Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 34: Abraham Merritt: Die Puppen der Madame Mandalipp (1932)
Teil 34:
Abraham Merritt: Die Puppen der Madame Mandalipp
(1932)
Bevor ich mich Merritt widme, ein Wort zur Reihe. In der letzten Zeit ist mein Interesse an Pulp-Literatur extrem gewachsen. Das hat vor allem mit den gradezu dramatischen Entwicklungen im Internet zu tun. Wie schon in Die Pulp Magazines – Amerika im Bann der Kurzgeschichte - 5. Pulps im Netz dargelegt, gibt es inzwischen eine Menge Quellen, die uns die Pulps oder die enthaltenen Geschichten unverstellt, unzensiert oder sogar als pure Fotokopie präsentieren.
Doch auch in Deutschland beginnt ein Umdenken. Die phantastische Pulp-Geschichte wird verstärkt wieder übersetzt. Ich erwähne hier nur die Neuausgabe von Captain Future durch den Golkonda-Verlag oder die extrem verdienstvollen Neuveröffentlichungen des Festa-Verlags. (Grade erschienen: „Das Ding aus einer anderen Welt“ von John W. Campbell von 1938, ursprünglich erschienen in „Astounding Stories“).
Das Pulp-Heft ist nicht nur ein zentraler Hafen für die englischsprachige Phantastik des 20. Jahrhunderts. Es ist eine der wesentlichen, essentiellen Quellen. Und das gilt nicht nur für die Sience Fiction und den Horror. auch Fantasy und die phantastische Abenteuergeschichte a la Preston & Child oder Chrichton wurzelt in der Pulp-Story.
Deshalb will ich die Rubrik in den nächsten Monaten dazu nutzen, hier verstärkt Pulp-Pionier-Werke vorzustellen. Da werden legendäre Werke auftauchen wie Burroughs' Tarzan, aber auch nie übersetzte wie die Horror-Geschichten David H. Kellers oder Arthur Leo Zagats.
Ich hoffe, ich treffe damit den Geschmack der Zauberspiegel-Leser, denn schließlich ist ein wichtiges Objekt der Betrachtung hier immer der Heftroman gewesen – da liegt es nahe, sich um den hierzulande immer noch unterschätzten Cousin (Bruder wäre zuviel gesagt) des Heftromans zu kümmern.
Als die Pulps um 1900 die Dime Novels ablösten, beherrschte lange ein Typus die Szene: Das All-Story-Magazin. Ziel der Verlage war es, den Lesern eine möglichst reiche Palette an Erzählformen zu bieten – in möglichst allen erdenklichen Formen.
Von Anfang an spielte dabei die Phantastik eine wichtige Rolle. Ein besonders großer Boom an phantastischen Erzählungen ist in der Dekade 1912-22 zu verzeichnen. Sie wird eingerahmt durch zwei wichtige Ereignisse: 1912 erscheint Burroughs' Tarzan und löst eine beispiellose Welle der Begeisterung aus – und ruft viele Nachahmer auf den Plan. Und 1923 wird die Zeitschrift Weird Tales gegründet – die den Startschuß für das Phantastik-Spezial-Heft gibt. Zwar existierten schon Vorläufer wie The Black Cat und The Thrill book, doch erst ab 1923 versuchen die Autoren mit ungewöhnlichen Plots eher bei den großen Genre-Heften ihr Glück.
Was aber nicht heißt, dass die Präsenz von Phantastik in den All-Story-Heften ganz zurückging. Ein Mann, der dafür sorgte, dass die Faszination der All-Story-Phantastik nie ganz erlosch, war Abraham Merritt, ein Autor, der sehr selten Original-Manuskripte bei einer Fantasy- oder Horror-Zeitschrift ablieferte. Er schrieb fast ausschließlich für die äußerlich recht unschuldig daherkommenden All-Story-Hefte des Munsey-Pulp-Riesen.
Das war auch kein Wunder. Sein Leben widmete er einem Hochglanz-Magazin, das versuchte, alle gleichermaßen zu unterhalten: The American Weekly. Diese Zeitschrift war sein lebenslanges Zuhause. Bereits 1912, als 28jähriger, wurde er stellvertretender Chefredakteur. Von 1937 bis 1943, bis zu seinem Tod, war er dann Chef.
Die Redaktion nahm die meiste Zeit seines Lebens voll in Anspruch. Das ist eigentlich eine Tragödie für die Literatur, denn in seiner knapp bemessenen Freizeit schrieb er nur ein schmales Ceuvre an phantastischen Werken. Die allerdings haben es in sich. Lediglich 7 Fortsetzungsromane und einige Handvoll kleinerer Geschichten sind überliefert.
Fast alle waren von fast erdrückendem Einfluß auf die Szene. Neu war an seinem Stil, dass er versuchte, Elemente Haggards und Wells' zu einer neuen einzigartigen Synthese zu verbinden. Seine Dark Fantasy verbindet gleichermaßen SF-, Horror- und Fantasy-Elemente, die tiefen Eindruck auf H-P. Lovecraft und seine Jünger machen sollten. Fast alle Werke wurden auch ins Deutsche übersetzt und haben ihren Zauber bis heute nicht verloren. Besonders die ersten beiden, The moon pool (1918/19) und The metal monster (1920) beeindrucken noch heute. Sie geben schon das ganze Arsenal der dunklen Fantasy des späten 20. Jahrhunderts bis hin zur Begegnung der 3. Art wieder – Alien-Lichtwesen, die junge Frauen entführen, unterirdische Reiche, Amphibienmonster, Expeditionen in Gegenden, in denen unergründliche Gefahren lauern, fremde Welten unermeßlichen Alters mit abgrundtief bösen Elementen.
Man kann sich gut vorstellen, dass die Leser von All-Story-Weekly, wo diese „Merrittiaden“ meist als Fortsetzungen erschienen, völlig paralysiert jede einzelne verschlangen.
Bald traten auch hier unzählige Nachahmer auf. (Auch der junge Edmund Hamilton, später berühmt wegen seiner Captain-Future-Geschichten, begann als Merritt-Fan.) Vielleicht war auch das ein Grund dafür, dass Merritt selbst keine allzu große Muße mehr verspürte, an seiner eigenen Legende weiterzustricken. In seinen späten Jahren hatte er sich dann auch mit neuen Abenteuern im alten Stil eher selbst imitiert – „The Dwellers in the Mirage“ (dt: „Das Volk der Fata Morgana“) von 1932 ist eigentlich nur noch ein schwacher Abklatsch früherer Erfolge. (Freilich immer noch ein echter Merritt!)
Im selben Jahr überraschte Merritt seine Fans mit einem vierteiligen Fortsetzungsroman , der ganz anders war als alles, was er bis dahin verfaßt hatte. Keine alten Völker, Lichtwesen oder monströsen Ruinenstädte mehr – die Handlung führt uns in die moderne Großstadt. „Burn, witch Burn“ (dt: Die Puppen der Madame Mandalipp / Flieh, Hexe, flieh, Erstdruck: Argosy weekly, Herbst 1932 ) ist ein Horror-Roman reinsten Wassers und gehört in seiner Intensität zu den großen Genre-Meisterwerken der Ära.
Und er ist ein frühes Beispiel für einen Krankenhaus-Horror-Roman. Die gewählte Perspektive ist gewagt: Der Ich-Erzähler ist ein hoch angesehener Mediziner, der mit seinem skeptischen naturwissenschaftlichen Wissen mit übersinnlichem Grauen konfrontiert wird. Die Kombination ist reizvoll und ermöglicht einen besonders schönen, tiefen Schauer-Effekt: Daran gewöhnt, dass in vielen Horror-Geschichten der Wissenschaftler am Ende alles als geschicktes Intrigenspiel enttarnt, müssen oder dürften wir hier erleben, wie Dr. Lowell immer tiefer in die Affaire um rätselhafte Tode in seinem Krankenhaus hineingezogen wird, die anscheinend durch schwarze Magie ausgelöst werden.
Alles beginnt damit, dass der große Gangsterboss der Stadt einen seiner Kumpane bei Lowell abliefert – der Mann ist in eine Art Katatonie verfallen. Lowell kann den Mann nicht retten, ja noch nicht einmal seine Krankheit feststellen. Er stirbt unter seinen Händen. Als in kurzer Zeit auch eine seiner Krankenschwestern und ein Freund an ähnlichen Symptomen sterben, tun sich die beiden ungleichen Männer zusammen, um die Fälle aufzuklären – beide glauben an Mord.
Die Spur führt zu einem unheimlichen Laden, in dem zwei Frauen Puppen verkaufen, ganz besondere Exemplare – modelliert nach den Kunden...
Ein furioser Alptraum nimmt seinen Lauf mit lebenden mordenden Puppen, die lange Nadeln schwingen, einer hypnotisch begabten Magierin, die Dr. Lowell und den Gangster Ricori beinahe tötet, und einer mutigen Überläuferin aus dem Reich der Hölle...
Die Handlung spielt zu zwei Dritteln im Krankenhaus. Das Grauen an einen Ort zu verlegen, in dem viele Menschen eigentlich ihre letzte Zuflucht vor Tod und Schmerzen suchen, ist genial, aber nicht Merrits Erfindung. Er dürfte von der überaus erfolgreichen düsteren Roman-Serie um die Krankenschwester Sarah Keate von Mignon G. Eberhart beeinflußt worden sein. Der erste Krankenhaus-Roman der Amerikanerin „Der Patient in Zimmer 18“ erschien 1929 und war sofort ein Bestseller. Weitere Abenteuer folgten. Was echte Horror-Fans vermutlich verärgerte, war, dass bei aller atmosphärischen Dichte bei der Eberhart eben doch immer alles rational aufgeklärt wird. Vielleicht spürte Merritt auch deshalb das Bedürfnis, hier mal einen Anti-Ratio-Roman zu kreieren, der den Leser mit fortschreitender Handlung immer ratloser zurückläßt.
Jedenfalls steht er den Keate-Büchern an gelungener Stimmungsmalerei in nichts nach. Besonders die Schilderungen im Laden von Madame Mandalipp, ihre verstörenden hypnotischen Fähigkeiten, die zuweilen schier LSD-ähnliche Visionen auslösen, gehören zu den absoluten Höhepunkten in Merritts Schaffen. Er profitiert nicht nur von den technischen Erfahrungen des langjährigen Redakteurs, der einfach weiß, wie man spannende Romane baut, sondernm auch von Merritts guten Recherchen in Sachen Okkultismus. Trotz einiger kleiner Logiklöcher ist das Buch bis heute extrem genießbar - und in englisch auch in verschiedenen Internetquellen leicht erreichbar.
Der Roman fällt noch durch zwei weitere Besonderheiten auf. Zum einen wird hier ein italienischer Gangsterboss samt seinem furchtlosen Leibwächter mal ungebrochen positiv dargestellt. Vielleicht war das ein Mittel, um das Grauen noch zu erhöhen, indem man als Leser miterleben muß, wie selbst mutige, bodenständige Gangster vom überirdischen Bösen zermalmt werden. Stephen King wird diesen Effekt später in seinem kleinen, aber großartigen Roman „Der Fluch“ noch einmal ausprobieren.
Hinzu kommt sicher auch, dass auf dem Höhepunkt der Prohibition ohnehin viele Großstädter Sympathien für Mafia & co. hatten, weil die dafür sorgte, dass der Alkohol weiter in Strömen floß.
Die andere Merkwürdigkeit ist ein scheinbarer Flirt mit Lovecraft. Immer wieder deutet Merritt subtil an, dass er sich von dessen Welt (oder einer ähnlichen) angezogen fühlt. Schon das Vorwort liest sich wie eine Hommage:
„Dunkle Flamme böser Erkenntnis – züngelnd im Schatten der Riesensteinmäler, die in Stonehenge dämmern; genährt von der Hand römischer Legionäre, emporlodernd, niemand weiß wie, im mittelalterlichen Europa – sie brennen noch heute, leben immer noch, wirken Merkwürdiges“.
Das ist stilitisch sehr nahe bei Lovecraft – zumal wenn man sich das auf englisch anschaut: „Dark Flame of Evil Wisdom“ - das könnte auch der Titel einer Lovecraft-Geschichte sein.
Doch hier muss es nicht zwangsläufig um eine echte Verneigung von dem Kollegen gehen. Beider Horror hat ähnliche Wurzeln. Es ist auch durchaus möglich, dass solche Passagen eigentlich ureigenster Merritt sind und uns nur so lovecraftisch vorkommen, weil er der noch berühmtere Autor ist. Und schon früher als Lovecraft ähnliche Themen aufgriff.
Es existieren meines Wissens zwei deutsche (Teil-)Übersetzungen. Die erste bekannte ist die stark gekürzte in der kleinen Utopia-Spin-Off-Reihe „Utopia Kriminal“, die beim Pabel-Verlag in den 1950er Jahren erschien (Heft 12). (vermutlich identisch mit einer weiteren Buchausgabe???) Hier gehen vor allem viele stimmungsvolles Beschreibungen und Diskussionen der Beteiligten verloren. In den Siebzigern entstand eine neue Übersetzung für den Pabel-Verlag, ebenfalls gekürzt, als Vampir-Horror-Taschenbuch Nr.3, immer noch nicht unter dem richtigen Titel „Brenne, Hexe, Brenne“, sondern merkwürdigerweise unter "Flieh, Hexe, flieh". In eine sehr guten Rezension des Romans von Michael Drewniok in der Phantastik-Couch wird die Vermutung ausgesprochen, dass man es nicht wagte, eine so offene Hexenverbrennungs-Auffordung zu bringen... Naja, ich weiß nicht recht. Pabel hatte da noch ganz andere verstörende Titel am Start. Es kann auch einfach die Lust am Titelerfinden gewesen sein, schließlich sind die deutschen 70er dafür berüchtigt - man denke an den armen Woody Allen, der durch die deutschen Übersetzungen von "Annie Hall" (Der Stadtneurotiker) oder „Love and Death“ (Die letzte Nacht des Boris Gruschenko) seine Werke kaum noch identifizieren konnte.
Eine richtig gute Übersetzung des Romans steht also immer noch aus – viellicht wagt sich ja jetzt, knapp zwei Jahre nach Erlöschen der Merritt-Rechte, mal jemand daran. Es wäre eine echte Entdeckung für deutschen Leser.
Zum Schluß sei noch vermerkt, dass der Roman auch verfilmt wurde – 1936 als „The Devil-Doll“ - allerdings mit extrem starken Abweichnungen vom Original. Und es gibt ein langes deutsches Hörspiel in engerer Anlehnung an die Vorlage in der Gruselkabinett-Serie der Titania-Medien (Madame Mandalipps Puppen, Nr. 96/97).
Nächste Folgen:
Paul W. Fairman: Der Mann, der im Nichts steckenblieb (1951) (27. Juni)
David H. Keller – Horror-Storys (1928-53) (11. Juli)
Ethel Lina White – Eine Dame verschwindet (1936) (25. Juli)
E. T. A. Hoffmann – Meister Floh (1822) (8. August)
Edgar Rice Burroughs – Tarzan bei den Affen (1912) (22. August)
Kommentare
Übrigens wieder ein sehr sxchöner Artikel
Es gibt eine weitere Ausgabe von "Flieh, Hexe, flieh!", die sich im Sammelband "Hexen und Teufel" aus dem Festa-Verlag befindet; jedoch wurde hier auf die Übersetzung von Lore Straßl zurückgegriffen.
Ansonsten natürlich wieder ein Dank an Matthias für diesen kenntnisreichen Artikel.
Die Verbindung Merritt/HPL ist nicht von der Hand zu weisen. Aber auch umgekehrt. In "Dwellers in the Mirage" von 1932 geht es um einen Krakengott namens "Khalk'ru". Da kommt man schon ins Grübeln.
Die Spekulation Vlcek-Merritt ist interessant. Könnte das möglich sein? Die Vorstellung, dass er da eher von Literatur beeinflusst war und nicht von den Exploitationfilmen der Zeit, hat was.