sich einer dieser Leuchtkörper und fiel zu Boden. Er verlor seine Leuchtkraft - aber dafür kam Leben in ihn. Das fladenförmige Ding bewegte sich mit schneckenartigen Bewegungen auf sie zu und erzeugte dabei eine bro­delnde Flüssigkeit. Säure? fragte sich Coco.
Vor diesem Ding warnte Coco den Dämonenkiller.
Dorian erfaßte die Lage sofort. Er brachte sich mit einem Satz aus dem Bereich des giftsprühenden Körpers und erreichte Coco.
Gemeinsam rannten sie in die entgegen gesetzte Richtung. Die breiige Flüssigkeit, die sich an der tiefsten Stelle des Bodens sammelte, spritzte bei jedem ihrer Schritte mit einem satten Geräusch hoch.
Der Korridor verbreiterte sich. Die Geschwüre an den Wänden wurden seltener, und ihr spärliches Licht konnte das Gewölbe nicht mehr aus­leuchten.
Die Streben, die das Gewölbe stützten, muteten wie Rippen an. Dazwischen zog sich ein Netz von Strängen, das von einer transparen­ten Haut überzogen war. Darüber flossen in Schlieren unbekannte Säf­te, die gelegentlich aufleuchteten und Lichteffekte hervorriefen.
„Ich glaube, hier droht uns keine unmittelbare Gefahr“, sagte Dorian. „Gönnen wir uns erst einmal eine Atempause.“
Coco blickte sich skeptisch um. Der Friede erschien ihr mehr als trügerisch. In Malkuth wußte man nie, woran man war.
„Hier waren wir noch nicht“, stellte sie fest. „Wir sind nicht an der Stelle herausgekommen, wo wir die Janus­welt verlassen haben.“
„Das stimmt“, sagte Dorian. „Aber ich glaube, daß wir immer noch in Kether sind - nur eben in einem an­deren Gebiet. Wie wir wissen, muß es sich bei Kether um ein riesiges Ge­bilde handeln.“
„Du meinst, um einen riesigen Or­ganismus“, korrigierte Coco. „Wohin du auch blickst - hier lebt alles.“
Dorian nickte.
Schon bei seinem ersten Aufent­halt hatte er das Gefühl gehabt, sich im Körper eines riesigen Lebewesens zu befinden. Dieser Eindruck ver­stärkte sich nun noch.
„Welche Ausmaße muß dieses Ge­schöpf haben!“ sagte er beeindruckt. „Ich komme mir so klein wie eine Amöbe vor. Wie ein Parasit in einem Titanenkörper.“
„Der Größe nach sind wir auch mit Bakterien zu vergleichen“, erwiderte Coco und schüttelte sich. „Ich versu­che, unsere Situation mit einem mikroskopischen Wesen in unseren ei­genen Körpern zu vergleichen - etwa einem Virus. Genauso komme ich mir vor. Es wäre interessant, Kether einmal von außen zu sehen. Was ist außerhalb von Kether?“
Dorian winkte ab.
„Das ist im Augenblick nicht so wichtig, Wir haben diese Expedition nur unternommen, um Olivaro zu finden.“
In der Ferne donnerte es.
„Was war das?“ entfuhr es Coco.
Wieder war ein Rumoren zu hören. Es schien sich zu nähern. Plötzlich erbebte das Gewölbe. Über ihren Köpfen platzte der Hautfilm.
Ein Sturzbach einer schäumenden Flüssigkeit ergoß sich aus der entstandenen Wunde, Armdicke Strän­ge schossen schnalzend heraus und rissen. Zwischen den Rippenbögen quollen fleischartige Wülste hervor.
„Fort von hier!“ befahl Dorian. Sie standen bereits knöcheltief in der schäumenden Flüssigkelt, die nun auch aus anderen Öffnungen schoß. „Nur gut, daß dir Rippenbögen dem Druck der Muskelberge stand­halten. Sonst wurden wir erdrückt werden.“
„Wie du dich ausdrückst!“ sagte Coco mit leichtem Vorwurf, wäh­rend sie ihm durch das Gewölbe folgte. „Mir wäre es lieber, ich könnte mir die Illusion bewähren, mich nicht durch das Innenleben eines Riesenmonsters, sondern durch ein Höhlensystem aus toter Materie zu bewegen.“
„Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen“, erwiderte Dorian ge­lassen. Dabei schob er Coco vor sich her in eine bestimmte Richtung. „Wir sind im Körper dieses Titan nichts als unangenehme Schmarotzer - Fremdkörper, gegen die der Metabo­lismus Abwehrstoffe produziert. Bei unserer Winzigkeit ist nicht einmal anzunehmen, daß sich Kether be­wußt wehrt. Eher handelt es sich um eine motorische Abwehrreaktion.“
„Danke für die Lektion in Mon­sterphysiologie“, sagte Coco schnip­pisch. „Aber jetzt halte bitte den Mund.“
Der Dämonenkiller erreichte mit ihr eine Wand und deutete in die Höhe.
„Dort hinauf müssen wir, um in Kethers Körpersäften nicht zu ertrinken“, sagte er. Das trug ihm einen verweisenden Blick ein, aber er meinte nur: „Nun mach schon!“
Coco versuchte, an der glitschigen Rippenwand hinaufzuklettern. Do­rian stützte sie dabei. Aber das brachte sie nicht weiter, sie rutschte immer wieder ab.
„Halt dich an diesem Nervenstrang fest!“ rief Dorian. Er hielt ein zuckendes Seil, das von der Decke bau­melte, fest Coco ergriff es. Sie zuckte zurück, als sie einen elektrisierenden Schlag bekam. Aber sie gewöhnte sich daran. Als sie nochmals zupack­te, erkannte sie, daß die elektrischen Ströme des Nervenstrangs durchaus erträglich waren. Weniger leicht konnte sie sich damit abfinden, daß das Seil zwischen ihren Händen ein eigenes Leben hatte und sich wand wie eine Schlange.
Dennoch kletterte sie daran hoch. In einer Höhe von fünf Metern erreichte sie eine Röhre, die in das Ge­wölbe hinausragte. Eine Luftblase hatte sich gebildet. Coco schnippte mit dem Finger dagegen, und sie platzte. Eine übelriechende Flüssig­keit spritzte ihr ins Gesicht. Aber sie überwand sich und schwang sich in die mannshohe abwärtsführende Röhre. Dorian folgte ihr auf dem Fuß.
„Die Röhre scheint ziemlich stabil zu sein“, sagte Coco. Sie hielt sich krampfhaft an einem Vorsprung fest. „Aber sie hat ein starkes Gefälle und ist ziemlich glitschig. Das wird eine waghalsige Rutschpartie.“
„Wenn schon. Wir haben keine an­dere Wahl“, meinte Dorian stirnrunzelnd. Er blickte hinter sich und sah, daß die schäumende Flüssigkeit be­ängstigend schnell stieg. Nicht mehr lange, und dann würde auch diese Röhre überschwemmt werden. Er wandte sich zu Coco.
„Folge mir!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, warf sich Dorian mit den Füßen vor­an in die steil nach unten führende Röhre. Sekunden später war er Co­cos Blicken entschwunden.
Sie überlegte nicht lange und tat es dem Dämonenkiller gleich. Während sie über den glatten Boden in die Tie­fe glitt, hörte sie wieder das ferne Donnergrollen. Selbst die Wände der Röhre erzitterten, und zwar so hef­tig, daß Coco von einer Seite zur an­deren geworfen wurde.
Sie war von diesen Erschütte­rungen noch benommen, als sie hinter sich ein Rauschen vernahm. Als sie sich umdrehte, sah sie eine sich rasch nähernde Sturzflut.
Mein Gott, ich ertrinke! dachte sie. Die mit gewaltigem Druck heranschießende Flüssigkeit würde sie einfach fortschwemmen.
Da sah sie, daß die Röhre einen Bo­gen machte, dahinter waagrecht verlief und sich dann dutzendfach ver­zweigte. Davor befand sich jedoch eine Art Ventil, durch das sich Dori­an gerade zwängte.
Coco überlegte noch, wie sie ihre Fahrt verlangsamen konnte, als sie spürte, daß die Wandung der Röhre rauher wurde. Das bremste ihre Geschwindigkeit ab.
Dorians Kopf ragte noch durch das Ventil in die Röhre. Als er die Sturzflut hinter Coco sah, zeigte sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck des Entsetzens. Er rief ihr etwas zu, doch in dem ohrenbetäubenden Rauschen konnte sie kein Wort verstehen.
Sie erreichte das Ventil, das unter ihrer Berührung zuckte. Dorian packte sie an der Hand und zog sie gewaltsam heraus. Hinter ihr schloß sich das Ventil mit einem schnap­penden Geräusch. Im nächsten Mo­ment hörte sie das Geräusch der vor­beidonnernden Fluten.
„Das ist gerade noch gut gegan­gen“, sagte Coco.
Erst jetzt erkannte sie, daß sie mit Dorian auf einer steilen, fast senkrechten Wand stand, aus der fleischi­ge Zäpfchen ragten. Als sich die Zäpfchen unter ihren Füßen mit ei­nem Schnalzen in die zuckende blaugeäderte Wand zurückzogen, hätte sie beinahe den Halt verloren - und das hätte einen Sturz in die Tiefe be­deutet.
Doch Dorian fing sie gerade noch auf.
„Sieh dir das an!“ sagte Dorian fas­ziniert.
Coco wußte nicht sofort, was er meinte. Vor ihren Augen tat sich eine wahre Wunderwelt auf. Ekelerre­gend, schrecklich - und zugleich fas­zinierend schön.
Und zum erstenmal auf ihrer zwei­ten Reise nach Malkuth sah sie wie­der Menschen. Sie wurden von Sefe­ren bewacht.

* * * 

Dorian versuchte, die auf ihn ein­stürmenden Eindrücke zu verarbei­ten. Zugleich war er darum bemüht, den Halt nicht zu verlieren. Er hing mit Coco in der fast senkrechten Fleischwand mit den tragfähigen, jedoch ständig zurückzuckenden Zäpfchen.
Vor ihnen, eingebettet in einen durchsichtigen Kokon und von einer sprudelnden Flüssigkeit umgeben, hing ein riesiges eiförmiges Gebilde in einem Netzwerk von zuckendem Fleisch. Nervenfasern, starkfase­rigem Gewebe und weitverzweigten Röhren.
Dieses Riesenei hatte einen Durch­messer von gut hundert Metern. Doch in dieser äußeren Hülle befand sich ein zweites Gebilde, das von der sprudelnden Flüssigkeit umspült wurde. Es war nur halb so groß und veränderte ständig seine Form.
Bei näherem Hinsehen erkannte Dorian, daß es sich um eine weitere Schutzhülle handelte in dem das ei­gentliche Organ - oder was immer es war - eingebettet war. Es war durch verschiedenartige organische Leiter mit der eiförmigen Schutzhülle ver­bunden und wurde von ihnen ver­sorgt.
Dorian hatte den Eindruck, daß hier ein reger Stoffwechsel stattfin­de, und er dachte, daß es sich um ein besonders wichtiges Organ von Ket­her handeln mußte. Vielleicht sogar um sein Herz!
Denn Janusköpfe eilten geschäftig hin und her, kletterten und schweb­ten durch das stützende Netzwerk, stellten Untersuchungen an, mach­ten an jener und dieser Stelle be­schwörende Gesten und sprachen beschwörende Worte, die sich in viel­fachem Echo brachen und noch lange nachhallten.
An allen Öffnungen, die in diese Sektion mündeten, standen Seferen. Sie glichen Wachtposten.
Coco packte Dorian an der Schul­ter.
„Da!“
Der Dämonenkiller folgte ihrem Blick. Aus einer der Zuleitungen zu dem in den Kokon gehüllten Riesenei sprudelte rötlicher Schaum und ver­mischte sich mit der sprudelnden Flüssigkeit, in die das Organ gebettet war. Dorian wußte nicht, was Coco meinte.
„In dieser Röhre haben wir uns be­funden“, erklärte sie schaudernd. „Wenn wir nicht durch das Ventil ins Freie gelangt wären, würden wir jetzt innerhalb des Eis schwimmen. Ein furchtbarer Gedanke!“
Dorian nickte und kniff die Augen zusammen.
„Mit diesem Organ scheint irgend etwas nicht zu stimmen“, erklärte er. „Die Janusköpfe, die es betreuen, wirken konfus.“
„Wäre es möglich, daß dies hier Kethers Krise ist, von der die Janus­köpfe gesprochen haben?“ fragte Coco.
Plötzlich dehnte sich das Riesenei nach einer Seite hin aus. Es schien, als sei der Druck der Flüssigkeit zu groß und als könne der Kokon ihm nicht mehr standhalten.
Ein beulenartiger Auswuchs bilde­te sich und wurde immer größer... Sofort eilten Janusköpfe herbei. Sie schrien Beschwörungsformeln, gestikulierten mit den Händen und schrieben mit den Fingern die Sym­bole ihrer Magie auf den Auswuchs und in die Luft.
Die Beule wurde nicht mehr grö­ßer, sondern begann wieder zu schrumpfen. Durch eine Leitungs­röhre wurde unaufhörlich jene rote schäumende Flüssigkeit gepumpt, bis das innere Organ des Eies darin verschwunden war. Die wasserhelle Flüssigkeit wurde schließlich völlig verdrängt und durch ein Netz von armdünnen Kanälen abgeleitet.
Während aber das eiförmige Or­gan durch die Magie der Janusköpfe beruhigt wurde, geriet die Umge­bung in Aufruhr.
Die Wand, auf der Dorian und Coco sich an den Zäpfchen festklammerten, erzitterte unter gewaltigen Stö­ßen. Sie wölbte sich unter dumpfem Pochen vor und zog sich dann wieder zusammen.
„Weg von hier!“ rief Dorian. Das Zäpfchen, an dem er sich festgehalten hatte, wurde in die Wand zurück­gezogen. Der Dämonenkiller rutsch­te ab und glitt einige Meter die Wand hinunter, bevor er sich an einem an­deren Auswuchs festklammern konnte.
Wieder beulte sich die Zäpfchen­wand aus. Dorian und Coco sahen das eiförmige Gebilde rasend schnell auf sich zukommen, dann fiel die Wand wieder in sich zusammen - nur um sich im nächsten Augenblick wieder auszudehnen.
Dorian war froh, daß wenigstens die Janusköpfe noch nicht auf sie aufmerksam geworden waren.
Coco begann mit dem Abstieg, und sie erreichte Dorian schnell.
„Hast du bemerkt, daß sich hier ge­fangene Menschen befinden?“ fragte Coco. „Dort drüben! Sie werden von Seferen bewacht.“
Sie deutete in eine bestimmte Richtung. Als die Wand, in der sie hingen, wieder einmal in sich zusam­menfiel, sah Dorian unweit unter sich eine zuckende Blase, die sich im Rhythmus ihrer Wand ausdehnte. Wenn sie ihre größte Ausdehnung erreicht hatte, öffneten sich faust­große Löcher, denen der Luftüber­druck entströmte.
In dieser Blase befanden sich ein halbes Dutzend Menschen, die von zwei Seferen bewacht wurden. Wäh­rend die zweieinhalb Meter großen Monstren mit den Knochenschädeln und den degenerierten Schnäbeln von dem Überdruck in der Blase nicht berührt zu werden schienen, wanden sich die Menschen wie unter Schmerzen. Immer, wenn die Luft durch die Öffnungen entwich, zeigte sich Erleichterung auf ihren Gesich­tern.
Dorian nickte grimmig - und be­gann mit dem Abstieg. Die Zuc­kungen der Wand wurden immer heftiger. Irgendwo riß ein Zellgewe­be mit ohrenbetäubendem Knall. In der Wand öffneten sich Poren, aus denen eine giftgrüne Flüssigkeit spritzte.
Im nächsten Augenblick schossen schlangenähnliche Gebilde hervor und auf das eiförmige Riesenorgan zu. Dorian wurde von einem solchen Strang mit voller Wucht an der Schulter getroffen und verlor den Halt.
Er stürzte und landete auf der Bla­se, die gerade ihre größte Ausdeh­nung erreicht hatte. Zum Glück be­fand er sich nicht im Bereich der Luftventile - aber der entweichende Luftstrom war immer noch so stark, daß er fast davon gewirbelt wurde.
Sofort wurden die Seferen auf ihn aufmerksam. Sie wandten ihm ihre knochigen Schnabelgesichter zu, die entfernt an jene der Janusköpfe erinnerten. In ihren dunklen Augen­höhlen begann es, gelb zu leuchten.
Da die Öffnungen der Blase noch nicht geschlossen waren, konnte Dorian deutlich ihre zirpenden Stim­men hören, mit denen sie scheinbar sinnlose Silben der Janussprache von sich gaben.
„Eth-ere-erehte … Rethek-Kether!“
Dorian erkannte plötzlich den Sinn. Alle diese Silben waren von Kethers Namen abgeleitet und soll­ten zweifellos magische Kräfte frei­setzen - natürlich gegen ihn.
Der Dämonenkiller versuchte, sich dem Bann der gelb leuchtenden Augen zu entziehen, während er gleich­zeitig den Ys-Spiegel hervorholte. Er hatte ihn schon vorher erfolgreich gegen die Seferen eingesetzt, ohne daß es zu verheerenden Nebeneffek­ten gekommen war. Überhaupt ließ sich der Spiegel auf Malkuth - von wo er auch stammte - bei kleineren Einsätzen erfolgreicher und risiko­loser anwenden als auf der Erde.
Als Dorian den Spiegel vor sein Gesicht hob, wurden die Stimmen der beiden Seferen schrill und höher, bis sie schließlich verstummten.
Gleichzeitig erlosch das Glühen ih­rer Augen - und sie schienen zu schrumpfen, während sie gleichzei­tig auf Dorian zustürzten. Dorian hielt den Spiegel fest umklammert. Es war für ihn nicht mehr überra­schend, daß die Seferen magisch da­von angezogen wurden und schließ­lich für immer in ihm verschwanden.
Diesmal war jedoch ein Hindernis zwischen ihnen und dem Spiegel, nämlich die Blasenhülle. Als die schrumpfenden Seferen dagegenprallten, barst sie in tausend Fetzen.
Dorian war darauf gefaßt, daß ihm der Boden plötzlich unter den Beinen weggerissen wurde. Er landete si­cher auf den Füßen.
Die sechs Menschen wichen vor ihm wie vor einem Gespenst zurück. In ihren gequälten Gesichtern spie­gelten sich Verständnislosigkeit und Angst.
„Ihr habt nichts von mir zu be­fürchten“, sagte Dorian. „Ich bin ein Mensch wie ihr. Ich will euch hel­fen.“
Sie schüttelten wie auf Kommando die Köpfe. Ein kleiner Japaner sagte aus dem Hintergrund: „Ohne Ihr Eingreifen wären wir vielleicht bald erlöst worden.“
Dorian war erschüttert. Was muß­ten diese Menschen durchgemacht haben, daß ihnen der Tod - in wel­cher Form auch immer - als einzige Alternative erschien.
Sie waren übel zugerichtet. Ver­stümmelt der eine, wie von Säure zerfressen eine Frau, mit frei sicht­baren Innenorganen ein dritter... Nur die Magie der Janusköpfe konn­te diese erbarmungswürdigen Ge­schöpfe noch am Leben erhalten.
„Wir werden versuchen, euch zur Erde zurückzubringen“, rief Coco hinter Dorian. „Zuerst müssen wir aber einen sicheren Ort finden, wo wir euch verstecken können.“
Eines der Phänomene von Malkuth war, daß sich hier alle miteinander verständigen konnten, welche Mut­tersprache sie auch hatten. Eine Frau - der Kleidung nach eine Europäerin - begann, schrill zu lachen.
„Zurück zur Erde, sagt sie!“ rief sie dann mit sich überschlagender Stimme. ”Und wo sind wir jetzt?“
Und sie lachte weiter hysterisch.
Sie verstummte erst, als der Boden unter ihnen konvulsivisch zu zucken begann und sie von den Beinen riß. Sie fielen durcheinander. Coco haltsuchende Hände bekamen etwas Weiches zu fassen, und erst zu spät erkannte sie, daß sie sich an das Herz des Mannes mit den freiliegenden Organen klammerte. Er schrie wie am Spieß.
Dorian versuchte, auf allen vieren fortzukriechen. Doch jemand klammerte sich verzweifelt an ihn. Kether wurde von schweren Erschütterungen heimgesucht. Vor ihnen wölbte sich der Boden in die Höhe und stieß mit der Wand zusammen. Einer der Unglücklichen, die für die Janusköpfe nichts weiter als Ver­suchskaninchen waren, wurde zwi­schen den zuckenden Fleischmassen erdrückt.
Als die Beben endlich nachließen, erschienen zwei Janusköpfe. Dorian gab Coco durch ein Zeichen zu ver­stehen, daß sie sich ruhig verhalten solle.
Die beiden Janusköpfe starrten mit ihren ausdruckslosen Knochengesichtern auf das Häufchen Todge­weihter - und dann auf den Toten. Einer machte einige Zeichen in die Luft. Ein Schlund öffnete sich in der Wand und verschlang die Leiche.
„Mitkommen“, sagte der andere Januskopf.
Die Versuchspersonen erhoben sich und folgten den beiden Janus­köpfen. Dorian und Coco schlossen sich ihnen an.
Die beiden Janusköpfe waren sich ihrer Gefangenen so sicher, daß sie sich kein einziges Mal nach ihnen umblickten.
Coco warf Dorian einen fragenden Blick zu. Er reagierte nicht darauf.
Der Dämonenkiller wußte selbst, daß es ihre vordringlichste Aufgabe war, Olivaro zu finden - und dann zur Erde zurückzukehren. Sie muß­ten an Olivaro herankommen, bevor dieser in einen unbekannten und für sie unzugänglichen Bereich der Ja­nuswelt abgeschoben wurde, um dort im Sinne seiner Artgenossen „geheilt“ zu werden.
Im Augenblick versprach sich Do­rian jedoch mehr davon, sich unter die Opfer der Janusköpfe zu mi­schen, als auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Abgesehen davon, daß er keine Ahnung hatte, wo sich Olivaro aufhielt, schadete es nichts, wenn er sich eine kleine Atempause verschaffte.
Im Schutze der Janusköpfe waren sie vor den Auswirkungen von Ket­hers Krise auf jeden Fall sicherer. Als es wieder zu unheimlichen Er­schütterungen und krampfartigen Zuckungen des Organismus kam, bauten die beiden Janusköpfe mit­tels ihrer Magie eine schützende Sphäre auf.
Dorian wußte nun, daß seine Ent­scheidung richtig war.
Aber er fragte sich, wie lange die Janusköpfe sich selbst noch schützen konnten. Denn Kethers Krise strebte zweifellos einem Höhepunkt zu. Eine Katastrophe schien unabwendbar.
Die Janusköpfe erreichten eine Engstelle im Korridor und blieben davor stehen. Dorian sah, daß sich hier eine Art Muskel befand, der sich langsam schloß. Nach einer Weile öffnete er sich mit einem seufzenden Geräusch. Dahinter herrschte Fin­sternis.
Einer der Janusköpfe gab dem er­sten Gefangenen in der Reihe einen Wink - und dieser sprang durch die Öffnung. Hinter ihm schloß sich schmatzend der Muskel.
Nach kurzer Zeit öffnete er sich wieder, und die Janusköpfe schick­ten die zweite Versuchsperson hin­durch. Nachdem sich der Muskel er­neut geschlossen hatte, stieß der nächststehende Januskopf die ande­ren Gefangenen zur Seite und deute­te auf Coco.
Sie sollte als nächste an die Reihe kommen.
Dorian erstarrte. 


Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 9, 2. Spalte, 9. Absatz - Seite 17, 2. Spalte, 1. Absatz

Januswelt Malkuth

Als Dorian Hunter in New York das Tor zur Januswelt betrat, da wußte er bereits, was ihn erwarten würde. Die Finsternis überraschte ihn nicht mehr, und sie war auch nicht so er­schreckend wie bei seinem ersten Durchgang.
Diesmal störten ihn nicht einmalmehr die Sinnestäuschungen. Er war vorbereitet, als seine Haut sinne plötz­lich Hitze registrierten. Dorian schien geradewegs durch eine Hölle zu schweben, und die Hitze wurde so unerträglich, als befinde er sich im Kern einer Sonne.
Doch Dorian ignorierte die Hitze - alles nur Täuschung! Ebenso waren die Spinnweben, die seine Haut zu kitzeln schienen, nur Einbildung. Er verschwendete keinen Gedanken daran, sondern wartete geduldig darauf, daß sich die Dunkelheit erhellte und sich seinem Auge unbekannte, exotische Landschaften darboten.
Hatte er Visionen? Oder lagen diese endlosen, saftig-grünen Wälder tatsächlich vor ihm? Der Vulkan, der Rauch, Asche und Lava ausspie, schien keine zehn Kilometer entfernt. Existierte er wirklich, oder handelte es sich um ein Traumgebilde?

Vielleicht war es eine Luftspiegelung.
Irgendwann einmal, wenn ihm im Überlebenskampf gegen Dämonen und Janusköpfe eine Pause gegönnt wurde, würde er diese fremde Dimension erforschen. Das nahm er sich in diesem Augenblick fest vor.
Die Oasen im Nichts, wie Dorian die vorüberziehenden Landschaften nannte, verschwanden.
Dorian erreichte einen pulsieren­den Tunnel, der in den Farben des Regenbogens leuchtete. Er versuchte nicht erst, den Tunnel zu durchschreiten, denn aus Erfahrung wußte er, daß er sowieso nicht vom Fleck kom­men würde. Vielmehr ließ er die in verschiedenen Farben leuchtenden Tunnelabschnitte an sich vorbei­ziehen.
Ein Blitz zuckte plötzlich vor ihm auf. Der Dämonenkiller schloß unwillkürlich die Augen vor der blen­denden Grelle, die von überall auf ihn einstürmte. Als er sie öffnete, fand er sich in der Januswelt.
Für weitere Überlegungen blieb ihm keine Zeit mehr, denn er wurde sofort mit den tödlichen Gefahren konfrontiert, die auf Malkuth zum Alltag gehörten.
Und Dorian stand diesen Schrecken fast hilflos gegenüber, denn er hatte schon beim ersten Durchgang all sein magisches Gerät eingebüßt. Er besaß nur noch den Ys-Spiegel.
Und in New York hatte er gerade noch Zeit gefunden, sich neu einzukleiden.
Er sah vor sich eine weibliche Ge­stalt.
„Coco!“ rief er erleichtert.
Wenigstens war er diesmal nicht von seiner Gefährtin getrennt worden.

* * * 

„Achtung!“ rief Coco.
Sie war wenige Atemzüge vor Dorian auf Malkuth angekommen. Besser gesagt, „in Malkuth“ - denn wie beim erstenmal fand sie sieh inner­halb eines Gebildes, das zu leben schien.
Vor ihr erstreckte sich ein gewun­dener Korridor, dessen Wände aus Knorpeln zu bestehen schienen. Sie waren mit einer schleimigen Masse überzogen. Seltsame Leuchtkörper, wie lebende Organismen, fanden sich unregelmäßig über den Korridor ver­teilt und spendeten ein indirektes, schattenloses Licht. Sie leuchteten in verschiedenen Farben und pulsierten rhythmisch.
Und dann tauchte Dorian auf. Ei­ner der Leuchtkörper löste sich von der Decke und fiel zu Boden. Er ver­lor augenblicklich seine ganze Leuchtkraft, entwickelte dafür aber ein beängstigendes Eigenleben. Das fladenförmige Ding streckte sich und schlängelte sich auf sie zu. Dabei stieß es eine brodelnde Flüssigkeit aus. Säure? fragte sich Coco.
Vor diesem Ding hatte sie den Dä­monenkiller bei seinem Auftauchen gewarnt. Dorian erfaßte sofort die Si­tuation. Er brachte sich mit einem Satz aus der Reichweite des giftsprit­zenden Dinges und erreichte Coco. Gemeinsam rannten sie in die entge­gengesetzte Richtung.
Die breiige Masse, die sich in den Bodenvertiefungen sammelte, spritz­te bei jedem ihrer Schritte mit einem platschenden Geräusch hoch.
Der Korridor verbreiterte sich. Die leuchtenden Organismen an den Wänden wurden seltener, und ihr spärliches Licht konnte das Gewölbe nicht mehr ausleuchten.
Von den Wänden hoben sich jetzt gebogene Streben ab, die wie Rippen anmuteten. Dazwischen erstreckte sich ein Netz verschieden dicker Stränge, die von einer Art Haut über­zogen waren. Darüber spannte sich ein dünner Film, der in trägen Schlie­ren dahinfloß und für gelegentliche Lichteffekte sorgte.
„Ich glaube, hier droht uns keine unmittelbare Gefahr“, sagte Dorian. „Gönnen wir uns erst einmal eine Atempause.“
Coco blickte sich skeptisch um. Der Friede erschien ihr mehr als trügerisch. In Malkuth wußte man nie, woran man war.
„Hier waren wir noch nicht“, stellte sie fest. „Wir sind nicht an derselben Stelle herausgekommen, an der wir die Januswelt verlassen haben.“
„Stimmt“, gab ihr Dorian recht. „Aber ich glaube, daß wir immer noch in Kether sind - nur eben in ei­nem anderen Sektor. Wie wir wissen, muß es sich bei Kether um ein riesi­ges Gebilde handeln.“
„Du meinst, um einen riesigen Organismus“' korrigierte Coco. „Wohin du auch blickst, hier lebt alles.“
Dorian nickte zustimmend.
Schon bei seinem ersten Aufenthalt hatte er das Gefühl gehabt, sich im Körper eines riesigen Lebewesens zu befinden. Dieser Eindruck verstärkte sich nun noch.
„Welche Ausmaße muß dieses Ge­schöpf haben!“ sagte er beeindruckt. „Ich komme mir so winzig wie eine Amöbe vor. Wie ein Parasit in einem Titanenkörper.“
„Der Größe nach sind wir tatsäch­lich mit Bakterien zu vergleichen“, erwiderte Coco und schüttelte sich. „Ich versuche, unsere Situation mit der eines mikroskopischen Wesens in unserem Körper zu vergleichen - etwa einem Virus. Genauso komme ich mir vor. Es wäre interessant, Kether einmal von außerhalb zu sehen. Was ist dort draußen, rings um Kether?“
Dorian winkte ab.
„Das ist im Augenblick nicht so wichtig. Wir haben diese Expedition nur unternommen, um Olivaro zu finden.“
In der Ferne donnerte es.
„Was war das?“ fragte Coco.
Wieder war ein Rumoren zu hören. Es schien sich zu nähern. Plötzlich er­bebte das Gewölbe. Über ihren Köp­fen platzte der Hautfilm.
Ein Sturzbach einer schäumenden Flüssigkeit ergoß sich aus der entstandenen Öffnung. Armdicke, tentakelartige Stränge schnalzten wie Muskel hervor, und zwischen den Rippenbögen bildeten sich Wülste.
„Fort von hier!“ befahl Dorian. sie standen bereits knöcheltief in der schäumenden Flüssigkeit, die sich nun auch aus anderen Öffnungen ergoß. „Nur gut, daß die Rippen dem Druck der Muskelberge standhalten. Sonst würden wir erdrückt werden.“
„Deine Ausdrucksweise behagt mir nicht“, sagte Coco mit leichtem Vorwurf, während sie ihm durch den Gang folgte. „Irgendwie wäre es mir lieber, könnte ich mir die Illusion be­wahren, mich durch ein Höhlensystem aus toter Materie zu bewegen und nicht durch das Innenleben eines Riesenmonsters.“
„Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen“, erwiderte Dorian gelassen. Dabei schob er Coco vor sich her in die gewünschte Richtung. „Wir sind im Körper dieses Riesen nichts als unangenehme Schmarotzer - Fremdkörper, gegen die der Metabo­lismus Abwehrstoffe produziert. Bei unserer Winzigkeit ist nicht einmal anzunehmen, daß sich Kether be­wußt wehrt. Eher handelt es sich um eine motorische Abwehrreaktion.“
„Danke für die Lektion in Monster­physiologie“, sagte Coco schnippisch. „Aber jetzt halte bitte den Mund.“
Der Dämonenkiller erreichte mit ihr eine Wand und deutete in die Höhe.
„Dort hinauf müssen wir, um in Kethers Körpersäften nicht zu ertrinken“, sagte er. Das trug ihm einen verweisenden Blick ein, aber er meinte nur: „Nun mach schon.“
Coco versuchte, an der glitschigen Rippenwand hochzuklettern. Dorian stützte sie. Aber auch das brachte sie nicht weiter, sie rutschte immer wie­der ab.
„Halt dich an diesem Nervenstrang fest“, riet Dorian. Er hielt ein zucken­des Seil, das von der Decke baumelte, fest. Coco ergriff es. Sie zuckte zu­rück, als sie einen elektrisierenden Schlag erhielt. Aber sie gewöhnte sich daran. Als sie noch einmal zu­packte, erkannte sie, daß die elektri­schen Ströme des Nervenstranges durchaus erträglich waren. Weniger leicht konnte sie sich damit abfinden, daß das Seil zwischen ihren Händen ein eigenes Leben hatte und sich wand wie eine Schlange.
Dennoch kletterte sie daran hoch. In einer Höhe von fünf Metern erreichte sie eine Röhre, die aus dem Gewölbe führte. Darin hatte sich eine Luftblase gebildet, die sich weiter ausdehnte. Coco. schnippte dagegen, und die Blase platzte mit einem Knall. Eine übelriechende Flüssig­keit spritzte ihr ins Gesicht. Aber sie überwand sich und schwang sich in die mannshohe, abwärtsführende Röhre. Dorian folgte ihr auf dem Fuß.
„Dieser Gang scheint wenigstens recht stabil zu sein“, sagte Coco. Sie hielt sich krampfhaft an einem Vor­sprung fest. „Aber er hat auch ein starkes Gefälle und ist ziemlich glit­schig. Das wird eine waghalsige Rutschpartie.“
„Wenn schon. Wir haben keine an­dere Wahl“, sagte Dorian stirnrunzelnd. Er blickte hinter sich und sah, daß die schäumende Flüssigkeit be­ängstigend rasch stieg. Nicht mehr lange, und dann würde auch diese höherliegende Röhre überschwemmt werden. Er wandte sich wieder Coco zu.
„Folge meinem Beispiel!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang Dorian mit den Füßen voran in die steil nach unten führende Röhre. Sekunden später war er Cocos Blicken entschwunden.
Sie überlegte nicht lange und tat es dem Dämonenkiller gleich. Während sie über den glatten Boden in die Tiefe rutschte, hörte sie wieder das ferne Donnergrollen. Selbst die Wände der Röhre erzitterten, und zwar so heftig, daß Coco bei ihrer Rutschpartie von einer Seite zur an­deren geworfen wurde.
Sie war von diesen Erschütterun­gen noch ganz benommen, als sie hinter sich ein Rauschen vernahm. Als sie sich umdrehte, sah sie eine hinter ihr nachstürzende Sturzflut.
Mein Gott, ich werde ertrinken! dachte sie. Die mit gewaltigem Druck herabstürzende Flüssigkeit würde sie einfach fortschwemmen.
Da sah sie, daß die Röhre einen Bo­gen machte, dahinter waagrecht ver­lief und sich dann dutzendfach ver­zweigte. Davor befand sich jedoch eine Art Ventil, durch das sich Dorian gerade zwängte.
Coco überlegte noch, wie sie ihre Fahrt verlangsamen konnte, als sie spürte, daß die Wandung rauher wurde. Das bremste ihre Geschwin­digkeit ab.
Dorians Kopf ragte noch durch das Ventil auf diese Seite der Röhre. Als er die Sturzflut hinter Coco sah, wan­delte sich der Ausdruck seines Ge­sichts in Entsetzen. Er rief ihr irgendetwas zu, aber in dem ohrenbetäuben­den Rauschen konnte sie kein Wort verstehen.
Sie erreichte das Ventil. Es zuckte unter ihrer Berührung. Sie schob sich dennoch, mit einem Arm voran, hin­durch. Auf der anderen Seite packte Dorian sie am Arm und zog sie mit einem Ruck zu sich. Das Ventil schloß sich hinter Coco mit einem schnap­penden Geräusch. Im nächsten Mo­ment hörten sie das Geräusch der vorbeidonnernden Flut.
„Das ist gerade noch gutgegan­gen“, sagte Coco erleichtert.
Erst jetzt erkannte sie, daß sie mit Dorian in einer steilen, fast senkrech­ten Wand stand, aus der fleischige Zäpfchen ragten. Als sich die Zäpf­chen unter ihren Füßen mit einem Schnalzen in die blaugeäderte Wand zurückzogen, hätte sie beinahe den Halt verloren. Und das hätte ihren Sturz in eine fast bodenlose Tiefe be­deutet.
Dorian fing sie gerade noch auf.
„Sieh dir das an!“ sagte Dorian fas­ziniert.
Coco erkannte nicht sofort, was er meinte. Vor ihren Augen tat sich eine wahre Wunderwelt auf. Schrecklich, gefährlich und unheildrohend - und zugleich faszinierend schön.
Und zum erstenmal auf ihrer Reise nach Malkuth sah sie wieder Men­schen. Sie wurden von Seferen be­wacht, den Ungeheuern, dessen Köpfe Totenschädeln mit Vogel­schnäbeln ähnelten.
Dorian war bemüht, die vielen auf ihn einstürmenden Eindrücke zu ver­arbeiten. Gleichzeitig mußte er dar­auf achten, den Halt nicht zu verlie­ren. Er hing mit Coco in der senkrech­ten organischen Wand mit den tragfä­higen, ständig zuckenden Zäpfchen.
Vor ihnen, eingebettet in einen durchsichtigen Kokon und von spru­delnder Flüssigkeit umspült, hing ein riesiges eiförmiges Gebilde in einem Netzwerk aus zuckendem Gewebe und Nervenfasern, durch das ein ver­zweigtes Röhrensystem führte.
Dieses Riesenei hatte einen Durch­messer von gut hundert Metern. Doch das Ei war nur eine äußere, transpa­rente Hülle. Innerhalb befand sich ein weiteres Gebilde. Es war nur halb so groß wie der Kokon, in den es ge­hüllt war, wurde von einer wasserkla­ren Flüssigkeit besprüht und verän­derte ständig seine Form.
Bei näherem Hinsehen erkannte Dorian, daß es sich dabei bloß um eine weitere Schutzhülle handelte, in der das eigentliche Organ - oder was es auch immer war - eingebettet war. Es war durch verschiedenartige orga­nische Leiter mit der äußersten Ei­schale verbunden und wurde über diese versorgt.
Dorian hatte den Eindruck, daß hier ein reger Stoffwechsel stattfand, und er dachte, daß es sich dabei uni ein besonders wichtiges Organ von Kether handeln mußte.
Vielleicht sogar um Kethers Herz!
Janusköpfe eilten geschäftig hin und her, kletterten und hangelten sich durch das stützende Netzwerk, prüften da, nahmen dort eine Unter­suchung vor, machten an dieser und jener Stelle gewichtig scheinende Ge­sten. Dazu sprachen sie beschwörend, und ihre Worte brachen sich in einem vielfachen Echo, das lange nach­hallte. Das Tun der Janusköpfe glich einem magischen Ritual, dessen tiefe­rer Sinn es zu sein schien, dieses Organ zu behüten.
An allen Zugängen in diese Sektion standen Seferen. Sie waren die Wäch­ter dieses Ortes.
Coco packte Dorian an der Schulter.
„Da!“
Der Dämonenkiller folgte ihrem Blick. Aus einer der Zuleitungen zu dem in den durchsichtigen Kokon ge­hüllten Riesenei ergoß sich rötlicher Schaum und vermischte sich mit der sprudelnden Flüssigkeit, die das Or­gan umspülte. Dorian verstand nicht, was Coco meinte.
„In dieser Röhre haben wir uns be­funden“, erklärte sie ihm schau­dernd. „Wären wir nicht durch das Ventil ins Freie gelangt, dann wür­den wir jetzt innerhalb dieses Eies schwimmen. Ein furchtbarer Ge­danke!“
Dorian nickte und kniff die Augen zusammen.
„Mit diesem Organ scheint irgend etwas nicht zu stimmen“, sagte er da­bei. „Die Janusköpfe, die es betreuen, wirken irgendwie konfus.“
„Ist es möglich, daß dies mit Kethers Krise zusammenhängt, von der die Janusköpfe gesprochen haben?“ fragte Coco.
Plötzlich dehnte sich das Riesenei nach einer Seite hin aus. Es schien, als sei der Druck der Flüssigkeit zu groß und als könne der Kokon ihm nicht mehr standhalten.
Ein beulenartiger Auswuchs bil­dete sich und wurde immer größer.
Sofort eilten Janusköpfe herbei und begannen mit ihren verzweifel­ten Beschwörungen. Sie schreien die magischen Worte förmlich heraus, schrieben sie mit den Fingern ihrer wirbelnden Hände in die Luft und auf den sich blähenden Auswuchs.
Dieser wurde daraufhin nicht mehr größer. Aber die Janusköpfe mach­ten weiter, bis er allmählich wieder zu schrumpfen begann. Dann erst legte sich ihre Hektik wieder.
Durch das Leitungssystem wurde unaufhörlich jene rot schäumende Flüssigkeit herangepumpt, bis das Organ des Eies darin schwamm und davon bedeckt wurde. Die Folge da­von war, daß die wasserhelle Flüssig­keit davon verdrängt und durch ein Netz armdünner Kanäle abgeleitet wurde.
Während das eiförmige Organ durch die Magie der Janusköpfe be­ruhigt wurde, geriet dafür die Umge­bung in Aufruhr.
Die Wand, an der sich Dorian und Coco an den Zäpfchen festklammer­ten, erbebte unter gewaltigen Stößen. Ein pochendes Geräusch war zu hö­ren, und es verstärkte sich. Und auf einmal wölbte sich die Wand wie un­ter einem mächtigen Hammerschlag, fiel aber sofort wieder in sich zu­sammen.
„Wir müssen machen, daß wir von hier wegkommen“, rief Dorian Coco zu. Das Zäpfchen, an dem er sich fest­gehalten hatte, zog sich unvermittelt in die Wand zurück. Der Dämonenkil­ler wurde damit seines Halts beraubt und rutschte die Wand hinunter. Es gelang ihm erst nach mehreren Me­tern, sich an einen anderen Auswuchs zu klammern. Coco stieg zu ihm her­unter.
Wieder dehnte sich die Zäpfchen­wand unter lautem Pochen aus. Dies­mal an der Stelle, wo sich Dorian und Coco befanden. Sie wurden mit rasen­der Geschwindigkeit in Richtung des eiförmigen Gebildes gedrückt. Ein Zusammenprall schien unvermeid­lich. Aber dann fiel die Wand wieder in sich zusammen - nur um sich im nächsten Augenblick mit derselben Rasanz wieder auszudehnen. Das ging einige Male so.
Dorian war nur froh, daß wenig­stens die Janusköpfe noch nicht. auf sie aufmerksam geworden waren. Coco winkte ihm zu, deutete nach un­ten und begann mit dem Abstieg. Dorian folgte ihr. Als er sie erreicht hatte, sagte sie:
„Hast du bemerkt, daß sich hier ge­fangene Menschen befinden? Schräg unter uns. Sie werden von Seferen be­wacht.“
Dorian folgte mit den Blicken der Richtung, den ihr Arm wies. Aber er konnte nichts sehen. Eine Beule in der Wand versperrte ihm die Sicht. Erst als sie wieder schrumpfte, ent­deckte er dahinter, unweit unter sich, eine große, transparente und leicht zuckende Blase - sie pulsierte im sel­ben Rhythmus wie die Wand. Wenn sie ihre größte Ausdehnung erreicht hatte, öffneten sich faustgroße Lö­cher, aus denen pfeifend Luft strömte.
In dieser Blase befanden sich ein halbes Dutzend Menschen. Sie wur­den von zwei Seferen bewacht. Wäh­rend die zweieinhalb Meter großen Monstren mit den Knochenschädeln und den degenerierten Schnäbeln von dem Luftüberdruck in der Blase nicht betroffen schienen, wanden sich die Menschen wie unter Schmerzen. Wenn die Luft durch die Öffnungen entweichen konnte, dann erholten sich die Menschen sichtlich.
Dorian nickte grimmig. Er stieg in Richtung der Blase die Wand hinun­ter. Diese begann immer heftiger zu zucken, ebenso die Zäpfchen. Irgend­wo riß Zellgewebe mit ohrenbetäu­bendem Knall. Die Wand wurde po­rös, und aus den Poren spritzte giftig grüne Flüssigkeit. Im nächsten Au­genblick schossen Tentäkel hervor und griffen in Richtung des eiförmi­gen Riesenorgans. Dorian wurde von einem solchen Tentakel mit voller Wucht an der Schulter getroffen. Der Schlag war so stark, daß seine eine Seite momentan wie gelähmt war. Er verlor den Halt und stürzte in die Tiefe.
Zum Glück fiel er auf die Blase mit den gefangenen Menschen, die seinen Fall weich abfing. Die Menschen duckten sich und blickten scheu zu Dorian hinauf. Auch die Seferen wandten ihm die knochigen Schna­belgesichter zu, die entfernt an jene der Janusköpfe erinnerten. In ihren dunklen Augenhöhlen begann es gelb zu leuchten.
Als sich die Öffnungen der Blase auftaten, trug die entweichende Luft auch die zirpenden Stimmen der Seferen ins Freie. Was sie sagten, klang wie die sinnlose Aneinanderreihung von Silben der Janussprache.
„Eth-ere-erethe. R.ethek-Kether!“
Dorian wurde rasch klar, was für ein Sinn dahintersteckte. Die schein­bar sinnlosen Silben waren alle von Kethers Namen abgeleitet. Damit sollten offenbar magische Kräfte freigesetzt und gegen ihn gerichtet werden.
Der Dämonenkiller versuchte, sich dem Bann der gelben Augen zu ent­ziehen, während er gleichzeitig den Ys-Spiegel hervorholte.
Er hatte ihn schon einmal erfolg­reich gegen die Seferen eingesetzt, ohne daß es zu verheerenden Neben­effekten gekommen war. überhaupt ließ sich der Spiegel in Malkuth von wo er auch stammte - erfolgreicher und risikoloser einsetzen als auf der Erde.
Als Dorian den Spiegel vors Ge­sicht hob, wurden die Stimmen der beiden Seferen schrill und höher. Und dann verstummten sie.
Gleichzeitig erlosch das Glühen ih­rer Augen - und sie schienen langsam kleiner zu werden, regelrecht zu schrumpfen, während sie in Dorians Richtung schwebten. Dorian hielt den Spiegel fest umklammert. Es war für ihn nicht mehr überraschend, daß Se-feren davon magisch angezogen und regelrecht von ihm verschlungen wurden.
Diesmal war jedoch ein Hindernis zwischen ihnen und dem Spiegel, nämlich die Blasenwand. Noch schwebten die Seferen, doch im näch­sten Moment wurde die Kraft des Spiegels voll auf sie wirksam. Sie stürzten darauf zu, nun rasend schnell schrumpfend. Aber statt in den Ys-Spiegel zu stürzen, prallten sie gegen die Blasenwand. Der starke Aufprall brachte die Blase. zum Platzen.
Dorian war darauf gefaßt, als ihm der Boden plötzlich unter den Füßen weggerissen wurde, Er landete sicher auf den Beinen.
Die sechs Menschen wichen vor ihm wie vor einem Gespenst zurück. In ihren verzerrten Gesichtern spie­gelte sich Verständnislosigkeit und Angst.
„Ihr habt von mir nichts zu be­fürchten“, sagte Dorian. „Ich bin ein Mensch wie ihr. Ich will euch helfen.“
Sie schüttelten in ungläubiger Ab­lehnung die Köpfe. Einer von ihnen, ein kleinwüchsiger Japaner, sagte aus dem Hintergrund: „Ohne Ihr Ein­greifen wären wir sicher bald erlöst worden.“
Dorian war erschüttert. Was muß­ten diese Menschen durchgemacht haben, daß ihnen der Tod als Erlö­sung erschien.
Sie waren übel zugerichtet. Einige wiesen so schwere Verletzungen auf, daß vermutlich nur die Magie der Ja­nusköpfe sie auf den Beinen hielt.
„Wir werden versuchen, euch zur Erde zurückzubringen“, sagte Coco hinter Dorian, die gerade zu ihnen ge­stoßen war. „Zuerst müssen wir aber einen sicheren Ort finden, wo wir euch verstecken können.“
Eines der Phänomene von Malleuth war, daß sich hier alle miteinander verständigen konnten. Welche Mut­tersprache sie auch hatten, hier spra­chen sie dieselbe Sprache. Eine Frau — der Kleidung nach vermutlich eine Europäerin — begann schrill zu la­chen.
„Zurück zur Erde, sagt sie!“ rief sie dann mit sich überschlagender Stimme. „Und wo sind wir jetzt?“ Und sie lachte wieder hysterisch. Sie verstummte erst, als der Bodenwie unter konvulsivischen Zuckun­gen erbebte und sie von den Beinen riß. Auch Dorian und Coco wurden zu Boden geschleudert. Coco fiel auf ei­nen der Gefangenen, der sich in pani­scher Angst in ihren Haaren ver­krallte. Als Dorian sich auf alle viere erhob, spürte er, wie sich jemand ver­zweifelt an seine Beine klammerte. Aber schon die nächste Erschütte­rung trennte die beiden voneinander. Dorian schleppte sich zu Coco und be­freite sie von ihrem Peiniger.
Kether wurde von immer heftige­ren Beben heimgesucht. Unweit von ihnen wölbte sich der Boden zuckend in die Höhe und prallte gegen die sich herabsenkende Decke. Einer der Ge­fangenen, der in diese Richtung geflo­hen war, wäre beinahe zwischen den Fleischmassen zerquetscht worden.
Nach einiger Zeit ließen die Beben wieder nach. Aus Richtung des eiför­migen Organismus tauchten zwei Ja­nusköpfe auf. Dorian gab Coco zu verstehen, daß sie sich ruhig verhal­ten solle.
Die beiden Janusköpfe betrachte­ten mit ausdruckslosen Knochenge­sichtern das Häufchen Todgeweihter. Der Linksstehende machte ein Zei­chen in die Luft, der andere sagte:
„Mitkommen!“
Die Gefangenen erhoben sich und folgten den beiden Janusköpfen, die sich einfach umdrehten und davon­gingen. Dorian und Coco schlossen sich ihnen an.
Die Janusköpfe waren sich ihrer Gefangenen so sicher, daß sie sich kein einziges Mal nach ihnen umdreh­ten. Coco sah Dorian fragend an. Der Dämonenkiller reagierte nicht darauf.
Für ihn war es die vordringlichste Aufgabe, Olivaro zu finden und ihn auf die Erde zurückzubringen. Und sie mußten Olivaro finden, bevor die­ser in einen unbekannten und für sie unzugänglichen Bereich der Janus­welt abgeschoben wurde, um dort im Sinne seiner Artgenossen „geheilt“ zu werden.
Im Augenblick versprach sich Dorian jedoch mehr davon, sich unter die Opfer der Janusköpfe zu mischen, als auf eigene Faust etwas zu unter­nehmen. Abgesehen davon, daß er keine Ahnung hatte, wo sich Olivaro aufhielt, schadete es nichts, wenn er Coco und sich eine Atempause ver­schaffte.
Im Schutz der Janusköpfe waren sie vor den Auswirkungen von Kethers Krise auf jeden Fall sicherer. Das erwies sich bald darauf, als es wiederum zu Erschütterungen und krampfartigen Zuckungen des Orga­nismus kam. Da bauten die Janus­köpfe mittels ihrer Magie eine schüt­zende Sphäre um sie auf.
Das rechtfertigte Dorians Entschei­dung nachträglich. Er mußte sich aber fragen, wie lange die Janus­köpfe sich selbst noch schützen konn­ten. Denn Kethers Krise strebte of­fenbar einem Höhepunkt zu. Eine Ka­tastrophe schien unabwendbar.
Die Janusköpfe führten sie in einen Korridor und kamen zu einer Eng­stelle. Dabei handeltes es sich um eine Art Schließmuskel, der sich erst auf eine Beschwörung der Janus­köpfe auftat. Hinter dieser Öffnung lag Finsternis.
Einer der Janusköpfe bedeutete ei­nem Gefangenen mit einer Handbe­wegung, durch die Öffnung zu gehen. Es handelte sich um den kleinen Ja­paner. Er gehorchte widerstandslos, passierte den Muskel, der sich hinter ihm mit einem schmatzenden Ge­räusch wieder schloß.
Der Januskopf mußte den Ring­muskel für jeden Gefangenen extra durch eine Beschwörung öffnen. Trotz dieser Verzögerung verschwan­den sie rasch einer nach dem ande­ren, und dann war die Reihe an Coco.
Der Januskopf befahl ihr durch eine Handbewegung, den anderen zu folgen.
Dorian spannte sich an. Er fragte sich, welche Schrecken die Finsternis für sie barg, und überlegte, ob es nicht besser wäre, gegen die Janus­köpfe vorzugehen, anstatt sich ihrem Befehl zu beugen. Aber während er noch mit sich um eine Entscheidung rang, trat Coco auf die Öffnung zu.

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 15, 2. Spalte, 4. Absatz - Seite 27, 2. Spalte, 3. Absatz

Buzios.

Hubert Keller war von einer un­bändigen Neugier erfaßt worden.
Und die seltsamen Vorgänge in der Knochen-Bay waren schuld daran. Vorgänge, die zunächst gar nicht so außergewöhnlich schienen, die sich jedoch als geheimnisvoll und uner­klärlich erwiesen, wenn man sich ei­nige Gedanken machte.
Und als unheimlich, beängstigend, erschreckend.
Es hatte mit der batacuda bei Mar­cos Freyre begonnen.
Es war ein offenes Geheimnis, daß Marcia da Rochas im vierten Monat war und Lonrival da Silva von Mar­cos gerufen worden war, um die Ab­treibung vorzunehmen.
Eine Stunde nachdem der Geistheiler mit seiner Patientin im Haus verschwunden war, wurde Hubert Keller zufällig Zeuge eines Zwi­schenfalls, der für ihn den Ausschlag gab Nachforschungen anzustellen.
Keller folgte Marcos Freyre, um ihn an die Kreuzfahrt zu erinnern, zu der sie am nächsten Tag aufbrechen wollten. Bevor er ihn jedoch anspre­chen konnte, traf Freyre mit Marcia zusammen.
Sie flüsterten miteinander, und Keller wollte sich schon diskret zurückziehen, als er ein Fauchen vernahm. Und dann sagte Marcia mit einer Stimme, die Keller durch Mark und Bein ging: „Pfoten weg, dreckiger Paulista, oder ich zerfetze dir die Kehle!“
„Aber, Baby, was ist nur?“ sagte Freyre mit schwerer Zunge. „Ich weiß doch, daß Mädchen, denen Lon­rival den Eingriff besorgt hat, sofort wieder okay sind. Der Curandeiro ist ein Wunderheiler. Wir können jetzt sofort...“
Er brach ab und schrie. Sein Schrei vermischte sich mit einem animalischen Fauchen, das von Marcia stam­men mußte. Es hörte sich an, als fän­de ein Kampf statt, Bevor Keller ein­schreiten konnte, wurde es wieder still.
„Rühre mich nicht noch einmal an, du Hund!“ sagte Marcia. „Ich bin zu Höherem bestimmt. Und wer mich beschmutzt, muß dran glauben.“
Ihre trippelnden Schritte entfern­ten sich. Marcos Freyre stürzte stöhnend und mit blutigem Gesicht aus einem Gebüsch. Als er Hubert Keller erblickte, faßte er sich schnell und sagte mit schiefem Grinsen: „Ich bin in die Hecke gefallen, Hugh, so stern­hagelvoll bin ich, daß ich nicht ein­mal mehr auf meinem eigenen Grund und Boden den Weg finde!“
Keller ließ es dabei bewenden. Er ließ sich nicht anmerken, daß er Zeu­ge des Vorfalls gewesen war. Er machte sogar noch einen Scherz und meinte, Marcos könne sich glücklich schätzen, daß er nicht in den Teich mit den Piranhas gefallen sei.
Was veranlaßte die schönen Cario­cas auf einmal, sich ihren Playboys gegenüber so zugeknöpft zu zeigen? Mehr noch - sie mit Mord und Tot­schlag zu bedrohen, wenn sie ver­suchten, sie auch nur anzurühren?
Keller registrierte noch eine Reihe ähnlicher Zwischenfälle. Einer sei­ner Freunde klagte ihm in der Bar do Fernandes, daß er immer schläfrig werde, wenn er zu einer Freundin ins Bett steige - ob sie ihn wohl irgend­wie verhext habe?
Ein anderer Freund klagte über „sporadische“ Impotenz.
„Aber verstehe mich nicht falsch!“ fügte er schnell hinzu, als er Kellers Schmunzeln sah. „Das passiert mir nur bei Maria Rosa. Bei anderen Mädchen geht's. Ich hab's auspro­biert.“
Das stimmte Keller nachdenklich.
Er begann darüber nachzudenken, was in die Mädchen gefahren war. Und er konnte einen Fall aus eigener Erfahrung beisteuern.
Da war die Sache mit Leila. Sie war nicht gerade sein Mädchen. Ihr Verhältnis war ziemlich frei; jeder tat, wozu er gerade Lust hatte. Er hatte sie von Rio mit nach Buzios ge­nommen und sich nach der ersten Nacht von ihr getrennt. Aber sie griff immer wieder auf ihn zurück. Und das war recht bequem für ihn, denn er brauchte nicht über einsame Nächte zu klagen.
Vor einer knappen Stunde war er über die kopfsteingeplasterte Straße spaziert und hatte auf der Terrasse von Pacato Leila entdeckt. Sie war eine Augenweide, und er entschloß sich in diesem Augenblick, sie zu sei­ner ständigen Begleiterin zu machen.
Aber sie bemerkte seine Anwesen­heit überhaupt nicht. Er mußte sie erst auf sich aufmerksam machen, und da bedachte sie ihn mit einem frostigen Blick. Er wollte etwas Pas­sendes erwidern, doch sie kam ihm zuvor.
„Schnauze!“ sagte sie. ,Paß auf, gleich kommt der Oga vorbei.“
Mit „Oga“ meinte sie wohl Longri­val da Silva. Denn, als dieser kaum eine Minute später mit einer Schar seiner Anhänger vorbeikam, hatte sie nur Augen für ihn - und er ent­schädigte sie mit einem langen durchdringenden Blick, bevor er mitseiner Samba-Truppe weiterzog.
„Hugh, es geht zu einer batucada bei Alcione“, rief einer aus Longri­vals Truppe Keller zu. „Können wir mit dir rechnen?“
„Wer weiß“, rief Keller zurück. „Zuerst muß ich mir Leila für diese Nacht sichern.“
Er hatte kaum ausgesprochen, da spürte er einen harten Druck an sei­ner Kehle. Scharfe Nägel bohrten sich in sein Fleisch. Leilas zur Fratze verzerrtes Gesicht schob sich in sein Blickfeld.
„Bevor ich mich von dir Schwein betasten lasse, bringe ich dich um“, sagte sie haßerfüllt. Sie ließ seine Kehle los und ging davon.
Er hörte das Gelächter der anderen nicht, sondern spürte nur das warme Blut an seinem Hals.
Da schlug in seinem Kopf eine Klingel an.
Der Blick, den Leila und Longrival getauscht hatten, hatte eine tiefere Bedeutung gehabt. Da steckte mehr dahinter. War es möglich, daß Long­rival schuld an der Veränderung war, die mit den Mädchen von Buzios vor sich gegangen war?
Keller erinnerten sich daran, daß der Geistheiler Leila vor einigen Ta­gen auf spektakuläre Art und Weise die Mandeln herausoperiert hatte. Und das Mädchen seines „impoten­ten“ Freundes hatte sich vom Curan­deiro den Blinddarm entfernen las­sen. Und er hatte an Marcia die Ab­treibung vorgenommen.
Konnte man da noch von Zufall sprechen, wenn mit all jenen Mäd­chen eine Verwandlung vor sich ge­gangen war, die näheren Kontakt mit Longrival da Silva gehabt hat­ten?
Schwer zu glauben, da es allgemein bekannt war, daß da Silva nicht nur der Geistheiler der Beautiful People von Buzios war, sondern auch der Hohepriester einer von ihm gegründeten Sekte. Es war denkbar, daß er die Mädchen verhext hatte.
In diesem Moment wurde sich Hu­bert Keller bewußt, warum er überhaupt nach Brasilien gekommen war. Er wollte die Geheimkulte und Sekten wie Macumba, Yoruba, San­teria, Xango und Candomble - und wie sie alle hießen - erforschen. Daß er seine Absicht fast vergessen und es ihn ausgerechnet nach Buzios verschlagen hatte, daran waren seine Vorliebe für schöne Mädchen und das süße Leben schuld.
Aber jetzt war sein Forscherdrang aufs Neue geweckt worden.

* * * 

Keller war fest davon überzeugt, daß Lonrival da Silva hinter allem steckte. Wie viele Mädchen hatte er bereits in seinen Bann geschlagen?Er brauchte viel Zeit zum Nach­denken. Sollte die Behörde von sei­nem Verdacht unterrichtet werden? Aber in Buzios gab es keine Polizei­station. Er müßte nach Niteroi fah­ren, oder gleich nach Rio fliegen. Aber was hätte er sagen sollen? Daß die Mädchen von Buzios plötzlich enthaltsam geworden waren und nichts mehr von ihren Verehrern wissen wollten?
Er würde sich lächerlich machen.
Nein, er durfte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Es gab unzählige Sekten in Brasilien. Viele wirkten im Verborgenen und waren dennoch harmlos. Er mußte sich eingestehen, daß das Verhalten der Mädchen bisher noch keinen Grund zu ernsthafter Besorgnis gegeben hatte. Morddrohungen, wie er sie ge­hört hatte, mußten nicht viel bedeu­ten.
Dennoch, sein Interesse war geweckt.
Er war bis zum Einbruch der Dun­kelheit durch Buzios geschlendert. Irgendwann fand er sich in der stil­len Bucht von Farradurinha. Es dämmerte bereits, und auf dem Meer blinkten die Laternen von vier ver­ankerten Jachten. Lärm drang her­über. Dort war man fröhlich und ausgelassen.
Am Strand waren zwischen den Baumriesen Baumhütten errichtet worden. Dort ging es intimer zu. Weiter nördlich, tiefer im Wald, be­fand sich auch eine Hütte. Sie stand an einem Zeremonienplatz und blieb vom Tourismus verschont. Dorthin kamen nur die Ärmeren, um bei Mae Nara Trost und Segen zu empfangen.
Mae Nara war eine energische, vi­tale Frau von hundert Jahren, die den reinen Yoruba-Kult pflegte. Keller hatte sich einige Male mit ihr unterhalten - bevor er sich den welt­lichen Verlockungen von Buzios ergeben hatte. Sie galt als seriös, und auch Keller hatte diesen Eindruck gewonnen.
Einer plötzlichen Eingebung fol­gend wandte er sich in die Richtung, in der ihre Hütte lag. Bald sah er durch die Bäume ein kleines Lager­feuer brennen. Mae Nara hockte al­lein davor.
„Komm nur her, Hugh“, sagte sie, konzentriert ins Feuer starrend. Der flackernde Schein erzeugte harte Schatten in ihrem Gesicht und ließ die unzähligen Runzeln noch stärker hervortreten. „Ich habe dich erwar­tet.“
„Wieso wußtest du, daß ich komme, Mae Nara?“ fragte er verwundert, als er das Lagerfeuer erreicht hatte.
Statt zu antworten, fragte sie: „Hast du das süße Leben endlich satt und willst du dich wichtigeren An­gelegenheiten widmen? Oder bist du nur gekommen, weil du als Liebha­ber verschmäht wurdest?“
„Vielleicht hängt das eine mit demanderen zusammen“, sagte er. „Du weißt also bereits, was mit den Mäd­chen los ist?“
Sie blickte auf.
„Was ist mit ihnen los?“
Keller erzählte ihr von seinen Beobachtungen und von seinem Ver­dacht. Die Mae Nara paffte dabei ei­ne dicke Charuto.
„Du mußt von einem bösen Geist besessen sein, wenn du Lonrival da Silva dämonischer Praktiken be­zichtigst. Er ist ein angesehener Cu­randeiro und ein mächtiger Oga. Aber er würde seine Fähigkeiten nie im Dienste der Mächte der Finsternis gebrauchen.“
Keller zuckte die Achseln.
„Vielleicht bin ich besessen. Wenn es so ist, dann mußt du mir helfen. Im anderen Fall möchte ich, daß du her­ausfindest, was wirklich dahinter­steckt.“
„Macht tausend Druzeiros.“ Die Mae Nara warf die Zigarre ins Feuer und erhob sich. „Komm in den Ron­ko, Hugh.“
Er holte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche, zählte 1500 Cruzeiros ab und gab sie ihr. Fünfhundert reichte sie mit den Worten zurück: „Wenn ich Erfolg habe, dann auch für den Einheitspreis.“
Der Ronko, die Einweihungszelle, war eng und hatte außer einer niedrigen Tür, die Keller nur gebückt passieren konnte, keine Öffnung. An einer Wand hing ein frisches Leinen­tuch. Daneben hingen das Bildnis von Mae Naras persönlichem Hei­ligen, ein Weihrauchkessel, eine Rute und die unvermeidliche Rassel - eine schöne Adja aus reinstem Silber.
In der Mitte des Raumes stand ein Schemel, auf den Keller sich setzen mußte. Sie legte ihm das weiße Lei­nen um und fragte: „Hast du getrun­ken?“
„Nicht übermäßig.“
Die Mae Nara begann, ihn zu um­tänzeln und wiegte dabei ihren Körper in einem seltsamen Rhythmus. Trotz ihrer hundert Jahre war sie noch sehr gelenkig. Wenn man ihr nicht ins Gesicht sah, merkte man ihr ihr Alter nicht an.
Jetzt schüttelte sie die Adja. In der anderen Hand schwang sie den Weihrauchkessel. Sie, besprengte Kel­ler. Der süßliche Duft stieg ihm in die Nase und umnebelte seine Sinne.
„Verschmähte Liebe“, sagte die Alte mit verhaltener Stimme, wäh­rend sie ihn weiterhin umkreiste und gelegentlich mit dem Fuß auf den Boden stampfte. „Verschmähte Lie­be macht kopflos. Welcher Dämon ist in dir?“
„In mir ist kein Dämon“, sagte Kel­ler schwach.
Die Mae Nara begann, lauter zu rasseln. Ihr Tanz wurde schneller. Der schwere Duft des Weihrauchs erschwerte das Atmen. Keller be­gann zu keuchen.
„Zeige dich, Dämon!“
Die Alte warf sich zu Boden und warf im Fallen einen Satz von Kaurimuscheln gegen die Wand. Keller schrie auf, als die Muscheln auf dem Boden landeten. Um ihm begann sich alles zu drehen.
„Ah!“ Die Mae Nara stöhnte auf. „Der böse Dämon kommt von außerhalb. Er ist deinem Körper fern - und dir dennoch nah. Uns allen... Er bedroht uns alle!“
Keller spürte plötzlich den unstill­baren Drang, seinen Platz zu verlas­sen und die Bewegungen der Alten nachzuahmen. Aber irgendetwas zwang ihn auf den Hocker. Er begann, am ganzen Körper zu zittern.
Die Mae Nara tänzelte aus der Zel­le. Ihre beschwörende Stimme und das Rasseln ihrer Adja entfernten sich. Sie umwanderte die Hütte und entfernte sich in Form einer Spirale.
Plötzlich ertönte ein langgezoge­ner Schrei. Keller fuhr vom Hocker auf und sprang durch die Zellentür ins Freie. Links sah er die Silhouette einer weiblichen Gestalt im Busch verschwinden. Blätterrascheln, dann Stille.
Keller wollte die Verfolgung auf­nehmen. Als er den Rand der Lich­tung erreichte, stolperte er über et­was Weiches. Er bückte sich. Da lag die Mae Nara. Sie war tot. Um ihren Hals spannte sich eine Raffia-­Schnur und schnitt ihr tief ins Fleisch. Ihr Hals war an dieser Stelle so dünn wie ein Kinderhandgelenk.
Keller nahm die Verfolgung des flüchtenden Mädchens auf. Er sah ihre Gestalt, die sich vor dem helle­ren Himmel abhob. Doch in der Nähe der Baumhütten verlor er ihre Spur.

* * * 

Keller brauchte unbedingt einen Drink, um über den Schock hinwegzukommen. Da er schon hier war, konnte er gleich nach seinem Freund Tonio Lessa sehen, der sich mit seiner Freundin in einer der Baumhüt­ten eingemietet hatte.
In der Hütte brannte Licht, und Stimmen drangen heraus.
„Wo warst du, Lisa?“ fragte eine Männerstimme, die Tonio gehörte. „Du bist ja ganz außer Atem.“
„Ich bin zu Riberas Jacht hinaus­geschwommen und habe ein wenig das Tanzbein geschwungen.“
„Ohne Kleider?“
„Was soll die Anspielung?“
„Nun, deine Kleider sind trocken. Du müßtest sie abgelegt haben.“
„Eifersüchtig?“
Keller erreichte die Veranda und sah, daß Tonio lachend nach Lisa griff. Er lag in einer Hängematte, und sie stand hinter ihm.
Tonio sagte: „Ich bin nur sauer, wenn du anderen gibst, was du mir vorenthältst...“
Seine Hand hatte fast ihre Brust erreicht, als sie plötzlich nach vorn sprang und mit schier übermensch­licher Kraft die Hängematte einige Male herumdrehte, bis Tonio in dem Netz gefangen war. Lisas Gesicht war verzerrt.
„He, laß mich raus!“ rief Tonio, noch immer lachend.
Lisa aber dachte nicht daran. Kel­ler, der nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, sah, daß sie an ei­nem Oberarm zwei Raffia-Schnüre und am anderen Oberarm eine wei­tere Schnur trug. Eine davon holte sie schnell herunter. Sie machte An­stalten, sie über das Netz der Hänge­matte zu legen.
Da schaltete sich Keller ein.
„Nettes Familienspiel“, sagte er.
Lisa schreckte hoch.
„Verschwinde, du Hurensohn!“ fauchte sie.
Kellers Augen verengten sich.
„Drei ist eine ungerade Zahl“, sagte er gedehnt. „Hast du etwa eine deiner Raffia-Schnüre verloren?“
Ihre Reaktion kam so überra­schend, daß er nicht reagieren konn­te. Sie formte die Hände zu Krallen und schlug mit den Nägeln nach sei­nem Gesicht. Er spürte, wie sie sich in seine Wange gruben und eine hei­ße Wunde rissen. Er hob schützend die Arme vor das Gesicht und ver­suchte, sie zu packen. Aber da ließ sie von ihm ab und lief davon.
Keller war Tonio dabei behilflich, sich aus dem Netz der Hängematte zu befreien.
„Weiber!“ sagte Tonio abfällig. „Soll einer sie verstehen. Einen Drink?“
Keller nickte. Während Tonio ei­nen Rum-Cocktail mixte, fragte er: „Hast du in letzter Zeit Lisa mit Lon­rival da Silva zusammen gesehen?“
„He!“ Tonio kam mit zwei Gläsern und gab eines davon Keller. „Du willst doch nicht andeuten, daß sie die Geliebte des Wunderheilers sein könnte. Mach dich nicht lächerlich.“
„Das wäre mir egal“, sagte Keller und nahm einen Schluck. „Aber da Silva ist auch der Oga einer von ihm gegründeten Sekte. Vielleicht ist Lisa ihr beigetreten. Das könnte ihr seltsames Verhalten erklären. Wann warst du mit ihr zum letztenmal in­tim?“
„Was geht dich das an?“
„Sei nicht so prüde.“
„Nun - seit einer Woche ist mit ihr nichts mehr anzufangen. Glaubst du, daß sie durch den Beitritt in eine Sekte auf einmal keusch geworden ist? Absurd - eine so heiße Katze wie Lisa! Ich tippe eher darauf, daß sie bei einem anderen auf ihre Rech­nung kommt. Sie war in den letzten Nächten kaum hier, hat sich irgend­wo herumgetrieben...“
„Bist du ihr nie nachgegangen?“
Tonio schleuderte das Glas von sich.
„Zum Teufel mit ihr! In Buzios gibt es Mädchen genug. Was ist? Sehen wir bei Alcione vorbei? Dort ist heu­te nacht etwas los. Vielleicht kommt Lisa auch hin.“
„Laß besser die Finger von ihr“, rief Keller. „Und versprich mir eines - laß dir von ihr keine Raffia-Schnur um den Hals legen.“
„Hast du keine anderen Ratschläge für mich?“
„Das ist kein Spaß, Tonio.“
„Es hört sich aber blöde an.“
„Trotzdem solltest du meinen Rat befolgen, wenn dir dein Leben lieb ist. Wenn Lisa versucht, dir eine Raf­fia-Schnur umzulegen, dann laß es nicht zu.“
Tonio sah den Freund von der Seite her prüfend an. Er wollte ihm schon sagen, daß er übergeschnappt sei. Doch dann sagte er sich, daß Hubert einfach zuviel getrunken hatte.
„Auf zu Alcione.“

* * * 

Sie mußten mit Tonios Hochsee­jacht um eine Landzunge mit dem Strand Dos Ossos herumfahren, um Alcione Monteiros Privatstrand zu erreichen. Schon von weitem waren die meterhohen Lagerfeuer zu er­kennen. Als sie zur Anlegestelle fuh­ren, schaltete Tonio den Bugschein­werfer ein, um den Badenden aus­weichen zu können.
Vom Haus her kamen Sambaklänge.
Tonio und Keller waren kaum auf dem Steg, als sie von einer Schar angeheiterter Mädchen umringt wur­den. Keller schmunzelte. Das war wie in guten alten Zeiten - und er hatte geglaubt, daß bereits alle Mäd­chen von Buzios besessen seien.
Seine gute Laune erstarb aber schnell, als er Marcia, Lisa und Leila erblickte. Mit einigen anderen Mäd­chen standen sie abseits, als ginge sie das Treiben nichts an. Sie steckten verschwörerisch die Köpfe zusam­men.
„Vorsicht, Tonio“, raunte Keller dem Freund zu. „Da ist Lisa. Vergiß nicht meinen Rat.“
„Hallo!“ rief Tonio. Nur Lisa schenkte ihm ein Lächeln. Es schien, als wolle sie zu ihm eilen. Doch dann zögerte sie.
„Ich vermisse da Silva“, sagte Kel­ler zu einem Bekannten. „Ich dachte, daß er die batucada anführt. Ein Happening ohne ihn ist doch wie eine Frau ohne Unterleib.“
„Er wird schon noch seinen Auf­tritt haben“, antwortete jemand. „Im Augenblick operiert er die Frau des Hauses. Alexandra klagte über Unterleibsschmerzen...“
Keller war wie elektrisiert, als er das hörte. Das war eine Gelegenheit, um Longrival auf die Finger zu se­hen und herauszufinden, was er tat­sächlich mit den Mädchen anstellte.
„Entschuldige mich“, sagte er zu Tonio. „Und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.“
„Mann, kannst du einen löchern!“
Keller eilte davon. Auf seinem Weg bemerkte er, daß überraschend viele Mädchen Raffia-Schnüre an den Ar­men oder um den Hals trugen. Viel­leicht war das nur eine neue Modetorheit - aber Keller hatte die Raf­fia-Schnur um den Hals der Mae Nara gesehen...
Er erreichte die Rückseite des Hauses. In einem Gebüsch ertönte Rascheln und Gestöhne. Schnell ging er durch den Hintereingang.
Im Haus herrschte angenehme Stille. Es schien geräumt worden zu sein, damit der Curandeiro bei seiner Arbeit Ruhe hatte.
In welchem Raum nahm er die Operation vor? Keller wußte aus Erzählungen, daß er dafür die Schlaf­räume seiner Patienten bevorzugte. Und die Schlafräume in Alciones Haus lagen im Obergeschoß.
Keller schlich geräuschlos die Treppe hinauf. Er erreichte die obere Etage und lauschte an der ersten Tür. Nichts regte sich dahinter. Erst hinter der vierten Tür waren Geräu­sche zu hören.
Eine Stimme murmelte beschwö­rende Worte, die keinen Sinn erga­ben. Es hörte sich an wie „Ethere - Erehte... Zwischendurch klirrte und klimperte es.
Keller lief zur angrenzenden Tür. Er kam in ein Schlafzimmer, das eine männliche Note hatte. Es mußte das von Alcione sein. Gab es eine Verbindungstür zum Schlafgemach seiner Frau?
Da war eine Tür. Keller öffnete sie langsam. Er trat in ein Bad, das eine zweite Tür hatte. Hier waren die Ge­räusche deutlicher zu vernehmen. Und es gab ein Oberlicht.
Keller begann, vor Aufregung zu zittern, als er auf den Rand der Badewanne stieg. Von dort konnte er in den Raum blicken, in den sich der Curandeiro mit seinen drei Assistentinnen und der Patientin zurückge­zogen hatte.
Keller stockte der Atem.
Alexandra Monteiro lag nackt und wie gekreuzigt auf dem Bett, das mit einem weißen Leinentuch bespannt war. Es war blutgetränkt, und auf dem Fußboden lag ein verstümmelter gerupfter Hahn. Alexandra war an Armen und Beinen mit Raffia-­Schnüren an das Bettgestell gebun­den.
Lonrival leerte gerade eine Whis­kyflasche, warf sie achtlos von sich. Sie rollte unter eine leere Kommode. Er ergriff zwei rostige Macheten und hielt sie über Alexandras Körper. Dann rief er: „Kether! Kether! Ket­her!“
Und Alexandra wiederholte die Worte wie in Trance. Lonrival ließ die Macheten auf ihren Körper sin­ken. Wollte er sie damit zerstückeln?
Plötzlich ließ der Curandeiro die Macheten wirbeln. Keller schwin­delte, als er den rasenden Bewegun­gen der Klingen folgen wollte. Sie fuhren in den Leib der Frau - kreuz und quer - und hinterließen blutige Wunden.
Keller war starr vor Entsetzen. Er war unfähig einzuschreiten. Alexan­dra war so tief in Trance, daß sie nicht zu spüren schien, daß die rasiermesserscharfen Klingen in ihren Leib einschlugen.
Als Lonrival endlich seine blutige Prozedur beendet hatte, erkannte Keller, daß er Buchstaben in den Leib der Frau geschnitten hatte.
Es waren sechsunddreißig an der Zahl. Sie waren in sechs Zeilen zu je sechs Buchstaben angeordnet und bildeten ein Quadrat.
In der obersten Reihe stand das Wort KETHER, darunter ETHERE. Das Wort in der sechsten Zeile war eine Umkehrung von KETHER - also REHTEK.
Keller stellte noch etwas anderes fest. Die Buchstaben der ersten Rei­he nach unten gelesen, ergaben ebenfalls das Wort KETHER - und die letzte Reihe von oben nach unten gelesen war wie in der Waagrechten die Umkehrung: REHTEK.
Überhaupt konnte man die Buch­staben in diesem Quadrat von allen Seiten und von unten nach oben ebenso wie von hinten nach vorn le­sen. Immer ergab sich dieselbe Wortkombination.

RETHEK - ETHERE - THEREH - HEREHT - EREHTE - REHTEK.

Was für eine geheimnisvolle Be­deutung hatte dieses Buchstaben­quadrat? Eine magische? Brachte Lonrival damit die Frauen in seine Gewalt?
Aber es mußten doch auffällige Narben zurückbleiben, die die derart behandelten Frauen zu Gezeich­neten machten!
Keller wurde sofort eines Besseren belehrt.
Der Curandeiro ließ seine ge­spreizten Hände über das blutende Buchstabenquadrat kreisen. Und dann massierte er Alexandras Bauchdecke. Das Blut versickerte und schließlich verblaßten auch die Narbenbuchstaben, bis Alexandras Bauch wieder makellos wie zuvor war.
Keller wollte sich zurückziehen. Da verlor er den Halt und stürzte in die Badewanne. Im Fallen riß er noch ein Regal mit. Das verursachte gro­ßen Lärm.
„Da ist jemand!“ rief Lonrival er­regt. Gleich darauf näherte sich der Badezimmertür das Rasseln seiner Adja.
Keller raffte sich auf. Er war geistesgegenwärtig genug, die Badezimmertür abzusperren, bevor er sich in Alciones Schlafzimmer zurückzog.
Doch als er sich der Tür zuwenden wollte, ertönten vom Gang Schritte und Gitarrenklänge im Samba-Rhythmus.
Keller blieb nur noch das Fenster als Fluchtweg. Er blickte hinunter. Keine zwei Meter von der Hauswand entfernt befand sich eine Strauch­gruppe. Ohne zu zögern, sprang er hinunter und robbte durch das Ge­strüpp außer Sichtweite.
Als er durch die Blätter zurück zum Fenster blickte, sah er dort Lon­rival auftauchen. Er bildete sich ein, daß sein stechender Blick auf ihn ge­richtet war. Doch der Curandeiro konnte ihn unmöglich sehen.
Keller wartete, bis der andere wie­der vom Fenster verschwunden war. Dann kroch er aus dem Gebüsch.

* * * 

 „Auch vom Weg abgekommen?“ fragte eine alkoholschwere Stimme, als Keller auf die Beine kam. Er er­kannte Marcos Freyre, der mit der Hand, in der er ein Glas hielt, auf sein Gesicht deutete.
„Mir scheint, wir sind von der glei­chen Art von Hecke gekratzt worden, Hugh.“
Keller fuhr sich über das Gesicht, in dem Lisas Fingernägel ihre Spu­ren hinterlassen hatten. Es brannte ein wenig. Er ging nicht näher auf Marcos Anspielung ein, sondern fragte: „Hast du Tonio gesehen?“
„Klar.“ Marcos deutete hinter sich. „Bin ihm irgendwo am Strand begegnet. Scheint auf einen flotten Dreier aus zu sein... Hatte Lisa und noch ein Mädchen bei sich.“
„Dieser verdammte Narr!“ entfuhr es Keller. Wenn er ein Unglück verhindern wollte, mußte er Tonio un­bedingt finden.
Aber inzwischen kannte er die Ge­fährlichkeit der Kether-Mädchen, wie er sie instinktiv nannte. Er wuß­te, daß er gegen zwei von ihnen keine Chancen hatte. Er war auch alles andere als ein Kraftprotz...
Da fiel ihm ein, daß Marcos immer eine Waffe in einer Halfter unter der rechten Achsel mit sich trug. Er war Linkshänder.
„Du entschuldigst schon, Marcos“, sagte er und griff dem Verblüfften unter den Blazer. Er bekam einen Griff zu fassen, der sich kühl anfühl­te, und zog die Waffe heraus. Es han­delte sich um einen handlichen Trommelrevolver mit kurzem Lauf.
„Danke, Marcos. Du bekommst dein Baby wieder unversehrt zurück“, sagte er und wandte sich ab.
„Sei nicht blöd! Laß dich nicht auf ein Russisches Roulette ein!“ rief Marcos Freyre ihm nach.
Wenn er wüßte! dachte Keller. Worauf ich mich einlasse, ist gefähr­licher als jedes Russische Roulette.
Er hastete zum Strand hinunter und erkundigte sich bei allen, denen er begegnete, nach Tonio. Die mei­sten hatten keine Ahnung, wohin er sich zurückgezogen hatte. Manche wiederum wußten nicht einmal, wen er meinte.
„Tonio?“ fragte eine überalterte Schöne und blickte dabei ihren Be­gleiter nachdenklich an. „Ist er nicht da hinunter? Ja, jetzt bin ich sicher. Ich habe ihn in die Richtung gehen gesehen, in die auch Marcia ver­schwunden ist.“
„Marcia? Und wer noch?“ fragte Keller alarmiert. Er stellte fest, daß die Frau keine Raffia-Schnüre trug.
„Was weiß ich? Ich kümmere mich nicht um alles...“
Keller eilte weiter. Am Strand war nicht mehr viel los. In einem morschen Fischerboot schmuste ein Liebespaar. Keller leistete sich ei­nen zweiten Blick und stellte fest, daß auch dieses Mädchen kein Raffia-Schnüre trug.
Überhaupt trug keines der noch anwesenden Mädchen diese Art von Schmuck. Jene, die sich mit Raffia­-Schnüren schmückten, waren alle wie vom Erdboden verschwunden...
Keller erreichte eine Stelle, wo die Pflanzen bis ans Meer wuchsen. Das Wasser war an dieser Stelle zu tief, als daß er es hätte durchwaten kön­nen. Er glaubte schon, umkehren zu müssen, als er ein Geräusch hörte.
Er untersuchte das Dickicht ge­nauer und entdeckte einen Pfad, der fast zugewachsen war. Er drang ein Stück auf diesem Pfad vor und stell­te fest, daß er sich nach einigen Me­tern verbreiterte. An den frisch ab­gehauenen Ästen der Sträucher er­kannte er, daß der Pfad erst wenige Tage alt war.
Hatte ihn Lonrival eigens für seine Mädchen geschlagen? Und wohin führte er?
Keller hörte vor sich helles Mäd­chenlachen. Dann erklang eine tiefe­re Stimme, die Tonio gehören konn­te.
„Tonio“, rief Keller aus Leibes­kräften. Er lauschte.
Wieder ertönte das silberhelle La­chen eines Mädchens. Zweige knack­ten.
„Kümmere dich nicht um ihn, To­nio... Er ist nur neidisch.“
War das Lisa, die das gesprochen hatte?
„Kommt, Mädchen, kommt. Ich will euch mal zeigen, wozu ein richti­ger Mann imstande ist...“
Keller hielt die Hände wie einen Trichter an den Mund und rief wie­der einige Male hintereinander To­nios Namen. Aber er bekam keine Antwort. Er lief weiter. Endlich schimmerte Mondlicht durch die Äste. Der Wald lichtete sich.
Vor ihm öffnete sich eine halb­mondförmige Bucht, mit einem brei­ten, fast weißen Sandstrand. Keller sah drei Gestalten, zwei Mädchen und einen Mann. Sie hielten einan­der an den Händen und drehten sich. Jetzt umarmte der Mann eines der Mädchen, während das andere sich hinter ihn stellte. Keller sah, daß sie eine Raffia-Schnur von ihrem Arm löste und sie dem Mann blitzschnell von hinten über den Kopf legte.
Der Mann taumelte mit einem kehligen Schrei zurück. Der Schrei erstickte. Über seine Lippen kam nur noch ein Röcheln. Der Mann ging in die Knie und versuchte, die Schnur, die sich um seinen Hals gelegt hatte und sich immer fester zog, zu lösen. Aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Schließlich fiel er nach hinten in den Sand. Seine Glieder zuckten noch.
Der Mondschein fiel auf Tonios entstelltes Gesicht.
Keller hielt die Waffe umkrampft. Er hatte Tonio nicht mehr retten können. Sollte er ihn nun - ungeach­tet der Folgen, die diese Tat haben konnte - wenigstens rächen?
Die Mädchen hatten Tonios Todes­kampf ungerührt beobachtet. Keller erkannte Lisa. Sie war es auch, die Tonio nun an den Beinen ergriff und zum Waldrand zog.
Das andere Mädchen blickte aufs Meer hinaus.
Keller zielte und legte den Finger an den Abzug. Als er den Widerstand des Druckpunkts spürte, sah er aus dem Augenwinkeln eine Bewegung.
Rechts von ihm trat ein weiteres Mädchen aus dem Wald und schritt leichtfüßig über den Strand. Ihr folgten weitere. Schließlich waren es zwanzig Mädchen, die den Strand bevölkerten. Sie wandten sich der Stelle zu, wo Lisa Tonios Leiche hin­gelegt hatte.
Einige der Mädchen hatte Keller bei Alcione gesehen. Andere kannte er von früher. Es war kaum ein un­bekanntes Gesicht darunter.
Und da erschien auch Alexandra Monteiro, Alciones Frau. Keller traute seinen Augen nicht. Sie be­wegte sich katzengleich, als sei über­haupt nichts geschehen. Dabei hatte er selbst gesehen, wie Lonrival vor einer knappen Stunde ihren Leib mit Macheten bearbeitet hatte.
Keller senkte die Waffe und beob­achtete gespannt das Treiben der Mädchen. Sie wechselten kein Wort miteinander. Dennoch schien jede zu wissen, was sie zu tun hatte.
Sechs von ihnen knieten um den Leichnam. Sie schaufelten mit blo­ßen Händen den Sand unter ihm fort und häuften ihn zu einem Wall.
Die anderen hatten begonnen, sich in einem wie einstudiert wirkenden Tanz zu wiegen. Obwohl es totenstill war, glaubte Keller fast, die Melodie zu hören, nach der sie sich bewegten.
Die Mädchen, die im Kreis um To­nios Leichnam hockten, hatten inzwischen eine Grube ausgehoben, die dreißig Zentimeter tief war. Jetzt schütteten sie den aufgehäuften Sand auf Tonio.
Die Tänzerinnen machten weiter­hin ihre eigenwilligen Schritte, neig­ten sich zueinander, wandten sich ab und senkten ihre Köpfe. Keller hatte den Eindruck, als wollten sie diese Bucht einweihen. Ja, das schien den Nagel auf den Kopf zu treffen: Sie hatten diese entlegene Bucht zu ihrer Kultstätte auserkoren.
Ihr erstes Opfer hatten sie bereits dargebracht - würden weitere fol­gen?
Keller erstarrte, als plötzlich ein Luftzug gegen sein Ohr strich und sich dann etwas sanft auf seine Schulter legte.
„Hugh“, flüsterte eine vertraute Stimme, „willst du dich nicht an dem Ritual beteiligen?“
Er wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Er wußte auch so, wer so unvermittelt auf seiner Seite aufge­taucht war.
Er mußte schlucken, bevor er her­vorbrachte: „Leila... Was hat das zu bedeuten?“
Sie fuhr ihm sanft durch das Haar.
„Wenn du es wissen willst, dann komm mit mir. Meine Freundinnen werden dir zeigen, was vor sich geht.“
„Nein!“ entfuhr es ihm erschroc­ken. Er hielt den Revolver so, daß sie ihn nicht sehen konnte. Mit dem Daumen fuhr er über den Sicherungsflügel. So vergewisserte er sich, daß die Waffe schußbereit war. Er hoffte aber, daß er sie nicht gebrau­chen mußte.
„Was ist los mit dir, Hugh?“ fragte sie einschmeichelnd. „Bist du mir noch wegen meines Verhaltens im Pacato böse? Sei doch nicht albern, Darling... Wenn ich dich meine Krallen Spüren ließ, so doch nur als Beweis meiner Liebe. Du weißt, wie heißblütig ich sein kann...“
Sie wollte seinen Kopf herumdre­hen, doch er stieß sie angewidert von sich.
„Du Biest!“ fauchte er. „Ich weiß, daß du dich nur verstellst. Ich weiß über alles Bescheid. Ich habe selbst mit angesehen, was Lonrival mit Ale­xandra angestellt hat.“
Er brachte den Revolver in An­schlag. Leilas Augen weiteten sich, als sie die Waffe sah.
„Hugh, was redest du da zusam­men?“ fragte sie scheinheilig. Sie lachte gekünstelt. „Was ihr Männer euch gleich denkt, wenn wir Mäd­chen ein bißchen Spaß machen. Ehr­lich, wir wollten nichts anderes, als euch ein bißchen schwitzen lassen.“
„So wie Tonio, nicht wahr?“ sagte Keller kalt. „Den armen Teufel habt ihr ausschwitzen lassen.“
Plötzlich veränderte sich Leilas Gesichtsausdruck.
„Du hast es mit angesehen, wie er geopfert wurde?“ fragte sie und schüttelte bedauernd den Kopf. „Dann, mein lieber Hugh, trennen sich unsere Wege. Nimm zum Ab­schied wenigstens dies. Es soll dich bis zu deinem Tod an mich erin­nern...“
Während sie sprach, wickelte sie von ihrem Arm eine der Raffia­-Schnüre ab. Keller merkte es.
„Halt! Laß das, Leila!“ schrie er und hob den Revolver.
Aber sie achtete nicht darauf. Sie zog die ringförmige Raffia-Schnur über die Hand und warf sie ihm spie­lerisch zu. Er duckte sich. Gleichzei­tig löste sich wie von selbst ein Schuß aus seiner Waffe.
Er wurde von der Detonation fast betäubt. Mit schreckgeweiteten Au­gen sah er, wie sie durch die Wucht des Geschosses gegen einen Baum geschleudert wurde. Ihr Mund stand weit offen - aber er hörte ihren Schrei nicht.
Als er zum Strand blickte, stellte er fest, daß die Mädchen in ihrer Tätigkeit innehielten und sich nun lang­sam auf ihn zu bewegten.
„Tut mir leid, Leila, aber...“ sagte er.
Jetzt erst hörte er wieder. Sie schrie immer noch. Ihr Mund schnappte, als sei sie ein Fisch auf dem Trockenen. Blut rieselte aus ih­rem Mundwinkel. Ihr Kleid verfärb­te sich unterhalb der rechten Brust blutrot.
„Oga! Oga! Oga!“ rief sie mit krächzender, immer schwächer wer­dender Stimme. „Oga, zu Hilfe! Hugh Keller, der Bastard, hat uns beobach­tet...“
Sie versuchte, eine zweite Raffia­-Schnur von ihrem Arm zu lösen, aber sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Ihr Blick wurde glasig, und der Kopf rollte zur Seite. Ihr Körper glitt kraftlos am Baum hinunter.
Vom Strand her ertönte ein viel­stimmiger Aufschrei. Die Mädchen liefen nun schneller. Zwanzig ent­fesselte Furien, die ihn in Stücke rei­ßen würden, wenn sie ihn erwisch­ten.
Er wandte sich zur Flucht. Aber da erklang aus der Richtung, aus der er gekommen war, klirrendes Gitar­renspiel und das Rasseln von Lonri­vals Adja.
„Kether! Kether! Kether!“ rief der Herr über die Kether-Mädchen.
Keller blickte sich gehetzt um. Er hatte nur noch zwei Möglichkeiten. Entweder er versuchte, zum Meer zu kommen und sich schwimmend zu retten - was ein ziemlich aussichts­loses Unterfangen war. Oder er schlug sich durch den Wald.
Er entschloß sich für den zweiten Weg.
Aber selbst wenn es ihm gelang, sich bis nach Buzios durchzuschla­gen, rechnete er sich keine großen Überlebenschancen aus.
Denn die Kether-Mädchen wuß­ten, daß er ihr Geheimnis kannte, und sie würden ihn jagen, bis sie ihn zur Strecke gebracht hatten.
Sein Leben war nun nicht mehr viel wert, und auch sein Wissen half ihm nichts mehr. Wer würde ihm schon glauben? Man würde ihn belä­cheln, wenn er behauptete, daß die Mädchen mit den Engelsgesichtern bestialische Mörderinnen waren. Bei einer Konfrontation würden sie mit Unschuldsmienen alles bestreiten - und ihn dann kaltlächelnd töten.
Er hörte ihre animalischen Schreie. Lonrivals seltsamer Gesang und die aufpeitschenden Samba-Rhythmen trieben sie voran.
Keller verschärfte das Tempo. Er holte das letzte aus seinem Körper heraus, um seinen gnadenlosen Ver­folgern nicht in die Hände zu fallen.



Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 17, 2. Spalte, 2. Absatz - Seite 30, 1. Spalte, 3. Absatz 
  

Buzios.

Hubert Keller war von einer unbän­digen Neugierde erfaßt worden.
Und die seltsamen Vorgänge in der Knochen-Bay waren schuld daran. Vorgänge, die zunächst gar nicht so außergewöhnlich erschienen, die sich jedoch als geheimnisvoll und uner­klärlich erwiesen, wenn man sich ei­nige Gedanken machte.
Und sie stellten sich als unheimlich beängstigend und erschreckend her­aus.
Es hatte mit der batacuda bei Marcos Freyre begonnen.
Es war ein offenes Geheimnis, daß Freyre mit Marcia da Rochas gebro­chen hatte. Und alle wußten, daß Freyre zu dem Geist.heiler Lonrival de Silva gute Kontakte pflegte. Weni­ger bekannt war jedoch, welcherart diese Kontakte waren. Hubert Keller hatte es jedenfalls noch nicht heraus­gefunden. Es hieß jedoch, daß der Geistheiler über magische Kräfte verfügte und damit gelegentlich mal Mädchen für Marcos gefügig ge­macht hatte,
Eine Stunde nachdem der Geisthei-ler mit Marcia im Haus verschwun­den war, wurde Hubert Keller zufäl­lig Zeuge eines Zwischenfalls, der für ihn den Ausschlag gab, Nachforschungen anzustellen.
Keller folgte Marcos Freyre, um ihn an die Kreuzfahrt zu erinnern, zu der sie am nächsten Tag aufbrechenwollten. Bevor er ihn jedoch anspre­chen konnte, traf Freyre mit Marcia zusammen.
Da sie sich miteinander flüsternd unterhielten, wollte sich Keller schon diskret zurückziehen. Doch da ver­nahm er auf einmal ein Fauchen wie von einer Wildkatze. Und dann sagte Marcia mit einer Stimme, die Keller durch Mark und Bein ging: „Pfoten weg, dreckiger Paulista, oder ich zer­fetze dir die Kehle!“
„Aber, Baby, was ist nur?“ sagte Freyre mit schwerer Zunge. „Hab dich nicht so.
Er Er brach mitten im Satz ab und schrie. Sein Schrei vermischte sich mit Marcias animalischem Fauchen. Es hörte sich an, als finde ein Kampf statt. Noch ehe Keller einschreiten konnte, wurde es wieder still. Er lä­chelte sogar, denn er gönnte Freyre eine kleine Abreibung.
„Rühre mich nicht noch einmal an“, sagte Marcia drohend. „Ich bin zu Hö­herem bestimmt. Und wer mich be­schmutzt, muß dran glauben!“
Ihre trippelnden Schritte entfern­ten sich. Marcos Freyre kam stöh­nend aus. dem Gebüsch gestürzt. Kel­ler sah, daß sein Gesicht zerkratzt war. Als Freyre Keller sah, faßte er sich schnell und sagte mit schiefem Grinsen:
„Ich bin in die Hecke gefallen, Hugh. So sternhagelvoll bin ich, daß ich nicht einmal mehr auf meinem ei­genen Grund und Boden den Weg finde.“
Keller ließ es dabei bewenden. Er ließ sich nicht anmerken, daß er Zeuge des Vorfalls geworden war, dem Freyre die Kratzer im Gesicht verdankte. Er machte sogar noch ei­nen Scherz und meinte, Marcos könne sich glücklich schätzen, daß er nicht in den Teich mit den Piranhas gefallen sei.
Aber bei sich stellte sich Keller ei­nige Fragen. Was veranlaßte die schö­nen Cariocas plötzlich, sich ihren Playboys gegenüber so zugeknöpft zu zeigen? Mehr noch — sie mit Mord und Totschlag zu bedrohen, wenn sie versuchten, sie auch nur anzurühren?
Keller registrierte noch eine Reihe ähnlicher Zwischenfälle. Einer seiner Freunde klagte ihm in der Bar do Fernandes, daß er immer schläfrig werde, wenn er zu seiner Freundin ins Bett steige — ob sie ihn wohl ver­hext hatte?
Ein anderer Freund klagte über „sporadische“ Impotenz.
„Aber verstehe mich nicht falsch“, fügte er schnell hinzu. „Das passiert mir nur bei Maria. Bei anderen Mäd­chen habe ich solche Schwierigkeiten nicht.“
Das stimmte Keller nachdenklich.
Er begann sich zu überlegen, was in die Mädchen gefahren sein könnte. Und er konnte einen Fall aus eigener Erfahrung beisteuern.
Da war die Sache mit Leila. Sie war nicht gerade sein Mädchen. Ihr Ver­hältnis war ziemlich lose; jeder konnte tun und lassen, wozu er ge­rade Lust hatte. Keller hatte sie von Rio mit nach Buzios genommen und sich nach der ersten Nacht wieder von ihr getrennt. Aber sie kam immer wieder gern auf ihn zurück. Und das war recht bequem für ihn, denn er brauchte nicht über einsame Nächte zu klagen.
Aber damit war es nun offenbar vorbei. Als Keller über die kopfstein-gepflasterte Straße spazierte, ent­deckte er auf der Terrasse von Pa-cato Leila. Das Mädchen war schon eine Pracht, eine wahre Augenweide. Das Verlangen in ihm wurde auf ein­mal so groß, daß er beschloß, sie mit­zunehmen.
Er ging zu ihr, aber sie schien seine Anwesenheit nicht einmal zu merken. Er mußte sie erst auf sich aufmerk­sam machen, ergriff ihre Hand. Jetzt erst wandte sie sich ihm zu. Ihr Blick war frostig. Er wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor.
„Schnauze!“ herrschte sie ihn an. „Paß auf, gleich kommt der Oga vorbei.“
Mit „Oga“ meinte sie wohl Lonrival da Silva. Denn dieser kam nach kaum einer Minute mit einer Schar von An­hängern vorbei. Und Leila hatte nur Augen für ihn, sie himmelte ihn gera­dezu an, als sei er ein göttliches We­sen für sie. Lonrival revanchierte sich mit einem durchdringenden Blick. Seine Augen schienen zu ihr zu sprechen.
„Hugh“, rief ihm ein Bekannter zu, der sich unter Lonrivals Samba-Truppe befand. „Es geht zu einer batacuda bei Alcione. Können wir mit dir rechnen?“
„Mal sehen“, rief Hugh zurück, „wie es mit Leila läuft.“
Er hatte kaum ausgesprochen, da, spürte er einen harten Druck an sei­ner Kehle. Scharfe Nägel bohrten sich in sein Fleisch. Leilas Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Es war das Gesicht einer Furie.
„Bastard!“ sagte sie haßerfüllt. „Merke es dir: Bevor ich mich von dir Schwein anrühren lasse, bringe ich dich eher um.“
Sie ließ seine Kehle los und ging davon.
Er hörte das schadenfrohe Geläch­ter der anderen kaum. Er spürte nur das warme Blut an seinem Hals.
In diesem Moment schlug eine Warnglocke in seinem Kopf an.
Der Blick, den Leila und Lonrival getauscht hatten, hatte Bände gespro­chen. Er hatte von einer tiefen, inni­gen Beziehung gezeugt, die weit über das Fleischliche hinausging. War es möglich, daß Lonrival schuld an der Veränderung war, die mit den Mäd­chen von Buzios vor sich ging?
Keller erinnerte sich daran, daß der Geistheiler Leila vor ein paar Tagen auf spektakuläre Art und Weise die Mandeln herausoperiert hatte. Und das Mädchen seines „impotenten“ Freundes hatte sich vom Curandeiro den Blinddarm entfernen lassen. Und was hatte er in Freyres Haus mit Marcia getan?
Konnte man da noch von Zufällen sprechen, wenn ausgerechnet mit all jenen Mädchen eine Verwandlung vor sich ging, die näheren Kontakt zu Lonrival da Silva gehabt hatten?
Das war schwer zu glauben. Es war allgemein bekannt, daß da Silva nicht nur der Geistheiler der „Beautiful People“ von Buzios war, sondern auch der Hohepriester einer von ihm gegründeten Sekte. Es war denkbar, daß er die Mädchen verhexte.
In diesem Zusammenhang erin­nerte sich Keller wieder, warum er ei­gentlich nach Brasilien gekommen war. Er wollte die Geheimkulte und Sekten wie Macumba, Yoruba, Santeria, Xango und Candomble — und wie sie alle hießen — erforschen. Das süße Leben von Buzios und seine Vorliebe für schöne Mädchen hätten ihn dieses Vorhaben fast vergessen lassen.
Aber es war noch nicht zu spät. Kel­lers Forscherdrang war auf einmal wieder geweckt.
Nun war Keller fest davon über­zeugt, daß Lonrival da Silva hinter allem steckte. Er war die treibende Kraft, die aus willigen Mädchen kratzbürstige Raubkatzen machte. Wie viele der Cariocas hatte er be­reits in seinen Bann geschlagen?
Keller brauchte viel Zeit zum Nach­denken. Sollten die Behörden von sei­nem Verdacht unterrichtet werden? In Buzios gab es keine Polizeistation. Er müßte nach Niteroi fahren oder gleich nach Rio fliegen. Aber was hätte er sagen sollen? Daß die Mäd­chen von Buzios durch die Magie ei­nes Curandeiro plötzlich keusch ge­worden waren?
Er hätte sich damit lächerlich ge­macht.
Nein, es brachte nichts ein, die Sache an die große Glocke zu hängen. Es gab unzählige Sekten in Brasilien.
Viele wirkten im verborgenen und waren dennoch harmlos. Er mußte sich eingestehen, daß das Verhalten der Mädchen bisher noch keinen Grund zu ernsthafter Besorgnis gege­ben hatte. Morddrohungen, wie er sie gehört hatte, kamen schnell über die Lippen.
Dennoch, sein Interesse war ge­weckt, und er spürte, daß sich etwas Unheilvolles über Buzios zusammenbraute.
Er schlenderte bis zum Einbruch der Dunkelheit durch Buzios und hing seinen Gedanken nach. Und je länger er nachdachte, desto stärker v.rurde das Gefühl einer kommenden Bedrohung.
Irgendwann fand er sich in der stil­len Bucht von Farradurinha. Es däm­merte bereits, und auf dem Meer blinkten die Laternen von vier veran­kerten Jachten. Lärm drang herüber. An Bord war man fröhlich und ausge­lassen.Am Strand waren bei den Baumrie­sen Baumhütten errichtet worden. Dort ging es intimer zu. Weiter nörd­lich, tiefer im Wald, befand sich auch eine solche Hütte. Sie stand an einem Zeremonienplatz und blieb vom Tou­rismus verschont. Dorthin kamen nur die Ärmeren, um bei Mae Nara Trost und Segen zu empfangen.
Mae Nara war eine energische, vi­tale Frau von hundert Jahren, die den reinen Yoruba-Kult pflegte. Keller hatte sich einige Male mit ihr unter­halten, aber das war noch bevor er sich den weltlichen Verlockungen von Buzios ergab. Sie galt als seriös, und auch Keller hatte diesen Ein­druck von ihr gewonnen.
Einer plötzlichen Eingebung fol­gend, wandte er sich in die Richtung, in der ihre Hütte lag. Schon bald sah er durch die Bäume ein kleines Lager­feuer flackern. Mae Nara hockte al­lein davor.
„Komm nur her, Hugh“, sagte sie, konzentriert ins Feuer starrend. Der flackernde Schein erzeugte tiefe Schatten in ihrem Gesicht und ließ die Runzeln noch stärker hervortreten. „Ich habe dich erwartet.“
„Wieso wußtest du, daß ich komme, Mae Nara?“ fragte er verwundert, als er das Lagerfeuer erreichte.
Statt zu antworten, fragte sie: „Hast du das süße Leben endlich satt und willst dich wichtigeren Dingen zuwen­den? Oder bist du nur gekommen, weil du als Liebhaber verschmäht wurdest?“
„Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen“, sagte er. „Du weißt also bereits, was mit den Mäd­chen los ist?“
Sie blickte auf.
„Was ist mit ihnen los?“
Keller erzählte von seinen Beobach­tungen und von seinem Verdacht, Die Mae Mara paffte dabei eine dicke Charuto.
„Du mußt von einem bösen Geist be­sessen sein, wenn du Lonriva da Silva dämonischer Praktiken bezichtigst, Er ist ein angesehener Curandeiro und ein mächtiger 0ga. Aber er würde seine Fähigkeiten nie im Dienste der Mächte der Finsternis gebrauchen.“
Keller zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht bin ich besessen. Wenn es so ist, dann mußt du mir helfen. Im anderen Fall möchte ich, daß du her­ausfindest, was wirklich dahinter­steckt.“
„Macht tausend Cruzeiros.“ Die Mae Nara warf die Zigarre ins Feuer und erhob sich. „Komm in den Ronko, Hugh.“
Er holte ein Bündel Geldscheine aus der Tasche, zählte 1500 Cruzeiros ab und gab sie ihr. Fünfhundert reichte sie mit den Worten zurück: „Wenn ich Erfolg habe, dann auch für den Ein­heitspreis.“
Der Ronko, die Einweihungszelle, war eng und hatte außer einer nied­rigen Tür, die Keller nur gebückt pas­sierten konnte, keine Öffnung. An ei­ner Wand hing ein frisches Leinen­tuch. Daneben hing das Bildnis von Mae Naras persönlichem Heiligen, ein Weihrauchkessel, eine Rute und die unvermeidliche Rassel — eine schöne Adja aus reinstem Silber.
Keller mußte sich auf den Schemel in der Mitte des Raumes setzen. Mae Nara legte ihm das weiße Leinen um und fragte: „Hast du getrunken?“
„Nicht übermäßig.“
Nun begann sie ihn zu umtänzeln und wiegte dabei ihren alten Körper in einem seltsamen Rhythmus. Trotz ihrer hundert Jahre war sie noch sehr gelenkig. Wenn man ihr nicht ins Ge­sicht sah, merkte man ihr ihr Alter nicht an.
Sie begann, die Adja zu schütteln. In der anderen Hand hielt sie den Weihrauchkessel. Sie besprengte Kel­ler. Der süßliche Duft benebelte ihm die Sinne.
„Verschmähte Liebe“, sagte die Alte mit verhaltener Stimme, wäh­rend sie ihn weiterhin umkreiste und zwischendruch immer wieder auf dem Boden aufstampfte. „Ver­schmähte Liebe macht kopflos. Wel­cher Dämon ist in dir?“
„In mir ist kein Dämon“, sagte Kel­ler schwach.
Die Mae Nara rasselte schneller und lauter. Ihr Tanz beschleunigte sich. Der Duft des Weihrauchs er­schwerte das Atmen. Keller rang nach Luft, keuchte.
„Zeig dich, Dämon!“
Die Alte warf sich zu Boden und schleuderte im Fallen einen Satz von Kaurimuscheln gegen die Wand. Kel­ler entrang sich ein heiserer Schrei, als die Muscheln auf dem Boden lan­deten. Um ihn drehte sich alles.
„Ah!“ die Mae Nara stöhnte auf. „Ah, ah! Der böse Dämon kommt von außerhalb. Er ist deinem Körper fern — und dir doch so nahe. Uns allen — er bedroht uns alle!“
Keller spürte auf einmal den star­ken Drang, seinen Platz zu verlassen und die Bewegungen der Alten mitzu­machen. Aber irgend etwas zwang ihn auf den Hocker. Er begann am ganzen Körper zu zittern.
Die Mae Nara tänzelte aus der Zelle. Ihre beschwörende Stimme und das Rasseln der Adja entfernten sich. Sie umwanderte langsam die Hütte in Form einer Spirale und ent­fernte sich auf diese Weise.
Plötzlich erklang ein langgezoge­ner Schrei. Keller sprang vom Hocker und stürzte durch die Zellentür ins Freie. Links von sich sah er die Silhouette einer weiblichen Gestalt im Busch verschwinden. Kurzes Blät­terrascheln, dann Stille.
Keller nahm sofort die Verfolgung auf. Als er jedoch den Rand der Lich­tung erreichte, stolperte er über et­was Weiches. Er bückte sich. Da lag die Mae Nara. Sie war tot. Um ihren Hals spannte sich eine Raffia-Schnur.
Keller ließ von ihr ab und setzte die Verfolgung des flüchtenden Mäd­chens fort. Einmal sah er ihre Gestalt deutlich vor sich, wie sie sich vor dem helleren Himmel abhob. Doch in der Nähe der Baumhütten verlor er ihre Fährte.

* * *

Keller brauchte unbedingt einen Drink, um über den Schock hinweg­zukommen, Da er schon hier war, konnte er bei seinem Freund Tonic. Lassa vorbeischauen, der sich mit seiner Freundin in einer Baumhütte ein­gemietet hatte.
In der Hütte brannte Licht, und Stimmen drangen heraus.
„Wo warst du, Lisa?“ hörte Keller beim Näherkommen Tonio fragen. „Du bist ja ganz außer Atem.“
„Ich bin zu Riberas Jacht hin­ausgeschwommen und habe ein we­nig das Tanzbein geschwungen“, ant­wortete eine weibliche Stimme.
„Ohne Kleider?“
„Was soll die Anspielung?“
„Nun, deine Kleider sind trocken. Du müßtest sie abgelegt haben.“
„Eifersüchtig?“
Keller erreichte die Veranda und sah, wie Tonio gerade lachend nach Lisa griff. Er lag in einer Hänge­matte, und sie stand hinter ihm.
Tonio sagte: „Ich bin nur sauer, wenn du anderen gibst, was du mir vorenthältst. Seine Hand ertastete ihr Gesicht, langte nach ihrem Nacken, um sie zu sich herunterzuziehen. Da warf sie sich nach vorne und drehte die Hän­gematte einige Male herum, bis Tonio wie in einem Netz gefangen war. Li­sas Gesicht war verzerrt.
„He, was soll das?“ rief Tonio, noch immer lachend. „Laß mich raus.“
Aber Lisa tat nichts dergleichen. Keller, der nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, sah, daß sie am rechten Oberarm zwei Raffia-Schnüre trug, am linken aber nur eine. Wo war die fehlende? Sie löste mit flin­ken Fingern eine der beiden Schnüre ihres rechten Oberarms und machte Anstalten, sie in Kopfhöhe über die Hängematte zu schlingen.
Da schaltete sich Keller ein.
„Nettes Familienspiel, das ihr da treibt“, sagte er so unbeschwert, wie es ihm möglich war.
Lisa schreckte hoch. Sie wandte ihm ihr haßerfülltes Gesicht zu und fauchte:
„Verschwinde, du Hurensohn!“
Kellers Augen verengten sich und deutete mit dem Kopf auf sie.
„Drei ist eine ungerade Zahl“, sagte der gedehnt. „Hast du etwa eine dei­ner Raffia-Schnüre verloren?“
Ihre Reaktion kam so überra­schend, daß er nicht rechtzeitig rea­gieren konnte. Sie formte die Hände zu Klauen und schlug mit den Fin­gernägeln nach seinem Gesicht. Er verspürte einen rasenden Schmerz, als er getroffen wurde. Ihre Hände zuckten zurück, holten zum nächsten Schlag aus. Keller hob instinktiv die Arme schützend vors Gesicht und versuchte, sie gleichzeitig zu packen. Aber er griff ins Leere. Lisa wirbelte herum und lief davon.
Keller half Tonio, sich aus dem Netz der Hängematte zu befreien.
„Weiber!“ rief Tonio abfällig. ,Soll einer sie verstehen. Einen Drink?“
„Darum bin ich eigentlich hier“, sagte Keller. Während sich Tonio daranmachte, einen Rum-Cocktail zu mixen, fragte er: „War Lisa in letzter Zeit mit Lonrival da Silva zusam­men?“
„He!“ Tonio kam mit zwei Gläsern und gab eines davon Keller. ,Du willst doch damit nicht andeuten, daß Lisa mit diesem Clown etwas haben könnte?“
Keller nahm einen Schluck.
„Das geht mich nichts an. Aber da Silva ist auch der Oga einer Sekte. Vielleicht hat er Lisa als Priesterin geholt. Das könnte ihr seltsames Ver­halten erklären. Wann warst du mit ihr das letzte Mal intim?“
„Was geht dich das an?“
„Hab dich nicht so, Tonia. Wann?“
„Nun, das liegt schon eine gute Wo­che zurück. Seitdem ist mit Lisa über­haupt nicht mehr auszukommen. Aber was soll das mit einer Sekte zu tun haben? Ich sehe da keinen Zusammenhang. Eher hat sie einen an­deren. Ich habe zweimal bemerkt, daß sie sich nachts davonschleicht wie eine heiße Katze.“
„Bist du ihr nicht nachgegangen?“ Tonio schleuderte in plötzlichem Zorn das Glas gegen die Wand.
„Zum Teufel mit Lisa! In Buzios gibt es Mädchen genug. Was ist? Schauen wir bei Alcione vorbei? Ich muß meinen Ärger hinunterspülen. Ich brauche etwas Abwechslung — und vielleicht kommt Lisa auch hin.“
„Laß besser die Finger von ihr“, riet Keller. „Und versprich mir eines. Laß dir von ihr keine Raffia-Schnur um den Hals legen.“
„Hast du keine besseren Ratschläge für mich?“
„Das ist kein Spaß, Tonio.“
„Es hört sich aber blöde an.“
„Trotzdem solltest du diesen Rat beherzigen, wenn dir dein Leben lieb ist. Wenn sie dich mit einer Raffia-Schnur einfangen will, dann laß es nicht zu, Tonio.“
Tonio starrte ihn an, als zweifle er an seinem Verstand. Er hatte offen­bar eine entsprechende Bemerkung auf der Zunge, sprach sie aber nicht aus,
„Auf zu Alcione!“ rief er statt dessen.

* * *

Sie mußten mit Tonios Hochsee­jacht eine Landzunge mit dem Strand Dos Ossos umrunden, um Alcione Monteiros Privatstrand zu erreichen. Schon von weitern waren die meter­hohen Lagerfeuer zu sehen. Als sie zur Anlegestelle fuhren, schaltete Tonio den Bugscheinwerfer ein, um den Badenden Ausweichen zu können.
Vom Haus drangen Sambaklänge zu ihnen.
Tonio und Keller waren kaum auf dem Steg, da wurden sie auch schon von einer Schar angeheiterter Mäd­chen umringt. Tonio küßte sich aus­giebig durch sie hindurch. Keller lächelte erleichtert. Das war ein Bild wie aus den guten alten Zeiten — und er hatte schon geglaubt, daß alle Mädchen von Buzio besessen seien.
Seine gute Laune erstarb aber so­fort wieder, als er Marcia, Lisa und Leila erblickte. Sie standen zusam­men mit einigen anderen Mädchen abseits, als ginge sie das Treiben nichts an. Sie steckten verschwöre­risch die Köpfe zusammen und tu­schelten miteinander.
„Vorsicht, Tonio“, raunte Keller dem Freund zu. „Da ist Lisa. Vergiß meinen Rat nicht.“
Aber Tonio hörte ihm überhaupt nicht zu. Er blickte zu Lisa hinüber, und sie schenkte ihm ein betörendes Lächeln. Keller fragte sich, was die­se falsche Schlange damit bezweck­te.
Ein Bekannter, dessen Namen Kel­ler vergessen hatte, tauchte auf und stützte sich schwer auf ihn.
„Ich vermisse da Silva“, sagte Kel­ler zu ihm. „Ich dachte, daß er die battcada anführt. Ein Happening ohne ihn ist doch wie eine Frau ohne Unter­leib.“
„Er wird schon noch seinen Auftritt haben“, sagte der Bekannte. „Im Au­genblick kuriert er die Frau des Hau­ses von irgendeinem Wehwehchen. Alexandra ist ja förmlich auf ihn fixiert ...“
Keller löste sich von dem Betrunke­nen. Er war plötzlich wie elektrisiert von dem, was er da hörte, Wäre das nicht eine Gelegenheit, Lonrival mal auf die Finger zu sehen? Keller hätte zu gern gewußt, was er wirklich mit den Mädchen anstellte.
Keller machte sich auf den Weg zum Haus. Als er bei Tonio vorbei­kam, flüsterte er ihm zu: „Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.“
„Mann, kannst du einen löchern!“ schimpfte Tonio.
Auf seinem weiteren Weg bemerk­te Keller, daß sich überraschend vie­le Mädchen mit Raffia-Schnüren schmückten. Sie trugen sie an den Ar­men und den Knöcheln, sie hatten sie wie Gürtel um die Taille gebunden oder trugen sie wie Halsketten. Viel­leicht war das nur eine neue Modetor­heit — aber Keller hatte die Raffia‑ Schnur um den Hals der Mae Nara ge­sehen ...
Er erreichte die Rückseite des Hau­ses. Hier war es verschwiegener. Aus einem Gebüsch war ein Rascheln zu hören. Schnell betrat er das Haus durch den Hintereingang.
Im Haus herrschte angenehme Stille. Es schien von den Gästen ge­räumt worden zu sein, damit der Curandeiro bei seiner Arbeit Ruhe hatte.
In welchen Raum hatte er sich mit seiner Patientin zurückgezogen? Kel­ler wußte aus Erzählungen, daß er die Schlafräume seiner Patienten bevor­zugte. Und die Schlafräume der Monteiros lagen im Obergeschoß.
Keller schlich geräuschlos die Treppe hinauf. Er erreichte die obere Etage und lauschte an der ersten Tür. Nichts regte sich dahinter. Erst an der vierten Tür waren gedämpfte Geräusche zu hören.
Eine Stimme murmelte beschwö­rende Worte, die Keller nicht verste­hen konnte. Zwischendurch klirrte und klimperte es.
Keller begab sich zur angrenzen­den Tür. Er kam in ein Schlafzimmer, das eine männliche Note hatte. Es mußte das von Alcione sein. Aber es gab eine Verbindungstür. Keller öff­nete sie vorsichtig und kam in ein Bad mit einer Zweiten Tür. Durch diese waren die Geräusche aus dem angrenzenden Schlafgemach deutli­cher zu hören. Und es gab ein Oberlicht.
Keller kletterte auf einen Hocker, so daß er durch das Oberlicht in den dahinterliegenden Raum blicken konnte. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken.
Alexandra Monteiro lag nackt auf dem mit einem blütenweißen Lein­tuch bespannten Bett. Lonrival stand an der Seite und hob gerade eine Whiskyflasche an die Lippen. Er war von seinen drei Priesterinnen flan­kiert. Zwei von ihnen hatten die Gi­ tarren mit Macheten vertauscht. Lonrival leerte die Flasche in einem Zug und warf sie achtlos hinter sich. Er hielt die Arme seitlich, und die Prie­sterinnen legten ihm die Macheten in die offenen Handflächen. Lonrival kreuzte sie über Alexandras Körper und rief:
„Kether! Kether! Kether!“
Alexandra wiederholte die Worte wie in Trance. Sie trug an den Handge­lenken und an den Knöcheln Raffia-Schnüre, die wie Fesseln festgezogen waren und ihr das Blut abschnürten.
Lonrival ließ die Macheten über ih­rem Körper wirbeln. Keller schwin­delte, als er den rasenden Bewegun­gen der Klingen mit den Augen folgen wollte. Er wandte seine Blicke ab und ließ sie über Alexandras Körper wan­dern. Was er dort sah, ließ ihn vor Ent­setzen erstarren.
Auf Alexandras Bauch bildeten sich - ohne daß der Curandeiro ihn berührte - Schriftzeichen. Die Buchstaben erschienen förmlich aus dem Nichts als dunkle Narben in Ale­xandras Haut. Als Lonrival seine Pro­zedur beendete, blieben in Alexan­dras Leib sechs Reihen mit je sechs narbigen Buchstaben zurück.
In der obersten Reihe dieses Buchstabenquadrats stand das Wort KETHER zu lesen, darunter ETHERE. Das Wort in der untersten, der sechsten Reihe war die Umkeh­rung von KETHER, nämlich REHTEK.
Keller stellte noch etwas anderes fest. Die Buchstaben der ersten Reihe nach unten gelesen ergaben ebenfalls das Wort KETHER - und die letzte Reihe von oben nach unten gelesen war wie in der Waagrechten die Um­kehrung: REHTEK.
Überhaupt konnte man die Buchsta­ben in diesem Quadrat von allen Sei­ten und von unten nach oben ebenso wie von hinten nach vorn lesen. Im­mer ergaben sich dieselben Wortkom­binationen.

KETHER - ETHERE - THEREH - HEREHT - EREHTE - REHTEK.

Was für eine geheimnisvolle Bedeu­tung hatte dieses Buchstabenqua­drat? Eine magische? Brachte Lonrival damit die Frauen in seine Gewalt?
Aber diese Narben machten die derart behandelten Frauen zu Ge­zeichneten!
Keller wurde sofort eines Besseren belehrt.
Der Curandeiro ließ zuerst seine Hände, nachdem er sich der Mache­ten entledigt hatte, über Alexandras Bauch kreisen. Langsam senkte er sie dann auf ihren Leib herab und begann gefühlvoll ihre Bauchdecke zu massieren. Und wo seine Hände die Narbenbuchstaben berührten, ver­blaßten sie, und Alexandras Haut wurde wieder so makellos wie ehe­dem. Aber Keller war überzeugt, daß sie ein für allemal in den Körper der Frau eingebrannt waren. Die magi­schen Worte waren nur unsichtbar, aber ihre Kraft wirkte weiter - was immer auch diese Kraft bewirken sollte.
Keller hatte genug gesehen. Er wollte sich zurückziehen. Doch da kippte der Hocker unter seinen Fü­ßen weg. Im Fallen rissen seine haltsuchenden Hände noch ein Regal mit.
„Da ist jemand!“ hörte er Lonrival durch die Tür rufen. Gleich darauf näherte sich das Rasseln einer Adja.
Keller raffte sich auf. Er war gei­stesgegenwärtig genug, die Badezim-mertür abzusperren, bevor er sich in Alciones Schlafzimmer zurückzog. Als er sich jedoch der Tür zuwenden wollte, näherten sich vom Gang Schritte, untermalt durch Gitarren­klänge im Samba-Rhythmus.
Keller blieb somit nur noch das Fenster als Fluchtweg. Er erreichte es mit wenigen Schritten und blickte hinunter. Unter sich, keine zwei Me­ter von der Hausmauer entfern, sah er eine Strauchgruppe. Ohne lange zu überlegen, sprang er hinunter. Er lan­dete relativ weich und robbte durch das Gestrüpp außer Sichtweite.
Als er durch das Buschwerk hinauf zum Fenster blickte, sah er dort Lonrival auftauchen. Keller bildete sich ein, daß der stechende Blick des Curandeiros geradewegs auf ihn gerichtet war. Aber er konnte ihn unmöglich sehen.
Keller rührte sich nicht, bis der an­dere vom Fenster verschwunden war. Dann erst wagte er es, sein Versteck zu verlassen.
„Auch vom Weg abgekommen?“ fragte eine alkoholschwere Stimme. Sie gehörte Marcos Freyre. Er stand mit einem halbvollen Glas da und deu­tete damit auf Kellers Gesicht. „Mir scheint, wir sind von der gleichen Art von Hecke gekratzt worden, Hugh.“
Keller fuhr sich übers Gesicht, in dem Lisas Fingernägel ihre Spuren hinterlassen hatten. Der Schmerz war erträglich. Er ging nicht weiter auf Marcos Anspielung ein, sondern fragte: „Hast du Tonio gesehen?“
„Klar.“ Marcos deutete hinter sich. „Bin ihm irgendwo am Strand begeg­net. Scheint was Besonderes vorzuha­ben. Hatte Lisa und noch ein Mädchen bei sich ...“
„Dieser verdammte Narr!“ fluchte Keller. Wenn er ein Unglück verhin­dern wollte, mußte er Tonio unbe­dingt finden. Da er aber inzwischen die Gefährlichkeit der Kether-Mädchen, wie er sie instinktiv nannte, kannte, glaubte er, gegen zwei von ih­nen keine Chance zu haben. Er war auch nicht gerade das, was man einen Kraftprotz nannte...
Da fiel ihm ein, daß Marcos immer eine Waffe in einer Halfter unter der rechten Achsel trug; er war Links­händer.
”Du entschuldigst schon, Marcos.“
Mit diesen Worten griff er dem Ver­blüfften unter den Blazer. Er bekam einen Knauf zu fassen und zog die Waffe heraus. Es handelte sich um ei­nen handlichen Trommelrevolver mit kurzem Lauf. „Danke, Marcos. Du be­kommst dein Baby wieder unver­sehrt zurück.“
„Sei nicht blöd“, lallte Marcos. Aber Keller entfernte sich bereits. „Laß dich nur nicht auf ein Russi­sches Roulette ein ...“
Wenn er wüßte! dachte Keller. Worauf ich mich da einlasse, ist wahrscheinlich gefährlicher als jedes Russische Roulette.
Er hastete zum Strand hinunter und erkundigte sich bei allen, die ihm über den Weg liefen, nach Tonio. Aber keiner von ihnen hatte eine Ah­nung, wo er steckte. Manche wußten nicht einmal, welchen Tonio er meinte.
„ToniO?“ fragte eine überalterte Schöne und blickte ihren Begleiter nachdenklich an. „Ist er nicht da ent­lang? Aber ja, jetzt bin ich sicher. Er ist in die Richtung gegangen, in die auch Marcia verschwunden ist.“
„Marcia — und wer noch?“ erkun­digte sich Keller. Er stellte fest, daß die Frau keine Raffia-Schnüre trug. Sie zuckte als Antwort nur mit den Schultern.
Keller eilte weiter. Am Strand war nicht mehr viel los, In einem mor­schen Fischerboot schmuste ein Lie­bespaar. Keller riskierte einen zwei­ten Blick und stellte fest, daß auch dieses Mädchen keine Raffia-Schnüre trug. Überhaupt war keines der Mäd­chen, denen er hier begegnete, auf diese Weise geschmückt. Wo waren die Kether-Mädchen nur alle hin?
Keller erreichte eine Stelle, wo das Dickicht bis ans Meer reichte. Das Wasser war an dieser Stelle zu tief, um es zu durchwaten. Er wollte schon umkehren, als er vor sich ein Geräusch hörte.
Er bahnte sich einen Weg ins Dik kicht und fand einen Pfad, der fast zu­gewachsen war. Er drang ein Stück auf ihm vor und stellte fest, daß er sich bald verbreiterte. An frisch ge­knickten Ästen und neueren Trittspu­ren erkannte er, daß dieser Weg erst vor kurzem geschaffen worden sein mußte. Vor einigen Tagen hatte es ihn bestimmt noch nicht gegeben.
Hatte ihn Lonrival eigens für seine Mädchen geschlagen? Und wohin führte er? Keller fühlte sich trotz des Revolvers keineswegs sicher.
Helles Mädchenlachen ließ ihn zusammenzucken. Er lauschte und ver­nahm auch eine tiefere, männliche Stimme.
„ToniO!“ rief er aus Leibeskräften. „Tonio! Hier ist Hugh!“
Das Lachen war verstummt. Es herrschte kurze Stille, dann war ganz deutlich wieder die Mädchenstimme zu hören.
„Kümmere dich nicht um ihn, Tonio. Er ist nur neidisch.“
„Klar, Mädchen. Kommt zu mir. Ich werde euch zeigen, was ein richti­ger Mann ist.“
Keller rief noch einige Male Tonios Namen und lief in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Er hörte sie nicht mehr und erhielt auch auf seine Rufe keine Antwort.
Endlich lichtete sich das Dickicht, Mondlicht schimmerte durch das Geäst.
Keller gelangte in eine halbmond­förmige Bucht mit einem herrlichen breiten, fast weißen Sandstrand. Drei Gestalten hoben sich deutlich davon ab. Zwei Mädchen und ein Mann. Sie hielten einander an den Händen und drehten sich im Kreis. Jetzt umarmte der Mann eines der Mädchen. Das an­dere Mädchen stellte sich hinter ihn. Als Keiler sah, wie es eine Raffia-Schnur vom Arm löste, schrie er eine verzweifelte Warnung. Gleichzeitig begann er zu laufen und gab einen Warnschuß ab.
Aber es half alles nichts mehr. Die Mädchen ließen von dem Mann ab. Er taumelte, ging in die Knie. Seine Hände ruckten zum Hals hinauf und nestelten mit zittrigen Bewegungen daran. So kippte er in den Sand und blieb reglos liegen.
Als Keller Tonio erreichte, war er längst tot.
Die beiden Mädchen hatten sich bis an den Waldrand zurückgezogen. In einem von ihnen erkannte er Lisa, die andere war ihm unbekannt.
Keller hielt die Waffe umkrampft. Sein Arm hob sich wie von selbst, und er zielte auf Lisa. In diesem Moment war er entschlossen, abzudrücken. Aber als der Zeigefinger sich um den Abzug spannte und der Widerstand des Druckpunkts zu spüren war, da sah Keller aus den Augenwinkeln eine Bewegung.
Rechts von ihm trat ein drittes Mädchen aus dem Wald und schritt leichtfüßig über den Strand. Hinter ihr kamen weitere Mädchen. Es wur­den immer mehr, bis es schließlich gut zwanzig an der Zahl waren. Sie bewegten sich alle auf Tonios Leich­nam zu.
Keller kannt die meisten der Mäd­chen zumindest vom Sehen. Einige hatte er auch bei Alcione gesehen. Unter ihnen war auch Alexandra Monteiro, Alciones Frau. Sie bewegte sich geschmeidig, katzenhaft gera­dezu, als sei überhaupt nichts vorge­fallen. Sie war durch Lonrivals Be­handlung in den Kreis der Kether-Mädchen aufgenommen.
Keller zog sich mit gesenkter Waffe in den Schutz des Waldrandes zurück und beobachtete gespannt das Trei­ben der Mädchen. Sie sprachen nicht, dennoch herrschte so etwas wie eine stumme Absprache zwischen ihnen. Jede von ihnen wußte, was sie zu tun hatte.
Sechs der Mädchen knieten um den Leichnam. Sie schaufelten mit blo­ßen Händen den Sand unter ihm fort und häuften ihn zu einem Wall. Die anderen bildeten um sie einen Kreis und wiegten ihre Körper wie nach ei­ner unhörbaren Melodie. Es war ein einstudierter Reigen.
Die Mädchen hatten nun eine etwa dreißig Zentimeter tiefe Grube aus­gehoben, in der Tonio lag. Nun began­nen sie damit, den Sand auf ihn zu schaufeln und ihn damit zuzu­schütten.
Die Tänzerinnen wiegten sich wei­terhin in eigenwilligem Rhythmus, vollführten die recht kompliziert wir­kenden Schrittfolgen, neigten die Köpfe zur Seite, warfen sie in den Nacken. Es war ein Ritual, dem sie sich da hingaben, das war offensicht­lich. Keller schien es gerade so, als wollten sie diesen Platz am Strand zu ihrer Kultstätte erheben.
Ihr erstes Opfer hatten sie bereits dargebracht — würden weitere fol­gen?
Er war so in die Betrachtung der Tänzerinnen vertieft, daß er gar nicht merkte, wie sich ihm jemand von der Seite näherte. Erst als ihm ein war­mer Atem übers Gesicht strich und sich ihm eine sanfte Hand auf die Schulter legte, zuckte er zusammen.
„Hugh“, flüsterte eine vertraute Stimme an seinem Ohr, „willst du nicht zu ihnen gehen und dich an ih­rem Tanz beteiligen?“
Er war starr vor Schreck, wagte nicht, den Kopf zur Seite zu drehen. Er wußte nicht wieso, aber er fürch­tete Leilas Anblick. Er hatte sie na­türlich an der Stimme erkannt.
Er mußte kräftig schlucken, bevor er seine Stimme wiederfand und krächzend hervorbringen konnte: „Leila ... Was hat das zu bedeuten?“
„Wenn du es wissen willst, dann folge mir, Hugh.“ Sie fuhr ihm zärt­lich durchs Haar. „Meine Freundin­nen nehmen dich gerne in den Reigen auf.“
„Nein!“ Er sagte es heftiger, als er wollte. Den Revolver hielt er so, daß sie ihn nicht sehen konnte, und prüfte hinter seinem Rücken, ob er noch ent­sichert war. Die Waffe war schußbe­reit, aber er hoffte, daß er keinen Ge­brauch davon machen mußte.
„Was ist los mit dir, Hugh?“ fragte Leila einschmeichelnd. „Bist du mir noch wegen der Abfuhr im Pacato bö­se? Sei nicht albern, Darling. Frauen sind halt so. Manchmal zeigen sie als Liebesbeweis ihre Krallen. Du weißt, wie heißblütig ich bin ...“
Sie wollte seinen Kopf zu sich her­umdrehen, aber er stieß sie in plötz­lich aufkommendem Widerwillen von sich. Er konnte sich einfach nicht mehr verstellen.
„Du Biest“, preßte er hervor. Er brachte den Revolver in Anschlag. Leilas Augen weiteten sich, als sie den Lauf auf sich gerichtet sah. „Ich weiß Bescheid. Ich habe gesehen, was Lonrival mit Alexandra angestellt hat. Und ich wurde Zeuge des Mordes an Tonio. Das reicht.“
„Aber, Hugh, was redest du da zu­sammen?“ fragte sie scheinheilig. Plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, verhärteten sich ihre Ge­sichtszüge. „Na schön, du Bastard!“ Ihre Stimme hatte alle Wärme verlo­ren. Sie war schneidend und kalt wie Eis. „Du hast also die Opferung mit angesehen. Damit, lieber Hugh, sind wir geschiedene Leute. Nimm zum Abschied dies. Es soll dich über dei­nen Tod hinaus mit mir verbin­den ...“
Während des Sprechens wickelte sie eine Raffia-Schnur von ihrem Arm und formte eine Schlinge. Keller entging das nicht.
„Laß das, Leila!“ rief er.
Aber sie ignorierte es und warf die Schlinge mit einer spielerisch wirken­den Bewegung nach seinem Kopf. Er duckte sich und spannte dabei unge­wollt den Finger um den Abzug. Ein Schuß löste sich. Die Detonation be­täubte ihn beinahe. Durch den Pul­verdampf sah er, wie Leila gegen ei­nen Baum geschleudert wurde. Ihr Mund stand offen, die Augen waren vor Staunen geweitet.
„Tut mir leid, Leila stammelte er.
Leilas Mund bewegte sich zuerst lautlos. Erst nach einigen Sekunden sprudelten die Worte über ihre Lippen.
„Oga! Oga! Oga!“ rief sie mit erlah­mender Stimme. „Oga, zu Hilfe. Der Bastard — Hugh — hat uns beobach­tet ...“
Sie versuchte mit letzter Kraft, eine weitere Raffia-Schnur zu lösen. Aber das gelang ihr nicht mehr. Sie war zu schwach.
Vom Strand her ertönte ein viel­stimmiger Schrei. Durch die Detona­tion des Schusses aufgeschreckt, hat­ten die Tänzerinnen ihr Ritual abge­brochen und kamen nun auf ihn zu. Sie waren von einer ruhigen Ent­schlossenheit, als seien sie sich ihres Opfers absolut sicher. Sie hatten keine Eile. Geschmeidig, geduckt wie Raubkatzen kamen sie heran.
Keller wich vor ihnen zurück. Er wollte sich zur Flucht wenden, aber da erklangen in seinem Rücken zün­dende Sambaklänge. Gitarrenklänge vermischten sich mit dem rhythmischen Gerassel einer Adja.
Lonrival da Silvas Adja!
„Kether! Kether! Kether!“ dröhnte die Stimme des Herrn über die Ke-ther-Mädchen über den Strand.
Keller blickte sich gehetzt um. Er hatte nicht viele Fluchtmöglichkeiten zur Wahl. Wenn er versuchte, das Meer zu erreichen und sich schwim­mend zu retten, waren seine Chancen gleich Null. Lonrival und seine Mäd­chen brauchten nur entlang des Strandes darauf zu warten, daß ihn die Kräfte verließen und er zurück­kam. Da war es schon besser, sich durch den Wald zu schlagen.
Aber selbst wenn er Buzios er­reichte, stand es nicht gut um seine überlebenschancen. Da er ihr Ge­heimnis kannte, würden ihn die Kether-Mädchen gnadenlos jagen. Sein Leben war nicht mehr viel wert, und sein Wissen half ihm auch nicht viel weiter. Wer würde ihm schon glau­ben? Man würde ihn belächeln, wenn er behauptete, daß die Mädchen mit den Engelsgesichtern bestialische Mörderinnen waren. Bei einer Kon­frontation würden sie Unschuld heu­cheln — und ihn dann hinterrücks kalt lächelnd töten.
Keller begann zu laufen. Die ani­malischen Schreie der Kether-Mädchen spornten ihn an. Keller war nie besonders sportlich gewesen. Aber diesmal ging es um Leben oder Tod, und das mobilisierte schier über­menschliche Kräfte in ihm.
Er lief um sein Leben.

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 27, 1. Spalte, 4. Absatz - Seite 32, 2. Spalte, 4. Absatz

 Januswelt Malkuth.

Coco machte zwei zögernde Schrit­te nach vorn. Sie starrte auf das von Muskeln und Sehnen durchzogene Gebilde, das sich nun wieder lang­sam auftat. Die Öffnung erinnerte sie an das Maul eines Oktopus.
Einer der Janusköpfe machte wie­der eine herrische Bewegung. Er wollte Coco damit zur Eile antreiben. Doch die ehemalige Hexe aus der Familie Zamis rührte sich nicht vom Fleck, sondern wandte sich dem Ja­nuskopf zu.
Sie begegnete seinem zwingenden Blick und versuchte, ihre hypnotischen Kräfte auf ihn wirken zu las­sen. Das gelang ihr nicht. Der Januskopf machte eine geziert wirkende Handbewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen, und Coco spürte einen leichten geistigen Schlag.
„Was passiert mit mir, wenn ich durch diese Öffnung gehe?“ fragte sie.
Die beiden Janusköpfe zeigten durch keine Regung ihre Verblüf­fung. Doch Coco konnte sich vorstel­len, wie sehr es sie überraschte, daß sich einer ihrer willenlosen Gefan­genen gegen sein Schicksal auf­lehnte.
Der Januskopf machte wieder eine befehlende Geste.
„Ich rühre mich nicht von der Stel­le, bis ich erfahre, was hinter dieser Öffnung auf mich wartet“, sagte Coco fest.
Der riesige Muskel schloß sich mit einem seufzenden Geräusch.
„Das ist interessant“, sagte der Ja­nuskopf und betrachtete Coco eingehend. „Spürst du nicht den Zwang, allen unseren Befehlen nachzukommen?“
Bevor Coco antworten konnte, fiel der andere Januskopf ein: „Wir müssen uns beeilen. Die Versorgung darf nicht unterbrochen werden.“
„Dann ziehen wir die anderen vor“, sagte der erste Januskopf. „Diese Gefangene hat mein Interesse ge­weckt. Ich möchte sie einigen spe­ziellen Versuchen unterziehen.“
Er wollte die anderen Gefangenen durch ein Fingerkommando durch die Muskelöffnung schicken. Doch da schaltete sich Dorian ein.
„Sie werden hier niemandem befeh­len!“ rief der Dämonenkiller, der sein Hemd geöffnet hatte und nun die Hand darunter verschwinden ließ. „Zuerst werden Sie uns Aufklärung geben.“
Die Janusköpfe waren es nicht ge­wöhnt, daß ihre Sklaven in diesem Ton mit ihnen sprachen. Entsprechend war ihre Reaktion.
Der eine Januskopf wandte ruck­artig sein Knochengesicht in Dorians Richtung und hob die Arme, um irgendwelche magischen Zeichen in die Luft zu malen.
Doch Dorian hatte den Ys-Spiegel gezückt. Der Januskopf erstarrte mitten in der Bewegung.
Der andere Januskopf erfaßte die Situation und versuchte sich da­durch zu retten, daß er seinen Kopf um 180 Grad wendete, um sein Scheingesicht aufzusetzen. Doch nach einer Drehung um 90 Grad hielt sein Kopf mitten in der Bewegung inne. Der Januskopf stöhnte auf und schielte hilflos zum Ys-Spiegel.
„Sie sehen, daß Ihre Magie auf uns nicht wirkt“, sagte Dorian mit fester Stimme. „Sie können sich jede weite­re Mühe sparen.“
„Wer sind Sie eigentlich?“ fragte der Januskopf, der nun keinen wei­teren Versuch einer Gegenwehr machte. Er schien verblüfft. „Es ist unmöglich, daß Sie sich bei einem der Gefangenentransporte befanden. Wie sind Sie hergekommen?“
Diese Aussage bestätigte Dorians Vermutung, daß die Janusköpfe aus allen Teilen der Welt Menschen in ihre Welt verschleppt hatten. Wie viele Dimensions-Tore unterhielten sie?
„Wir sind durch Jasos Tor gekom­men“, antwortete Dorian wahrheitsgemäß.
„Jaso? Wo ist er?“ fragte der Ja­nuskopf.
Dorian gab nicht sofort Antwort. Er hielt es auch für klüger zu verschweigen, daß Jaso nicht mehr war und daß er schuld an seinem Tode war. Deshalb sagte er nur: „Das kümmert mich nicht. Und Sie sollten sich auf diesen Spiegel konzentrie­ren. Ich nehme an, Sie kennen seine Macht?“
„Wenn es sich nicht um eine Fäl­schung handelt... Wie könnten Sie in seinen Besitz gelangt sein?“
Der Januskopf warf blitzschnell beide Arme in die Luft und führte ei­ne Reihe von Bewegungen aus.
Doch weit kam er nicht. Dorian hatte den Spiegel vor das Gesicht gehoben, ohne einen Gedanken an Ver­nichtung zu verschwenden. Die Dämonium-Seite war auf den Janus­kopf gerichtet. Durch die leicht mil­chig verfärbte Spiegelfläche sah der Dämonenkiller in der Luft Zeichen der Janussprache aufleuchten, die sich jedoch sofort wieder verflüch­tigten, als die Kräfte des Spiegels auf den janusköpfigen Magier zu wirken begannen. Er konnte seine Finger nicht mehr kontrollieren.
„Sind Sie jetzt von der Echtheit des Spiegels überzeugt?“ erkundigte sich Dorian spöttisch. „Oder wollen Sie eine zweite Kostprobe?“
„Nur das nicht!“ stieß der Janus­kopf erschrocken hervor. „Kether könnte dadurch größten Schaden er­leiden, und das ist bestimmt auch nicht in Ihrem Sinn. In seinem augenblicklichen Zustand ist er für alle möglichen Reize empfänglich und deshalb unberechenbar...“
„In welchem Zustand befindet sich Kether denn?“ fragte Coco.
„Er nähert sich dem Höhepunkt seiner Krise!“
Der Schließmuskel am Ende des Korridors verfiel plötzlich in Zuc­kungen und verkrampfte sich dann in geschlossenem Zustand zu einem knotenartigen Gebilde. Dahinter er­tönten Geräusche wie von Explo­sionen, die den Korridor erschütter­ten.
„Die Krise ist in eine gefährliche Phase getreten!“ rief der Januskopf alarmiert. „Wir müssen unbedingt Maßnahmen ergreifen!“
Sein Artgenosse mit dem zur Seite gedrehten Knochengesicht gab unartikulierte Laute von sich.
„Sie werden nichts unternehmen“, sagte Dorian drohend. „Andere können Kether betreuen. Sie werden bei uns bleiben. Wie soll ich Sie überhaupt nennen?“
„Leto - und das ist Fila“, erklärte der Januskopf. Dabei ruckte sein Schädel hin und her, als wolle er ihn wenden und sein Scheingesicht auf­setzen. „Was wollen Sie denn eigent­lich?“
„Nur einige Auskünfte“, antworte­te Dorian.
„Zuerst bringen Sie aber diese un­glücklichen Menschen an einen sicheren Ort“, sagte Coco.
Hinter dem verkrampften Muskel­knoten kam es zu neuen schweren Detonationen. Die Erschütterungen waren deutlich zu spüren.
Der Januskopf Leto ließ seine Handkante über eine Wand des Kor­ridors gleiten. In der fleischigen Masse bildete sich eine tiefe Schnitt­wunde. Sie gab einen Hohlraum frei. Auf sein Zeichen hin begaben sich die übrigen Gefangenen hinein. Hinter ihnen schloß sich die Wunde wieder.
„Das ist erledigt“, sagte Leto ge­hetzt. „Nun lassen Sie uns schnell­stens Gegenmaßnahmen ergreifen. Kether braucht Hilfe.“
Dorian, der längst wußte, wie sel­ten Janusköpfe Gefühlsregungen zeigten, wollte gerne glauben, daß Leto nicht übertrieb. Seine Panik war echt. Trotzdem blieb Dorian wachsam, als sich der Januskopf dem verkrampften Muskel zuwand­te und seine Finger virtuos darübergleiten ließ.
Die fernen Detonationen ver­stummten. Der Muskel zuckte und öffnete sich schließlich seufzend. Ein Strom frischer Luft kam durch die entstandene Öffnung.
Dorian fragte nicht, was aus den Menschen geworden war, die die Muskelöffnung passiert hatten. Er wollte gar nicht daran denken. Wenn sie Kether geopfert worden waren, kam ohnehin jede Hilfe zu spät.
„Wo können wir uns ungestört miteinander unterhalten?“ fragte er.
Statt zu antworten deutete Leto auf seinen Artgenossen mit dem verdrehten Kopf. Dorian richtete die In­telligentia-Seite des Ys-Spiegel auf ihn, und Filas Starre löste sich augenblicklich.
Leto schien davon beeindruckt, wie sicher Dorian das Spiegel-Amu­lett beherrschte.
„Folgen Sie mir“, sagte der Janus­kopf.

 * * *

Sie kamen in einen schlauchförmi­gen Wurmfortsatz, der durchsichtig war. Er führte von einer der Wände mit den veränderlichen Zäpfchen bis an die äußere kokonartige Hülle des gewaltigen Eigebildes.
Von hier hatten sie einen guten Überblick. Sie konnten überblicken, was vor sich ging, ohne selbst in Mit­leidenschaft gezogen zu werden. Nur die Stöße, die den gesamten Organis­mus erschütterten, bekam auch sie zu spüren. Aber der transparente Schlauch dämpfte die Erschütte­rungen.
Außerhalb des Schlauches ging es drunter und drüber.
Janusköpfe rannten scheinbar kopflos umher. Sie machten sinnlos anmutende Gesten und Gebärden, schnitten mit ihren Scheingesichtern furchterregende Grimassen und vollführten groteske Tänze, als hät­ten sie den Verstand verloren.
Und doch wußte Dorian, daß all diese Verrenkungen Teil eines magischen Rituals waren, das ungeheure Kräfte freisetzte. So mächtig die Magie der Janusköpfe jedoch war - ihre Wirkung reichte nicht aus, um die Ruhe in Kether wiederherzustellen.
Die Flüssigkeit in dem Riesenei hatte sich inzwischen so dunkel ver­färbt, daß die gallertartige Masse in ihrem Inneren - bei der es sich um ein wichtiges Organ handeln mochte - nicht mehr zu sehen war.
„So, jetzt sagen Sie uns, was Sie von uns wollen“, forderte Leto. „Machen Sie es kurz, denn Kether braucht uns. Wir müssen ihm beistehen.“
„Worauf ist Kethers Krise eigent­lich zurückzuführen?“ fragte Coco.
„Was kümmert Sie das?“ rief Fila ungeduldig. „Sie sind doch nicht gekommen, um das zu erfahren.“
„Nein, das stimmt“, gab Dorian zu. „Dennoch wollen wir so viele Informationen wie möglich über Kether bekommen.“
„Kommen Sie endlich zur Sache!“ herrschte Leto ihn an. „Kether braucht die Hilfe eines jeden von uns.“
„Könnte ich ihm vielleicht mit dem Spiegel helfen?“ fragte Dorian scheinheilig.
„Unterlassen Sie das!“ schrie Fila. „Damit treibt man keine Scherze, Reden Sie schon, oder...“
Der Januskopf verstummte, als Dorian drohend den Spiegel hob. Wie groß mußte die Sorge der Janusköp­fe um Kether sein, wenn sie sich auf ihrer eigenen Welt von ihm so leicht einschüchtern ließen! Das entsprach eigentlich gar nicht ihrer Mentalität - und er wollte die Sache nicht auf die Spitze treiben. Wenn er sie reizte, würden sie vielleicht noch die Ge­duld verlieren und trotz des Ys-Spie­gels über ihn herfallen. Er durfte sie nicht länger hinhalten.
Zu dieser Auffassung war auch Coco gelangt, denn sie sagte: „Wir wollen, daß Sie einen Ihrer Artge­nossen an uns ausliefern, den Sie von der Erde verschleppt haben. Ich mei­ne Olivaro.“
Dem Januskopf stellten sich die Haare auf, und eine leicht pulsieren­de Aura bildete sich darum. Das mochte Ausdruck seiner Überra­schung sein.
„Sie meinen den entarteten Varo?“ fragte er. „Was wollen Sie mit ihm? Sein Geist ist verwirrt. Es ist nicht sicher, daß er noch zu retten ist.“
„Wir verlangen nur, daß Sie ihn an uns ausliefern“, erklärte Dorian. „Al­les andere lassen Sie unsere Sorge sein. Eine schnelle Entscheidung wäre zweifellos auch in Ihrem Sinn.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte begann außerhalb des Schlauches der Organismus wieder zu toben. Das Gerüst aus Röhren, Muskeln und Zellgeweben, in das das Riesenei eingebettet war, verformte sich unter dem gewaltigen Druck. Die Ja­nusköpfe hatten alle Hände voll zu tun, um die explosionsartig freiwer­denden Kräfte mit ihrer Magie zu bändigen.
„Und was bekommen wir als Gegenleistung?“ fragte Leto. Er blickte dabei auf den Ys-Spiegel.
„Das schlagen Sie sich besser aus dem Kopf“, sagte Dorian. „Sie kön­nen froh sein, wenn ich den Spiegel nicht einsetze. Wenn Sie uns Olivaro überlassen, dann kehren wir sofort auf die Erde zurück. Das verspreche ich Ihnen.“
Leto sagte nach einer Weile: „Das kann ich nicht allein entscheiden. Fila wird sich mit den anderen bera­ten.“
Der Januskopf Fila setzte einige Zeichen in die Luft und verschwand von einem Augenblick zum anderen. Dorian konnte es nicht verhindern. Es ging viel zu schnell. Das zeigte ihm, daß er gegen die Magie der Ja­nusköpfe kein wirkungsvolles Mittel hatte. Der Ys-Spiegel war sein einzi­ger Schutz.
„Warum hassen die Janusköpfe uns Menschen eigentlich, Leto?“ fragte Dorian. „Warum gehen Sie mit solcher Grausamkeit gegen uns vor?“
„Die Menschen sind für viele Schrecken auf unserer Erde verant­wortlich“, antwortete Leto leiden­schaftlich. „Haben Sie gewußt, daß die Schrecken, die ihr Geist produ­ziert, bei uns Wirklichkeit werden? Gut - dann wissen Sie, daß es für uns ums Überleben geht. Entweder wir - oder die Menschen. Wir müssen alle jene ausrotten, die in der Lage sind, Psychos auf unsere Welt zu projizie­ren.“
„Ausrotten!“ sagte Coco bitter.
„Haben Sie noch nicht nach einer an­deren Möglichkeit gesucht?“
„Doch, sicher“, meinte Leto spöt­tisch. „Aber ich fürchte, die anderen Möglichkeiten werden Ihnen eben­sowenig behagen. Wir ventilieren sie noch. Vielleicht ergibt es sich auch, daß wir die Menschen zu unseren Dienern machen - wer weiß.“
„Und eine friedliche Lösung stre­ben Sie nicht an?“ fragte Dorian. Was konnte er von diesem Wesen, die die Dämonen der Schwarzen Familie an Bösartigkeit und Grausamkeit viel­fach übertrafen, auch anderes er­warten? Olivaro hatte einmal ge­sagt, daß ihre Welt, die die Hölle war, sie geformt hatte. Inwieweit das stimmte, wußte Dorian nicht. In Ket­her waren die Schrecken jedoch nicht so groß - es gab nichts, was die Janusköpfe mit ihrer Magie nicht beherrschen konnten.
Wo waren dann die Schrecken?
Als könne Leto seine Gedanken le­sen, sagte er: „Sie dürfen von Kether nicht auf ganz Malkuth schließen. In Kether herrscht eine magische Ord­nung. In Kether können wir eine lüc­kenlose Kontrolle ausüben. So wer­den Sie hier auch keine Psychos an­treffen - Kether ist für sie tabu.“
„Dann ist Kether die einzige Insel oder Oase der Ruhe und des Friedens innerhalb einer chaotischen Welt?“ fragte Dorian.
„Kether ist nicht die einzige Insel mit magischer Ordnung. Es gibt insgesamt neun solcher Oasen, wie Sie es bezeichnen. Zusammen mit Chochmah und Binah bildet Kether die Beriah-Dreiheit.“
Das war neu für Dorian. Er wußte längst, daß Kether im Hebräischen „Krone“ hieß. Er hatte bisher an ei­nen Zufall geglaubt. Nun sprach Leto aber von „Chochmah“ und „Binah“ - und das waren ebenfalls he­bräische Begriffe, die Weisheit und Vernunft hießen. Die Beriah-Trinity konnte mit Ideenwelt übersetzt werden.
Das konnte kein Zufall mehr sein. Dorian fragte sich, ob die Janusköpfe die Namen für die „Häuser“ ihrer Welt aus dem Hebräischen bezogen hatten - oder ob man diese Begriffe von der Januswelt in die Kabbalah übernommen hatte.
Dorian schwindelte. Seine Überle­gungen führten zu nichts. Je mehr er erfuhr, desto größer wurden die Rät­sel. Diese Rätsel konnte man viel­leicht später einmal ergründen. Viel­leicht war es ihnen auch möglich, Olivaro zu heilen, so daß er ihnen alle Fragen beantworten konnte.
„Sind Chochmah und Binah eben­falls Wesenheiten wie Kether?“ frag­te Coco. „Sind es gleichfalls riesige Organismen, in denen die Janusköpfe ein Schmarotzerdasein führen?“
„Sie meinen das beleidigend“, stell­te Leto ungerührt fest. „Aber Ihre Worte treffen mich nicht. Chochmah und Binah und Kether sind unab­hängige Organismen. In jedem Organismus herrschen andere magi­sche Gesetze, wie Sie sagen würden. Aber Sie können mir glauben, daß wir mehr als nur Parasiten in Kether sind. Wir machen uns zwar seine elektrischen und magnetischen Strö­me zunutze. Doch wir nehmen nicht nur; wir geben auch, um uns Kether zu erhalten.“
„Also handelt es sich um eine Sym­biose?“ vermutete Dorian.
„Nennen Sie es so. Kether gewährt uns Schutz vor dem allumfassenden Chaos von Malkuth. Wir erhalten den Organismus am Leben.“
„Jetzt verstehe ich, warum Sie so besorgt um Kether sind“, meinte Coco. „Wenn Kether die Krise nicht überwindet, dann muß er sterben - und Sie verlieren Ihren Unter­schlupf. So gesehen ist die Bezeich­nung ‚Haus' für Kether sehr treffend gewählt. Machen Sie etwa für Ket­hers Krise auch uns Menschen ver­antwortlich?“
„Die Krise kommt aus Kether selbst.“
„Und wodurch wurde sie ausge­löst?“
„Es handelt sich um einen immer wiederkehrenden Zyklus...“
Der Januskopf verstummte plötz­lich.
„Warum sprechen Sie nicht wei­ter?“ fragte Dorian mißtrauisch.
„Es wurde alles gesagt“, erklärte Leto unbeteiligt.
Dorian hob unwillkürlich den Spiegel. Irgendetwas an der Haltung des Januskopfes mißfiel ihm. Coco schien ebenfalls die Gefahr zu spü­ren, denn sie klammerte sich unwill­kürlich an Dorian.
Der Dämonenkiller hatte plötzlich das Gefühl, daß ihnen Leto nur deshalb so bereitwillig Auskunft gege­ben hatte, weil er sie hinhalten woll­te. Jetzt schien eine Entscheidung gefallen zu sein.
„Ich warne Sie...“, rief er noch. Dann veränderte sich plötzlich die Umgebung.
Sie waren in einer großen Luftblase eingeschlossen - und befanden sich innerhalb des eiförmigen Gebildes. Das ohrenbetäubende Rauschen der um sie wirbelnden Flüssigkeiten machte Dorian fast taub. Coco, die sich immer noch an ihn klammerte, schrie irgendetwas, daß er nicht ver­stehen konnte.
Plötzlich sah Dorian durch die tin­tige Flüssigkeit eine andere Luftbla­se herantreiben. Und er erkannte Schnabelgesichter, aus denen ihn gelbe Punkte gnadenlos anstarrten. Seferen!
Die Janusköpfe haben uns in eine Falle gelockt, fauchte der Dämonenkiller.
Aber er war entschlossen, sein Le­ben so teuer wie möglich zu verkau­fen. Er hielt den Ys-Spiegel fest um­klammert.


Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 30, 1. Spalte, 4. Absatz - Seite 35, 1. Spalte, 6. Absatz

Januswelt Malkuth.
Coco machte zwei zögernde Schritte nach vorn. Sie wollte schon durch die Öffnung treten. Aber dann, als sie den von Sehnen und Muskeln durchwobenen Ring nahe vor sich sah, überlegte sie es sich anders. Die Öffnung erinnerte sie an das Maul ei­nes Oktopus.
Einer der beiden Janusköpfe machte eine herrische Bewegung, um Coco zur Eile anzutreiben. Doch die ehemalige Hexe aus der Familie Zamis rührte sich nicht vom Fleck. Sie wandte sich dem Januskopf langsam zu und begegnete seinem zwingenden Blick gelassen. Sie versuchte, ihre hypnotischen Kräfte auf ihn wirken zu lassen. Aber das gelang ihr nicht.
Der Januskopf machte eine geziert wirkende Bewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen, und Coco verspürte dabei einen leichten geistigen Schlag.
„Was passiert mit mir, wenn ich durch diese Öffnung gehe?“ fragte sie.
Die beiden Janusköpfe zeigten durch keine Regung ihre Verblüf­fung, wie sehr es sie auch überra­schen mußte, daß einer ihrer willen­losen Gefangenen gegen sein Schick­sal aufbegehrte. Das war ihnen gewiß noch nie widerfahren!
Der Januskopf machte wieder eine befehlende Geste.
„Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis ich erfahre, welches Schicksal mir zugedacht ist", sagte Coco entschlossen.
Der riesige Muskel schloß sich mit einem seufzenden Geräusch.
„Das ist interessant“, sagte der an­dere Januskopf und betrachtete Coco mit plötzlich erwachtem Interesse. "Spürst du nicht den Zwang in dir, unseren Befehlen zu gehorchen?“
Bevor Coco antworten konnte, fiel der andere Januskopf ein: „Wir müs­sen weitermachen. Die Versorgung darf nicht unterbrochen werden.“
„Dann ziehen wir den anderen Gefangenen vor“, sagte der Januskopf, dem Coco widersprochen hatte. „Diese hier hat mein Interesse ge­weckt. Ich möchte mich näher mit ihr befassen.“
Er wandte sich Dorian zu und be­fahl ihn durch ein Handkommando zur Muskelöffnung.
"Das funktioniert auch bei mir nicht“, erklärte Dorian. Er hatte zu­vor sein Hemd geöffnet und ließ nun seine Hand darunter verschwinden. „Zuerst werden Sie uns Aufklärung geben.“
Der Januskopf wandte ruckartig sein Knochengesicht in Dorians Rich­tung. Er hob die Arme und zeichnete blitzschnell irgendwelche magische Zeichen in die Luft.
Dorian zückte den Ys-Spiegel und hielt ihn abwehrend vor sich.
Der Januskopf erstarrte augen­blicklich mitten in der Bewegung. Angesichts dieser Bedrohung ver suchte der andere sich dadurch zu ret­ten, daß er den Kopf um 180 Grad wendete. Aber er kam nicht dazu, sein Scheingesicht aufzusetzen. Nach einer Drehung um 90 Grad hielt sein Kopf mitten in der Bewegung an. Ein Stöhnen kam aus seinem Mund, und er schielte hilflos zum Ys-Spiegel.
„Sie sehen, daß Ihre Magie auf uns nicht wirkt“, sagte Dorian. „Sie kön­nen sich jede weitere Mühe sparen.“
„Wer sind Sie eigentlich?“ fragte der Januskopf, dem die magische Be­schwörung mißlungen war. „Es ist unmöglich, daß Sie zu einem der Ge­fangenentransporte gehörten. Wie sind Sie hierher gekommen?“
Das Gehörte bestätigte Dorian, daß die Janusköpfe aus allen Teilen der Erde Menschen hierher verschleppt hatten. Wie viele Dimensionstore un­terhielten sie eigentlich?
„Wir sind durch Jasos Tor gekom­men“, antwortete Coco wahrheits­gemäß.
„Jaso? Wo ist er?“ fragte der an­dere Januskopf, der sein Gesicht wie­der mühsam in die richtige Position gebracht hätte. „Was ist aus ihm ge­worden?“
Coco schwieg, und auch Dorian gab nicht sofort Antwort. Er hielt es für klüger zu verschweigen, daß es Jaso nicht mehr gab und daß er schuld an seinem Tod war. Deshalb sagte er nur: „Das kümmert mich nicht. Und Sie sollten sich auf diesen Spiegel konzentrieren. Ich nehme an, Sie ken­nen seine Macht?“
Der angesprochene Januskopf un­ternahm einen zweiten Anlauf, die Gefangenen zu bezwingen. Blitz­schnell warf er die Arme in die Luft, um seine Magie zu beschwören.
Doch weit kam er damit nicht. Do-rian hob den Ys-Spiegel vor sein Ge­sicht. Die Dämonium-Seite war auf den Januskopf gerichtet. Durch die leicht milchig verfärbte Spiegel­fläche sah der Dämonenkiller in der Luft Zeichen der Janussprache auf­. leuchten. Der Ys-Spiegel machte die magischen Symbole sichtbar. Sie ver­flüchtigten sich aber sofort wieder, als die Kräfte des Spiegels auf den ja­nusköpfigen Magier wirksam wur­den. Er konnte seine Finger nicht mehr kontrollieren.
„Sind Sie jetzt von der Echtheit des Spiegels überzeugt?“ erkundigte sich Dorian spöttisch. „Oder wollen Sie eine zweite Kostprobe?“
„Nein, nur das nicht!“ stieß der be­troffene Januskopf erschrocken her­vor. „Kether könnte dadurch Scha­den nehmen, und das kann auch nicht in Ihrem Sinn sein. In seinem augenblicklichen Zustand ist er für alle möglichen Reize empfänglich und deshalb unberechenbar.“
„In welchem Zustand befindet sich Kether denn?“ fragte Coco.
„Er nähert sich dem Höhepunkt ei­ner Krise!“
Der Schließmuskel am Ende des Korridors verfiel plötzlich in Zuckungen und verkrampfte sich dann in geschlossenem Zustand zu einem knotenartigen Gebilde. Dahinter er­tönten Geräusche wie von Explosio­nen, deren Druckwellen den Korridor erschütterten.
„Die Krise verschärft sich!“ rief der Januskopf, an den Coco die letzte Frage gerichtet hatte, alarmiert. „Wir müssen rasch handeln, bevor es zu spät für Maßnahmen ist.“
„Sie werden gar nichts unterneh­men!“ sagte Dorian drohend. „An­dere können sich um Kether küm­mern. Sie werden sich uns zur Verfü­gung halten. Wie kann ich Sie nennen?"
„Leto — und das ist Fila“, sagte der Januskopf, der schon einmal ver­sucht hatte, sein Scheingesicht her­vorzukehren. Sein Kopf ruckte hin und her, als versuche er es neuerlich. „Was bezwecken Sie denn eigent­lich?“
„Zuerst einmal wollen wir nur eini­ge Auskünfte“, antwortete Dorian.
„Aber später werden wir auch über die Freilassung der Gefangenen ver­handeln müssen“, fügte Coco hinzu.
Jenseits des verkrampften Mus­kelknotens kam es erneut zu schwe­ren Detonationen. Die folgenden Er­schütterungen waren stärker als zuvor.
Der Januskopf Leto ließ seine Handkante über die Wand des Korri­dors gleiten. In der fleischigen Masse bildete sich ein tiefer Schnitt. Er klaffte auf, so daß sich eine übermannsgroße Öffnung bildete.
„Was machen Sie da?“ wollte Dorian wissen.
„Ich öffne uns nur einen Fluchtweg — für alle Fälle“, sagte Leto. „Und nun erlauben Sie mir, daß wir etwas zur Besänftigung des Krisenherdes tun. Vergessen Sie nicht, daß sich dort einige Ihrer Artgenossen be­finden.“
„Tun Sie, was getan werden muß, Leto“, sagte Dorian.
Er glaubte den Janusköpfen, daß Hilfsmaßnahmen für Kether wichtig waren. Trotzdem blieb er wachsam, als sich Leto dem verkrampften Mus­kelgebilde zuwandte und seine Finger virtuos darübergleiten ließ.
Die Detonationen verstummten. Der Muskel entspannte sich zuckend und öffnete sich mit einem Seufzer. Durch die entstandene Öffnung kam ein Strom frischer Luft.
Dorian fragte nicht nach dem Schicksal der Menschen, die diese Muskelöffnung passiert hatten. Er wollte gar nicht daran denken, um sich nicht Vorwürfe machen zu müs­sen, daß er sie nicht rechtzeitig in Si­cherheit gebracht hatte. Andererseits hatte er nicht voraussehen können, welchen Weg sie gehen würden. Er verscheuchte diese Gedanken, um sich nicht zu sehr von den unmittelba­ren Problemen ablenken zu lassen.
„Wo können wir uns ungestört mit­einander unterhalten?“ erkundigte er sich.
Leto deutete auf die Wandöffnung, die er geschaffen hatte. Er schritt vor­an und sagte:
„Folgen Sie mir.“
Coco und Dorian schlossen sich ihm an, Fila bildete den Abschluß.

* * *

Sie kamen in einen schlauchförmi­gen, transparenten Wurmfortsatz. Er führte von einer der Zäpfchenwände quer durch das Gewölbe mit dem Ko­kon, in den das große Ei-Organ eingebettet war.
Von hier hatten sie einen guten Überblick. Sie konnten die Gescheh­nisse beobachten, ohne selbst davon betroffen zu sein. Nur die geradezu eruptiven Stöße, die den ganzen Organismus erschütterten, bekamen auch sie zu spüren. Aber der transpa­rente Schlauch dämpfte die Stöße.
Rund um sie ging es drunter und drüber.
Janusköpfe eilten wie kopflos hin und her. Sie vollführten sinnlos an­mutende Gesten und Gebärden. Sie schnitten mit ihren Scheingesichtern furchterregende Grimassen und vollführten groteske Tänze, als hätten sie den Verstand verloren.
Und doch wußte Dorian, daß das al­les zu einem magischen Ritual ge­hörte, das ungeheure Kräfte frei­setzte. So mächtig die Magie der Ja­nusköpfe auch war — ihre Wirkung reichte jedoch nicht aus, die Ruhe in Kether wiederherzustellen.
Die Flüssigkeit in dem Riesenei hatte sich inzwischen so dunkel ver­färbt, daß das Innere nicht mehr zu sehen war.
„So, jetzt sagen Sie uns, was Sie ei­gentlich wollen“, forderte Leto. „Aber machen Sie kurz. Kether braucht uns.“
„Worauf ist Kethers Krise zurück­zuführen?“ fragte Coco.
„Was kümmert Sie das?“ herrschte Fila sie ungeduldig an.
„Könnte ich ihm vielleicht mit dem Spiegel beistehen?“ erkundigte sich Dorian scheinheilig.
„Unterlassen Sie das!“ rief Fila ent­setzt, als er sah, wie Dorian den Spie­gel hob. Wie groß mußte die Sorge der Janusköpfe urbi Kether sein, wenn sie sich auf ihrer eigenen Welt so leicht einschüchtern ließen! Das entsprach eigentlich gar nicht ihrer Mentalität — und Dorian wollte die Sache auch nicht auf die Spitze treiben.
Zu dieser Auffassung war auch Coco gekommen, denn sie sagte: „Was wir wollen, ist folgendes: Sie haben einen Ihrer Artgenossen von der Erde verschleppt. Den sollen Sie uns ausliefern. Ich rede von Olivaro.“
Dem Januskopf stellten sich die Haare auf, und eine leicht pulsie­rende Aura bildete sich darum.
„Sie meinen den entarteten Varo?“ fragte er. „Was wollen Sie mit ihm? Sein Geist ist so sehr verwirrt, daß es für ihn vermutlich keine Rettung mehr gibt.“
„Wir verlangen nur, daß Sie ihn an uns ausliefern“, erklärte Dorian. „Al­les andere lassen Sie unsere Sorge sein. Eine schnelle Entscheidung sollte auch in Ihrem Sinne sein.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte begann außerhalb des Schlauches der Organismus wieder zu toben. Das Ge­rüst aus Röhren, Muskeln und Zellge­weben, in das das Riesenei eingebet­tet war, begann sich unter gewalti­gem Druck zu verformen. Die Janus­köpfe hatten alle Hände voll zu tun, diese freiwerdenden Kräfte mit ihrer Magie zu bändigen.
”Und was bekommen wir als Ge­genleistung?“ fragte Leto. Er blickte dabei bezeichnend auf den Ys-Spiegel.
„Das schlagen Sie sich besser aus dem Kopf“, sagte Dorian. „Sie kön­nen froh sein, wenn ich den Spiegel nicht einsetze. Wenn Sie uns Olivaro überlassen, dann kehren wir sofort zur Erde zurück. Das verspreche ich Ihnen.“
Leto sagte nach einer Weile: „Das kann ich nicht allein entscheiden. Fila wird sich mit den anderen be­raten.“
Fila machte ein paar Zeichen in die Luft und löste sich scheinbar in Luft auf. Dorian konnte es nicht verhin­dern. Es ging zu schnell. Das zeigte ihm, daß er gegen die Magie der Janusköpfe kein wirkungsvolles Mittel hatte. Der Ys-Spiegel war ihr einziger Schutz.
„Warum hassen die Janusköpfe uns Menschen eigentlich so?“ fragte Dorian.
„Die Menschen sind für viele Schrecken auf unserer Welt verant­wortlich“, antwortete Leto leiden­schaftlich. „Haben Sie gewußt, daß die negativen Produkte, die Ihr Geist schafft, bei uns Realität werden? Gut — dann wissen Sie auch, daß es für uns ums überleben geht. Entweder wir oder die Menschen. Wir müssen alle jene ausrotten, die in der Lage sind, Psychos auf unsere Welt zu pro­jizieren.“
„Ausrotten!“ sagte Coco bitter. ”Haben Sie noch nicht nach einer an­deren Möglichkeit gesucht?“
„Aber sicher“, meinte Leto spöt­tisch. „Ich fürchte nur, die anderen Möglichkeiten werden Ihnen ebenso­wenig behagen. Wir ventilieren sie noch. Vielleicht ergibt es sich, daß wir die Menschen zu unseren Dienern machen, wer weiß.“
„Und eine friedliche Lösung ziehen. Sie erst gar nicht in Betracht?“ er­kundigte sich Dorian. Was konnte er von diesen Wesen, die die Dämonen der Schwarzen Familie an Bösartig­keit und Grausamkeit vermutlich übertrafen, denn auch anderes erwar­ten? Olivaro hatte einmal gesagt, daß ihre Welt die Hölle war, die sie ge­formt hatten. Inwieweit das stimmte, wußte Dorian nicht In Kether waren die Schrecken jedoch nicht so groß — es gab nichts, was die Janusköpfe mit ihrer Magie nicht beherrschen konnten.
Wo waren dann aber die Schrecken?
Als könnte Leto seine Gedanken le­sen, sagte er: „Sie dürfen von Kether nicht auf ganz. Malkuth schließen. Hier herrscht eine magische Ord­nung. Hier können wir eine lücken­lose Kontrolle ausführen. So werden Sie hier auch keine Psychos antreffen — Kether ist für sie tabu.“
„Demnach ist Kether die einzige In­sel oder Oase der Ruhe und des Frie­dens innerhalb einer chaotischen Welt?“ fragte Dorian.
„Kether ist nicht die einzige Insel mit magischer Ordnung. Es gibt ins­gesamt neun solcher Oasen, wie Sie es nennen. Zusammen mit Chochmah und Binah bildet Kether die Beriah-Dreiheit.“
Das war neu für Dorian. Er wußte längst, daß Kether im Hebräischen „Krone“- hieß. Bisher hatte er an ei­nen Zufall geglaubt. Nun sprach Leto aber von „Chochmah“ und „Binah“ —und das waren ebenfalls hebräische Begriffe. Sie bedeuteten „Weisheit“ und „Vernunft“. Die Beriah-Trinity konnte mit „Ideenwelt“ übersetzt werden.
Das konnte kein Zufall mehr sein. Dorian fragte sich, ob die Janusköpfe die Namen für die „Häuser“ ihrer Welt aus dem Hebräischen bezogen — oder ob die Begriffe aus der Janus­welt in die Kabbalah übernommen worden war.
Dorians Gedanken drehten sich im Kreis. Je mehr er erfuhr, desto größer wurden die Rätsel. Vielleicht konnte man diese Rätsel später einmal er­gründen. Und wenn es gelang, Olivaro zu heilen, dann konnte sogar er die Fragen beantworten.
„Sind Chochmah und Hinab ebenfalls Wesenheiten wie Kether?“ erkundigte sich Coco. „Sind es ebenfalls solche Großorganismen, in denen die Janusköpfe ein Schmarotzerdasein führen?“
„Sie meinen das beleidigend“, stellte Leto ungerührt fest. „Aber Ihre Worte treffen mich nicht. Chochmah und Binah und Kether sind drei unabhängige Organismen. In jedem von ihnen herrschen andere magische Gesetze. Aber Sie können mir glau­ben, daß wir mehr als nur Parasiten in ihnen sind. Wir machen uns zwar ihre elektrischen und magnetischen Ströme zunutze. Doch wir nehmen nicht nur. Wir haben auch viel zu ge­ben, um die Organismen zu erhalten.“
„Demnach handelt es sich um eine Symbiose?“ vermutete Dorian.
„Nennen Sie es so. Kether etwa ge­währt uns Schutz vor dem allumfas­senden Chaos von Malkuth. Wir er­halten ihn dafür am Leben.“
„Jetzt ist mir klar, warum Sie so be­sorgt um Kether sind“, meinte Coco. „Wenn Kether die Krise nicht über­steht, dann muß er sterben — und Sie verlieren Ihren Unterschlupf. So ge­sehen ist die Bezeichnung ‚Haus' sehr treffend gewählt. Machen Sie für Kethers Krise etwa auch uns Men­schen verantwortlich?“
„Die Krise kommt aus Kether selbst.“
„Und wodurch wurde sie ausge­löst?“
„Es handelt sich um einen immer wiederkehrenden Zyklus ...“
Der Januskopf verstummte abrupt. „Warum sprechen Sie nicht wei­ter?“ wollte Dorian wissen.
„Es wurde alles gesagt“, sagte Leto knapp.
Dorian hob unwillkürlich den Spie­gel. Irgend etwas an der Haltung des Januskopfes mißfiel ihm. Coco schien ebenfalls die Gefahr zu spü­ren, denn sie klammerte sich unwill­kürlich an Dorian.
Der Dämonenkiller hatte das Ge­fühl, daß ihnen Leto nur deshalb so bereitwillig Auskunft gab, weil er sie hinhalten wollte. Jetzt schien eine Entscheidung gefallen zu sein.
„Leto, ich warne Sie!“ konnte Do-rian noch rufen. Dann veränderte sich plötzlich die Umgebung.
Plötzlich waren sie in einer Luft­blase eingeschlossen. Und sie befan­den sich in dem eiförmigen Gebilde. Das ohrenbetäubende Rauschen der um sie wirbelnden Flüssigkeit machte Dorian fast taub. Coco, die sich noch immer an ihn klammerte, rief irgend etwas, das er nicht verste­hen konnte.
Plötzlich sah Dorian durch die tintige Flüssigkeit eine zweite Luftblase herantreiben. Darin waren Schnabelgesichter zu erkennen, die aus gelben Augen gnadenlos zu ihnen herüber starrten.
Seferen!
Die Janusköpfe hatten sie in eine Falle gelockt. Aber der Dämonenkil­ler war fest entschlossen, ihrer beider Leben so teuer wie möglich zu ver­kaufen. Er hielt den Ys-Spiegel fest umklammert. 

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 32, 2. Spalte, 5. Absatz - Seite 42, 2. Spalte, 5. Absatz

Buzios.
Hubert Keller erreichte die ersten Häuser.

Als er stehenblieb, um Atem zu ho­len, stellte et erleichtert fest, daß von seinen Verfolgern nichts mehr zu se­hen und zu hören war.
Wohin sollte er sich wenden? In sein Haus wagte er sich nicht. Die Furien wußten, wo er wohnte, und womöglich erwarteten sie ihn dort mit ihren Raffia-Schnüren. Zu Al­cione Monteiros Anwesen konnte er auch nicht. Dort war er den Kether­-Mädchen erst recht ausgeliefert. Er ging die Liste seiner Freunde und Bekannten durch, um einen zu finden, in dessen Haushalt keine Frau wohnte. Denn soviel war Keller inzwischen klar - Lonrival da Silva hatte nur weibliche Wesen in seine Sekte aufgenommen.
Warum mußte denn die Mae Nara sterben? Wahrscheinlich wußte sie zuviel. Ihre hellseherischen Fähig­keiten hatten ihr gezeigt, was hier gespielt wurde. In Trance hatte sie die Gefahr erkannt - und das hatte sie zu einer Todeskandidatin ge­macht.
Lonrival da Silva war ein wahrer Teufel.
Keller fragte sich, warum das Böse gerade jetzt und mit solcher Heftig­keit ausgebrochen war. Was be­zweckte der Oga? Wollte er die Män­ner von Buzios ausrotten? Warum schickte er seine willenlosen Amazo­nen in den Krieg gegen die Männer?
Fragen über Fragen.
Keller befaßte sich nicht weiter mit ihnen. Für ihn ging es ums Überleben.
Martino Lessa!
Dieser Name erschien wie ein Leuchtfeuer in Kellers Geist. Ein verheißungsvoller Name. Er ver­sprach Rettung.
Martino Lessa war der einzige, von dem Keller wußte, daß er sich überhaupt nichts aus Frauen machte. Und es war bekannt, daß noch nie ein weibliches Wesen einen Fuß in sein Haus gesetzt hatte.
Es befand sich ganz in der Nähe, nur einige Straße weiter. Keller konnte in fünf Minuten dort sein.
Er erreichte die Hauptstraße. Hier herrschte trotz der vorgerückten Stunde ein unbeschreiblicher Tru­bel. In Buzios war die Nacht nicht zum Schlafen gedacht. Alle Bars wa­ren überfüllt und über die Haupt­straße wälzte sich eine unüber­schaubare Menschenmenge.
Was für ein Paradies mußte Buzios gewesen sein, bevor Brigitte Bardot und Bob Zaguri hierhergekommen waren und die verträumten Buchten für die Snobiety entdeckt hatten...
Keller drängte sich durch die Men­schenmenge. Er suchte nach bekannten Gesichtern - nach Mädchen mit Raffia-Schnüren, die er bei dem grausigen Ritual am Strand beob­achtet hatte.
Irgendjemand rief ihn an. Keller stellte sich taub. Er hastete weiter. Dort war die Seitenstraße. Nur noch wenige Schritte, und er konnte den Menschenstrom verlassen und schneller seinem Ziel zustreben.
Da drängte sich von hinten ein weicher, warmer Körper gegen ihn.
Feste Brüste drückten seinen Ober­arm. Er blickte zur Seite. Ein frem­des Mädchenanlitz blickte ihn an und schenkte ihm ein aufmuntern­des Lächeln. Er erwiderte das Lä­cheln sterotyp. Aber es gefror ihm auf den Lippen, als er die Raffia­-Schnur um den Hals des Mädchens sah. Sie spielte kokett damit.
„Hau ab!“ zischte Keller und drückte ihr die Pistole gegen den Bauch.
Das Mädchen begann zu schreien. Sofort wurden ringsum alle auf ihn aufmerksam.
„Er hat eine Pistole!“ schrie das Mädchen wie von Sinnen. „Es muß ein Wahnsinniger sein!“
Keller wußte selbst nicht, warum er sich so hatte gehenlassen. Als er die Raffia-Schnur gesehen hatte, war er in Panik geraten. Vielleicht war das Mädchen gar keine Besesse­ne gewesen... Egal - jetzt konnte er nichts mehr ändern.
Er bahnte sich mit Fäusten und El­lenbogen einen Weg durch die Passanten und tauchte in der dunklen Seitengasse unter. Von einem der erleuchteten Häuser erklangen die Klänge von Mariachi-Musik. Eine Frau sang mexikanische Lieder.
Er erreichte Lessas Haus. Alle Fenster waren dunkel. Das konnte um diese Zeit nur bedeuten, daß Martino ausgegangen war. Da er al­lein lebte und keine Dienerschaft hatte, würde das Haus verlassen sein.
Keller blickte sich verstohlen um und kletterte dann über den Zaun. Da war es ihm, als hörte er vom Haus ein Geräusch. Er blieb stehen und warf sich hinter ein Gebüsch. Dort verharrte er reglos einige Minuten. Nichts war zu hören.
Ich mache mich nur selbst ver­rückt, sehe schon überall Gespenster, dachte er.
Er wollte sich schon erheben, als er das Geräusch wieder hörte. Diesmal ganz deutlich. Als er zu einem der Fenster im Erdgeschoß blickte, be­merkte er hinter den vorgezogenen Vorhängen einen schwachen Licht­schein.
Er schlich vorsichtig hin. Durch den Spalt sah er nicht viel. Das diffu­se, flackernde Licht schien von einer Kerze zu stammen. Sie beleuchtete ein Paar ausgestreckte Männerbeine auf dem Boden. Mehr konnte Keller nicht sehen.
Dann tauchte ein Schatten an der Wand auf und geisterte vorbei. Ihm folgte ein Mädchen. Es hantierte an den Männerbeinen - und dann hielt sie eine Hose in der Hand und warf sie achtlos in eine Ecke.
Keller betrachtete das Gesicht des Mädchens. Es war ihm nicht unbekannt, doch wußte er nicht, wo er es schon einmal gesehen hatte. Das Mädchen zeigte einen entrückten Ausdruck.
Ein zweiter Schatten erschien. Ein weiteres Mädchen. Gemeinsam ho­ben sie den Körper hoch und trugen ihn aus dem Raum. Keller konnte ei­nen kurzen Blick auf das Gesicht des Mannes werfen.
Es war Martino Lessa. Sein Gesicht war bläulich angelaufen. Der Mund war weit geöffnet, und die aufge­quollene Zunge stand weit heraus. Sein Hals wurde von einer Raffia-­Schnur umschlungen.
Keller zitterte am ganzen Leib. Warum diese sinnlosen Morde? Und warum Martino Lessa, der harmlos war und nie jemandem etwas getan hatte? Nach welchen Gesichts­punkten wählte der Götze Kether seine Opfer aus?
Keller hörte eine Tür gehen. Es wäre sinnlos gewesen, die Mädchen zu stellen. Er konnte sie nicht einfach abknallen. Mit welcher Begrün­dung? Bei Leila war das etwas ande­res gewesen: Notwehr.
Keller hörte nun trippelnde Schritte im Garten. Die Mädchen keuchten unter ihrer schweren Last. Er wandte sich der Garage zu. Sie stand offen. Er konnte den Kühler­grill des Mercedes im Mondlicht schimmern sehen.
Als er den Wagen erreichte, stellte er erleichtert fest, daß der Schlüssel steckte. Die Schritte der Mädchen näherten sich der Garage.
Keller stieg in den Wagen und star­tete. Der Motor sprang sofort an und heulte auf, als er Gas gab. Draußen erhob sich ein Geschrei. Eines der Mädchen tauchte plötzlich vor der Garage auf. Sie stellte sich mit erho­benen Händen vor den Wagen. Keller gab Gas und fuhr an. Das Mädchen wich nicht von der Stelle.
Er fuhr sie leicht an. Da schrie sie wie markerschüttend und sprang auf den Kühler. Auf der Fahrerseite tauchte das zweite Mädchen auf. Sie langte durch das offene Fenster und packte ihn bei den Haaren. Er ver­suchte, sie abzuschütteln. Gleichzei­tig trat er das Gaspedal bis zum An­schlag durch.
Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Durch die Wucht der Beschleu­nigung wurde das Mädchen auf dem Kühler gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Sie verlor den Halt und fiel vom Wagen.
Die andere Furie hielt sich immer noch an seinen Haaren fest und ließ sich mitschleifen. Keller schoß gegen das Gartentor. Scheppernd zerbrach es. Endlich ließ auch das zweite Mäd­chen los. Er spürte einen ziehenden Schmerz im Hinterkopf, als es ihm ein Büschel Haare ausriß.
Im Rückspiegel sah er, daß sich beide Mädchen aufrafften, um die Verfolgung wieder aufzunehmen.
Keller wollte der Hauptstraße aus­weichen, wo es um diese Zeit für ei­nen Wagen kein Weiterkommen gab, und bog links ein.
In dieser Richtung lag auch der Flugplatz. Sich eine Piper zu mieten und nach Rio abzufliegen - das wäre der sicherste Fluchtweg gewesen. Keller war aber nicht mehr sicher, daß er es schaffen konnte. Er hatte die dunkle Ahnung, daß die Furien Buzios bereits hermetisch abgerie­gelt hatten.
Wahnsinn! Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Keller kam auf eine breite Aus­fallstraße. Der Fahrtwind, der durch das offene Seitenfenster strich, tat ihm gut. Armer Martino. Armer To­nio.
Er bremste scharf ab, als er um ei­ne Kurve kam und den Wagen sah, der quer über der Fahrbahn stand. Es handelte sich um einen Lieferwa­gen. Der Kühler war eingedrückt. Es schien, als sei er gegen einen Baum geprallt.
Aber Keller war auf der Hut. Das konnte eine Falle der Furien sein.
„Hallo!“ rief er. „Ist jemand ver­letzt?“
Ein Stöhnen war die Antwort. Kel­ler schaltete das Fernlicht ein und fuhr ein Stück näher. Dann legte er sofort den Rückwärtsgang ein. Im grellen Licht der Scheinwerfer sah er im deformierten Führerhaus des Wagens ein Mädchen auf dem Bei­fahrersitz. Ihr Kopf lehnte an der Windschutzscheibe, ihr Gesicht war abgewandt. Sie saß auf dem Beifah­rersitz. Wo war der Fahrer?
Da sah er die Raffia-Schnüre, die sich um den Oberam des Mädchens spannten. Er fuhr ein Stück zurück, um unter den Wagen blicken zu kön­nen. Dort lag der reglose Körper ei­nes Mannes. Er bewegte sich, als würde ihn jemand vorsichtig fort­ziehen. Keller sah aber noch die Strangulationsmale an seinem Hals.
Da zögerte er nicht länger. Er fuhr zurück. In diesem Augenblick ertön­te ein wüstes Geheul. Die hinteren Türen des Lieferwagens flogen auf - und zwei Furien sprangen auf die Straße.
Keller fuhr mit Vollgas davon.
Nichts wie weg von hier! Vielleicht war es doch besser, nach Buzios zurückzukehren und in dem Trubel unterzutauchen. Unter Menschen war er nicht so hilflos. Und die Fu­rien würden es wohl kaum wagen, ihn vor aller Augen zu erwürgen.
Dabei hatten sie es gar nicht nur auf ihn abgesehen. Zuerst hatte er angenommen, die Mädchen hätten sich in einer Sekte zusammenge­schlossen, um sich für die oftmals entwürdigende Behandlung zu rä­chen, die sie durch die Playboys er­fahren hatten. Aber der Fahrer des Lieferwagens gehörte nicht in diese Kategorie. Was konnten sie gegen ihn schon haben. Also ein Komplott gegen die gesamte Männerwelt?
Irrsinn. Es war tatsächlich ein ver­rückter Gedanke: Die Frauen erho­ben sich, um furchtbare Rache an den Männern zu nehmen, von denen sie sich seit undenklichen Zeiten unterdrückt fühlten.
Keller erreichte Buzios, stellte den Wagen in einer Seitenstraße ab und mischte sich unter die Menge. Er hielt nach Raffia-Schnüren Aus­schau. Niemand schenkte ihm Be­achtung, und das war gut so.
Die Lichtreklame der Bar do Her­nando stach ihm ins Auge. Bei Her­nando war um diese Zeit meist schon allerhand los. Und auch heute war der Laden gesteckt voll. Das konnte Keller feststellen, als er das Ende der nach unten führenden Wendeltreppe erreichte.
Von der Bar winkten einige Män­ner, und die Mädchen protesten ihm zu. Es herrschte ein unbeschreib­licher Lärm. Die Luft war zum Schneiden dick. In den Separees be­fanden sich die Liebespaare im Clinch.
Keller waren die vielen bekannten Gesichter sofort aufgefallen. Doch erst nach und nach erkannte er, daß er sie alle zuvor bei Alcione Monteiro gesehen hatte. Hier war die ganze Clique versammelt.
Und da war auch Lonrival da Sil­va. Er trug die obligate Sonnenbrille und den breitkrempigen Sombrero. Und er wiegte sich im Samba-Schritt.
Keller wäre am liebsten davonge­rannt. Aber irgendjemand zog ihm am Arm von der Treppe. Dann lag ein weicher Körper in seinen Armen, und halbgeöffnete Lippen preßten sich auf die seinen.
Er hätte am liebsten hysterisch aufgeschrien. Das Mädchen ließ ihn los, als sie seine Gegenwehr bemerk­te, und machte irgendeine spöttische Bemerkung. Alle lachten. Nur Keller fühlte sich hundeelend.
Lonrival da Silva kam tänzelnd zu ihm. Er zeigte seine weißen Zähne. Keller wollte vor ihm fliehen. Aber da raunte ihm der Curandeiro zu: „Ich muß Sie sprechen, Hugh. Es ist wichtig. Ich muß mit Ihnen reden, weil Sie der einzige sind, der die Ge­fahr erkannt hat. Vertrauen Sie mir - bitte!“

* * *

 Lonrival da Silva erinnerte sich noch genau an die Vision, die er vor knapp zwei Wochen gehabt hatte. Sie leitete eine entscheidende Wende in seinem Leben ein. Doch jetzt erkannte er, daß sie keine Wendung zum Guten gewesen war.
Als Geistheiler hatte er sich einen großen Namen gemacht. Er, der verwaiste Indio, der von einer Sekte in Bahia großgezogen worden war und die Armut in all ihren Spielarten kennengelernt hatte, war auf einmal mit den reichsten Leuten von Brasi­lien und den Staaten per du.
Bekannte Wissenschaftler aus aller Welt kamen zu ihm, um ihm bei seinen spektakulären Operationen auf die Finger zu sehen - und waren von dem Gebotenen beeindruckt.
Ob es sich um eine Blinddarm­operation, um eine Abtreibung oder auch um das Entfernen eines Gehirntumors handelte - Lonrival meisterte Operationen aller Schwie­rigkeitsgrade. Ihm genügte dazu ein einfaches Küchenbesteck. Alles an­dere schaffte er mit reiner Geistes­kraft.
Mit der Kraft seines Geistes lokali­sierte er den Krankheitsherd. Sein Geist stellte die Diagnose - und steri­lisierte rostige Messer und Scheren. Das Drumherum war reine Show...
Doch Lonrival hatte sich damit nicht begnügen wollen. Er strebte nach Höherem. Er wollte Macht, und er wollte anderen seine Methoden lehren, damit er auch über sie Macht ausüben konnte und damit seine Schüler seine Macht ausdehnten.
Lonrival fand nichts Unmorali­sches dabei, denn es war dem Men­schen nun einmal gegeben, nach Hö­herem zu streben, wieviel er auch erreicht hatte.
Und dann hatte er die Vision.
Er sah ein Wesen mit zwei Gesich­tern. Das eine Gesicht bestand nur aus Knochen und war erschreckend. Das andere Gesicht hätte das eines Heiligen sein können. Und die beiden Gesichter sprachen abwechselnd zu ihm.
„Lonrival“, sagte das Knochenge­sicht. „Du bist ausersehen, ein Diener des Gottes Kether zu werden, der zu deiner Welt hinabsteigen wird. Du sollst Kethers Hohepriester sein. Erbaue ihm einen Tempel. Es braucht kein Bauwerk aus Stein zu sein - nimm einfach ein kleines Stück Land deiner Welt, etwa Buzios, und weihe es deinem Gott Kether.“
„Du wirst einst alle Macht der Welt besitzen“, sagte das Heiligengesicht auf der Rückseite des Kopfes ein­schmeichelnd, „wenn du deine Fä­higkeiten richtig einsetzt. Jeder Mensch, den deine begnadeten Hän­de berühren, wird dir hörig sein, wenn du es im Namen deines kom­menden Gottes Kether tust.“
„Aber gib acht - Kether will nur Diener eines einzigen Geschlechts. Wähle also nur Frauen aus, die Krö­nung eurer Schöpfung. Denn Kether - das bedeutet Krone.“
In der Folge waren dann die Bilder so schnell vor seinem geistigen Auge abgelaufen, daß er sie später nicht mehr in einzelnen Szenen aufglie­dern konnte. Aber die Bilder zeigten ihm eindrucksvoll den Weg, den er gehen mußte, um Diener für seinen neuen Gott zu schaffen.
Es war ganz einfach. Wenn er zu einer Patientin gerufen wurde, so genügte es, ihnen statt des geisthei­lenden Operation ein magisches Buchstabenquadrat in den Körper zu ritzen:
KETHER ETHERE THEREH HEREHT ERETHE REHTEK -Vari­ationen des Namens seines neuen Gottes.
Er tat dies reinen Gewissens, denn er was davon überzeugt, daß sie wie er zu Höherem bestimmt waren, daß Kether sie zum Licht führen würde.
Doch es war ein Weg in den Ab­grund.
Zuerst war Lonrival in seinem Fa­natismus blind für die Realität ge­wesen. Er sah die Zeichen des kom­menden Unheils einfach nicht. Dann sah er sie, aber er wollte sie nicht wahrhaben. Er war verblendet.
Erst als er bemerkte, daß seine Dienerinnen ihm nicht mehr ge­horchten, sondern im Namen Ket­hers mordeten, da begriff er, daß er überlistet worden war. Entweder war Kether, ein blutrünstiger Götze - oder ein bösartiger Dämon hatte ihn für seine Zwecke mißbraucht.
Dieser Dämon mit den zwei Ge­sichtern.
Als Lonrival da Silva feststellte, daß „seine“ Mädchen wahllos Män­ner ermordeten, um ihre Opfer dann auf heidnische Weise aufzubahren oder zu verscharren, hatte er ver­sucht, sie mit synkretistischen Leh­ren, wie man sie ihm in Bahio beige­bracht hatte, auf den rechten Weg zurückzubringen.
Doch sie hatten ihn nur ausgelacht. Er erinnerte sich noch genau an die Worte, die eines der Mädchen zu ihm gesagt hatte.
„Wenn du versuchst, uns gegen Kether aufzuhetzen, dann wird er dich durch unsere Hand bestrafen. Tanze, Oga! Heile, Oga! Und führe unserem Kreis noch viele, viele Gleichgesinnte zu.“
Von diesem Augenblick an wußte Lonrival, daß er keine Macht mehr über die Mädchen hatte. Sie hörten nur noch auf die Befehle des doppelköpfigen Dämons. Er war nicht mehr ihr Oga, sondern wurde immer mehr zu ihrem Sklaven. Sie waren es, die ihn zu Häusern führten, in denen Frauen wohnten, die sie in ihren Kreis aufnehmen wollten. Sie waren es, die ihn dazu nötigten, seine Instrumente zu führen und den „Novi­zinnen“ die magischen Buchstaben­quadrate in die Körper zu schneiden.
Er war in einen Teufelskreis geraten, aus dem er nicht mehr entkommen konnte...
Und es waren die Mädchen, die ihn zwangen, mit ihnen die Bar do Hernando aufzusuchen, wo die Männer willige Opfer abgaben.
Lonrival hatte keine andere Wahl, als mit den Mädchen zu gehen. Sonst würde er ein unrühmliches Ende nehmen. Vielleicht, so hatte er an­fangs gehofft, würde er eine Mög­lichkeit finden, die potentiellen Op­fer zu warnen. Doch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch.
Bis dann plötzlich Hugh Keller auftauchte, den er selbst noch vor ei­nigen Stunden gejagt hatte.

* * * 

Kellers erster Gedanke war, daß Lonrival ihn in eine Falle locken wollte.
Doch - warum sollte er das nötig haben?
Keller ging an die Bar und bestellte Whisky. Eine bekannte Mädchenstimme sagte zu ihm: „Schöne Grüße von Leila. Sie will dich schnellstens wiedersehen.“
Keller blickte in Marcias Gesicht. Er verstand die Anspielung. Marcia hatte die Maske fallen lassen. Ihm gegenüber brauchte sie nicht mehr Theater zu spielen. Er wußte, was für ein Teufel sie war.
Er stürzte seinen Whisky hinunter und fragte dann mit belegter Stim­me: „Warum tut ihr das, Marcia?“
„Wir sind es Kether schuldig.“
„Ihr seid wahnsinnig. Ihr tötet für einen fiktiven Götzen...“
„Kether lebt!“ Sie schrie es fast, aber die Musik übertönte ihre Worte. „Wir alle spüren, daß er bald zu uns herabsteigen wird. Wir opfern ihm, um ihm einen würdigen Empfang zu bieten.“
„Ihr seid wahnsinnig“, wiederholte Keller. Er packte Marcia an der Schulter und schüttelte sie. „Komm zu dir, Mädchen. Besinne dich. Be­greife, daß Lonrival euch verhext hat!“
Marcia verzog spöttisch den Mund.
„Lonrival ist ein Hampelmann. Er hat nichts zu sagen. Kether ist in uns.“
Und bei diesen Worten strich sie sich über ihren Bauch. Keller blickte unwillkürlich hin. Er stellte fest, daß sich ihr Bauch stark nach vorn wölb­te.

„Kether ist in uns allen“, sagte Marcia wieder und spielte dabei mit einer Raffia-Schnur.
Keller blickte sich suchend um. Er hielt nach den anderen Mädchen Ausschau. Entsetzt stellte er fest, daß alle jene, die durch ihre Raffia-Schnüre als Kether-Mädchen gekennzeichnet waren, pralle Leiber hatten.
Als seien sie schwanger.
„Was wollt ihr hier?“ fragte Keller gehetzt.
„Rate mal!“
Keller wandte sich ab. Da stand Karla vor ihm.
„Du gehörst mir, Hugh“, sagte sie wie nebenbei und schob sich an ihm vorbei zur Bar.
Keller begann zu zittern. Gab es denn keine Möglichkeit, dem Schick­sal eine Wendung zu geben? Er konnte nicht zulassen, daß die Mäd­chen alle Männer in diesem Lokal einfach abschlachteten. Er mußte sie warnen.
Keller drängte zum Ausgang. Lon­rival kam wieder tänzelnd heran.
„Nun?“ raunte er.
Keller war geneigt, ihm zu ver­trauen, nachdem Marcia so abfällig über ihn gesprochen hatte.
„Wo können wir uns treffen?“ fragte Keller leise zurück.
„In Hernandos Büro“, antwortete Lonrival. „Sofort. Die Mädchen wer­den Sie nicht daran hindern. Sie versperren nur den Ausgang. Ich fol­ge Ihnen in ein paar Minuten.“
Keller zündete sich eine Zigarette an und schlenderte zum hinteren Teil der Bar, der zu den Privaträu­men führte. Ein Mädchen, das Raf­fia-Schnüre trug, streifte ihn provo­zierend mit ihrem vorgewölbten Bauch.
„Willst du deine Leidensgenossen nicht warnen, Hugh?“ fragte sie. Ihr Partner lachte dazu dämlich.
Keller ging weiter. Vielleicht war­teten die Mädchen wirklich nur dar­auf, daß er die Männer warnte, um einen Anlaß zu haben, mit dein Mas­saker zu beginnen.
Keller stieß die Pendeltür auf und betrat den Korridor. Er ging bis an sein Ende. Dort war Hernandos Büro. Ohne zu klopfen trat er ein - und prallte entsetzt zurück.
Hernando war mit Raffia-Schnü­ren an einen Sessel gebunden, und zwar mit dem Kopf nach unten. Sein Hals war so stark eingeschnürt, daß man ihn mit Daumen und Zeigefinger hätte umfassen können. In seiner leblosen Rechten brannte noch eine Zigarre. Bei Kellers Schritten entfiel sie seinen steifen Fingern und lande­te auf dem Boden. Die Glut brannte sofort ein Loch in den Teppich. Kel­ler wollte sie austreten, um einen Brand zu verhindern.
Feuer!
Vielleicht war das die Rettung!
Die Tür flog auf. Keller wirbelte herum, den Revolver schußbereit.
„Nicht schießen! Ich bin es!“ rief Lonrival entsetzt.
Keller senkte die Waffe trotzdem nicht.
„Warum plötzlich dieser Sinnes­wandel, Lonrival?“
Der Curandeiro sank in sich zu­sammen.
„Die Mädchen sind mir über den Kopf gewachsen. Ich habe keine Ge­walt mehr über sie. Sie sind von ei­nem bösen Dämon besessen.“
„Ich dachte, Sie seien dieser Dä­mon. Es scheint, als hätten Sie die Mädchen im Namen Kethers zum Morden angestiftet.“ Keller schütte­te den Inhalt des Papierkorbs über die glosende Zigarre. „Ich habe gese­hen, wie Sie Alexandra Monteiro diesen Namen in den Körper ge­schnitten haben. Vermutlich haben Sie das mit allen Mädchen getan.“
Lonrival nickte und beteuerte gleichzeitig: „Aber ich habe nicht ge­wußt, welche Wirkung ich damit er­zielen würde. Ich wurde selbst ge­täuscht, Hugh. Haben Sie gemerkt, welche Veränderung mit den Mäd­chen vor sich gegangen ist? Sie ma­chen alle eine Scheinschwanger­schaft durch.“
„Sie sind der Spezialist für Abtrei­bungen.“
„Spotten Sie nur. Wenn wir keinen Ausweg finden, dann geht es uns allen an den Kragen.“
„Was erwarten Sie denn von mir?“
„Es gibt noch eine Chance für uns. Aber dabei brauche ich Ihre Hilfe. Die Mae Nara hatte viele Anhänger, die ihren Tod sicher rächen wollen. Ich habe versucht, mit ihnen in Kontakt zu treten. Aber es gelang mir nicht, weil die Mädchen mich dau­ernd bewachten. Wenn sie merken, daß ich ein falsches Spiel treibe, wer­den sie nicht zögern, auch mich zu tö­ten. Sie dagegen könnten es schaffen, sich bis zu den Leuten der Mae Nara durchzuschlagen.“
„Und wo finde ich sie?“
„Sie haben sich alle bei ihrer Hütte eingefunden, um die Totenwache zu halten. Suchen Sie sie auf und bitten Sie sie in meinem Namen um Hil­fe... Was tun Sie da?“
Keller hatte einige Schreibtisch­schubladen geöffnet und die darin befindlichen Papiere zu Boden ge­worfen. Er entzündete sie mit dem Feuerzeug.
„Ich bereite meine Flucht vor“, sagte Keller. „Außerdem ist dies wahrscheinlich die einzige Möglich­keit, um die Gäste aus dem Lokal zu bekommen und sie vor den Mädchen zu retten.“
„Gut, sehr gut“, sagte Lonrival zu­frieden. „Manchmal ist ein praktisch geschulter Menschenverstand besser als ein magisch geschulter. Das könnte gelingen.“
Keller wartete, bis sich das Feuer im ganzen Büro ausgebreitet hatte und auf die Möbel übergriff. Der Qualm war bereits so stark, daß sie kaum atmen konnten.
„Los, jetzt raus hier!”
Keller lief voran und rief aus Lei­beskräften:
„Feuer! Es brennt! Der ganze Hintertrakt steht in Flammen!“
Bei allem Optimismus hatte er nicht geplant, daß er eine solche Wir­kung erzielen würde. Der Ruf „Feu­er!“ breitete sich blitzschnell im Lo­kal aus - und im Nu brach eine Panik los.
Alles stürzte zu der schmalen Wen­deltreppe. Die Mädchen mit den Raffia-Schnüren versuchten vergeblich, ihre Verehrer zurückzuhalten und ihnen weiszumachen, daß es sich nur um einen Scherz handelte.
Keller stürzte sich ins Gedränge. Rücksichtslos erkämpfte er sich ei­nen Weg und erreichte schließlich die Wendeltreppe. Aber es schien ei­ne Ewigkeit zu dauern, bis er ihr Ende erreichte.
Sein Anzug hing ihm in Fetzen vom Leib, aber das kümmerte ihn nicht.
Oben hatte sich eine Menge Schau­lustiger versammelt, die nur gaffend dastanden und jene behinderten, die helfen wollten.
Keller bahnte sich zwischen ihnen einen Weg ins Freie.
Geschafft! dachte er.
Plötzlich war er von Kether-Mäd­chen umzingelt.
„Du willst doch die Party noch nicht verlassen, Hugh, obwohl sie kaum erst begonnen hat. Jetzt geht's erst richtig los. Die ganze Hautevolee trifft sich am Strand - Kethers Bucht.“
Eines der Mädchen begann plötz­lich zu wimmern. Sie krümmte sich und preßte die Hände gegen den Bauch. Keller wollte die Gelegenheit zur Flucht nutzen. Doch da schnür­te sich etwas um sein Handgelenk. Entsetzt erkannte er, daß Karla ihm eine Raffiaschnur umgeworfen hat­te, so daß er wie mit Handschellen an sie gekettet war.
Die anderen kümmerten sich um das sich vor Schmerz windende Mädchen.
„Das sind bereits die Wehen. Es wird höchste Zeit, daß wir zum Strand kommen. Ich spüre selbst schon ein Ziehen im Bauch...“
Keller wurde von Karla einfach mitgezerrt. Die Raffia-Schnur schnitt ihm schmerzhaft ins Hand­gelenk. Als er den Revolver zog, warf ihm ein Kether-Mädchen eine Raf­fia-Schnur um das andere Handge­lenk. Nun war er diesen Furien völlig hilflos ausgeliefert.
„Komm nur, Hugh. Ein großer Au­genblick steht dir bevor!“ rief Karla lachend. Die Umstehenden mußten glauben, daß es sich um ein neues Gesellschaftsspiel handelte.
Keller aber wußte, daß der Höhe­punkt der Schrecken bevorstand. Und er konnte das Grauen nicht mehr abwenden...

Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 35, 1. Spalte, 7. Absatz - Seite 42. 2. Spalte, 4. Absatz

Buzios.
Hubert Keller erreichte die ersten Häuser.
Als er stehenblieb, um Atem zu ho­len, stellte er erleichtert fest, daß von seinen Verfolgern nichts zu hören war.
Aber er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Nach Hause konnte er nicht, weil ihm dort die Furien ver­mutlich schon auflauerten.
Er ging im Geiste die Liste seiner Bekannten durch, um einen zu fin­den, in dessen Haushalt keine Frau. lebte. Denn soviel war Keller inzwischen klar: Lonrival da Silva hatte nur Frauen in seine Sekte aufge­nommen.
Warum mußte die Mae Nara ster­ben? Wahrscheinlich wußte sie zu­viel. Ihre hellseherischen Fähigkeiten mußten ihr gezeigt haben, was hier gespielt wurde. Und das machte sie zur Todeskandidatin.
Lonrival da Silva war ein wahrer Teufel.
Keller fragte sich, was der Oga be­zweckte. Wollte er die Männer von Buzios ausrotten? Warum sonst schickte er seine willenlosen Amazo­nen in den Krieg gegen die Männer?
Fragen über Fragen...
Martino Lassa!
Dieser Name flammte wie ein Leuchtfeuer in Kellers Geist auf. Ein verheißungsvoller Name. Er ver­sprach Rettung.
Martino Lassa war der einzige, von. dem Keller wußte, daß er sich über­haupt nichts aus Frauen machte. Es war bekannt, daß noch nie ein weibli­ches Wesen einen Fuß in sein Haus gesetzt hatte. Und er wohnte ganz in der Nähe. Keller konnte in fünf Minu­ten dort sein.
Er erreichte die Hauptstraße. Hier herrschte trotz der vorgerückten Stunde ein unbeschreiblicher Trubel. In Buzios war die Nacht nicht zum Schlafen gemacht. Alle Bars waren überfüllt, und über die Hauptstraße wälzte sich ein unüberschaubarer Menschenstrom.
Keller drängte sich durch die Menge. Er suchte nach bekannten Ge­sichtern, nach Mädchen mit Raffia-Schnüren.
Irgend jemand rief ihn an. Keller stellte sich taub. Er hastete weiter. Dort war die Seitenstraße. Er hatte nur noch wenige Schritte, dann war er aus dem Menschenstrom und würde rascher vorwärtskommen.
Da drängte sich ein weicher, war­mer Körper von hinten gegen ihn. Er blickte zur Seite, sah ein fremdes Mädchenantlitz, das ihm ein aufmun­terndes Lächeln schenkte. Er lachte stereotyp zurück. Aber dann sah er die Raffia-Schnur um den Hals des Mädchens.
„Hau abl“ zischte Keller und drückte ihr die Pistole gegen den Bauch.
Das Mädchen begann zu schreien. Sofort wurden ringsum alle auf ihn aufmerksam.
„Er hat eine Pistole!“ schrie das Mädchen.
Keller machte, daß er weiter kam. Mit Fäusten und Ellenbogen bahnte er sich einen Weg durch die Passan­ten und tauchte in der dunklen Sei­tenstraße unter. Von einer beleuchte­ten Terrasse erklang Mariachi-Musik. Eine Frau sang ein mexikanisches Lied.
Er erreichte Lassas Haus. Alle Fen­ster waren dunkel. Das konnte um diese Zeit nur bedeuten, daß Martino ausgegangen war. Da er allein und ohne Dienerschaft lebte, würde das Haus verlassen sein.
Keller blickte sich verstohlen um und kletterte dann über den Zaun. Da war es ihm, als hörte er vom Haus ein Geräusch. Er versteckte sich hinter einem Gebüsch. Dort verharrte er ein paar Minuten. Nichts regte sich.
Er wollte sein Versteck schon ver­lassen, als er das Geräusch wieder hörte. Diesmal ganz deutlich, ein Irr­tum war ausgeschlossen. Als er zu ei­nem der Fenster im Erdgeschoß blickte, bemerkte er hinter den Vor­hängen einen schwachen Lichtschein.
Vorsichtig schlich er hin und sah durch einen Spalt zwischen den Vor­hängen in den Raum. Er erblickte ein Paar Männerbeine, das von flackern­dem Kerzenschein beleuchtet wurde, ausgestreckt auf dem Boden. Ein Schatten geisterte über die Wand, dann ein zweiter. Die beiden Schatten wurden von zwei Mädchen geworfen, die gleich darauf vor Keller auftauch­ten. Sie bückten sich über die reglos daliegende Männergestalt und mach­ten Anstalten, sie hochzuheben.
Sie mühten sich keuchend mit dem schweren Körper ab, bis es ihnen end­lich gelang, ihn hochzuheben und aus dem Raum zu tragen. Keller konnte einen Blick auf das Gesicht des Man­nes werfen. Er erkannte Martino Lassa. Um seinen Hals spannte sich eine Raffig-Schnur.
Keller begann am ganzen Körper zu zittern. Warum diese sinnlosen Morde? Und warum ausgerechnet Martino Lassa, der sich bestimmt noch nie an einem Mädchen vergan­gen hatte? Nach welchen Gesichts­punkten wählte der Götze Kether seine Opfer aus?
Keller hörte die Tür gehen. Es wäre sinnlos gewesen, die Mädchen zu stel­len. Er konnte sie nicht einfach zu­sammenschießen. Mit welcher Be­gründung? Bei Leila war das etwas anderes gewesen: Notwehr.
Die trippelnden Schritte der Mäd­chen und ihr Keuchen kam nun aus dem Garten. Keller wandte sich der Garage zu. Sie stand offen. Er konnte den Kühlergrill des Mercedes im Mondlicht schimmern sehen. Er ha­stete zu dem Wagen und stellte er­leichtert fest, daß der Zündschlüssel steckte. Die Schritte der Mädchen nä­herten sich.
Keller klemmte sich hinters Lenk­rad und startete. Der Motor sprang sofort an und heulte auf, als er Gas gab. Draußen erhob sich ein Ge­schrei. Eines der Mädchen tauchte plötzlich vor der Garage auf und stellte sich mit erhobenen Armen vor den Wagen. Sie wich auch nicht zur Seite, als Keller auf sie zu fuhr. Bevor er sie anfahren konnte, sprang sie plötzlich mit einem wilden Schrei auf den Kühler. Auf der Fahrerseite tauchte das andere Mädchen auf. Sie langte durch das offene Seitenfenster und packte ihn an den Haaren. Er drückte das Gaspedal durch, und der Wagen machte einen Satz nach vorne.
Durch die Wucht der Beschleunigung wurde das Mädchen auf dem Kühler gegen die Windschutzscheibe ge­drückt. Sie verlor den Halt und fiel vom Wagen.
Die andere Furie hatte sich in sei­nem Haar verkrallt und ließ sich mit­schleifen. Keller fuhr gegen das Gar­tentor. Es barst. Endlich ließ auch das zweite Mädchen los.
Im Rückspiegel sah er, wie sich die beiden Mädchen aufrafften und die Verfolgung wieder aufnahmen. Kel­ler bog nach links ab, um der Haupt­straße auszuweichen, wo es um diese Zeit kein Weiterkommen gab.
Der Flughafen fiel ihm ein. Er lag in dieser Richtung. Sich eine Piper zu mieten und nach Rio abzufliegen, das wäre der sicherste Fluchtweg gewe­sen. Keller zweifelte jedoch, daß er das schaffen würde. Er hatte die dunkle Ahnung, daß die Kether-Mädchen Buzios bereits hermetisch abge­riegelt hatten.
Wahnsinn! Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Keller kam auf eine breite Ausfall­straße. Der Fahrtwind, der durch das offene Seitenfenster strich, tat ihm gut. Armer Martino. Armer Tonio. Arme Mae Nara ...
Er mußte den Wagen scharf ab­bremsen, als hinter einer Kurve plötzlich ein anderer Wagen auftauchte. Er war quer über die Straße gestellt. Es war ein großer Lieferwa­gen, dessen Kühlerhaube einge­drückt war. Es sah nach einem Unfall aus. Aber Keller war auf der Hut, denn es konnte sich auch um eine Falle handeln.
„Hallo“, rief er aus dem Seitenfen­ster. „Ist jemand verletzt?“
Ein Stöhnen war die Antwort. Kel­ler schaltete das Fernlicht ein und rollte langsam näher. Dann legte er den Rückwärtsgang ein. Im grellen Scheinwerferlicht sah er im Führer­haus ein Mädchen auf dem Beifahrer­sitz. Es hatte den Kopf abgewandt.
Vom Fahrer war nichts zu sehen. Aber an den Oberarmen des Mäd­chen entdeckte er Raffia-Schnüre. Er fuhr ein Stück zurück, um unter den Wagen blicken zu können. Und dort sah er den reglosen Körper eines Mannes. Er war mit einer Raffia-Schnur stranguliert.
Da zögerte Keller nicht länger. Er fuhr mit stark eingeschlagenen Vor­derrädern zurück, schaltete den ersten Gang ein und wendete. Keine Sekunde zu früh, denn da ertönte ein wüstes Geheul. Die hinteren Türen des Lieferwagens flogen auf, und zwei Furien sprangen auf die Straße. Keller fuhr mit Vollgas davon.
Seine schlimmsten Befürchtungen, daß die Mädchen die Fluchtwege ab­geriegelt hatten, hatten sich bestätigt Er konnte nun nur noch versuchen, in. dem Trubel unterzutauchen. Viel­leicht war er unter Menschen sogar sicherer. Die Kether-Mädchen wür­den es nicht wagen, ihn in aller Öf­fentlichkeit zu erwürgen.
Ihre Methodik wurde für ihn im­mer undurchschaubarer. Zuerst hatte er angenommen, daß sie sich zu einer Sekte zusammengeschlossen hatten, um sich für die Demütigungen der Playboys zu rächen. Aber der Fahrer des Lieferwagens gehörte nicht in diese Kategorie. Also ein Komplott gegen die gesamte Männerwelt?
Irrsinn. Es war tatsächlich ein ver­rückter Gedanke: Die Frauen erho­ben sich, um furchtbare Rache an den Männern zu nehmen, von denen sie sich seit erdenklichen Zeiten unter­drückt fühlten.
Keller bog in eine Seitenstraße ein, In der Nähe der Hauptstraße stellte er den Wagen ab und mischte sich wieder unter die Menge. Er hielt nach Raffia-Schnüren Ausschau.
Die Lichtreklame der Bar do Hernando stach ihm ins Auge. Bei Hernando war um diese Zeit meist schon allerhand los. Und auch jetzt war der Laden gesteckt voll. Das stellte Keller fest, als er die nach unten füh­rende Wendeltreppe benutzte.
Die Luft war zum Schneiden dick in dem Lokal. Von der Bar winkten einige Männer, Mädchen prosteten ihm zu. Es herrschte ein unbeschreib­licher Lärm. In den Se'pardes befan­den sich die Liebespaare im Clinch.
Keller war zuerst überrascht, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Doch nach und nach fiel ihm auf, daß er sie zuvor alle bei Alcione Monteiro gesehen hatte. Hier war die ganze Cli­que versammelt.
Und da war auch Lonrival da Silva. Er trug die obligate Sonnenbrille und den breitkrempigen Sombrero. Und er wiegte sich im Samba-Schritt.
Keller wollte sich augenblicklich wieder zurückziehen. Aber da zog ihn jemand am Arm von der Treppe. Ein weicher Körper drückte sich gegen ihn, und ein weicher warmer Mund preßte sich auf seinen.
Keller hätte am liebsten hysterisch aufgeschrien. Das Mädchen ließ ihn los, als es seine Abwehr merkte. Sie machte eine spöttische Bemerkung. Alle lachten. Nur Keller fühlte sich hundeelend.
Lonrival da Silva näherte sieh ihm tänzelnd. Er zeigte seine weißen Zähne. Keller wollte vor ihm fliehen, aber da hatte ihn der Curandeiro er­reicht und flüsterte ihm zu:
„Ich muß Sie sprechen, Hugh. Es ist wichtig. Sie sind der einzige, der die Gefahr erkannt hat. Vertrauen Sie mir — bitte!“

* * *

Lonrival da Silva erinnerte sich noch genau an die Vision, die er vor zwei Wochen gehabt hatte. Sie leitete eine entscheidende Wende in seinem Leben ein. Nun erkannte er, daß das keine Wende zum Guten war.
Als Geistheiler hatte er sich einen großen Namen gemacht. Er, der ver-weiste Indio, der von einer Sekte in Bahia großgezogen worden war und die Armut in all ihren Spielarten ken­nengelernt hatte, war auf einmal mit den reichsten Leuten von Brasilien und den Staaten per du.
Bekannte Wissenschaftler aus aller Welt kamen zu ihm, um ihm bei sei­nen spektakulären Operationen auf die Finger zu sehen — und waren von dem Gebotenen beeindruckt. Ob es sich um eine Blinddarmoperation oder um die Beseitigung eines Ge­hirntumors handelte, Lonrival mei­sterte Eingriffe aller Schwierigkeits­grade souverän.
Mit der Kraft seines Geistes schaffte er Unglaubliches. Er war ein wahrer Wunderheiler. Aber damit wollte er sich nicht begnügen. Er strebte nach Höherem. Er wollte Macht. Er träumte von einer Schule, an der er seine Methoden lehren konnte, und seine Schüler sollten aus­schwärmen und seinem Namen un­sterblichen Ruhm verleihen.
Lonrival fand dabei nichts Unmo­ralisches, denn es war dem Menschen nun mal gegeben, immer vorwärts zu streben, wieviel er auch erreicht hatte.
Und dann hatte er die Vision.
Er sah ein Wesen mit zwei Gesich­tern. Das eine Gesicht bestand nur aus Knochen und war erschreckend. Das andere Gesicht aber hätte das ei­nes Heiligen sein können. Beide Gesichter sprachen abwechselnd zu ihm.
„Lonrival“, sagte das Knochenge­sicht, „Du bist ausersehen, ein Diener des Gottes Kether zu sein, der auf deine Welt herabsteigen wird. Als Ho­hepriester sollst du für Kether einen Tempel bauen. Es soll kein Bauwerk aus Stein sein. Nimm einfach ein klei­nes Stück Land deiner Welt, etwa Buzios, und weihe es deinem Gott Kether.“
„Du wirst einst alle Macht der Welt besitzen“, sagte das Heiligengesicht auf der Rückseite des Kopfes ein­schmeichelnd, „wenn du deine Fähig­keiten richtig einsetzt. Jeder Mensch, den deine begnadeten Hände berüh­ren, wird dir hörig sein, wenn du es im Namen deines kommenden Gottes Kether tust.“
„Aber merke — Kether will nur Die­ner eines einzigen Geschlechts. Wähle also nur Frauen aus, die Krö­nung eurer Schöpfung. Denn Kether, das bedeutet Krone.“
In der Folge waren dann die Bilder so schnell vor seinem geistigen Auge abgelaufen, daß er sie später nicht mehr in einzelne Szenen aufgliedern konnte. Er wußte nur, daß die Bilder den Weg zeigten, den er wählen mußte, um Frauen zu Dienerinnen Kethers zu machen.
Es war ganz einfach. Er brauchte seine Patientinnen nur in Trance zu versetzen und ein magisches Buchsta­benquadrat unsichtbar in ihre Kör­per zu pflanzen:
KETHER ETHERE TEREH HE-REHT ERETHE REHTEK — Variatio­nen des Namens seines neuen Gottes.
Er tat dies reinen Gewissens, denn er glaubte an seine Berufung und daß Kether sie alle zum Licht führen würde. Doch zu spät erkannte er, daß es ein Weg in den Abgrund war.
Zuerst war Lonrival in seinem Fa­natismus blind für die Realität gewe­sen. Er sah die Zeichen des kommen­den Unheils nicht, und als er sie dann sah, wollte er sie nicht wahrhaben. Er war verblendet.
Erst als er feststellte, daß die Die­nerinnen ihm nicht mehr gehorchten, sondern im Namen Kethers morde­ten, da begriff er, daß er nur benutzt worden war. Er erkannte Kether als blutrünstigen Götzen, als bösartigen Dämon, der seine Dienerinnen be­herrschte.
Ein Dämon mit zwei Gesichtern. Lonrival versuchte verzweifelt, „seine“ Mädchen von weiteren heid­nischen Opfern abzuhalten. Er glaubte, sie mit den synkretistischen Lehren, die man ihm in Bahia beige­bracht hatte, auf den rechten Weg zu­rückbringen zu können. Doch die Mädchen lachten ihn nur aus.
„Wenn du versuchst, uns gegen Kether aufzuhetzen, dann wird er dich durch unsere Hand bestrafen. Tanze, Oga! Heile, Oga! Und führe unserem Kreis noch viele Gleichgesinnte zu.“
Als sie so zu ihm gesprochen hatten, da war ihm klar geworden, daß er keine Macht mehr über die Mäd­chen hatte. Sie hörten nur noch auf die Befehle des doppelköpfigen Dä­mons. Er war nicht mehr ihr Oga, son­dern wurde immer mehr zu ihrem Sklaven. Sie waren es, die ihn zu den Frauen führten, die in ihren Kreis aufgenommen werden sollten. Sie zwangen ihn, seine Instrumente dazu zu gebrauchen, den „Novizinnen“ das magische Buchstabenquadrat in die Körper zu bannen. Und es waren die Mädchen, die ihn zwangen, die Bar da Hernando aufzusuchen, wo die Män­ner willige Opfer für sie wa­ren.
Lonrival hatte keine andere Wahl, er war in einem Teufelskreis ge­fangen. Er hatte große Schuld auf sich geladen und fand keinen Weg, aus dem Teufelseis aus­zubrechen.
Bis dann unverhofft Hugh Keller auftauchte, den er vor wenigen Stun­den selbst noch gejagt hatte.

* * *

Kellers erster Gedanke war, daß Lonrival ihm eine Falle stellen wollte. Er floh vor ihm und suchte die Bar auf. Er bestellte einen Whisky.
„Schöne Grüße von Leila“. sagte da eine bekannte Mädchenstimme ne­ben ihm. „Sie lebt und will dich schnellstens wiedersehen.“
Keller blickte in Marcias Gesicht. Sie hatte die Maske fallengelassen., und irgendwie war er durch ihre Of­fenheit gefaßter.
„Warum tut ihr das, Marcia?“ fragte er und kippte seinen Whisky. „Wir sind es Kether schuldig.“
„Ihr tötet für einen fiktiven Götzen!“
„Kether lebt!“ rief Marcia inbrün­stig. „Wir alle spüren, daß er bald zu uns herabsteigen wird. Wir opfern ihm für einen würdigen Empfang.“
„Ihr seid wahnsinnig!“ Keller er­griff Marcia an den Oberarmen und schüttelte sie heftig. Komm zu dir, Mädchen. Besinne dich, Lonrival hat euch alle verhext.“
Marcia verzog spöttisch den Mund. „Lonrival ist ein Hampelmann. Er hat nichts zu sagen. Kether ist in uns!“ Marcia spielte mit ihrer Raffia-Schnur und fügte hinzu: „Kether ist in uns allen!“
Keller blickte sich um. Er hielt nach den anderen Mädchen Aus­schau. Erschrocken stellte er fest, daß alle ihm bekannten Kether-Mädchen sich Freier geangelt hatten und sie umgarnten.
„Was wollt ihr hier?“ fragte Keller mit belegter Stimme; der eine Whisky hatte nicht die erhoffte Wir­kung auf ihn.
„Rate mal!“ sagte Marcia kokett. Auf seiner anderen Seite tauchte Karla auf.
„Du gehörst mir, Hugh“, sagte sie wie nebenbei. „Jedes Mädchen hat seine Wahl bereits getroffen.“
Keller begann in ohnmächtigem Zorn zu zittern. Gab es denn keinen Ausweg? Er überlegte, wie er die Männer vor ihrem Schicksal warnen konnte, ohne sich lächerlich zu ma­chen.
Keller stieß die beiden Mädchen mit den Ellenbogen von sich und wandte sich dem Ausgang zu. Lonrival tauchte wieder auf und verstellte ihm tänzelnd den Weg.
„Nun?“ fragte er. „Vertrauen Sie mir?“
„Wo können wir uns unterhalten?“ fragte Keller.
„Gehen wir in Hernandos Büro“, sclug Lonrival vor. „Die Mädchen werden uns nicht daran hindern. Sie bewachen nur den Ausgang. Gehen Sie voran, ich folge in ein paar Mi­nuten.“
Keller zündete sich eine Zigarette an und schlenderte in den hinteren Teil der Bar, in dem die Privaträume lagen. Er glaubte, die Blicke der Kether-Mädchen körperlich zu spüren.
Keller erreichte die Pendeltür, stieß sie auf und drang in den Korri­dor vor, an dessem Ende sich Hernandos Büro befand. Ohne zu klopfen trat er ein — und prallte entsetzt zurück.
Hernando lag neben seinem Schreibtisch reglos auf dem Boden. Er war mit einer Raffia-Schnur stran­guliert. Zwischen seinen Fingern glo­ste noch eine Zigarre. Die Glut hatte auf den Teppich übergegriffen und ein kleines Loch gebrannt. Keller trat, ohne Hernando anzusehen, die Glut aus, um einen Brand zu verhin­dern. Das brachte ihn auf eine Idee.
Feuer! Vielleicht war das die Ret­tung!
Die Tür flog auf. Keller wirbelte herum, den Revolver im Anschlag.
„Nicht schießen!“ rief Lonrival schnell.
Keller war erleichtert, er senkte die Waffe dennoch nicht.
„Warum dieser plötzliche Sinnes­wandel, Lonrival?“ fragte er.
„Die Mädchen sind mir über den Kopf gewachsen“, sagte der Curandeiro zerknirscht. „Ich habe keinen Einfluß mehr auf sie. Sie sind von ei­nem bösen Dämon besessen.“
„Aber durch Ihr Wirken, Lonrival“, erwiderte Keller. Er schüttete den In­halt des Papierkorbs auf den Boden. „Ich habe beobachtet, was Sie mit Alexandra Monteiro gemacht haben. Mit diesem magischen Buchstaben­quadrat haben Sie alle Mädchen zu Besessenen gemacht. Ist es nicht so?“
„Ja“, sagte Lonrival nickend und beteuerte gleich darauf: „Aber ich wußte nicht, was das für eine Wir­kung haben würde. Ich bin selbst ge­täuscht worden, Hugh. Ich brauche Ihre Hilfe.“
„Was erwarten Sie sich von mir? Was könnte ich tun?“
„Es gibt noch eine Chance für uns. Die Mae Nara hatte viele Anhänger, die ihren Tod sicher rächen wollen. Ich habe versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Aber ich schaffe es nicht, weil die Mädchen dauernd um mich sind und mich bewachen. Wenn sie merken, daß ich mich gegen sie wende, werden sie auch mich töten. Sie dagegen könnten es schaffen, sich zu den Anhängern der Mae Nara durchzuschlagen.“
„Und wo finde ich sie?“
„Sie haben sich alle bei ihrer Hütte eingefunden, um Totenwache zu hal­ten. Suchen Sie sie auf und — was tun Sie da?“
Keller hatte den Inhalt einiger Schreibtischladen auf den Boden ent­leert und entzündete die Papiere nun mit seinem Feuerzeug.
„Ich bereite meine Flucht vor“, er­klärte er. „Außerdem ist dies die ein­zige Möglichkeit, die Gäste aus dem Lokal zu bekommen und sie vor den Mädchen zu retten.“
„Gut, sehr gut“, sagte Lonrival zu­frieden. „Manchmal ist der prak­tische Menschenverstand besser als ein magisch geschulter. Ihr Plan könnte gelingen.“
Das Feuer breitete sich rasch über das ganze Büro aus. Der Qualm wurde so stark, daß sie kaum atmen konnten.
„Los, jetzt raus hier!“
Keller lief davon und rief aus Lei­beskräften:
„Feuer! Es brennt! Das ganze Hintertrakt steht in Flammen!“
Keller durchquerte das Lokal und wiederholte seinen Feueralarm. Er hätte bei allem Optimismus nicht ge­dacht, daß er auf Anhieb die ge­wünschte Wirkung erzielen würde. Aber er wurde von den Rauchschwa­den unterstützt, die aus dem Hinter­trakt ins Lokal trieben. Als die Gäste ihrer ansichtig wurden, drängten sie fast gleichzeitig zu der Wendeltreppe.
Keller war bei den ersten, die die Wendeltreppe erreichten und wurde förmlich nach oben geschoben. Er sah noch, wie die Mädchen mit den Raf-fia-Schnüren an ihren Verehrern hin­gen und sie umzustimmen versuch­ten. Aber die immer dichter werden­den Rauchschwaden waren ein stär­keres Argument als das falsche Süßholzgeraspel.
Endlich erreichte Keller das obere Ende der Wendeltreppe. Sein Anzug hing ihm in Fetzen vom Leib, aber das kümmerte ihn nicht.
Oben hatte sich eine Menge Schau­lustiger versammelt. Keller bahnte sich durch sie einen Weg ins Freie.
Geschafft! dachte er.
Plötzlich war er von Kether-Mädchen umzingelt.
„Du willst doch die Party noch nicht verlassen, Hugh“, sagte Karla. „Jetzt geht's doch erst richtig los. Die ganze Hautevolee trifft sich am Strand - in Kethers Bucht.“
Eines der Mädchen krümmte sich wie unter Krämpfen.
„Es ist bald soweit“, stöhnte sie.
Keller wollte die Gelegenheit zur Flucht ergreifen, aber da legte sich et­was um seine Handgelenke und schnürte sie zu. Karla hatte ihm die Hände mit einer Raffia-Schnur gefesselt. Die anderen Mädchen kümmer­ten sich um die von Schmerzen ge­schüttelte Gefährtin.
„Schnell zum Strand. Wir dürfen nicht zu spät kommen.“
Keller wurde von Karla wie an der Leine mitgezogen. Er versuchte, mit beiden Händen an den Revolver zu kommen. Aber mit einem Ruck an der Raffia-Schnur zog Karla die Fes­sel so stark zusammen, daß er die Waffe fallen lassen mußte.
„Komm nur, Hugh. Ein großer Au­genblick steht dir bevor!“ reif Karla lachend. Die unbeteiligten Zuschauer mußten glauben, daß es sich um ein neues Gesellschaftspiel handelte.
Keller aber wußte es besser. Der Höhepunkt der Schrecken stand be­vor. Und er konnte das Grauen nicht abwenden...

 



Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 42, 2. Spalte, 6. Absatz - Seite 48, 1. Spalte, 1. Absatz

Januswelt Malkuth.
Dorian war zu allem entschlossen, als er feststellen mußte, daß sie von Luftblasen mit Seferen umzingelt waren. Aus einer der Zuleitungsröh­ren wurde eine wasserhelle Flüssigkeit in das Innere des Rieseneis ge­pumpt, so daß sich die Sicht besserte.

„Leto hat uns hereingelegt“, stellte Dorian wütend fest. „Aber damit hat er nichts gewonnen. Die Janusköpfe werden sich noch wundern.“
Der Dämonenkiller hob den Ys-­Spiegel.
„Handle nicht zu voreilig, Dorian“, ermahnte ihn Coco. „Wenn du jetzt den Ys-Spiegel einsetzt, wird das auch für uns nicht ohne Folgen blei­ben.“
„Ich habe keine andere Wahl“, er­widerte Dorian. „Ich muß den Janusköpfen einen Denkzettel verpassen, damit sie erkennen, daß mit uns nicht zu spaßen ist.“
„Warte erst einmal ab.“
„Worauf willst du noch warten?“
Darauf wußte Coco keine Antwort. Ihre Lage schien aussichtslos zu sein.
Eine Luftblase mit drei Seferen stieß gegen die ihre. Die dünne Haut, die die beiden Blasen voneinander trennte, platzte mit lautem Knall.
Die Seferen in ihren Spinnweben­gewändern setzten sich in Bewe­gung.
„Halt!“ warnte Dorian und hielt ih­nen den Ys-Spiegel entgegen.
„Nicht“, zirpte ein Seferen. Dann rief sie wie in höchster Not: „Kether­ethe-rethe-here-there.“
Die Stimme verlor sich im Ultra­schallbereich. Die Seferen schienen zu schrumpfen, während der Spiegel sie anzog - bis sie in ihm verschwun­den waren.
„Das hat seine Wirkung nicht ver­fehlt“, stellte Dorian zufrieden fest, als er sah, daß sich die anderen Luft­blasen mit den Seferen auf Distanz hielten.
Nach einer Weile strebten sie aus­einander, und aus der wie Nebel wallenden Flüssigkeit tauchte eine ein­zelne Blase auf. in der sich fünf Janusköpfe befanden.
„Ah, jetzt schreiten die Meister von Malkuth ein“, sagte Dorian höhnisch. „Sollen sie nur kommen.“
„Mach keine Dummheit!“ rief Coco erschrocken. „Einer davon ist Olivaro.“
Dorian ließ überrascht den Spiegel sinken. Er starrte zu der sich rasch nähernden Luftblase hinüber. Tat­sächlich, bei dem einer Januskopf schien es sich um Olivaro zu handeln.
Während vier von ihnen ihre mas­kenhaften Knochengesichter zeig­ten, hatte der fünfte ein sich ständig veränderndes Scheingesicht, in dem es unkontrolliert zuckte.
„Es könnte Olivaro sein“, sagte Do­rian nachdenklich. „Aber ich traue den Janusköpfen nicht...“
Er verstummte, als er sah, daß ei­ner der Janusköpfe mit den Fingern etwas in die Luft zu zeichnen be­gann. Dorian hob versuchsweise den Ys-Spiegel vor das Gesicht.
Als er durch ihn hindurchblickte, sah er, daß sich von den Fingern des Januskopfes Symbolgruppen seiner Sprache lösten, durch die Luft schwebten.
Dorian hatte keine Mühe, mit Hilfe des Ys-Spiegels die Bedeutung der Symbolgruppen zu verstehen.
„Die Janusköpfe wollen mit uns verhandeln“, übersetzte Dorian für Coco. „Sie verlangen aber, daß ich keinerlei höhere Mächte entfessele, die Kether schaden könnten... Wahrscheinlich verständigen sie sich auch auf diese Weise mit uns, um nicht höhere Magie anwenden zu müssen.“
„Hören wir uns an, was sie uns zu bieten haben“, schlug Coco vor. „Sie haben einen gehörigen Re­spekt vor dem Ys-Spiegel und werden es aus Sorge um Kethers Wohlbefin­den nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen.“„Vielleicht wollen sie uns auch nur in Sicherheit wiegen“, meinte Dori­an. „Aber vielleicht ist ihre Sorge um Kether doch größer als der Wunsch, den Spiegel besitzen zu wollen.“
Die Blase mit den Janusköpfen schwebte heran und stieß mit der ih­ren zusammen. Dorian sah, daß sich die schillernde Haut ausdehnte und immer dünner wurde.
Er hielt den Ys-Spiegel etwas ge­senkt, um die Janusköpfe nicht zu beunruhigen. Dabei stellte er fest, daß der Spiegel in diesem Winkel als Reflektor wirkte.
Er sah so, was sich hinter ihm ab­spielte. Und dort - in seinem Rücken - tauchten plötzlich wie aus dem Nichts vier Seferen auf.
Es war eine Schreckreaktion, als Dorian blitzschnell herumwirbelte und gleichzeitig den Spiegel hob. Er war in diesem Augenblick nur von dem Gedanken beseelt, sich und Coco vor seinen Feinden zu retten. Er be­gnügte sich nicht damit, die Seferen in den Spiegel fallen zu lassen. Er wollte sie vernichten. Das war ein impulsiver Gedanke, seinem unbändigen Lebenswillen entsprungen.
Diese Gedanken übertrugen sich auf den Spiegel - und dieser setzte sie, einem Katalysator gleich, in ver­nichtende Kraftfelder um.
Der Spiegel begann zu glühen. Sein Leuchten schien von reiner kosmischer Energie gespeist zu sein. Einer Energie, die Werden und Schaffen bedeuten konnte, Leben im ursprünglichen Sinn, die jedoch auch den Tod in sich trug, wenn es der Mann hinter dem Spiegel wollte.
Die Seferen wurden in dieses Leuchten aus unerklärlichen Räu­men gehüllt. Sie gingen darin auf, wurden selbst kosmische Energie. Aber nicht nur die Seferen zerstrahl­ten. Auch ein Teil ihrer Umgebung löste sich auf. Die Wandung der Bla­se, die dahinter brodelnde Flüssig­keit, Fragmente des organischen Ge­rüsts, das das Riesenei stützte, Zell­gewebe ...
Dorian erkannte, was er angerich­tet hatte. Und er fürchtete, daß sie nun in den Massen der in die freige­wordenen Räume stürzenden Flüs­sigkeit umkommen würden.

* * *

„Was haben Sie angerichtet!“ Ein Januskopf erschien vor ihm und fuchtelte mit den Händen. Er zeigte ein von grenzenloser Wut verzerrtes Scheingesicht. „Geben Sie das Spie­gel-Amulett her, bevor Sie noch Schlimmeres anrichten!“
Dorian, von dem kräfteraubenden Einsatz des Ys-Spiegels leicht geschwächt, klammerte sich an den Spiegel wie an einen rettenden Strohhalm. Nach den Worten des Ja­nuskopfes zu schließen war es doch nicht zum Schlimmsten gekommen.
„Kommen Sie nicht zu nahe“, warnte Dorian mit schwacher Stim­me.
Der Januskopf wich zurück und gesellte sich zu seinen Artgenossen. Dorian sah, daß sich das Loch in der Luftblase langsam schloß. Dann erst stürzten die Fluten in den Hohlraum nach. Die Blase wurde von dem Druck der niederbrausenden Flüs­sigkeit erschüttert, aber sie hielt.Dorian atmete auf. Er erholte sich rasch und wandte sich dann den Janusköpfen zu, in deren Mitte sich Olivaro befand.
Die beiden Luftblasen hatten sich längst zu einer einzigen zusammengeschlossen. Es gab keine trennende Barriere mehr.
„Werden Sie jetzt meine Bedingun­gen akzeptieren?“ fragte Dorian.
„Wir hätten es auch schon zuvor getan“, erwiderte einer der Janus­köpfe. „Ihre Machtdemonstration wäre nicht nötig gewesen. Beein­druckt haben Sie uns damit nicht, nur sich selbst geschadet.“
„Sie haben die Seferen auf uns ge­hetzt“, rechtfertigte sich Dorian. „Was passiert ist, haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“
Der Januskopf machte mit der Hand eine Bewegung, die jedoch kei­ne magische Wirkung nach sich zog. Vielleicht wollte er mit dieser Geste nur andeuten, daß er keine Diskus­sion über die Schuldfrage wünschte.
„Glücklicherweise waren die Fol­gen nicht besonders schlimm“, sagte er. „Wir konnten eine Katastrophe verhindern. Aber Kethers Krise wurde verschärft. Der Höhepunkt steht dicht bevor. Schließen wir das Thema ab. Hier ist der abtrünnige Varo. Sie können ihn mitnehmen.“
„Bedingungslos?“ fragte Dorian mißtrauisch.
„Bedingungslos.“
„Wieso auf einmal dieser Gesin­nungswandel?“ fragte der Dämo­nenkiller erstaunt.
„Wir sind froh, Sie endlich auf Ihre Welt abschieben zu können“, sagte der Januskopf. Das klang plausibel. „Sie haben an Kether genug Schaden angerichtet. Und was Olivaro be­trifft, ist er in diesem Zustand nutz­los für uns. Er hat einen unheilbaren Schock erlitten.“
Die Ehrlichkeit der Janusköpfe überraschte Dorian. Was steckte dahinter? Hatten sie eine neue Falle gestellt? Er konnte noch immer nicht glauben, daß sie ihn so einfach wür­den gehen lassen. Wo war der Pfer­defuß?
„Was überlegst du noch, Dorian?“ fragte Coco.
„Grundsätzlich nehme ich das An­gebot an“, sagte Dorian. „Ursprüng­lich wollten wir nichts anderes, als Olivaro zurückzuholen. Doch nun stelle ich eine zweite Bedingung. Ich verlange, daß alle gefangenen Men­schen freigelassen und zur Erde zurückgeschickt werden.“
„Damit haben wir gerechnet“, sag­te der Sprecher der Janusköpfe.
Er machte aus dem Handgelenk ei­ne schlenkernde Bewegung. Aus der sie umgebenden trüben Flüssigkeit tauchte eine weitere Luftblase auf. Darin befanden sich an die zwanzig Menschen aller Nationen.
„Mehr Gefangene haben Sie nicht?“ fragte Dorian ungläubig.
„Nicht mehr Überlebensfähige“, erklärte der Januskopf.
In Dorian krampfte sich etwas zu­sammen. Er dachte an die grauenvollen Bilder, die er gesehen hatte, als Janusköpfe und deren Diener Versuche mit Menschen angestellt hatten... Er wußte nicht, wie viele Menschen durch die verschiedenen Tore nach Malkuth verschleppt wor­den waren, aber er konnte sich vor­stellen, daß nicht mehr als diese Handvoll überlebt hatte.
„Schicken Sie Olivaro zu uns“, ver­langte Dorian.
Der Januskopf mit dem unkontrol­lierbar zuckenden Scheingesicht bekam einen Stoß und rottete apa­thisch zu Dorian. Der Dämonenkiller hielt ihm den Ys-Spiegel vors Ge­sicht.
„Was haben Sie vor?“ rief der Spre­cher der Janusköpfe entsetzt.
„Keine Bange“, beruhigte ihn Dori­an. „Ich will nur überprüfen, ob es sich wirklich um Olivaro handelt.“
Der Januskopf zeigte auf den Ys­-Spiegel keinerlei Reaktion. Damit waren Dorians letzte Zweifel besei­tigt. Er konnte sicher sein, Olivaro vor sich zu haben. Kein normaler Ja­nuskopf hätte sich derart verstellen können.
„Sind Sie zufrieden?“ fragte der Anführer der Janusköpfe.
„Ja. Jetzt führen Sie uns zum näch­sten Tor.“
„Das ist nicht nötig“, antwortete der andere mit spöttischer Stimme. „Sie werden von hier aus auf die Rei­se gehen, denn Kether hat in seinem Schmerz alle Tore geschlossen.“
Der Januskopf hatte kaum ausge­sprochen, als er sich zusammen mit seinen drei Artgenossen in Nichts auflöste.
„Diese falsche Bande!“ rief Dorian. „Sie haben uns doch hereingelegt!“
Ihre Blase wurde plötzlich von ei­nem so heftigen Stoß erschüttert, daß sie den Halt verloren. Dorian versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch das war unmöglich.
Die Luftblase schien in eine Strö­mung geraten oder von einem Wirbel erfaßt worden zu sein. Sie begann, sich um ihre Achse zu drehen, wurde in die Tiefe gewirbelt und von einer anderen Strömung in die Höhe ge­trieben.
„Das ist der Ausbruch der Krise!“ hörte Dorian Coco rufen.
Für einen Moment sah der Dämo­nenkiller die andere Luftblase vorbeiwirbeln, in der sich die zwanzig menschlichen Gefangenen befanden. Sie bildeten ein unentwirrbares Knäubel von Körpern.
„Noch sind wir nicht verloren!“ rief Dorian.
Er hatte noch den Ys-Spiegel. Er konnte ihre Rettung sein. Und wenn er ihnen nicht mehr helfen konnte, dann würde er nicht in den Tod ge­hen, ohne vorher die Januswelt - oder zumindest den Organismus Kether - zu vernichten.
Er erinnerte sich an einen Aus­spruch Olivaros. Dieser hatte be­hauptet, daß Dorian mittels des Ys-­Spiegels jederzeit zur Januswelt ge­langen könnte. Wenn das zutraf, mußte es auch möglich sein, den um­gekehrten Weg zu gehen - nämlich zurück zur Erde.
Dorian war entschlossen, den Ver­such zu wagen.
Doch er kam nicht mehr dazu.
Das Getöse um sie war zu einem infernalischen Kreischen angeschwollen. Dorian sah, daß in der trüben Flüssigkeit das zuckende gallertartige Ding auftauchte, das in das Ei eingebettet war.
Plötzlich strebte es nach allen Sei­ten auseinander, als sei es von einer Explosion erfaßt worden. Ihre Blase wurde von der Druckwelle erfaßt - und platzte. Die gallertartige Masse ergoß sich über sie. Es war übelrie­chender klebriger Schleim.
Dorian wurde von dem Gewicht zu Boden gedrückt, stemmte sich jedoch dagegen, um in der ekelerregenden Masse nicht zu ersticken.
Er rief verzweifelt Cocos Namen.
„Hier bin ich“, sagte sie mit ge­dämpfter Stimme. Sie prustete ange­widert und tauchte aus der schleimi­gen Masse auf.
Dorian war erleichtert.
Er blickte sich um. Über ihnen spannte sich ein Nachthimmel. Vor ihnen breitete sich die dunkle Sil­houette eines tropischen Waldes aus. Davor stand Olivaro, reglos. Dorian stellte jedoch fest, daß er nicht mehr sein zuckendes Scheingesicht zeigte, sondern sein ausdrucksloses Kno­chengesicht. Sein Kopf hatte sich von selbst um 180 Grad gedreht.
Vielleicht war der Ausbruch von Kethers Krise eine heilsame Schocktherapie für den Januskopf gewesen.
„Olivaro!“ rief Dorian. „Ist mit Ih­nen wieder alles in Ordnung?“
Aber der Januskopf reagierte nicht.
Dorian wandte sich enttäuscht ab.
Er stellte fest, daß sie sich in einer Bucht befanden. Das Mondlicht spiegelte sich auf der unruhigen Wasser­fläche.
„Das muß die Erde sein“, stellte Coco fest. „Hast du eine Ahnung, wo wir uns befinden? Und wie gelang­ten wir hierher, obwohl Kether an­geblich alle Tore geschlossen hat? Hast du den Ys-Spiegel eingesetzt?“
Dorian schüttelte den Kopf.
„Ich habe eine Vermutung. Ich glaube nun zu wissen, worauf Ke­thers Krise zurückzuführen ist. Ich habe sofort angenommen, daß das Riesenei ein wichtiges Organ von Kether ist. Es scheint aber ein kran­kes Organ gewesen zu sein. Er mußte es abstoßen, um zu genesen. Und mit dem kranken Organ hat er auch uns ausgespien.“
„Zum Glück hat er die Erde als Mülldeponie gewählt“, meinte Coco und stapfte zum Ufer, um die schlei­mige Masse abzuwaschen.
„Ich weiß nicht, ob das ein Glück ist“, meinte Dorian nachdenklich. „Ich frage mich, wo das Ding geblieben ist, das in diese gallertartige Masse eingeschlossen war.“

 
Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 42, 2. Spalte, 5. Absatz - Seite 46, 1. Spalte, 10. Absatz

Janusweit Malkuth.
,,Leto hat uns reingelegt“, stellte Dorian wütend fest, als er erkannte, daß sie von Luftblasen mit Seferen umzingelt waren. Er fügte grimmig hinzu: „Aber damit hat er nichts ge­wonnen. Die Janusköpfe werden sich noch wundern!“
Der Dämonenkiller war zu allem entschlossen. Er hob den Ys-Spiegel. „Handle nicht voreilig, Dorian“, warnte Coco. „Wenn du jetzt den Ys-Spiegel einsetzt, wird das auch für uns Folgen haben.“
„Wir haben keine andere Wahl“, er­widerte Dorian. „Ich muß den Janus­köpfen einen Denkzettel verpassen. Sie sollen sehen, daß mit uns nicht zu spassen ist.“
„Warte erst einmal ab.“
„Auf was willst du warten?“ Darauf wußte auch Coco keine Ant­wort. Angesichts der Seferen schien ihre Lage aussichtslos. Eine Luft­blase mit drei Seferen stieß gegen die ihre. Die dünne Haut, die die beiden Blasen trennte, platzte knallend. Die Seferen in ihren Spinnwebengewändern setzten sich durch die so entstan­dene Öffnung in Bewegung.
„Halt!“ warnte Dorian und hielt ih­nen den Ys-Spiegel entgegen.
„Nicht:“ zirpte ein Sefere. Dann rief er wie in höchster Not die magischen Warte: „Kether-ethe-rethe-b- re-there ...“
Die Stimme verlor sich im Ultra­schallbereich. Die Seferen schienen zu schrumpfen, während der Spiegel sie anzog, und sie wurden immer klei­ner, bis er sie in sich aufgesogen hatte.
„Das hat seine Wirkung nicht ver­fehlt“, sagte Dorian. Zufrieden stellte er fest, daß die anderen Seferen auf Distanz blieben.
Nach einer Weile strebten sie aus­einander, und aus der wie Nebel wal­lenden Flüssigkeit tauchte eine ein­zelne Blase auf. Darin befanden sich fünf Janusköpfe.
„Ah, jetzt schreiten die Meister von Malkuth ein“, sagte Dorian spöttisch. „Sollen sie nur kommen.“
„Mach keine Dummheiten!“ rief Coco unbehaglich. „Einer davon ist Olivaro.“
Dorian ließ überrascht den Spiegel sinken. Er blickte zu der sich rasch nähernden Luftblase hinüber. Wäh­rend vier der Janusköpfe ihre mas­kenhaften Knochengesichter zeigten, hatte der fünfte ein sich ständig ver­änderndes Scheingesicht, in dem es unkontrolliert zuckte.
„Es könnte tatsächlich Olivaro sein“, meinte Dorian nachdenklich. „Aber ich traue den Janusköpfen nicht.“
Er beobachtete, wie einer der Ja­nusköpfe etwas in die Luft zu zeich­nen begann. Er hob versuchsweise den Ys-Spiegel vors Gesicht. Durch ihn sah er, wie sich von den Fingerspitzen des Januskopfes Sprach­symbole lösten, sich formierten und als Gruppen durch die Luft schweb­ten. Es kostete ihn keine Mühe, mit­tels des Ys-Spiegels die Symbole zu entschlüsseln.
„Die Janusköpfe wollen mit uns verhandeln“, übersetzte Dorian für Coco. „Sie verlangen aber, daß ich keine höheren Kräfte entfessele, die Kether schaden könnten. Wahr­scheinlich verständigen sie sich auf diese Weise mit uns, um nicht ihre Magie einsetzen zu müssen.“
„Hören wir uns an, was sie anzubie­ten haben“, schlug Coco vor. „Sie ha­ben einen gehörigen Respekt vor dem Ys-Spiegel und werden es aus Sorge um Kether nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen.“
„Vielleicht wollen sie uns auch nur in Sicherheit wiegen“, meinte Dorian. „Andererseits könnte ihre Sorge um Kether größer sein als der Wunsch, den Ys-Spiegel zu besitzen.“
Die Blase mit den Janusköpfen schwebte heran und vereinte sich mit der ihren. Die Trennhaut wurde dünner.
Dorian hielt den Ys-Spiegel ge­senkt, um die Janusköpfe nicht zu be­unruhigen. Dabei stellte er fest, daß der Spiegel in diesem Winkel als Re­flektor wirkte, Er konnte in ihm se­hen, was sich in seinem Rücken ab­spielte. Dort tauchten wie aus dem Nichts plötzlich vier Seferen auf.
Es war eine Affekthandlung, als Dorian herumwirbelte und blitz­schnell den Spiegel hob. Er dachte in diesem Moment nur daran, Coco und sich gegen Angriffe zu schützen. Er begnügte sich nicht damit, die Seferen in den Spiegel fallen zu lassen. Er wollte ihre Vernichtung. Das war ein impulsiver Gedanke, der seinem Selbsterhaltungstrieb entsprang.
Diese Gedanken übertrugen sich auf den Spiegel - und dieser setze sie, einem Katalysator gleich, in vernich­tende Kraftfelder um.
Der Spiegel begann zu glühen. Sein Leuchten schien von reiner kosmi­scher Energie gespeist zu sein. Einer Energie, die Werden und Schaffen be deuten konnte. Einer Energie, die je­doch auch den Tod in sich trug, wenn der Mann hinter dem Spiegel es wollte.
Die Seferen wurden in dieses Leuchten gehüllt. Sie gingen darin auf, wurden selbst zu kosmischer Energie. Aber nicht nur die Seferen zerstrahlten. Auch ein Teil ihrer Um­gebung löste sich auf. Die Wandung der Blase, die dahinter brodelnde Flüssigkeit, Fragmente des organi­schen Gerüsts, das das Riesenei stützte, Zellgewebe ...
Dorian erkannte zu spät, was er an­gerichtet hatte. Und er mußte fürch­ten, daß sie nun unter der Flut der in die freigewordenen Räume stürzen­den Flüssigkeit umkommen würden.
„Was haben Sie nur getan!“ Ein Ja­nuskopf erschien vor ihm und fuch­telte mit den Händen. Er zeigte ihm ein wütendes Scheingesicht. „Geben Sie das. Spiegel-Amulett her, bevor Sie noch Schlimmeres anrichten.“
Dorian, von dem kräfteraubenden Einsatz des Ys-Spiegels leicht ge­schwächt, klammerte sich an diesen wie an einen rettenden Strohhalm.
„Kommen Sie nicht zu nahe!“ warnte er mit schwacher Stimme.
Der Januskopf wich zu seinen Art­genossen zurück. Dorian sah, wie sich das Loch in der Luftblase schloß. Dann erst stürzten die Fluten in den Hohlraum. Die Blase wurde vom Druck der niederbrausenden Flüssig­keit erschüttert, aber sie hielt.
Dorian atmete auf. Er erholte sich rasch und wandte sich den Janusköp­fen zu, die Olivaro in die Mitte ge­nommen hatten.
Die beiden Luftblasen hatten sich längst zu einer vereint. Es gab keine trennende Barriere mehr.
„Werden Sie jetzt meine Bedingun­gen akzeptieren?“ fragte Dorian.
„Dazu waren wir auch schon vorher bereit“, erwiderte einer der Janus­köpfe. „Ihre Machtdemonstration war überflüssig. Wir sind nicht beein­druckt. Sie haben sich nur selbst ge­schadet.“
„Sie haben die Seferen auf uns ge­hetzt“, rechtfertigte sich Dorian. „Was passiert ist, haben Sie sich selbst zuzuschreiben.“
„Glücklicherweise waren die Fol­gen nicht so schlimm“, sagte der Ja­nuskopf. „Eine Katastrophe konnte verhindert werden. Aber Kethers Krise hat sich verschärft. Der Höhepunkt steht jeden Augenblick bevor. Schließen wir dieses Thema ab. Hier ist der abtrünnige Varo. Sie können ihn mitnehmen.“
„Bedingungslos?“
„Bedingungslos.“
„Wieso auf einmal so kooperativ?“ wunderte sich Dorian.
„Wir sind froh, Sie endlich auf Ihre Welt abschieben zu können“, sagte der Januskopf. Das klang plausibel. Wir tun es zum Schutze von Kether. Olivaro ist in seinem Zustand nutzlos für uns. Er hat einen unheilbaren Schock erlitten.“
Die Ehrlichkeit der Janusköpfe überraschte Dorian. Was steckte da­hinter? Er konnte nicht glauben, daß sie sie so einfach würden gehen las­sen. Wo war der Pferdefuß?
„Was überlegst du noch, Dorian?“ fragte Coco.
„Grundsätzlich nehme ich das An­gebot an“, sagte Dorian. „Ursprüng­lich ging es nur um Olivaro. Aber jetzt stelle ich noch eine Bedingung. Ich verlange, daß alle gefangenen Menschen freigelassen und zur Erde zurückgeschickt werden.“
„Damit haben wir gerechnet“, sagte der Wortführer der Janusköpfe.
Er machte aus dem Handgelenk eine schlenkernde Bewegung. Eine Luftblase tauchte auf. Darin befan­ den sich rund zwanzig Menschen ver­schiedener Nationalität.
„Mehr Gefangene haben Sie nicht?“ fragte Dorian ungläubig.
„Nein“, sagte der Januskopf. „Mehr Überlebende gibt es nicht.“
In Dorian krampfte sich etwas zu­sammen.
„Schicken Sie Olivaro zu uns“, ver­langte er, um nicht weiter über das Schicksal der anderen Menschen nachdenken zu müssen.
Olivaro, der Januskopf mit dem un­kontrolliert zuckenden Scheinge­sicht, erhielt einen Stoß in den Rük-ken und trottete apathisch zu ihnen. Dorian hielt ihm den Ys-Spiegel vors Gesicht und erklärte dazu: „Keine Bange. Ich will nur überprüfen, ob es sich tatsächlich um Olivaro handelt.“ Der Januskopf mit dem zuckenden Scheingesicht zeigte auf den Spiegel keine Reaktion. Das war der Beweis für Dorian, den entarteten Olivaro vor sich zu haben. Kein normaler Ja­nuskopf hätte sich derart verstellen können.
„In Ordnung“, sagte Dorian zufrie­den. „Jetzt führen Sie uns zum näch­sten Tor.“
„Das ist nicht nötig“, sagte der Ja­nuskopf spöttisch. „Sie werden von hier aus auf die Reise gehen, denn Kether hat in seinem Schmerz alle Tore geschlossen.“
Nach diesen Worten lösten sich die vier Janusköpfe in Nichts auf.
„Diese falsche Bande!“ schimpfte Dorian. „Sie haben uns doch reinge­legt.“
Ihre Blase wurde von einem hefti­gen Stoß erschüttert und fortgewir-belt. Sie verloren den Halt und wur­den durcheinandergeworfen. Es war Dorian nicht möglich, wieder auf die Beine zu kommen.
Die Luftblase schien in eine Strö­mung geraten oder von einem Wirbel erfaßt worden zu sein. Sie begann um ihre Achse zu rotieren, wurde in die Tiefe gezogen und von einer Gegen­strömung wieder emporgetragen.
„Das muß die Krise sein!“ hörte Dorian Coco rufen.
Für einen Moment sah der Dämonenkiller die Blase mit den zwanzig Menschen vorbeitreiben. Sie bildeten ein unentwirrbares Knäuel von Lei­bern.
„Noch sind wir nicht verloren!“ rief Dorian Coco zu.
Er hatte noch den Ys-Spiegel. Ent­weder er würde ihre Rettung sein oder er würde dafür sorgen, daß ein Teil der Januswelt mit ihnen ins Ver­derben gerissen wurde.
Dorian erinnerte sich eines Aus­spruchs von Olivaro. Dieser hatte be­hauptet, daß man mittels des Ys-Spiegels jederzeit zur Januswelt gelangeru. konnte. Wenn das zutraf, mußte es auch möglich sein, den umgekehrten Weg zu gehen — nämlich zurück zur Erde.
Dorian wollte den Versuch wagen. Doch er kam nicht mehr dazu.
Das Getöse um sie war zu einem in­fernalischen Kreischen angeschwol­len. Dorian sah das zuckende gallert­artige Ding auftauchen, das in das Ei eingebettet war. Plötzlich dehnte es sich wie unter einer Explosion nach allen Seiten hin aus. Ihre Blase wurde von der Druckwelle erfaßt und platzte. Die Strömung erfaßte sie und schwemmte sie mit sich.
Dorian traf auf harten Widerstand und überschlug sich einige Male. Als er um sich tastete, spürte er festen Boden unter sich.
Er rief Cocos Namen, und sie ant­wortete von ganz nahe.
Dorian war erleichtert. Er kam auf die Beine und blickte um sich. Über ihnen spannte sich ein Nachthimmel. Vor ihnen breitete sich die Silhouette eines tropischen Waldes aus. Davor stand Olivaro, reglos. Dorian stellte jedoch überrascht fest, daß er nicht mehr sein zuckendes Scheingesicht zeigte, sondern sein Knochengesicht.
Sein Kopf hatte sich von selbst um 180 Grad gedreht.
Vielleicht war der Ausbruch von Kethers Krise eine heilsame Schock­therapie für den Januskopf gewesen.
„Olivaro, ist mit Ihnen alles in Ord­nung?“ erkundigte sich Dorian.
Aber der Januskopf reagierte nicht.
Dorian wandte sich enttäuscht ab und blickte auf die andere Seite. Vor ihm erstreckte sich eine Bucht. Das Mondlicht spiegelte sich auf der un­ruhigen Wasseroberfläche.
„Das muß die Erde sein“, erklärte Coco. „Aber wie gelangten wir hier­her, obwohl Kether angeblich alle Tore geschlossen hat? Hast du den Ys-Spiegel eingesetzt?“
Dorian verneinte mit einem Kopfschütteln.„Ich habe eine andere Vermutung. Ich habe sofort angenommen, daß es sich bei dem Riesenei um ein Organ handelte. Es scheint aber ein krankes Organ gewesen zu sein. Kether mußte es abstoßen, um zu genesen. Und mit dem kranken Organ hat er auch uns ausgeschieden.“
„Zum Glück hat er die Erde als Mülldeponie gewählt“, scherzte Coco und stapfte zum Ufer, um sich zu wa­schen.
„Ich weiß nicht, ob es so ein Glück ist“, meinte Dorian zweifelnd. „Ich frage mich nämlich, wo dieses kranke Organ geblieben ist.“ 


Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 48, 1. Spalte, 2. Absatz - Seite 49, 1. Spalte, 2. Absatz

Buzios.
Sie hatten die Bucht noch nicht er­reicht, als Karla plötzlich die Raffia-­Schnur losließ und mit einem Schrei zusammenbrach.

Den anderen Mädchen erging es nicht anders.
Hubert Keller stand fassungslos da. Er war nicht gleich in der Lage, von seiner unverhofften Freiheit Gebrauch zu machen.
Er blickte auf die Mädchen hin­unter, die sich wie unter unsäglichen Qualen auf dem Boden wälzten. Ihre Bäuche waren aufgebläht.
Keller taten die Mädchen plötzlich leid. Er dachte nicht daran, welche schrecklichen Verbrechen sie began­nen hatten. Außerdem waren sie da­für gar nicht verantwortlich zu ma­chen. Sie waren besessen. Sklaven einer dämonischen Macht.
Ein Rascheln in den Büschen. Kel­ler entsann sich wieder seiner eige­nen verzweifelten Lage und wollte sich zur Flucht wenden.
„Hugh!“
Eine Gestalt mit einem breiten Strohhut tauchte auf. Es war Lonri­val da Silva. Jetzt würde es sich zei­gen, ob er tatsächlich bereute, was er mit den Mädchen getan hatte.
Der Curandeiro schwang zwei Ma­cheten.
„Strecken Sie mir die Hände ent­gegen, Hugh!“ forderte er. „Schnell, bevor die Wehen der Mädchen vorbei sind!“
Keller gehorchte und hielt Lonri­val die Hände hin. Dieser begann, machetenschwingend zu tänzeln und blickte ihm dabei durch seine dunkle Sonnenbrille in die Augen. Hugh konnte seine Augen nicht sehen, aber er spürte ihren stechenden Blick. Er fühlte sich auf einmal leicht und unbeschwert, wie in Trance. Xango!
Lonrival da Silva hatte ihn hypno­tisiert. Dabei erklärte er: „Ich habe Ihnen gesagt, daß die Mädchen eine Scheinschwangerschaft durchma­chen. Sie bilden sich ein, daß die Ge­burt jeden Augenblick stattfindet. Deshalb die Wehen.“
Der Durandeiro schlug einige Male mit seinen Macheten auf Kellers Handgelenke, bis Blut spritzte und die Raffia-Schnüre abfielen. Schnell massierte er Kellers Wunden, bis sie nicht mehr bluteten. Als Keller aus der Trance erwachte, waren nicht einmal mehr Narben an seinen Handgelenken zu sehen.
„Und wozu Scheinschwanger­schaft und Wehen?“ fragte Keller.
„Ihnen hat das das Leben gerettet - und vermutlich vielen anderen potentiellen Opfern auch“, antwortete Lonrival. „Aber im Ernst. Ich be­fürchte, daß tatsächlich etwas gebo­ren werden soll. Nämlich Kether.“
Von der Bucht her klang ein Pfei­fen herüber, das immer mehr an­schwoll. Den Kehlen der Mädchen entrang sich erlösende Seufzer - als fühlten sie, daß ihre Qualen endlich ein Ende hatten.
In der Bucht explodierte etwas. Zu sehen war nichts, und die Bäume verstellten die Sicht. Dann ein klat­schendes Geräusch, das sich anhörte, als sei ein schwerer Körper ins Meer gefallen.
Stille folgte.
Auch die Mädchen waren ver­stummt. Sie waren noch etwas apa­thisch, regten sich aber bereits schwach. Ihre Bäuche waren einge­fallen.
„Schnell, fort von hier!“ rief Lonri­val da Silva. „Bevor die Furien voll­ends erwachen.“
Keller ließ sich widerstandslos fortführen. Er fragte sich, was ins Meer gefallen war.
Es mußte sich um einen sehr schweren Körper gehandelt haben.

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 46, 1. Spalte, 11. Absatz - Seite 48, 1. Spalte, 9. Absatz

Buzios.
Sie hatten die Bucht noch nicht er­reicht, als Karla plötzlich die Raffia-Schnur losließ, an der sie Keller führte, und mit einem Schrei zusam­menbrach. Aber nicht nur Karlas Körper verkrampfte sich wie unter Leibschmerzen. Allen anderen Mäd­chen erging es ebenso.

Hubert Keller stand fassungslos da. Er dachte nicht daran, die Situation zur Flucht zu nützen. Er blickte auf die Mädchen hinunter, die sich wie unter Qualen über den Boden wälzten.
Sie taten ihm auf einmal leid. Er dachte nicht daran, welche Verbre­chen sie verübt hatten. Außerdem waren sie nicht dafür verantwortlich zu machen. Sie waren besessen. Skla­ven einer dämonischen Macht.
Ein Rascheln in den Büschen. Kel­ler wollte sich zur Flucht wenden.
Hugh!“
Eine Gestalt mit einem breiten Sombrero tauchte auf. Es war Lonrival da Silva.
„Strecken Sie mir die Hände entge­gen, Hugh!“ forderte er. „Schnell, bevor sich die Mädchen erholt haben.“
Keller gehorchte und hielt Lonrival die gefesselten Hände hin. Aber an­statt die Fesseln einfach zu durch­trennen, hypnotisierte ihn Lonrival durch die dunkle Sonnenbrille und begann machetenschwingend zu tän­zeln. Die Macheten durchschnitten nur die Luft, aber die Raffia-Schnüre fielen von Kellers Handgelenken ab. Wo sie ihm ins Fleisch geschnitten hatten, war nichts mehr zu sehen.
„Was passiert mit den Mädchen?“ fragte Keller, nachdem er wieder aus der Trance erwacht war. „Was verur­sacht ihnen die Schmerzen?“
,,Das magische Buchstabenquadrat ist die Ursache“, erklärte der Curandeiro.
„Können Sie es nicht unwirksam machen?“ fragte Keller.
„Zu spät“, sagte Lonrival be­dauernd. „Ich habe keine Macht mehr über sie. Kether beherrscht sie. Und mit den Schmerzen kündet er sein baldiges Kommen an. Es ist mit einer Geburt vergleichbar - und die Mäd­chen sind Kethers Geburtshelfe­rinnen.“
„Sie meinen, diese Schmerzen sind mit Scheinwehen vergleichbar?“ fragte Keller ungläubig.
Der Curandeiro nickte.
Von der Bucht her klang ein Pfei­fen herüber, das immer mehr an­schwoll. Den Kehlen der Mädchen entrangen sich erlösende Seufzer, als wüßten sie, daß ihr Leiden bald been­det sein würde.
Etwas explodierte in der Bucht. Zu sehen war nichts, denn die Bäume verstellten die Sicht. Gleich darauf erklang ein klatschendes Geräusch, als sei ein schwerer Körper ins Meer gefallen.
Dann folgte Stille.
Auch die Mädchen waren zur Ruhe gekommen. Sie lagen entspannt da. Aber einige von ihnen begannen sich bereits wieder zu regen.
„Schnell, fort von hier!“ riet Lonrival. „Bevor die Furien wieder zu sich kommen.“
Keller ließ sich widerstandslos fort­führen. Er fragte sich, was ins Meer gefallen war.
Es mußte sich um einen sehr gro­ßen und schweren Körper handeln.

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 49, 1. Spalte, 3. Absatz - Seite 51, 1. Spalte, 5. Absatz

Die Alice II ankerte weit draußen in der Knochen-Bay. Das Ufer war zwei Meilen entfernt.
Mario Ribera wurde durch eine laute Detonation geweckt. Er war auf Deck eingeschlafen. Aber er fand sich in illustrer Gesellschaft. Überall lagen Alkoholleichen herum.
„Was war das?“ fragte der Jacht­besitzer verdattert.
„Philipp“, murmelte ein Mädchen im Halbschlummer. „Seine Darmflo­ra ist so laut, daß sie an Kanonen­schüsse erinnert...“
Ribera kam auf die Beine und tor­kelte zur Reling. Er stierte zum Land hinüber. Dort schien ein riesiger Körper vom Himmel zu fallen. Das Wasser spritzte viele Meter hoch, als das Ding im Meer aufschlug.
Ein Meteor? fragte sich Ribera. Er war plötzlich hellwach.
„Pablo! Ernesto! Maschinen klar.“
Einige der Passagiere, die aus dem Schlaf gerissen wurden, beschwer­ten sich wütend über den Krach.
„Was'n los?“
„Pennt weiter“, sagte Ribera.
Der Motor sprang an. Die Jacht nahm Kurs auf die Knochen-Bay. Ribera holte einen Feldstecher und blickte zu der Stelle, wo das Ding ins Meer gefallen war, Das Wasser schäumte und brodelte - es schien zu kochen.
Auf dem Strand dahinter zeichnete sich ein dunkler Fleck ab. Durch das Nachtglas sah Ribera eine breiige Masse, die einem riesigen Kuhfladen glich. Darin standen drei Menschen. Sie waren bis über die Knie in der Masse versunken. Sie wateten müh­sam hinaus.
Weiter links, hinter einer Land­zunge, befand sich ein zweiter sol­cher dunkler Fleck. Dort waren an die zwanzig Menschen darum be­müht, sich aus der offenbar kleb­rigen Masse zu befreien.
Was ging hier vor?
Ribera würde es gleich erfahren. Das Meer hatte sich inzwischen et­was beruhigt. Nichts war zu sehen. Die drei Menschen am Strand wu­schen sich die dunkle Masse vom Körper und wandten sich dann dem Wald zu. Die Jacht hatten sie nicht entdeckt, und Ribera fiel zu spät ein, daß er Lichtsignale hätte geben sol­len.
Als er den Suchscheinwerfer schließlich einschaltete, war von den Dreien nichts mehr zu sehen. Die Menschen bei dem zweiten Fleck hinter der Landzunge stoben plötz­lich in heilloser Panik auseinander, als der Lichtschein sie traf.
Das Ufer war nun nur noch fünf­hundert Meter entfernt. Bald wür­den sie die Stelle erreichen, wo das Ding ins Meer gestürzt war.
Ribera merkte plötzlich, daß je­mand neben ihm stand. Es war Ra­chel, eine abenteuerlustige Englän­derin, die mehr versprochen hatte, als sie dann gehalten hatte.
„Mario, bist du mir noch böse?“
Er schüttelte den Kopf. Er hatte andere Sorgen. Er starrte auf die Wasseroberfläche, die sich leicht kräuselte und in die nur durch die Bugwelle Unruhe kam.
„Wonach schaust du aus?“ fragte Rachel.
Ribera konnte keine Antwort mehr geben. Die Jacht wurde heftig erschüttert. Der heftige Stoß riß Ri­bera und Rachel von den Beinen.
„Wir sind aufgelaufen!“ rief ein Mann von der Kommandobrücke. „Das verstehe ich nicht. Hier müßte das Meer gut zehn Faden tief sein...“
Die Jacht schlingerte und wurde hin und her geworfen, als bewege sich das Hindernis, auf dem sie auf­gefahren war, Nach und nach wur­den alle Passagiere geweckt. Alle schrien durcheinander.
„Mario!“
Ribera hörte erst jetzt Rachels Hil­ferufe. Sie war ins Wasser gefallen und schien um ihr Leben zu kämp­fen. Plötzlich schien sie von etwas gepackt und unter Wasser gezogen zu werden. Sie verschwand.
Die Jacht bekam Schlagseite. Plötzlich stieß etwas durch das Was­ser nach oben. Ribera sah einen rie­sigen zottigen Rücken. Wieder ging ein Stoß durch die Jacht - und sie kippte zur Seite. Ribera verlor den Halt und ging über Bord.
Als er wieder auftauchte, türmte sich vor ihm ein haushoher Schatten. Etwas Riesiges sauste durch die Luft, packte ihn und zerquetschte ihn. Das letzte, was Ribera hörte, waren die Todesschreie seiner Freunde.

* * *

„Mit der Jacht muß irgendetwas passiert sein.“
„Vielleicht aufgelaufen...“
„Ist auch ein totaler Irrsinn, ohne Licht so nahe an das Ufer zu fahren.“
„Wir müssen hin. Vielleicht kön­nen wir helfen.“
Die sechs Strandwanderer - drei Pärchen - liefen zu ihrem Buggy. Gleich darauf heulte der Motor auf, und das Fahrzeug setzte sich mit durchdrehenden Antriebsrädern in Bewegung.
„Scheinwerfer einschalten!“ befahl einer der Männer dem Fahrer. Zwei Lichtkegel leuchteten auf und grif­fen dem Wagen voraus.
Plötzlich kam ein dunkler Fleck auf dem sonst so makellosen Sand­strand in Sicht.
„Achtung!“
Der Fahrer war beschwipst und reagierte langsam. Bevor er den Wa­gen herumreißen konnte, fuhr der Buggy in die klebrige Masse und blieb darin stecken. Der Fahrer gab Vollgas, erreichte aber damit nur, daß die Räder durchdrehten und sich in den Sand fraßen.
Der Motor erstarb.
„Seht nur die vielen Fußspuren! Sie führen von dieser Masse fort. Zum Wald.“
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte einer der Männer und sprang vom Wagen. Er versank sofort bis über die Knöchel in der breiigen ekelerre­genden Masse. „Woher kommt das Zeug?“
„Das Meer wird es an Land gespült haben...“
„Da!“
Ein Mädchen begann zu schreien. Sie deutete auf zwei violett glühende Punkte, die durch das Dickicht leuchteten. Das Unterholz krachte, als wälzte ein schwerer Körper hin­durch. Ein Baum neigte sich zur Sei­te und wurde wie ein Streichholz ge­knickt.
Ein Schatten tauchte auf. Hoch wie ein mehrstöckiges Haus. Er hatte die Umrisse eines zottigen Tieres, erin­nerte an einen Affen. In dem Schädel glühten zwei violette Punkte. Das mußten die Augen sein.
Die Strandwanderer sprangen aus dem Wagen und wichen zurück. Das furchterregende Ding schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Es beugte sich über die schleimige Mas­se und begann sie mit breiter Zunge aufzulecken. Dabei schmatzte es laut.
„Heilige Mutter!“ rief einer der Männer. „Was - was ist das?“
Der Riesenaffe, oder was immer das Monster war, ruckte hoch. Der Blick der glühenden Punkte schien sich auf die sechs winzigen Men­schen zu richten. Er zog seine gewal­tige Zunge ein und wandte sich den Strandwanderern zu.
„Nichts wie weg!“
Die drei Männer und Mädchen be­gannen um ihr Leben zu laufen. Den Abschluß bildete der Fahrer des Buggies. Er war nicht mehr ganz si­cher auf den Beinen.
Plötzlich schlug etwas Klebriges gegen seinen Rücken, und er fühlte sich hochgehoben. Als die anderen seine Entsetzensschreie hörten und sich nach ihm umwandten, sahen sie, daß er in einem riesigen Maul ver­schwand...

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 48, 1. Spalte, 10. Absatz - Seite 49, 2. Spalte, 12. Absatz

Die Alice II ankerte weit draußen in der Knochen-Bay. Das Ufer war zwei Meilen entfernt.
Mario Ribera wurde durch eine laute Detonation geweckt. Er war auf Deck eingeschlafen. Aber er befand sich in illustrer Gesellschaft. Es lagen noch weitere Alkoholleichen herum.
„Was war das?“ fragte der Jachtbe­sitzer verdattert.
„Philipp“, murmelte ein Mädchen im Halbschlummer. „Seine Darm­flora ist so laut wie Kanonen­schüsse ...“
Ribera kam auf die Beine und tor­kelte zur Reling. Er stierte zum Land hinüber. Dort schien ein riesiger Kör­per ins Meer zu fallen. Die Gischt spritzte viele Meter hoch, als das Ding ins Wasser schlug.
Ein Meteor? fragte sich Ribera. Er war plötzlich hellwach.
„Pablo! Ernesto! Maschinen klar.“ Einige Passagiere beschwerten sich über den Krach.
Der Motor sprang an. Die Jacht nahm Kurs auf den Sandstrand. Ribera holte seinen Feldstecher und blickte in die Richtung, in der das Ding ins Meer gefallen war.
Auf dem Strand dahinter waren drei Gestalten zu erkennen. Ribera ließ das Nachtglas von links wandern und entdeckte in einiger Entfernung eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen. Irgendwie machten sie nicht den Eindruck von Nachtschwärmern auf ihn.
Das Meer hatte sich wieder beru­higt. Nichts war zu sehen. Als er wie­der zu der Stelle mit den drei Gestal­ten blickte, waren sie verschwunden. Ribera schaltete den Suchscheinwer­fer ein, um die Vorgänge besser beob­achten zu können. Als er den Licht­strahl zu der größeren Menschen­menge schwenkte, stoben sie in dem hellen Schein in wilder Panik ausein­ander.
Das Ufer war nun nur noch fünf­hundert Meter weit entfernt. Bald waren sie an der Stelle, wo das Ding ins Meer gestürzt war.Neben ihm tauchte Rachel auf, eine abenteuerlustige Engländerin, die mehr versprochen hatte, als sie dann halten konnte.
„Wonach schaust du aus?“ erkun­digte sie sich.
Die Jacht wurde plötzlich erschüt­tert. Der heftige Stoß riß Ribera und Rachel von den Beinen.
„Wir sind aufgelaufen!“ kam es von der Kommandobrücke. „Wie ist das möglich? Hier müßte das Meer gut zehn Faden tief sein ...“
Die Jacht schlingerte, wurde regel­recht hin und her geschleudert, alsbewege sich das Hindernis unter dem Kiel. Jetzt erwachten auch die Passa­giere. Alle schrien durcheinander.
„Mario!“
Rachels Ruf kam aus dem Wasser. Sie war über die Reling gestürzt. Ri-bera griff nach einem Rettungsring und wollte ihn ihr zuwerfen, aber da war von Rachel nichts mehr zu sehen.
Die Jacht bekam Schlagseite. Et­was tauchte aus dem Wasser auf. Ribera sah einen gewaltigen zottigen Körper ohne erkennbare Form. Die Jacht erhielt davon einen gewaltigen Schlag und kippte zur Seite. Ribera ging über Bord. Das Wasser schlug über ihm zusammen. Als er prustend auftauchte, war der mächtige Körper genau über ihm. Etwas Riesiges griff durch die Luft — und dann wurde es schwarz um Ribera.

* * *

„Wie konnte die Jacht nur kentern? In der Bucht gibt es doch gar keine Sandbänke.“
„Egal. Wir müssen hin. Vielleicht können wir helfen.“
Die sechs Strandwanderer — drei Pärchen — liefen zu ihrem Buggy. Gleich darauf heulte der Motor auf, und das Fahrzeug setzte sich mit durchdrehenden Rädern in Bewe­gung.
„Scheinwerfer einschalten!“ befahl einer der Männer dem Fahrer. Zwei Lichtkegel leuchteten auf und griffen dem Wagen voraus. Die Scheinwerfer zeigten einen Abschnitt des Strandes, der von unzähligen Füßen förmlich durchpflügt war. Dazwischen waren dunkle Flecken zu sehen. Als der Wa­gen über einen dieser Flecken fuhr, schlingerte er, und etwas spritzte in die Luft.
„Aufpassen!“ rief eines der Mäd­chen und schlug dem beschwipsten Fahrer in den Rücken. Dieser lachte ausgelassen und fuhr absichtlich ge­gen einen dieser dunklen Klumpen. Die Räder drehten durch. Als der Fahrer unaufhaltsam Vollgas gab, er­reichte er damit nur, daß sich die Rä­der eingraben, bis sie hoffnungslos festgefahren waren. Der Motor er­starb.
Die Insassen sprangen schimpfend aus dem Wagen.
Einer der Männer stocherte mit der Sandale in einem der schleimigen Klumpen, die überall herumlagen.
„Woher kommt dieses eklige Zeug?“
„Das Meer wird es an den Strand gespült haben.“
Ein Mädchen begann plötzlich scheinbar unmotiviert zu schreien. Es deutete zum Wald. Dort glühten zwei violette Punkte durch das Dickicht. Das Unterholz krachte, als wälze sich ein schwerer Körper hindurch. Ein Baum neigte sich zur Seite und wurde wie ein Streichholz geknickt.
Durch die Schneise trat ein mächti­ger Schatten. Hoch wie ein mehrstöckiges Haus. Er hatte die Umrisse ei­nes zottigen Tieres und erinnerte ent­fernt an einen Affen. In dem gewalti­gen Schädel glühten zwei kopfgroße, violette Augen.
Die Strandwanderer wichen ent­setzt zurück.
„Heilige Mutter!“ murmelte einer der Männer. „King Kong lebt.“
Das Monster ruckte herum. Es schien die sechs winzigen Menschen erst jetzt zu entdecken. Es fuhr eine lange Zunge aus und schnalzte damit in ihre Richtung.
„Nichts wie weg.“
Die drei Männer und Mädchen be­gannen um ihr Leben zu laufen. Aber sie hatten diesen Wettlauf schon vom Start weg verloren. Der Unersättliche war schneller.


Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 51, 1. Spalte, 6. Absatz - Seite 53, 1. Spalte, 4. Absatz

Der Boden erbebte wie unter den Schritten eines Riesen. Keller sah immer wieder zur Seite. Er vernahm das Krachen und Splittern von Holz, das sich anhörte, als walze ein riesi­ger Tank den Wald nieder. Die Ge­räusche entfernten sich schnell - und zwar in der Richtung, in der er mit Lonrival da Silva lief.
„Was geht hier vor sich, Lonrival?“ rief Keller.
„Kether wurde geboren“, antwor­tete der Curandeiro.
Keller schauderte. War Kether mehr als nur ein fiktiver Götze? War er tatsächlich zum Leben erwacht?
Sie erreichten die Bucht von Far­radurinha, die von Baumhütten umsäumt wurde. Keller stockte der Atem, als er sah, daß alle Baumhüt­ten beschädigt waren, als hätte ein Hurrikan gewütet. Die Strohdächer waren zerfetzt. Teile der Wände la­gen über den Strand verstreut. Und Keller sah Blutspuren.
„Waren das die Mädchen?“ fragte er entsetzt.
Lonrival hörte nicht auf ihn. Er lief unbeirrt weiter und sprang ge­schickt über alle Hindernisse. Er hatte scheinbar keinen Blick für die Verwüstungen übrig.
„Schneller, Hugh!“ rief er. „Wir müssen zur Hütte der Mae Nara, be­vor ihr Zeremonienplatz ebenfalls verwüstet wird und ihre Anhänger in alle Winde verstreut werden. Wir müssen uns mit ihnen verbünden. Nur zusammen sind wir stark genug, die schreckliche Gefahr abzuwen­den.“
Keller war völlig außer Atem. Lonrival entfernte sich immer wei­ter von ihm. Schließlich tauchte er im Wald unter, und Keller verlor ihn aus den Augen.
Er setzte sich auf den Stamm eines entwurzelten Baumes, um Atem zu schöpfen.
Was für eine Wendung hatten die Dinge genommen! Er hatte geglaubt, daß es nicht mehr schlimmer kom­men konnte, als die besessenen Mäd­chen zu mordenden Furien wurden. Doch die Schrecken hatten noch eine Steigerung erfahren.
Ein Monster war aufgetaucht. Es schien riesengroß zu sein und tram­pelte alles nieder, was ihm im Wege stand. Es war so stark, daß es Bäume wie Grashalme ausreißen konnte.
Ein Krachen ließ ihn auffahren. Es kam aus der Richtung, in der die Hütte der Mae Nara lag. Dem Kra­chen folgte ein Geschrei aus unzäh­ligen Kehlen: Schließlich wurde es von einem furchtbaren Gebrüll übertönt.
Lonrivals Befürchtung war be­gründet gewesen. Das Ding hatte den Zeremonienplatz erreicht und wüte­te nun unter Mae Naras Anhängern. Das ohrenbetäubende Gebrüll und die entsetzlichen Todesschreie woll­ten kein Ende nehmen. Und immer wieder krachte und splitterte Holz.
Keller sah einen entwurzelten Baum durch die Luft fliegen. Wie ein Riesenspeer legte er einige hundert Meter zurück, bevor er ins Wasser fiel.
Jemand stürzte aus dem Wald. Es war ein ärmlich gekleideter Indio. Sein Gesicht war vom Wahnsinn ge­zeichnet. Keller stellte sich ihm in den Weg, doch der Mann schlug wie von Sinnen auf ihn ein.
Wieder krachte es. Der Boden wur­de von schweren Schritten erschüt­tert. Sie kamen näher.
Der Indio riß sich schreiend von Keller los und rannte den Strand hinunter. Er stürzte sich ins Wasser und versuchte, sich schwimmend zu retten.
Keller sah plötzlich einen Schatten hinter den Bäumen auftauchen. Sie teilten sich, und etwas Riesiges bahnte sich einen Weg durch den Wald.
Ein Schädel, so groß wie ein Bun­galow, stieß hervor. Darin glühte ein Paar riesiger Augen. Ein Maul tat sich auf. Es zeigte zwei Reihen messerscharfer Zähne, die Keller an Pi­ranhas erinnerten.
Ein Bein durchschnitt pfeifend die Luft und setzte im Wasser auf. Me­terhohe Wellen entstanden. Das an die dreißig Meter große Untier bück­te sich. Sein Arm streckte sich, und seine klauenbewehrten Hände um­faßten den Indio, der schwimmend sein Heil gesucht hatte.
Das Monstrum holte den Zappeln­den aus dem Wasser und führte ihn seinem Maul zu.
Keller meinte zu träumen. Er konnte sich nicht von der Stelle rüh­ren. Er konnte ganz einfach nicht glauben, daß dieses Ding tatsächlich lebte.
Aber dann richtete es seine violet­ten Augen auf ihn. Und als er den gierigen Blick spürte, da wußte er, daß es Appetit auf ihn bekommen hatte .
Das war kein Traum! Es war ent­setzliche Realität. Und Keller wußte, daß es für ihn kein Entkommen gab. Das Monster streckte bereits den Arm nach ihm aus. Seine klauenartige Hand wollte zufassen...
Da erstarrte das Monster zur Be­wegungslosigkeit.
„Laufen Sie davon!“ rief vom Wald her eine Frauenstimme. „Schnell! Ich kann die Zeit nicht mehr lange auf­halten.“
Keller verstand überhaupt nichts mehr, als er die schwarzhaarige Frau erblickte. Aber er fühlte, daß er ihr seine Rettung verdankte. Automa­tisch setzte er sich in Bewegung.
„Schnell!“ drängte sie wieder. Dann ergriff sie seinen Arm und zog ihn mit sich.
Sie waren noch nicht weit gekom­men, als hinter ihnen wieder Bewe­gung in das riesige Monster kam. Es heulte enttäuscht auf, als es feststell­te, daß sein Opfer spurlos ver­schwunden war. Es durchwühlte mit seinen Pranken das Unterholz, ent­wurzelte dabei ganze Bäume und machte aus den Überresten der Hüt­ten Kleinholz.
Schließlich stürzte es sich mit ei­nem Aufschrei ins Meer und tauchte unter.
„Das ist noch einmal gut gegan­gen“, sagte die schwarzhaarige Frau, die mit Keller inzwischen ihre Ge­fährten erreicht hatte.
Bei dem einen handelte es sich um einen Mann mit schmalem Gesicht und grünen Augen, die einen zu durchbohren schienen.
Der andere hatte ein starres Kno­chengesicht, und Keller war nicht einmal sicher, ob es sich bei ihm überhaupt um einen Menschen han­delte. Ihn konnte nichts mehr über­raschen. Nach allem, was er in dieser Nacht erlebt hatte, hätte er selbst das Auftauchen des Teufels mit Hörnern und Pferdefuß akzeptiert.
Aber dennoch erschreckte es Kel­ler, als er einen Blick auf den Hinter­kopf des Mannes mit dem Knochen­gesicht warf und feststellte, daß sich unter seinem Haar eine weiche zuckende Fläche befand, die den Ein­druck vermittelte, als sei dort ein zweites Gesicht.
„Ich heiße Coco Zamis“, stellte sich die Frau vor. „Und das ist Dorian Hunter.“ Den Mann mit dem Kno­chengesicht erwähnte sie nicht. Sie fragte: „Sind Sie von hier? Können Sie uns erzählen, was hier vorgefal­len ist? Und wo sind wir?“
Hubert Keller wunderte sich nicht, daß diese Leute keine Ahnung hat­ten, wo sie sich befanden. Die Frau hatte ihm das Leben gerettet. Dafür war er dankbar. Und er war froh, sich endlich alles von der Seele spre­chen zu können.


Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 50, 1. Spalte, 1. Absatz - Seite 51, 2. Spalte, 2. Absatz

Der Boden erbebte wie unter den Schritten eines Riesen. Dazu erklang das Krachen und Splittern von Holz. Es hörte sich an, als walze ein schwe­rer Tank den Wald nieder. Die Geräusche entfernten sich in die Rich­tung, in die Hubert Keller mit Lonrival da Silva lief.
„Was geht hier vor sich?“ fragte Keller keuchend.
„Kether wurde geboren“, ant­wortete der Curandeiro.
Keller schauderte. War Kether mehr als nur ein Götze? War er zu ei­nem Lebewesen aus Fleisch und Blut geworden?
Sie erreichten die Bucht von Farradurinha. Die ehemals schmucken Baumhütten waren dem Erdboden gleichgemacht. Es sah aus, als hätte hier ein Hurrican gewütet. Und über­all waren Blutspuren.
„Können das die Mädchen ange­richtet haben?“ fragte Keller un­gläubig.
„Schneller, Hugh“, rief Lonrival statt einer Antwort. Er lief unbeirr­bar weiter, ohne auf die Verwüstun­gen zu achten. „Wir müssen zur Hütte der Mae Nara, bevor sich ihre Anhän­ger in alle Winde zerstreuen. Wir müssen uns mit ihnen verbünden. Nur gemeinsam sind wir stark genug, die schreckliche Gefahr zu bannen.“
Keller war völlig außer Atem. Er fragte sich, woher Lonrival diese Ausdauer hernahm. Er war schon gut zehn Meter vor ihm und entfernte sich immer rascher. Irgendwann ver­lor er ihn ganz aus den Augen.
Keller setzte sich erschöpft auf den Stamm eines entwurzelten Baumes. Welche Kräfte waren das, die Bäume entwurzeln konnten? Keller hatte ge­glaubt, daß es nicht mehr schlimmer kommen konnte. Aber der Schrecken hatte noch eine gewaltige Steigerung erfahren. Die Geschehnisse gingen über seinen Horizont.
Ein Krachen ließ ihn auffahren. Es kam aus der Richtung, in der die Hütte der Mae Nara lag. Das Krachen vermischte sich mit Schreien und ei­nem furchtbaren Gebrüll.
Was war das für ein Ding, aus des­sen Kehle solche Laute drangen? Der Klang allein jagte ihm eine Gänse­haut über den Rücken. Etwas kam durch die Luft geflogen. Es war ein entwurzelter Baum, der wie ein Riesenspeer einige hundert Meter zu­rücklegte, bevor er ins Meer stürzte.
Keller begann an seinem Verstand zu zweifeln, als ein zweiter Baum durch die Luft flog und sich unweit von ihm in den Boden bohrte.
Jemand stürzte aus dem Wald. Es war ein zerlumpter Indio. Sein Ge­sicht war vom Wahnsinn gezeichnet. Keller wollte sich ihm in den Weg stellen. Aber der Indio stieß ihn bei­seite und rannte zum Meer. Er stürzte sich ins Wasser und versuchte, sich schwimmend zu retten.
Der unheimliche Kampflärm war verstummt. Nun dröhnten wieder die schweren Schritte, kamen näher. Kel­ler sah plötzlich einen Schatten über den Bäumen auftauchen. Ein Schädel, so groß wie ein Bungalow, wurde sichtbar. Darin glühte ein Paar riesi­ger Augen wie Autoscheinwerfer, Ein Maul tat sich auf. Es zeigte zwei Rei­hen messerscharfer Zähne wie von Piranhas — aber zehnmal so lang.
Ein Bein fuhr über Keller hinweg, setzte krachend auf. Noch ein Schritt und das dreißig Meter hohe Untier hatte das Meer erreicht. Es durch­pflügte das Wasser mit gewaltigen Pranken, als fische es.
Keller war starr vor Entsetzen. Er konnte nicht glauben, daß es das wirklich geben konnte, was er sah. Das konnte nur ein schrecklicher Alp­traum sein. Aber das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Nun wandte sich das Untier um und suchte mit den violett glühenden Au­gen den niedergewalzten Wald nach Opfern ab. Es war hungrig, aus sei­nen Augen sprach unersättliche Gier.
Und dann hatte der Blick der heiß­hungrigen Augen Keller erfaßt. Das Monstrum beugte sich in seine Rich­tung, streckte einen Arm nach ihm aus — Keller schloß in diesem Mo­ment mit seinem Leben ab.
„Laufen Sie weg?“ rief da eine Frauenstimme aus dem Wald. „Schnell, ich kann die Zeit nicht mehr lange anhalten.“
Ungläubig stellte Keller fest, daß das Untier mitten in der Bewegung erstarrt war. Er verstand überhaupt nichts mehr, als eine schwarzhaarige Frau auftauchte und ihn zu sich winkte. Wie unter Hypnose bewegte er sich auf sie zu. Als er sie erreichte, ergriff sie ihn bei der Hand und zog ihn mit sich.
Sie waren noch nicht weit gekom­men, als das Monstrum hinter ihnen aufstampfte und dadurch ein mittle­res Erdbeben auslöste. Es heulte ent­täuscht auf und begann, das Unterholz nach seinem Opfer zu durchsu­chen. Schließlich warf es sich mit ei­nem Aufschrei ins Meer und tauchte unter.
„Das ist noch einmal gutgegan­gen“, sagte die schwarzhaarige Frau zu zwei Männern, die zu ihnen stießen.
Einer von ihnen hatte ein starres Knochengesicht, das kaum etwas Menschliches an sich hatte. Aber nach allem, was er bis jetzt erlebt hatte, hätte er sich nicht einmal über einen Teufel mit Hörnern und Pferde­fuß gewundert.
Als er einen Blick auf den Hinter­kopf des Knochengesichtigen er­wischte, da beschlich ihn doch ein mulmiges Gefühl. Dort befand sich unter dem geteilten Haar eine weiche, zuckende Masse, die entfernt an ein Gesicht erinnerte.
„Ich heiße Coco Zamis“, stellte sich die Frau vor. Sie deutete auf den an­deren Begleiter, der recht normal aussah, wenn man davon absah, daß einen seine grünen Augen mit den Blicken zu durchbohren schienen. „Und das ist Dorian Hunter. Sind Sie von hier? Können Sie uns erzählen, was vorgefallen ist? Und wo sind wir?“
Hubert Keller wunderte sich nicht über diese Fragen. Er war dankbar, daß ihm die Frau das Leben gerettet hatte, und froh, daß er sich einmal al­les von der Seele reden konnte. 


Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 53, 1. Spalte, 5. Absatz - Seite 55, 1. Spalte, 5. Absatz

„Das ist also des Rätsels Lösung“, sagte Dorian, nachdem Hubert Kel­ler geendet hatte. „Kethers Krise war nicht auf ein krankes Organ zurück­zuführen, wie ich angenommen habe. Sie bestand einfach in einer Schwangerschaft. Er hat uns mit­samt dem neugeborenen Monster zur Erde ausgestoßen. Jetzt wird auch klar, warum die Janusköpfe so sehr um sein Befinden besorgt waren.“
Dorian schüttelte fassungslos den Kopf.
„Darauf wären wir nie gekom­men“, meinte Coco. „Aber jetzt ist al­les klar. Die Geburt von Kether junior war den Janusköpfen wichtiger als Olivaro und wir - ja sogar wichtiger als der Ys-Spiegel. Die Zugeständ­nisse an uns machten sie nur, um die Geburt des Monsters zu sichern. Aber warum hat Kether es zur Erde abgestoßen? War das beabsichtigt?“
„Alles weist darauf hin“, sagte Do­rian. „Dieser Vorgang war von lan­ger Hand vorbereitet. Erinnere dich daran, daß der Januskopf Jaso in New York sein Experiment abbre­chen mußte. Ich vermute, daß er nach Buzios abberufen werden sollte, um Kether junior zu betreuen. Es war längst festgelegt, daß das Mon­ster hier zum Leben erwachen sollte. Die Janusköpfe haben sich zu diesem Zwecke auch des Geistheilers be­dient, damit er die Mädchen beein­flußt. Sie wurden auf das Erscheinen von Kether junior vorbereitet, sie brachten ihm Opfer dar - und als sei­ne Geburt bevorstand, machten sie eine Scheinschwangerschaft durch. Es paßt alles zusammen.“
„Das schon“, sagte Coco stirnrun­zelnd, „Aber was soll Kether auf der Erde?“
„Vermutlich ist er dazu bestimmt, auf der Erde eine ähnliche Weltordnung durchzusetzen wie auf Mal­kuth“, meinte Dorian. „Das sind natürlich nur Vermutungen, aber sie könnten zutreffen. Es ist jedenfalls die einzige Erklärung. Kether junior ist im Vergleich zu Kether noch win­zig. Aber ich bin sicher, daß er im Laufe der Zeit zu dessen Größe aus­wachsen wird...“
„Das Monster - winzig?“ warf Hugh Keller ein. „Welche Größe könnte es denn erreichen?“
„Wenn die irdischen Bedingungen günstig sind und es genügend Nahrung bekommt, dann könnte es die Größe des südamerikanischen Kontinents erreichen“, sagte Coco.
„Das ist doch völliger Unsinn!“
„Sie brauchen es nicht zu glauben, Hugh. Sie können mich auch auslachen, wenn ich Ihnen sage, daß wir in Kether gelebt haben und uns dabei so winzig wie Infusionstierchen vorgekommen sind.“
„Das ist - schrecklich.“ Keller starrte fassungslos vor sich hin. Er versuchte, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn sich Cocos Worte bewahrheiteten. Daß ein Lebewesen so groß wie ein Kontinent sein konnte, überstieg sein Vorstel­lungsvermögen.
Er fragte: „Was kann man dagegen unternehmen?“
„Das wird sich zeigen“, meinte der Dämonenkiller. „Aber so schlecht stehen unsere Chancen nicht. Ver­gessen wir nicht, daß Kether junior auf sich allein gestellt ist. Der Januskopf, der zu seiner Betreuung abge­stellt werden sollte, ist nicht aufge­taucht. Das kommt uns zugute. Außerdem - so schrecklich das Mon­ster auch ist - handelt es sich um ein Neugeborenes, das so hilflos wie alle Neugeborenen ist. Die Janusköpfe können ihm nicht zu Hilfe kommen, weil Kether alle Tore zur Erde ge­schlossen hat. Das ist unsere Chance. Ich weiß nicht, wie schnell Kether junior wachsen wird. Aber wir müssen versuchen, ihn bald zur Strecke zu bringen. Denn wer weiß - viel­leicht entwickelt er nach und nach magische Fähigkeiten. Und dann wäre er uns in jeder Beziehung über­legen.“
„Vergessen Sie nicht, daß es noch die besessenen Mädchen gibt, die das Monster versorgen“, meinte Keller.
„Ich habe sie in meinen Überlegun­gen berücksichtigt“, erwiderte Dori­an. „Vielleicht ist Lonrival da Silva in der Lage, den Bann wieder von ih­nen zu nehmen, mit der er sie belegt hat. Er ist jedenfalls der einzige, der die magische Formel kennt. Schwie­rig ist dabei nur, daß er sich jedes Mädchen einzeln vornehmen muß - und daß diese sich wohl kaum frei­willig dieser Prozedur unterziehen werden.“
„Wenn Lonrival noch am Leben ist, wird er mit uns zusammenarbeiten“, behauptete Keller. „Ich werde mich auf die Suche nach ihm machen.“
„Wir begleiten Sie“, beschloß Dori­an. „Vielleicht gibt das Monster eine Weile Ruhe, so daß uns etwas Zeit bleibt, unsere nächsten Schritte zu überdenken.“
„Es wird nicht leicht sein, es zur Strecke zu bringen“, sagte Keller. „Ja, wenn wir uns an die Regierung wenden und sie dazu bringen könn­ten, eine Bombe abzuwerfen... Aber das ist nicht drin. Die Mädchen ha­ben Buzios hermetisch von der Um­welt abgeriegelt.“
„Es ist besser, wenn die Welt nichts von diesen Ereignissen erfährt“, sag­te Dorian. „Denn sonst würde auch die Januswelt Wind von der Sache bekommen.“
Keller blickte zu dem Mann mit dem Knochengesicht.
„Ist das ein solcher - Januskopf?“
„Er ist harmlos“, sagte Dorian er­bittert und wandte sich ab. „Suchen wir den Geistheiler.“

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 51, 2. Spalte, 3. Absatz - Seite 52, 2. Spalte, 10. Absatz

 „Das ist also des Rätsels Lösung“, sagte Dorian, nachdem Keller geen­det hatte. „Kethers Krise war nicht auf ein krankes Organ zurückzufüh­ren, wie ich irrtümlich angenommen habe. Sie bestand in einer Schwan­gerschaft. Er hat uns mitsamt dem neugeborenen Monster zur Erde ab­gestoßen. Jetzt wird auch klar, war­um die Janusköpfe so sehr um sein Befinden besorgt waren.“
Er schüttelte fassungslos den Kopf.
„Die Geburt von Kether junior war den Janusköpfen wichtiger als alles andere“, sagte Coco. „Sie verzichte­ten lieber auf den Ys-Spiegel, auf Olivaro und uns, als die Geburt des Monsters zu gefährden. Ob es beabsich­tigt war, daß Kether junior zur Erde abgestoßen wurde?“
„Alles weist darauf hin“, sagte Dorian. „Das war von langer Hand vor­bereitet. Erinnere dich daran, daß so­gar Jaso in New York seine Experi­mente abbrechen mußte. Vermutlich sollte er nach Buzios abberufen wer­den, sozusagen als Geburtshelfer von Kether junior. Die Janusköpfe haben sich zu diesem Zweck auch des Geistheilers bedient, um die Mädchen zu beeinflussen. Sie sollten Keither ju­nior Opfer darbringen. Es paßt alles zusammen.“
„Aber was soll Kether auf der Er­de?“ fragte Coco stirnrunzelnd.
„Vielleicht soll er eine ähnliche Weltordnung wie auf Malkuth ein­führen“, meinte Dorian. „Das sind na­türlich alles nur Vermutungen, aber sie könnten zutreffen. Kether junior ist noch vergleichsweise winzig. Aber wer sagt, daß er sich nicht im Laufe der Zeit entsprechend auswachsen wird.“
„Dieses Monster — winzig?“ fragte Keller fassungslos. „Welche Größe könnte es denn erreichen?“
„Vermutlich die des gesamten süd­amerikanischen Kontinents“, sagte Coco.
„Das ist doch purer Unsinn.“
„Sie würden anders reden, wenn Sie, wie wir, in Kether gelebt und sich dabei so winzig wie ein Infusionstierchen gefühlt hätten.“
„Es ist so schon schrecklich genug“, sagte Keller. Er konnte sich einfach nicht ein Geschöpf so groß wie Süd­amerika vorstellen. „Kann man nichts dagegen tun?“
„Das wird sich weisen“, sagte der Dämonenkiller. „Aber so schlecht ste­hen unsere Chancen nicht. Kether ju­nior ist auf sich allein gestellt. Es steht kein Januskopf zu seiner Be­treuung zur Verfügung. Außerdem — so groß und furchtbar das Monster auch ist, so handelt es sich doch um ein Neugeborenes und ist so hilflos wie alle Neugeborenen. Die Janus­köpfe können ihm nicht zu Hilfe kom­men, weil alle Tore geschlossen sind. Dennoch müssen wir Kether junior schnellstens zur Strecke bringen. Denn wer weiß, wie schnell er wächst und ob er nicht irgendwann magische Fähigkeiten entwickelt. Und dann wäre er uns in jeder Beziehung über­legen.“
„Vergessen Sie nicht, daß es noch die besessenen Mädchen gibt, die das Monster versorgen“, erinnerte Keller.
„Ich habe sie in meinen Überlegun­gen berücksichtigt“, erwiderte Dorian. ,,Lonrival da Silva könnte in derLage sein, den Bann wieder von ih­nen zu nehmen. Er ist jedenfalls der einzige, der die magische Formel kennt.“
„Wenn Lonrival noch lebt, wird er uns helfen“, versicherte Keller. „Ich werde ihn suchen.“
„Wir begleiten Sie“, beschloß Dorian. „Vielleicht bleibt das Monster eine Weile untergetaucht, so daß wir etwas Zeit für Gegenmaßnahmen haben.“
Keller schüttelte den Kopf. Er konnte sich in Zusammenhang mit diesem Monster nichts unter „Gegen­maßnahmen“ vorstellen.
„Man müßte schon eine Bombe ab­werfen, um dieses Ding zu töten“, sagte er. „Aber da müßte man die Re­gierung einschalten.“
„Es ist besser, wenn die Welt nichts von diesen Ereignissen erfährt“, sagte Dorian. „Wir werden Kether ju­nior mit den Waffen der Janusköpfe schlagen.“
Keller blickte zu dem Mann mit dem Knochengesicht.
„Ist das ein solcher — Januskopf?“ Dorian nickte mit einem bitteren Zug um den Mund.
„Aber er hat ein Handicap. Suchen wir den Geistheiler.“


Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 55, 1. Spalte, 6. Absatz - Seite 57, 2. Spalte, 10. Absatz

Lonrival da Silva hatte den Über­fall des Monsters auf den Zeremonienplatz der Mae Nara mit knapper Not überlebt. Ein umgestürzter Baumstamm hatte ihm Schutz geboten.
Obwohl er mit dem Leben davon­gekommen war, haderte er mit dem Schicksal. Mar Naras Anhänger wa­ren entweder tot - von dem riesigen Untier verschlungen - oder in die Flucht geschlagen worden.
Er war allein. Auf dem Platz sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das Monster hatte furchtbar gewütet. Es hatte eine lange Schneise in den Wald geschlagen, die hinunter zum Strand führte. Lonrival hörte, daß es sich unter lautem Getöse brüllend entfernte.
Es war ein unersättlicher Men­schenfresser. Zum Glück hatte es nicht den Weg nach Buzios eingeschlagen. Ob man dort schon etwas von den Geschehnissen in der entle­genen Bucht gemerkt hatte?
Sicher war der Lärm gehört wor­den. Aber es war unmöglich, daß man in Buzios daraus die richtigen Schlüsse zog. Und selbst wenn die Überlebenden des Massakers die Menschen in Buzios warnten, wer würde schon ernsthaft an die Exi­stenz eines solchen Scheusals glauben?
Auch wenn man die Berichte nicht als Hirngespinst abtat, würde niemand zur Flucht animiert werden. Im Gegenteil, die Sensationslust würde die Menschen zum Strand hinuntertreiben.
Dann waren da noch die Mädchen, die Kether ergeben waren. Sie wür­den dafür sorgen, daß das Monster neue Nahrung bekam.
Lonrival barg den Kopf in den Händen. Es war alles seine Schuld. Er hätte sich in seinem Machtrausch nicht dazu hinreißen lassen dürfen, der bösen Macht zu dienen. Er wollte sich nicht darauf hinausreden, daß er nicht hatte ahnen können, welche Schrecken er damit heraufbeschwören würde.
Er konnte die Schuld, die auf ihm lastete, nicht abwälzen.
Der Lärm, den das Monster auf sei­ner Wanderung verursacht hatte, erstarb. Stille kehrte in der Knochen-­Bay ein.
Lonrival machte sich auf den Weg zum Strand. Automatisch verfiel er in den Samba-Schritt. Er sang vor sich hin und rasselte mit seiner Adja.
Irgendwann gesellte sich ein Schatten zu ihm. Lonrival beachtete ihn nicht. Er tanzte unbeirrbar wei­ter. Seine kehlige Stimme jauchzte, und die Adja rasselte den Rhythmus dazu.
Eine Gitarre fiel ein. Lonrival er­kannte eine seiner Priesterinnen, die ihm bei seinen Operationen assistiert hatte. Ihr Spiel feuerte ihn noch mehr an, lockte weitere Tänzerinnen an.
Als Lonrival den Strand in der ab­gelegenen Buch erreichte, die als Kethers Opferstätte ausgewählt worden war, befanden sich bereits zwanzig Mädchen in seinem Schlepptau. Und es wurden ständig mehr.
Sie schienen ihn überall zu hören, auch wenn sie meilenweit entfernt waren. Die magische Verbindung zwischen ihnen bestand also noch. Lonrival spürte Befriedigung. Er durfte nur nicht zu tanzen aufhören, denn dann würden die magischen Bande zerreißen.
Weitermachen! hämmerte sich Lonrival ein, obwohl er zum Umfal­len müde war.
Er versuchte, sich selbst in Trance zu steigern, denn dann konnte er aus einem unerschöpflichen Kraftreser­voir schöpfen.
Xango!
Er peitschte seinen Körper voran, ließ die Beine und die Adja wirbeln.
Xango - die Welt versinkt. Lonri­val, du bist das Universum. Von dir geht alles Leben aus. Du hast die Macht der Schöpfung. Lonrival, du bist die Schöpfung. Xango!
Schicke deinen Ruf in die sterben­de Nacht hinaus. Schreie es dir aus der Seele. Ich bin die Macht. Xango!
Körper wiegten sich mit ihm. Sie waren Feuer. Sie waren Sturm. Und er, Oga, beherrschte sie...
Doch plötzlich, als die Trance für einen Augenblick von ihm wich, erkannte er, daß die Mädchen sich nicht ihm unterworfen hatten. Er hatte sie anlocken können, doch nun paßten sie sich nicht seinen Tanz­schritten an. Sie gehorchten einer ganz anderen Melodie. Die Gitarren schlugen nicht mehr den Rhythmus der Samba. Ihren Saiten entströmte ein fremdartiger, disharmonischer Klang.
Und diesem hatten sich die Mäd­chen unterworfen. Sie mußten einem Schema folgen, das in krassem Gegensatz zu Lonrivals Absichten stand.
Er kam sich plötzlich inmitten der fünfzig Mädchen wie ein Fremdkör­per vor.
Er schrie auf, um die Aufmerk­samkeit der Mädchen auf sich zu len­ken.
„Ich bin euer Oga! Gehorcht mir, eurem Herrn!“
Die Mädchen ignorierten ihn, als existiere er überhaupt nicht.
Lonrival zog seine beiden Mache­ten. Er ließ sie vor einem der Mäd­chen wirbeln. Er erkannte Marcia da Rochas. Sie blickte durch ihn hin­durch.
Außer sich vor Enttäuschung und ohnmächtiger Wut - in Trance entfesselt - hieb er mit den Macheten auf Marcia ein. Er ließ die Klingen kreuz und quer über ihren Leib streichen, zerschnitt das magische Buchstabenquadrat.
Marcia brach mit einem Aufschrei zusammen. Auf ihrem Unterleib zeichneten sich unzählige Blutspu­ren ab.
Lonrival kam zur Besinnung. Er beugte sich über das Mädchen, und während er ihr die Wunden mit sei­nen heilsamen Händen wegmassier­te, redete er auf sie ein.
„Marcia, schönes Kind. Ich bin es, dein Oga. Lonrival da Silva. Kannst du mich hören?“
„Ja“, antwortete sie mit entrückter Stimme. Der Blick ihrer Augen war klar. Sie blickte zum Himmel hinauf, wo die beginnende Morgendämme­rung die letzten Sterne verblassen ließ.
„Ja, ich höre dich“, sagte sie wieder, diesmal mit festerer Stimme. „Ich bin aus einem bösen Traum erwacht. Die Berührung deiner Hände tut mir gut, Curandeiro.“
Sie hatte ihn erkannt! Das bedeu­tete, daß er sie aus dem Bann des Monsters gerissen hatte. Marcia war gerettet! Nun wußten er, daß er auch die anderen Mädchen dem Leben zurückgewinnen konnte.
Lonrival da Silva war so sehr mit Marcia beschäftigt gewesen, daß er nicht bemerkte, was um ihn herum vor sich ging.
Jetzt schreckten ihn unheimliche Geräusche in seinem Rücken auf. Als er sich umdrehte, sah er das Monster aus den Fluten steigen. Es war grö­ßer als zuvor. Es mußte um gut fünf Meter gewachsen sein. Die Mädchen, die sich vor ihm auf dem Strand wiegten, nahmen sich dagegen wie winzige Insekten auf.
Das Monster bückte sich. Seine großen grünen Augen starrten gierig auf eine der Tänzerinnen, die ver­zückt schien, weil sie seine Aufmerk­samkeit erregt hatte.
Eine Pranke des Monsters schoß blitzschnell nach vorn, packte das Mädchen und schob es in das spei­cheltriefende Maul. Die anderen Mädchen tanzten weiter, als sei nichts geschehen.
Ihr Tanz lockte das Monster voll­ends aus dem Meer. Es bückte sich und streckte sich der Länge nach auf dem Strand aus. Aus seinem Rachen kam ein heißeres Krächzen.
Marcia, die nun wieder Herr ihrer Sinne war, erkannte das Grauen in vollem Ausmaß und versuchte, schreiend zu fliehen.
Wieder schoß die Pranke des Mon­sters vor. Finger, dick wie Baumstämme, umfaßten ihren Leib und führten sie dem riesigen Maul zu. Aber er verschlang Marcia nicht, sondern starrte verwirrt auf sie.
Lonrival ahnte, was in dem Unge­heuer vor sich gehen mochte. Es spürte an dem winzigen, zappelnden Wesen nicht die Ausstrahlung des magischen Buchstabenquadrats. Es vermißte die Anziehungskraft, die von dem Geschöpf hätte ausgehen müssen. Denn diese Anziehungs­kraft war es, die diese Winzlinge von den anderen unterschied. Sie stellten für Kether eine besondere Nahrung dar.
Marcia aber war ein Fremdkörper unter den Auserwählten.
Lonrival nutzte die Verwirrung des auf den Strand hingestreckten Monsters. Ohne lange zu überlegen stürzte er mit wirbelnden Macheten nach vorn.
Vor ihm erhob sich die Hand, die noch immer Marcia umfaßt hielt. Sie überragte ihn um eine Körperlänge.
Lonrival hieb mit den Macheten auf die Riesenfinger ein - nach ei­nem bestimmten Schema. Er war ein Geistheiler mit magischen Fähig­keiten, die ihm intuitiv den Aufbau dieses fremden Metabolismus erken­nen ließen. Er durchschaute das Monster auf Anhieb - und er wußte deshalb, wo er seine Macheten ein­setzen mußte.
Kether schrie plötzlich auf. Seine Hand öffnete sich ruckartig. Seine Finger trafen Lonrival vor die Brust und warfen ihn zu Boden. Dabei ent­glitt Marcia seinem Griff.
Lonrival raffte sich auf und half dem Mädchen auf die Beine. Marcia war so benommen, daß sie kaum ihr Gleichgewicht halten konnte.
Kether schrie ununterbrochen. Er kam mit kreisendem Oberkörper auf die Beine und hielt die Hand von sich, die Lonrival gelähmt hatte.
Lonrival strebte mit Marcia vom Strand fort. Im Augenblick konnte er es nicht riskieren, auch die ande­ren Mädchen zu retten. Aber viel­leicht ergab sich bald eine andere Gelegenheit.
Vorerst begnügte er sich damit, daß er gegen Kether einen Teilsieg davongetragen hatte. Es war ihm ge­lungen, seine Pranke zu lähmen. Das zeigte ihm, daß das Monster nicht unverwundbar war.
Vielleicht konnte er wieder gutma­chen, was er verschuldet hatte. 


Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 52, 2. Spalte, 11. Absatz - Seite 56, 1. Spalte, 7. Absatz

Lonrival da Silva hatte den Über­fall des Ungetüms auf Mae Naras Zeremonienplatz mit knapper Not überlebt. Ein umgestürzter Baum­stamm hatte ihm Schutz geboten.
Obwohl er mit dem Leben davonge­kommen war, haderte er mit dem Schicksal. Mae Naras Anhänger wa­ren entweder tot oder in die Flucht geschlagen worden.
Er war allein. Auf dem Platz sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Kether hatte furchtbar gewütet. Danach hatte er auf dem Weg zum Strand eine breite Schneise durch den Wald geschlagen. Lonrival hörte ihn sich unter lautem Gebrüll entfernen.
Was für ein unersättlicher Menschenfresser. Zum Glück hatte das Ungetüm nicht den Weg nach Buzios eingeschlagen. Ob man dort überhaupt schon etwas von den Geschehnissen in der entlegenen Bucht bemerkt hatte?
Sicher war der Lärm gehört wor­den. Aber es war unmöglich, daß man in Buzios daraus die richtigen Schlüsse ziehen konnte. Und selbst wenn Überlebende die anderen warn­ten, war es zweifelhaft, daß man ih­nen glaubte. Niemand würde wohl ernsthaft daran denken, Buzios zu räumen.
Dann waren da noch die Mädchen, die Kether ergeben waren. Sie wür­den dem Monster neue Opfer zu­führen.
Lonrival barg den Kopf in den Hän­den. Es war alles seine Schuld. Er hätte sich in seinem Machtrausch nicht dazu hinreißen lassen dürfen, der bösen Macht zu dienen. Er wollte sich gar nicht darauf ausreden, daß er die Folgen nicht hatte absehen können.
Er konnte seine Schuld nicht ab­wälzen.
Der Lärm, der Kether auf seinem Todesmarsch begleitete, erstarb all­mählich. Stille kehrte in die Knochen-Bay zurück.
Lonrival machte sich auf den Weg zum Strand. Automatisch verfiel er in den Samba-Schritt. Er sang vor sich hin und rasselte mit der Adja. Er konnte gar nicht anders, er gehorchte einem inneren Trieb.
Eine Gitarre fiel in das Spiel ein. Von irgendwo tauchte eine seiner drei Priesterinnen auf, die ihn bei sei­nen Operationen assistierten. Ihre feurige Musik spornte ihn noch mehr an, lockte weitere Tänzerinnen an.
Als Lonrival den Strand erreichte, der zu Kethers Opferstätte erhoben worden war, befanden sich bereits an die zwanzig Mädchen in seinem Schlepptau. Und es wurden ständig mehr.
Es war, als hörten sie ihn überall, auch wenn sie meilenweit entfernt waren. Die magische Verbindung zwischen ihnen bestand also noch. Er durfte nur nicht zu tanzen aufhören, denn dann würden die magischen Bande zerreißen.
Tanze, Curandeiro! Weitermachen! hämmerte er sich ein. Und er würde weitermachen, bis er vor Erschöp­fung umfiel, denn das band die Mäd­chen an ihn.
Er versuchte, sich selbst in Trance zu steigern. Denn in Trance war er stark.
Xango!
Er peitschte seinen Körper voran, ließ die Beine und die Adja wirbeln.
Xango — und die Welt versinkt! Lonrival, das Universum bist du. Du bist das Leben. Du hast die Macht der Schöpfung. Xango.
Schicke deinen Ruf in die sterbende Nacht hinaus. Schreie es dir aus der Seele: Ich bin die Macht. Xango!
Er wiegte sich in einen Rausch, und viele junge Mädchenkörper wiegten sich mit ihm. Sie waren Feuer. Sie wa­ren Sturm. Und er, ihr Oga, be­herrschte sie.
Doch als die Trance für einen Mo­ment wich, erkannte er, daß sich die Mädchen gar nicht ihm unterordne­ten. Er hatte sie anlocken können, doch sie unterwarfen sich ihm nicht, paßten sich nicht seinen Tanzschrit­ten an. Sie gehorchten einer ganz an­deren Melodie. Die Gitarren schlugen nicht mehr den Rhythmus der Sam­ba. Ihren Saiten entströmte ein frem­der, disharmonischer Klang.
Und diesem gehorchten auch die Mädchen.
Lonrival kam sich plötzlich inmit­ten der inzwischen fünfzig Mädchen
wie ein Fremdkörper vor. Er schrie auf, um die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich zu lenken.
„Ich bin euer Oga! Tanzt meinen, den Tanz eures Herrn und Meisters!“
Die Mädchen schienen ihn nicht einmal zu sehen.
Lonrival zog seine beiden Mache­ten. Er beherrschte sie wie Zauber­instrumente. Er ließ sie meisterhaft durch die Luft wirbeln, versuchte, die Mädchen damit zu bannen. Da war Marcia da Rochas. Aber sie blickte durch ihn hindurch.
Außer sich vor Wut und Enttäu­schung, stürzte er sich auf Marcia. Er bedrängte sie mit schlagenden Ma­cheten, jedoch, ohne sie auch nur zu berühren. Er ließ die Klingen wirbeln — und zerschlug so das magische Buchstabenquadrat, das er in ihren Körper gebrannt hatte.
Marcia brach mit einem Aufschrei zusammen. Ihr Bauch pochte, als ver­suche etwas, das sich dort eingenistet hatte, sich zu befreien.
Lonrival kam zu sich, Als er sich über das Mädchen beugte, hatte es sich beruhigt. Ihr Bauch war glatt und hart — makellos.
„Marcia, schönes Kind. Ich bin es, Lonrival. Kannst du mich hören?“
„Ja, Oga“, antwortete sie mit ent­rückter Stimme. Der Blick ihrer Au­gen wurde klar, richtete sich zum Himmel hinaus, wo die beginnende Morgendämmerung die letzten Sterne verblassen ließ.
„Ich bin aus einem bösen Traum er­wacht“, fuhr sie mit festerer Stimme fort. „Deine Nähe tut mir gut, Curandeiro.“
Als er sie so vor sich sah, da wußte er, daß er sie aus dem Banne von Ke-ther gerissen hatte. Marcia war geret­tet! Nun fühlte er die Zuversicht, auch die anderen Mädchen retten zu können.
Lonrival war so sehr mit Marcia be­schäftigt, daß er gar nicht merkte, was um ihn vorging.
Erst die unheimlichen Geräusche in seinem Rücken schreckten ihn auf. Als er sich umdrehte, sah er Kether aus den Fluten steigen. Er war weiter gewachsen. Er mußte um gut fünf Meter größer geworden sein. Die über den Strand tanzenden Mädchen nahmen sich dagegen winzig wie In­sekten aus. Das Monster beugte sich nach vor­ne. Seine violetten Augen starrten die Mädchen begierig an. Ihr Tanz zog das Monster wie magisch an, Lockte es ganz aus dem Meer. Es bückte sich und streckte sich bäuchlings der Länge nach auf den Strand. Aus sei­nem Rachen kam ein heiseres Krächzen.
Marcia, nun wieder Herr ihrer Sinne, wollte fliehen, als sie das Grauen in vollem Ausmaß erkannte. Doch da schoß die Pranke des Mon­sters vor. Finger, dick wie Baum­stämme, schlossen sich um ihren Kör­per und führten sie dem riesigen Maul zu. Aber Kether verschlang Marcia nicht. Er starrte sie nur an.
Lonrival ahnte, was in dem Mon­ster vorgehen mochte. Es spürte an dem winzigen, zappelnden Ding nicht die Ausstrahlung des magischen Buchstabenquadrats wie bei den an­deren. Es vermißte die Anziehungs­kraft, wie sie von den anderen Ge­schöpfen ausging. Denn diese Anzie­hungskraft war es, die die Mädchen für Kether zu etwas Besonderem machte. Sie waren die Auserwählten, Kethers Dienerinnen. Marcia aber ge­hörte nicht dazu.
Lonrival nutzte die Verwirrung des Monsters. Ohne lange zu überlegen, stürzte er sich mit wirbelnden Mache­ten nach vorne. Er erreichte die Rie­senfaust; die Marcia noch immer um­faßt hielt, und hieb mit den Macheten darauf ein. Er tat es nicht blindlings, sondern nach einem bestimmten Schema. Er war ein Geistheiler mit magischen Fähigkeiten, die ihn intui­tiv den Aufbau des fremden Metabolismus erkennen ließen. Er durch­schaute Kether auf Anhieb - und wußte darum, wo und wie er seine Macheten einsetzen mußte.
Kether gab plötzlich einen heiseren Schrei von sich. Seine Hand öffnete sich ruckartig, gab Marcia frei. Ein zuckender Finger traf Lonrival vor die Brust, stieß ihn zu Boden.
Lonrival kam sofort wieder auf die Beine und brachte die benommene Marcia, die sich kaum auf den Beinen halten konnte, aus dem Gefahrenbe­reich.
Kether heulte. Er kam mit krei­sendem Oberkörper hoch, die Hand von sich gestreckt, die Lonrival mit seinem Zauber gelähmt hatte.
Lonrival floh mit Marcia. Im Au­genblick war keine Gelegenheit, auch die anderen Mädchen aus Kethers Bann zu befreien. Aber er würde das nachholen.
Vorerst begnügte er sich damit, ei­nen Teilsieg errungen zu haben. Es war ihm gelungen, Kethers rechte Pranke zu lähmen. Das bewies, daß das Monster nicht unverwundbar war.
Vielleicht konnte er nun wiedergut­machen, was er verbrochen hatte.

 
Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 58, 1. Spalte, 1. Absatz - Seite 62, 1. Spalte, 6. Absatz

 „Das muß Lonrival sein“, sagte Hugh Keller, als er durch den Wald das Rasseln eines Daja hörte. Er grinste. „Früher waren mir seine Er­scheinung und seine Musik unheim­lich, weil ich erkannte, wie leicht man ihm verfallen konnte. Doch jetzt weiß ich, daß Lonrival im Grunde genommen gut ist. Das ist unver­kennbar seine Musik.“
Keller ging voran. Dorian folgte ihm. Olivaro trottete apathisch hinter ihm drein. Coco bildete den Abschluß.
Die Musik kam rasch näher. Ek­statische Ausruhe ertönten, und das Aufstampfen nackter Füße auf dem Boden war zu hören.
„Vorsicht ist geboten“, sagte Keller. Er ging langsamer. „Lonrival ist nicht allein.“
„Vielleicht führt er die Kether-­Mädchen an“, vermutete Coco.
Keller schüttelte den Kopf.
„Er hat längst keine Gewalt mehr über sie“, behauptete er.
Doch das war ein Irrtum. Keller konnte einen erstaunten Ausruf nur mit Mühe unterdrücken, als er die seltsame Prozession sah, die Lonri­val da Silva anführte.
Er tanzte an der Spitze einer Schar von Mädchen, die alle Raffia-Schnü­re trugen. Keller hatte jedoch den Eindruck, daß seine Bewegungen immer lahmer wurden und er sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte.
„Er ist am Ende seiner Kräfte“, raunte Keller den anderen zu. „Er wird bald zusammenbrechen.“
„Warum tanzt er dann weiter?“ fragte Coco.
Keller wirbelte herum, als er links ein Geräusch hörte. Seine Augen weiteten sich, als er dort Marcia da Rochas erblickte.
„Das ist eine Besessene!“ warnte er die anderen.
Coco wollte sich schon in einen schnelleren Zeitablauf versetzen, um das Mädchen zu überwältigen. Da rief Marcia: „Nein, Hugh. Ich bin wieder okay. Lonrival hat mich ge­heilt.“
Coco hielt inne. Sie betrachtete das Mädchen mißtrauisch. Als Marcia ihrem Blick begegnete, zwang Coco ihr ihren Willen auf. Es kostete Coco keine Schwierigkeiten, das Mädchen zu hypnotisieren. Das war ein ein­deutiger Beweis dafür, daß Marcia nicht mehr unter fremdem Bann stand. Coco entließ sie aus der Hyp­nose und bemerkte: „Sie spricht die Wahrheit.“
Marcia fiel Keller in die Arme und berichtete, wie es dem Curandeiro gelungen war, sie der Gewalt des Monsters zu entreißen.
„Und warum verfährt Lonrival mit den anderen Mädchen nicht ebenso?“ fragte Keller.
„Sieh ihn dir an“, sagte Marcia. „Er ist völlig erschöpft. Er hat nicht mehr die Kraft zum Kämpfen. Er muß tanzen, um die Mädchen zu be­schäftigen. Wenn er aufhört, dann fallen sie über ihn her und zer­fleischen ihn. Ihr müßt ihm helfen.“
Marcia streifte Olivaro mit einem Blick und zuckte zusammen. Er war ihr unheimlich.
„Coco“, sagte Dorian, „fühlst du dich stark genug, dich mit dem Curandeiro in einen schnelleren Zeit­ablauf zu versetzen?“
„Sicher“, antwortete Coco. „Aber wozu? Es genügt, wenn ich ihn von den Mädchen forthole.“
„Vielleicht für den Augenblick“, sagte Dorian. „Aber vergiß nicht, daß die Mädchen noch die magischen Buchstabenquadrate am Körper tra­gen. Das macht sie zu wehrlosen Op­fern des Monsters. Nur Lonrival kann ihnen helfen. Aber das geht nicht ohne deine Unterstützung.“
„Ich habe verstanden“, sagte Coco. „Hoffentlich macht Lonrival nicht vorzeitig schlapp.”
Coco konzentrierte sich - und wäh­rend sie selbst in einen rascheren Zeitablauf fiel, schien die Welt um sie zur Bewegungslosigkeit zu erstar­ren. Die Samba-Klänge schwollen zu einem tiefen, dumpfen Ton an.
Sie begab sich zu Lonrival, der mit erhobener Adja mitten in der Bewegung erstarrt war. Als sie ihn er­reichte und er in den Bereich ihrer Kräfte kam, überliefen seinen Kör­per wieder rhythmische Zuckungen.
„Lonrival da Silva“, sagte sie. „Sie können aufhören. Von den Mädchen droht keine Gefahr mehr.“
Lonrival sah Coco aus blutunter­laufenen Augen an. Sein Körper vollführte weiter die Tanzbewegun­gen, als er hinter sich blickte und die erstarrten Kether-Mädchen sah.
„Hören Sie auf!“ rief Coco. Doch es half nichts. Er hatte sich selbst in Trance versetzt und würde erst zu tanzen aufhören, wenn seine Kräfte restlos verbraucht waren.
Coco schlug ihn heftig ins Gesicht, um seinen starren Blick auf sich zu lenken. Dann hypnotisierte sie ihn. Lonrivals Körper erschlaffte plötz­lich, und er brach zusammen.
Coco beugte sich über ihn.
„Kommen Sie zu sich, Lonrival!“ rief sie verzweifelt. „Dies ist die letz­te Chance, die Mädchen vor dem Monster zu retten. Reißen Sie sich zusammen.“
„Ich kann - nicht mehr“, stöhnte der Curandeiro. „Ich habe meine Kräfte vergeudet.“
„Bäumen Sie sich noch einmal auf“, beschwor ihm Coco. Sie hätte ihn hypnotisch beeinflussen können. Doch in seinem Zustand wäre das ge­fährlich gewesen. Sein Körper hätte der Belastung womöglich nicht standgehalten. Er mußte seinen Wil­len behalten und aus freien Stücken handeln.
„Die Mädchen sind bewegungslos, Ihnen hilflos ausgeliefert“, fuhr sie fort. „Ich habe dafür gesorgt, daß sie sich Ihnen nicht widersetzen können, wenn Sie die magischen Quadrate auf ihren Körpern löschen.“
Er hob den Kopf, und Coco war ihm dabei behilflich, als er sich aufrichtete. Ungläubig blickte er Coco und die steif dastehenden Mädchen an. Aber er stellte keine Fragen.
„Helfen Sie mir auf die Beine... Nein! Ich muß es allein schaffen!“ Er stieß Coco hilfreiche Hände von sich. Die ehemalige Hexe fühlte sich selbst schon schwächer werden. Sie hoffte nur, daß sich Lonrival da Silva rasch regenerieren konnte.
Sie sah, daß seinen Körper ein Schauer durchlief, als schöpfe er aus einer unsichtbaren Quelle neue Kraft. Sie wußte, daß dies ein letztes Aufbäumen war. Er schaffte es!
Erleichtert beobachtete sie, wie er seine rostigen Macheten durch die Luft wirbelten ließ. Die Klingen stri­chen sanft über die Leiber der Mäd­chen und hinterließen blutige Spu­ren...
Dorian hielt den Atem an. Er sah Coco und Lonrival da Silva nur als schattenhafte Gebilde vorbeiwir­beln. Dennoch wußte er, daß es Coco gelungen war, den Geistheiler noch einmal anzuspornen, denn auf den Körpern der Mädchen bildeten sich wie von Geisterhand blutige Wun­den.
Und wenig später verschwanden die Blutspuren, und nicht einmal mehr Narben blieben zurück.
Das alles hatte nur wenige Minu­ten gedauert - für Coco und den Curandeiro aber war es eine Stunde ge­wesen.
Endlich nahmen Coco und Lonri­val für die anderen wieder Gestalt an. Coco fiel Dorian völlig erschöpft in die Arme.
„Jetzt möchte ich nichts als schla­fen“, sagte sie.
„Wenn Kether junior es zuläßt, rasten wir bis Einbruch der Nacht“, erwiderte Dorian.
Hugh Keller, der sich um Lonrival gekümmert hatte, meldete: „Er hat das Bewußtsein verloren. Aber er lebt. Zäh, wie er ist, wird er durch­kommen.“
Marcia da Rochas war zu ihren Leidensgenossinnen geeilt, um ihnen zu erzählen, auf welche Weise sie ge­rettet worden waren.
Dorian wandte sich an den teil­nahmslos dastehenden Olivaro.
„Ich habe nicht gedacht, daß ich einmal Mitleid mit dir empfinden könnte, Olivaro“, sagte der Dämo­nenkiller. „Aber so sind eben die verschlungenen Pfade des Schicksals. Kismet! Aber vielleicht gelingt es mir, dich mit Hilfe des Ys-Spiegels zu heilen.“
Dorian war wie vom Blitz getrof­fen, als Olivaro sagte: „Das ist nicht mehr nötig. Du kannst dir deine Mühe ersparen, Dorian.“ 

Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 56, 1. Spalte, 8. Absatz - Seite 58, 2. Spalte, 8. Absatz

 „Das muß Lonrival sein“, sagte Hugh Keller, als er aus der Ferne das Rasseln hörte. Er lächelte. „Früher waren mir seine Erscheinung und seine Musik unheimlich, weil ich spürte, wie leicht man ihm verfallen konnte. Doch jetzt weiß ich, daß Lonrival im Grunde genommen nicht böse ist. Das ist unverkennbar seine Musik.“
Keller ging voran. Dorian folgte ihm. Olivaro trottete apathisch hinter ihm drein. Coco bildete den Ab­schluß.
Die Musik kam rasch näher. Dazwi­schen waren ekstatische Ausrufe zu hören und das Stampfen nackter Füße auf dem Boden.
„Vorsicht ist geboten“, ermahnte Keller. Er ging langsamer. ,,Lonrival ist nicht allein.“
„Vielleicht führt er die Kether-Mädchen an“, vermutete Coco.
Doch das erwies sich als nicht ganz richtig. Keller konnte einen erstaun­ten Ausruf nur mit Mühe unterdrücken, als er die seltsame Prozession sah, an deren Spitze sich Lonrival bewegte.
Er führte eine Schar von Mädchen an, die alle Raffia-Schnüre trugen. Keller hatte jedoch den Eindruck, daß seine Bewegungen immer langsa­mer wurden und er sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte.
„Lonrival ist am Ende seiner Kräfte“, raunte Keller den anderen, zu. „Er wird bald zusammenbre­chen.“
„Warum tanzt er dann weiter?“ fragte Coco.
Keller zuckte zusammen, als er links von ihnen ein Geräusch hörte. Auch Coco war es nicht entgangen, sie versteifte sich. Keller traute seinen Augen nicht, als durch die Büsche Marcia da Rochas brach. Warum war sie nicht bei den anderen?
„Das ist eine Besessene!“ warnte er die anderen.
Coco wollte sich schon in einen ra­scheren Zeitablauf versetzen, um das Mädchen zu überwältigen. Da rief Marcia:
„Nein, Hugh! Ich bin wieder okay. Lonrival hat mich geheilt.“
Coco hielt inne. Sie betrachtete das Mädchen mißtrauisch. Sie suchte ih­ren Blick und zwang ihr ihren Willen auf. Es kostete Coco keinerlei Schwie­rigkeiten, Marcia zu hypnotisieren. Das war der eindeutige Beweis für sie, daß Marcia nicht mehr unter dem fremden Einfluß stand. Coco entließ sie aus der Hypnose und bestätigte:
„Sie spricht die Wahrheit.“
Marcia fiel Keller in die Arme und berichtete, wie es dem Curandeiro ge­lungen war, sie der Gewalt des Mon­sters zu entreißen.
„Und warum verfährt Lonrival mit den anderen Mädchen nicht ebenso?“ fragte Keller.
„Sieh ihn dir an“, sagte Marcia vol­ler Mitleid. „Er ist völlig erschöpft. Er hat nicht mehr die Kraft zum Kämpfen. Wenn er auch nur für ei­nen Moment innehält, dann werden die Mädchen über ihn herfallen und ihn zerfleischen. Ihr müßt ihm bei­stehen.“
Marcia streifte Olivaro mit einem Blick und zuckte zusammen. Er bot auch einen unheimlichen Anblick.
„Coco“, sagte Dorian, „fühlst du dich stark genug, dich mit dem Curandeiro in einen rascheren Zeitab­lauf zu versetzen?“
„Sicher“, antwortete Coco. „Aber wozu? Es genügt, wenn ich ihn von den Mädchen forthole.“
„Vielleicht für den Augenblick“, sagte Dorian. „Aber vergiß nicht, daß die Mädchen noch die magischen Buchstabenquadrate am Körper tra­gen. Das macht sie zu willenlosen Sklaven Kethers. Nur Lonrival kann ihnen helfen. Aber das geht nicht ohne deine Unterstützung.“
„Ich habe verstanden“, sagte Coco. „Hoffentlich macht Longrival nicht vorzeitig schlapp.“
Coco konzentrierte sich. Während sie selbst in einen rascheren Zeitab­lauf verfiel, schien die Welt um sie zur Bewegungslosigkeit zu erstarren. Die Samba-Klänge sanken zu einem tiefen, dumpfen Ton ab.
Coco bewegte sich durch die erstarrte Umgebung auf Lonrival zu, der mit erhabener Adja reglos da­stand. Als sie ihn erreichte und er in den Bereich ihrer Kräfte kam, verfiel sein Körper augenblicklich wieder in rhythmische Zuckungen.
„Lonrival da Silva“, sagte Coco.
„Halten Sie ein. Von den Mädchen droht Ihnen keine Gefahr mehr.“
Lonrival sah Coco aus blutunter­laufenen Augen an. Er tanzte wie un­ter Zwang weiter. Auch als er hinter sich blickte und die Schar der erstarr­ten Kether-Mädchen sah.
„Halten Sie endlich ein!“ herrschte Coco ihn an. Aber es half nichts. Er hatte sich selbst in Trance versetzt und würde erst zu tanzen aufhören, wenn seine Kräfte restlos verbraucht waren.
Coco schlug ihm ins Gesicht, um seinen starren Blick auf sich zu len­ken. Als er sich ihr zuwandte, da hyp­notisierte sie ihn. Lonrivals Körper erschlaffte augenblicklich, und er brach zusammen.
Coco beugte sich über ihn.
„Kommen Sie zu sich, Lonrival!“ rief sie ihn verzweifelt an. „Dies ist die letzte Chance, die Mädchen vor Kether zu retten. Reißen Sie sich zu­sammen.“
„Ich kann - nicht mehr“, stammelte der Curandeiro. „Ich habe meine Kräfte verbraucht.“
„Bäumen Sie sich noch einmal auf“, beschwor ihn Coco. Sie hätte ihn hypnotisch beeinflussen können. Doch in seinem Zustand hätte das ge­fährlich werden können. Sein Körper hätte womöglich der Belastung nicht standgehalten. Er mußte seinen frei­en Willen behalten und seinen Kör­per aus eigener Kraft beherrschen. Ein fremder Zwang hätte ihn töten können.
„Die Mädchen sind bewegungslos, Ihnen wehrlos ausgeliefert“, redete sie ihm zu. „Ich habe dafür gesorgt, daß sie sich Ihnen nicht widersetzen können, wenn Sie die magischen Qua­drate auf ihren Körpern löschen.“
Lonrival hab den Kopf und gab sich einen Ruck. Coco griff ihm unter die Arme und war ihm beim Aufste­hen behilflich. Als er dastand, blickte er ungläubig zwischen Coco und den bewegungslosen, mitten in der Bewegung erstarrten Mädchen hin und her.
„Stützen Sie mich“, bat er, als er beim ersten Schritt taumelte. Aber dann spannte sich sein Körper. „Nein! Ich muß es aus eigener Kraft schaffen.“
Er stieß Cocos hilfreiche Hände von sich. Die ehemalige Hexe spürte sich selbst schon schwächer werden. Sie hoffte nur, daß sich Lonrival rasch ge­nug regenerieren konnte, bevor ihre Fähigkeiten zu schwach wurden.
Sie sah, wie seinen Körper ein Schauer durchlief, als fließe aus einer unsichtbaren Quelle neue Kraft in ihn. Sie wußte, daß dies sein letztes Aufbäumen war. Aber er würde es schaffen!
In Lonrival kam wieder Leben. Zu­erst bewegte er die beiden rostigen Macheten vorsichtig, ließ sie aber all­mählich immer schneller wirbeln. So bewegte er sich auf die Gruppe von Mädchen zu, die wie Statuen da­standen.
Fasziniert beobachtete Coco, wie er die Macheten um die Körper der Mäd­chen streichen ließ. Er ging so ge­schickt damit um, daß er sie nicht be­rührte, ihnen nicht einen Kratzer zu­fügte. Und doch erreichte er damit starke magische Wirkung...
Dorian hielt den Atem an. Er sah Coco und Lonrival nur als schatten­hafte Gebilde vorbeihuschen - so schnell bewegten sie sich. Es war Coco also gelungen, den Curandeiro -zu einer letzten Kraftanstrengung zu treiben, mit der er die Mädchen aus Kethers Bann befreite. Es war jedoch noch nicht abzuschätzen, ob diese Maßnahme auch erfolgreich war, denn die Betroffenen befanden sich alle in einem rascheren Zeitablauf.
Für Dorian und Keller als unbetei­ligte Zuschauer dauerte diese Proze­dur nur Minuten - für Coco, den Curandeiro und die Mädchen lief die Zeit jedoch wesentlich rascher ab. Die Minuten wurden für sie zu einer Stunde.
Endlich nahmen Coco und der Cu-randeiro wieder Gestalt an. Ihre Sche­men bekamen Konturen, festigten sich zu Körpern. Coco taumelte zu Dorian und ließ sich erschöpft in seine Arme sinken.
„Jetzt möchte ich nichts als schla­fen“, sagte sie.
„Wenn Kether junior es zuläßt, le­gen wir bis Einbruch der Nacht eine Ruhepause ein“, tröstete Dorian sie.
Hugh Keller, der sich um Lonrival kümmerte, meldete: „Er hat das Be­wußtsein verloren. Aber er lebt. Zäh, wie er ist, wird er durchkommen.“
Marcia da Rochas war zu ihren Lei­densgenossinnen geeilt, um sie dar­über aufzuklären, auf welche Weise sie gerettet worden waren.
Dorian wandte sich an den teil­nahmslos dastehenden Olivaro.
„Ich hätte nicht gedacht, daß ich einmal Mitleid mit dir empfinden könnte, Olivaro“, sagte der Dämonen­killer. „Aber wie das Leben eben so spielt ... Kismet! Vielleicht gelingt es mir noch, dich mit Hilfe des Ys-Spiegels zu heilen.“
Dorian dachte, ein Blitz schlage in ihn ein, als Olivaro plötzlich sprach. Er sagte: „Das ist nicht mehr nötig. Du kannst dir deine Mühe sparen, Dorian.“

Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 62, 1. Spalte, 7. Absatz - Seite 64, 1. Spalte, 11. Absatz

Sie hatten in einem verlassenen Wochenendhaus Quartier bezogen. Dorian saß mit Olivaro auf der Trep­pe. Die anderen ruhten, auch die von dem Bann befreiten Kether-Mäd­chen. Dorian hatte sie gebeten, erst nach Buzios zurückzukehren, wenn Lonrival da Silva wieder zu sich ge­kommen war.
„Hast du uns die ganze Zeit über getäuscht, Olivaro?“ fragte der Dämonenkiller. „Warum hast du uns die Rolle des Geistesgestörten vorgespielt?“
„Ich habe kein Theater gespielt“, erwiderte Olivaro. „Das wäre mir meinen Artgenossen gegenüber gar nicht gelungen.“
„Du erinnerst dich?“
„Dunkel. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Ich weiß nur, daß ich drüben war. Erst auf der Erde kam ich wieder zu mir. Erst von da an habe ich mich verstellt.“
„Warum?“
„Ich wollte Zeit zum Nachdenken haben, um mir alles durch den Kopf gehen zu lassen.“
„Und was ist dabei herausgekom­men?“
Olivaro überlegte eine Weile, bevor er sagte: „Ich glaube, wir könnten jetzt Freunde werden. Das heißt, von mir aus. Es liegt nun an dir. Wenn du vergessen kannst...“
„Geschenkt.“ Dorian machte eine Handbewegung, als wolle er die Vergangenheit ausradieren. Schnell fuhr er fort: „Du hast zur rechten Zeit zu dir zurückgefunden, Olivaro. Du könntest uns helfen, Kethers Auswurf zu vernichten. Weißt du Bescheid?“
Olivaro nickte mit seinem Kno­chenschädel.
„Ich habe alles mitbekommen.“ Er seufzte. „Und jetzt erwartest du dir Wunder von mir, wie? Aber damit kann ich dir nicht dienen. Wunder sind auch gar nicht nötig, um das Monster zu besiegen. Es ist im Au­genblick noch schwach, deshalb müssen wir bald zuschlagen, wie du selbst ganz richtig erkannt hast. Wenn meine Artgenossen auf der Erde erfahren, daß Kether unbeauf­sichtigt ist, werden sie sich um ihn kümmern. Dann ist die Menschheit verloren. Und bei dem Heißhunger des Monsters würde dieser Land­strich innerhalb weniger Tage ent­völkert sein.“
„Was sollen wir unternehmen?“
„Du besitzt eine ultimate Waffe.“
„Den Ys-Spiegel?“ Dorian schüt­telte vehement den Kopf. „Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, möchte ich ihn lieber nicht einsetzen. Es muß andere Mittel geben, dem Monster beizukommen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir ihm eine Fälle stellen könnten.“
Dorian drehte sich abrupt um, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Hugh Keller stand im Eingang des Hauses und zuckte zusammen, als fühle er sich bei etwas Verbotenem ertappt.
„Entschuldigen Sie, daß ich Ihr Ge­spräch belauscht haben“, sagte er. „Aber ich habe da eine Idee...“
Er verstummte, als aus der Ferne ein gewaltiges Brüllen ertönte.
„Kether!“ stellte Dorian fest und sprang auf die Beine. Im Haus brach Tumult aus. Anscheinend hatte das Brüllen des Monsters die Mädchen geweckt.
„Der Hunger treibt das Monster aus seinem Versteck“, sagte Olivaro. „Da die Mädchen aus seinem Bann befreit sind, wird es vergeblich auf sie warten... Es wird sich auf die Suche machen.“
Dorian nickte mit verkniffenem Gesicht.
„Das bedeutet, daß es früher oder später nach Buzios kommen wird - die Folgen wären furchtbar.“ Er wandte sich Keller zu. „Haben Sie ei­nen Vorschlag?“
Wieder drang heiseres Gebrüll an ihre Ohren, und dann erzitterte der Boden unter den Schritten des Kör­pers von Kether junior.
„Die irdische Fauna hat eine Spe­zies hervorgebracht, die es in bezug auf Gefräßigkeit mit jedem Mon­strum aufnimmt“, erklärte Keller umständlich.
„Piranhas“, sagte Dorian ungedul­dig, „ich weiß. Aber woher sollen wir diese Raubfische nehmen? Oder wollen Sie mir weismachen, daß es welche in diesen Gewässern gibt?“
„Sie stammen nicht aus dieser Gegend“, erwiderte Keller. „Aber ei­ner der hier Ansässigen hat um sein Anwesen einen Süßwasserteich an­gelegt, in dem rote Piranhas ausge­setzt sind. Es müßten Tausende sein. Für sie wäre Kether junior bestimmt kein zu schwerer Brocken...“
Keller unterbrach sich kurz, als das Monster wieder eine Reihe von Schreien ausstieß. Sie klangen kla­gend und unzufrieden. Er suchte die Witterung der für ihn bestimmten Mädchen!
„Ich weiß auch schon, wie wir das Monster zu diesem Teich locken können“, fuhr Keller fort. „Ich würde gern die Rolle des Köders überneh­men, wenn ich mit Ihrer Hilfe rech­nen kann. Und natürlich müßte mich Lonrival mit dem magischen Qua­drat kennzeichnen, damit das Mon­ster meine Witterung bekommt.“
„Es wäre einen Versuch wert“, meinte Dorian. „Aber es kommt gar nicht in Frage, daß Sie sich opfern. Ich habe mehr Erfahrung im Umgang mit Monstern. Nein, versuchen Sie nicht, den Helden zu spielen, Hugh. Holen Sie lieber Lonrival.“
Keller verschwand im Haus, kam jedoch sofort wieder zurück.
„Die Mädchen sagen, Lonrival habe uns belauscht und sei dann durch ein Fenster geflohen“, berich­tete er. „Das kann nur bedeuten, daß er meinen Plan auf eigene Faust aus­führen will.“
„Dieser Narr!“ schimpfte Dorian. „Ohne Cocos Unterstützung hat er keine Chance, dem Monster zu ent­kommen.“
Dorian eilte ins Haus und zu Cocos Schlafplatz. Sie war aufgewacht und blickte ihm entgegen.
„Ich habe einiges mitbekommen“, sagte sie. „Was erwartest du von mir?“
„Wir müssen Lonrival folgen“, ant­wortete Dorian. „Wenn du wieder bei Kräften bist, können wir ihn noch einholen.“
Die Schreie des Monsters näherten sich. Plötzlich wurde das Haus erschüttert. Ein unförmiges zottiges Gebilde erschien wenige Meter ent­fernt. Durch das Fenster erkannte Dorian, daß es sich um ein Bein des Monsters handelte.Er fürchtete, ihre letzte Stunde habe geschlagen, da Kether junior sie gewittert habe. Doch das Monster entfernte sich wieder, ohne sich um sie zu kümmern.
Demnach mußte es die Witterung von etwas aufgenommen haben, das viel zwingender und stärker war als die Ausdünstung von drei Dutzend Menschen.
„Lonrival hat ernst gemacht“, meinte Dorian. „Schnell, Coco. Wir müssen ihn vor dem Monster erreichen.“


Der Unersättliche

Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 58, 2. Spalte, 9. Absatz - Seite 62, 1. Spalte, 1. Absatz

Sie bezogen in einem verlassenen Wochenendhaus Quartier.
Dorian saß mit Olivaro auf der Treppe. Die anderen hatten sich zur Ruhe gelegt, auch die von dem Bann befreiten Kether-Mädchen. Dorian hatte sie gebeten, erst nach Buzios zurückzukehren, wenn Lonrival da Silva wieder bei Bewußtsein war. Er wollte sie nicht ohne dessen Schutz gehen lassen.
„Hast du uns die ganze Zeit über getäuscht, Olivaro?“ fragte der Dämo­nenkiller. „Warum hast du uns die Rolle des Geistesgestörten vorge­spielt?“
„Ich habe nicht Theater gespielt“, antwortete Olivaro. „Das wäre mir gegenüber meinen Artgenossen auch gar nicht möglich gewesen.“
„Du erinnerst dich?“
„Dunkel. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Ich weiß nur, daß ich drüben war. Erst zurück auf der Erde kam ich wieder allmählich zu mir. Und von da an habe ich mich ver­stellt.“
„Warum?“
„Ich wollte Zeit zum Nachdenken haben und um mir alles durch den Kopf gehen zu lassen.“
„Und was ist dabei herausgekom­men?“
Olivaro überlegte eine Weile, bevor er antwortete: „Ich glaube, wir könn­ten jetzt Freunde werden. Das heißt, von mir aus. Es liegt nun an dir. Wenn du vergessen kannst ...“
„Geschenkt.“ Dorian machte eine Handbewegung, ,als wolle er das Ge­schehene ausradieren. Er fuhr fort: „Du hast zur rechten Zeit zu dir zu­rückgefunden, Olivaro. Du könntest uns helfen, Kethers Auswurf zu ver­nichten. Weißt du Bescheid?“
Olivaro nickte mit seinem Kno­chenschädel. Er seufzte.
„Ich habe alles mitbekommen. Und jetzt erwartest du dir Wunder von mir, wie? Aber damit kann ich dir nicht dienen. Wunder sind auch gar nicht nötig, um das Monster zu besie­gen. Es ist im Augenblick noch schwach, wie du selbst richtig er­kannt hast. Darum müssen wir bald zuschlagen. Wenn meine Artgenossen auf der Erde erfahren, daß Kether unbeaufsichtigt ist, werden sie sich um ihn kümmern. Dann ist die Menschheit verloren. Und bei Kethers Heißhunger würde dieser Land­strich bald entvölkert sein.“
„Was sollen wir unternehmen?“
„Du besitzt eine ultimate Waffe.“
„Den Ys-Spiegel?“ Dorian schüt­telte vehement den Kopf. „Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, möchte ich ihn lieber nicht einsetzen. Es muß einfach ein Mittel geben, dem Mon­ster beizukommen. Denken wir dar­über nach, wie wir ihm eine Falle stel­len können.“
Dorian hörte hinter sich ein Ge­räusch und drehte sich um. Hugh Kel­ler stand im Eingang des Hauses. Er zuckte zusammen, als fühlte er sich bei etwas Verbotenem ertappt.
„Entschuldigen Sie, daß ich Ihr Ge­spräch belauscht habe“, sagte er. „Aber ich glaube, ich habe da eine Idee...“
Er verstummte, als aus der Ferne ein unheimliches Brüllen zu hören war.
„Kether!“ Dorian sprang auf die Beine. Im Haus brach ein Tumult aus. Offenbar hatten die Schreie Kethers die Mädchen geweckt — und damit auch ihre Erinnerung und die Ängste.
„Der Hunger treibt das Monster aus seinem Versteck“, stellte Olivaro fest. „Vermutlich ruft er nach den Mädchen, die zu seiner Betreuung ab­gestellt wurden. Aber Kether wartet vergeblich, da die Mädchen nicht mehr in seinem Bann stehen. Er wird sich auf die Suche nach ihnen und nach Nahrung machen.“
Dorians Gesicht war verkniffen, als er zustimmend nickte und sagte: „Das bedeutet, daß Kether früher oder später nach Buzios kommen wird — die Folgen wären verheerend.“ Er wandte sich an Keller. „Was für einen Vorschlag haben Sie zu ma­chen, Hugh?“
Wieder drang das heisere Brüllen an ihre Ohren, und dann erzitterte der Boden unter den Schritten von Kether junior.
„Die irdische Fauna hat eine Spe­zies hervorgebracht, die es in punkto Gefräßigkeit mit jedem Monstrum aufnimmt“, begann Keller umständlich. „Es sind vergleichsweise kleine Fische...“
„Piranhas, ich weiß“, sagte Dorian ungeduldig. „Aber woher sollen wir solche Raubfische nehmen? Oder wol­len Sie mir weismachen, daß es in die­sen Gewässern welche gibt?“
„Das gerade nicht“, erwiderte Kel­ler. „Aber einer der hier Ansässigen hat um sein Anwesen einen Süßwasserteich angelegt, in dem rote Piran­has ausgesetzt sind. Es müssen Tausende sein. Für sie wäre nicht einmal Kether junior ein zu schwerer Brocken.“
Keller machte eine kurze Pause, als sich das Monster wieder durch eine Reihe verzweifelter Schreie bemerk­bar machte. Es hörte sich fast wie ein klagendes Rufen an, als suchte Kether die Witterung der für ihn be­stimmten Mädchen.
„Ich weiß auch schon, wie wir das Monster zu diesem Teich locken kön­nen“, fuhr Keller fort. „Ich würde so­gar den Köder spielen, wenn ich mit Ihrer Hilfe rechnen kann. Lonrival bräuchte mich nur mit dem magi­schen Quadrat zu kennzeichnen, da­mit Kether junior meine Witterung bekommt. Was halten Sie davon, Dorian?“
„Es wäre einen Versuch wert“, sagte der Dämonenkiller. „Aber es kommt gar nicht in Frage, daß Sie die­ses Risiko auf sich nehmen, Hugh. Ich habe mehr Erfahrung als Sie in die­sen Dingen. Ich bin geradezu ein Spe­zialist im Umgang mit Monstern. Ver­suchen Sie lieber nicht, den Helden zu spielen. Überlassen Sie das Berufene­ren. Aber Sie können Lonrival holen. Ihre Idee gefällt mir immer besser.“
Keller verschwand im Haus, kam aber sofort wieder zurück.
„Die Mädchen sagen, Lonrival habe uns belauscht und sei dann durch ein Fenster geflohen“, berichtete Keller aufgeregt. „Das kann nur bedeuten, daß er meinen Plan auf eigene Faust ausführen.“
„Dieser Narr!“ schimpfte Dorian. „Ohne Cocos Unterstützung hat er nicht die geringste Chance, Kether ju­nior zu entkommen.“
Dorian begab sich ins Haus und suchte Cocos Schlafplatz auf. Sie war aufgewacht, hatte sich aufgesetzt und blickte ihm wissend entgegen.
„Ich habe einiges aufgeschnappt“, sate sie, noch ein wenig schlaftrun­ken. „Was erwartest du von mir?“
„Wir müssen Lonrival folgen“, er­klärte Dorian. „Falls du wieder bei Kräften bist und deine Fähigkeiten einsetzen kannst, können wir ihn noch einholen. Wir müssen ihn an sei­nem wahnwitzigen Vorhaben hin­dern.“
Die Schreie des Monsters waren nun schon ganz nahe. Plötzlich wurde das Haus wie von einem Erdbeben er­schüttert. Einen knappen Steinwurf entfernt tauchte ein unförmiges zotti­ges Gebilde wie ein Berg auf.
Kether kam geradewegs auf ihren Unterschlupf zu.
Das Haus wurde noch heftiger er­schüttert. Als Dorian durch das Fen­ster blickte, sah er, wie Kether nur wenige Meter entfernt ein Bein in den Boden rammte.
Ohne lange zu überlegen, holte er den Ys-Spiegel hervor, denn er meinte, ihre letzte Stunde habe ge­schlagen. Es sah ganz so aus, als habe das Monstrum ihre Witterung aufge­nommen. Doch das zottige Säulen­bein verschwand vom Fenster und wurde weiter weg wieder auf den Bo­den gesetzt.
Demnach mußte Kether die Witte­rung von etwas anderem aufgenom­men haben. Er mußte etwas wittern, das viel stärker und zwingender war als die Ausdünstung von mehreren Dutzend Menschen.
Dorian glaubte zu wissen, was es war, das Kether derart lockte.
„Lanrival hat ernst gemacht“, sagte er. „Mach schnell, Coco. Wir müssen uns beeilen, um ihn noch vor dem Monster zu erreichen.“ 


Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 64, 2. Spalte, 1. Absatz - Seite 65, 1. Spalte, 3. Absatz

Als Lonrival Hughs Vorschlag hörte, zögerte er keine Sekunde.Er handelte sofort. Ohne sich um die Mädchen zu kümmern, sprang er aus dem Fenster und lief davon auf Marcos Freyres Anwesen zu.
Als er weit genug von dem Wochen­endhaus entfernt war, hielt er inne.
Endlich erhielt er Gelegenheit, sei­ne Schuld zu tilgen. Er hatte schon früher einige Male an sich selbst Operationen vorgenommen. Das war nichts Besonderes. Mit den unhand­lichen Macheten hatte er bei Selbst­heilungen allerdings noch keine Er­fahrungen gemacht.
Aber er hatte keine anderen In­strumente bei sich. Also mußten es die Macheten tun. Es würde schon nichts schiefgehen.
Lonrival konzentrierte sich. Es war schwer, sich selbst in die Trance des Mediums und gleichzeitig in die des Meisters zu versetzen.
Xango!
Er ließ die Macheten wirbeln. Er spürte einen stechenden Schmerz in der Bauchgegend, als die anästesie­rende Trance nachließ. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
Und er vollendete sein Werk.
„Kether! Ethere! Thereh! Hereht! Erehte! Rehtek!“
Das konnte seine Wirkung nicht verfehlen.

Lonrivai hastete zum Teich hin­unter. Als er das Ufer erreicht hatte, blickte er sich um. Dort kam das Monster. Es mußte inzwischen wei­ter gewachsen sein, denn sein Körper überragte die höchsten Bäume. Brüllend kam es heran. Es hatte sei­ne Witterung aufgenommen. Es folg­te ihm, schutzsuchend, auf Nahrung hoffend.
Lonrival triumphierte.
Das Monster kam aus dem Wald.
Jetzt! dachte Lonrival. Mit dem nächsten Schritt muß es seinen Fuß in den Teich setzen.
Er sah aus dem Augenwinkel eine schemenhafte Bewegung. Im näch­sten Moment nahmen Coco und Do­rian Gestalt an.
„Tun Sie es nicht, Lonrival!“ rief der Dämonenkiller verzweifelt. „Es ist ein sinnloses Opfer.“
Da sprang Lonrival. 


Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 62, 1. Spalte, 2. Absatz - Seite 62, 2. Spalte, 14. Absatz

 

Als Lonrival Hughs Vorschlag mit­hörte, da zögerte er keine Sekunde.
Er handelte sofort. Ohne sich um die Mädchen zu kümmern, sprang er durchs Fenster und verschwand im Dickicht. Er rannte in Richtung von Marcos Freyres Anwesen.
Als er weit genug von dem Wo­chenendhaus entfernt war, hielt er inne.
Endlich bekam er Gelegenheit, seine Schuld zu tilgen. Er hatte schon früher seine Fähigkeiten an sich selbst erprobt. Er konnte sogar Ein­griffe an seinem Körper vornehmen. Das war nichts Besonderes. Mit den unhandlichen Macheten hatte er in Sachen Selbstheilung allerdings noch keine Erfahrung.
Aber er hatte keine anderen Instru­mente bei sich. Also mußten es die Macheten tun. Er würde es schon schaffen. Es durfte einfach nichts schiefgehen.
Lonrival konzentrierte sich. Es war schwer, sich selbst in die Trance des Mediums und gleichzeitig in die des Meisters zu versetzen. Aber ein Mei-, ster der Magie wie er mußte das schaffen.
Xango!
Er ließ die Macheten wirbeln, ver­renkte dabei die Arme in unnatürli­cher Weise. Aber es gelang. Ein ste­chender Schmerz in der Bauchgegend zeigte ihm, daß er auf dem richtigen Weg war. Es hing alles davon ab, daß er die Macheten die Zeichen in der richtigen Reihenfolge setzen ließ. Er hatte sich voll in der Gewalt.
Und er vollendete das Werk!
KETHER
ETHERE
THEREH
HEREHT
EREHTE
REHTEK
Xango!
Es war geschafft. Damit konnte er seine Wirkung auf Kether nicht ver­fehlen. Da es keine Mädchen mit die­ser Ausstrahlung mehr gab, würde das Monstrum seine Witterung aufnehmen und ihm folgen.
Lonrival hastete zum Teich hinun­ter. Er blieb erst stehen, als er das Ufer erreicht hatte. Er drehte sich um und blickte in die Richtung, aus der das Monster kommen mußte.
Und dann kam Kether. Er war eine imposante Erscheinung. Ein im Wachsen begriffenes Riesenbaby. Und er mußte inzwischen noch grö­ßer geworden sein, denn er überragte die höchsten Bäume um einiges. Brül­lend stampfte er heran. Er hatte seine Witterung aufgenommen und nä­herte sich unbeirrt dem Teich.
Kether kam zu ihm, Lonrival, schutzsuchend, in der Hoffnung auf Nahrung — nicht ahnend, daß er selbst für eine Fütterung vorgesehen war.
Lonrival triumphierte.
Das Monstrum tauchte aus dem Wald auf, zögerte einen Moment. Seine violetten Augen suchten nach dem Ursprung der magischen Aus­strahlung. Und dann sahen sie Lonrival.
Jetzt! dachte Lonrival. Mit dem nächsten Schritt auf ihn zu mußte Kether seinen Fuß in den Teich setzen.
Aus den Augenwinkeln sah Lonrival links von sich eine undeutliche Bewegung. Gleich darauf nahmen Coco und Dorian Gestalt an.
„Tun Sie es nicht, Lonrival!“ rief ihm der Dämonenkiller verzweifelt zu. „Es ist ein sinnloses Opfer!“
Da sprang Lonrival.

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller Nr. 118
Seite 65, 1. Spalte, 4. Absatz - Seite 66, 2. Spalte, 4. Absatz

Coco wandte sich entsetzt ab, als Lonrival im Wasser untertauchte. Im nächsten Augenblick schien es zu brodeln.
Das Monster machte den letzten entscheidenden Schritt. Sein zottiges Säulenbein verschwand bis über die Knöchel im Wasser. Es schrie auf, als sich die Piranhas darauf stürzten und sich in seinem Bein verbissen. Aber anstatt das Bein zurückzuzie­hen, zog er das andere nach.
Zuerst nahm Kether junior den stechenden Schmerz wohl gar nicht wahr. Er registrierte nur, daß er nicht mehr die vertraute Witterung empfing. Und das ließ ihn enttäuscht aufbrüllen.
Er beugte sich hinunter und durchteilte die Wasseroberfläche auf der Suche nach Lonrival mit seinen gewaltigen Armen. Die Piranhas stürzten sich sofort auf die neue Beute, verbissen sich darin, rissen Stücke aus dem Fleisch. Das Wasser verfärbte sich von dem Blut des Monsters. Dadurch wurden weitere Schwärme von Piranhas angelockt und zur Raserei gebracht.
Das Monster versank immer tiefer im Wasser. Eines seiner Beine gab nach. Es kippte um. Der Teich trat über die Ufer, Piranhas wurden an Land geschwemmt. Ihre rotschimmernden zuckenden Leiber übersä­ten die Wiese.
„Gehen wir“, sagte Dorian. „Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun. Die Piranhas haben uns die Arbeit abgenommen.“
Sie kehrten um und stießen bald zu den anderen, die ihnen auf halbem Wege entgegenkamen.
„Es ist unglaublich, aber die Piran­has haben Kether junior geschafft“, berichtete Dorian.
„In ein paar Tagen, wenn Kether bis zum Himmel gewachsen wäre, wäre ihnen das nicht mehr ge­lungen“, sagte Olivaro. „Dann hätten sich bereits Janusköpfe in ihn einni­sten können. Er wäre unüberwind­lich gewesen.“
„Warum gebrauchst du das Wort Janusköpfe mit so seltsamer Beto­nung, Olivaro?“ fragte Coco. „Fühlst du dich deinen Artgenossen nicht mehr zugehörig?“
„Nein“, antwortete Olivaro. „Aber vor allem deshalb, weil ich kein Januskopf mehr bin. Ich habe nicht mehr zwei Gesichter. Ich bin nicht in der Lage, meinen Kopf zu wenden.“
Dorian fragte sich, ob Olivaro die Wahrheit sagte oder dies nur behauptete. Konnte man seiner Beteue­rung glauben, daß er nicht mehr unter dem Einfluß seiner Artgenos­sen stand?
Konnte ihm der Dämonenkiller überhaupt trauen, nach allem, was er von Olivaro wußte?
Dorian war bereit, die Vergangen­heit zu vergessen. Aber ein gesundes Maß an Mißtrauen bewahrte er sich.
Olivaro war ihm noch einen Be­weis seiner Freundschaft schuldig. 

 

Der Unersättliche
Dämonenkiller-Neuauflage Nr. 118
Seite 62, 2. Spalte, 15. Absatz - Seite 64, 2. Spalte, 2. Absatz

Coco wandte sich entsetzt ab, als Lonrival ins Wasser eintauchte. Sie sah nicht mehr, was daraufhin ge­schah. Aber sie hörte es an den Ge­räuschen. Das Wasser schien zu bro­deln.
Das Monster machte den letzten entscheidenden Schritt. Sein zottiges Säulenbein verschwand bis über die Knöchel im Wasser. Die Piranhas mußten sich sofort darin verbeißen.
Kether gab ein unwilliges Knurren von sich. Aber anstatt das Bein aus dem Wasser zu ziehen, setzte er mit dem anderen nach. Er beugte sich hinunter und durchteilte das Wasser mit seinen gewaltigen Händen auf der Suche nach Lonrival.
Die Piranhas stürzten sich sofort auf die neue Beute, verbissen sich darin, zerrten daran. Das Wasser schien zu kochen. Es wurde von den unzähligen Körpern der Piranhas und von Kethers Händen gepeitscht. Weitere Schwärme von Piranhas wurden angelockt und zur Raserei ge­bracht.
Das Monster knickte mit einem Bein ein. Es brüllte auf, neigte sich langsam zur Seite und kippte um. Es fiel der Länge nach in den Teich. Das Wasser schwappte über die Ufer. Pi­ranhas wurden an Land ge­schwemmt. Ihre rotschimmernden zuckenden Leiber übersäten die Wiese.
Und im Teich kämpfte Kether ju­nior um sein Leben. Das Riesenmon­ster stand auf verlorenem Posten, denn in der Masse waren die Piran­has noch viel wilder und gefräßiger als der Unersättliche.
„Gehen wir“, sagte Dorian. ”Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun. Die Piranhas haben uns die Arbeit abge­nommen.“
Sie kehrten sich ab und gingen da­von. Bald darauf stießen sie zu den anderen, die ihnen auf halbem Wege entgegenkamen.
Vorn Teich her waren die letzten ab­klingenden Geräusche des unglei­chen Überlebenskampfes zu hören.
„Es ist kaum zu glauben, aber die Piranhas haben Kether junior ge­schafft“, berichtete Dorian.
„In ein paar Tagen“, erklärte Olivaro“,wäre er in den Himmel ge­wachsen, dann hätten sich die Piran­has an ihm die Zähne ausgebissen. Er wäre groß genug gewesen, so daß sich Janusköpfe in ihm hätten einnisten können. Dann wäre Kether junior un­überwindlich gewesen.“
„Warum gebrauchst du das Wort Janusköpfe mit so seltsamer Beto­nung, Olivaro?“ erkundigte sich Coco. „Fühlst du dich deinen Artge­nossen nicht mehr zugehörig?“
„In der Tat, so ist es“, antwortete Olivaro. „Aber vor allem deshalb, weil ich kein Januskopf mehr bin. Ich habe keine zwei Gesichter mehr. Ich bin nicht in der Lage, meinen Kopf zu wenden.“
Dorian fragte sich, ob Olivaro die Wahrheit sprach oder ob er diese Un­zulänglichkeit nur vortäuschte. Konnte man seinen Beteuerungen glauben, daß er nicht mehr unter dem Einfluß seiner Artgenossen stand?
Konnte ihm der Dämonenkiller überhaupt trauen, nach allem, was er über Olivaro wußte?
Dorian war bereit, die Vergangen­heit zu vergessen, einen Strich unter sie zu machen. Aber ein gesundes Maß an Mißtrauen bewahrte er sich. Olivaro war ihm noch einen Beweis seiner Freundschaft schuldig.

 

Das war die Überarbeitung der DK-Neuauflage Nr. 118. In der nächsten Folge kommen dann die Kürzungen der DK-Neuauflage Nr. 119 "Der Diamantendolch" von Walter Appel alias Earl Warren dran.

 

Kommentare  

#1 matthias 2018-08-29 12:28
Die zitierten Textpassagen sind für einen Vergleich einfach zu lang.
Ansonsten sehe ich mir die DK Beiträge schon gerne an, aber hier kapituliere ich.
#2 Harantor 2018-08-29 17:19
Hier wurde eben quasi ganze Passagen neu geschrieben. Schwierig zu vergleichen aber machbar und man braucht Zeit ...

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles