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Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 40: Roald Dahl - James und der Riesenpfirsich (1961)

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 40:
Roald Dahl - James und der Riesenpfirsich
(1961)

Einer der größten phantastischen Erzähler des 20. Jahrhunderts wäre vor wenigen Tagen 100 Jahre alt geworden – Roald Dahl. Er verstörte und beglückte mit seinen Werken sowohl Kinder wie Erwachse.

Der »Riesenpfirsich« war sein erstes erfolgreiches Kinderbuch.


Roald DahlRoad Dahls großes Lebenmotto – oder sollte man sagen Autorenversprechen an die Leser? - war der Wappenspruch „Expect the unexpected“! Erwarte das Unerwartbare!  Bei ihm war das ein Versprechen, das immer eingelöst wurde. Nicht erwartbar war zum Beispiel, dass eine Sammlung von seinen schwarzhumorig-bösartigen Erzählungen in der DDR verlegt wurde. Noch weniger erwartbar war, dass diese Sammlung arglos an einen 13jährigen Jungen von einer Bibliothekarin ausgeliehen wurde. Nämlich an mich. Meine erste Begegnug mit Dahl hat meine Sucht nach guten Horrorgeschichten nachhaltig geprägt.

Ironie des Schicksals: Erst mit 18, als ich volljährig nach dem Mauerfall meine ersten Buchläden in Westberlin enterte ( diese Momente gehören zu den surrealsten und schönsten meines Lebens), erfuhr ich, dass Dahl auch Kinderbücher geschrieben hat.

Eher aus höflicher Neugier denn wirklich enthusiastisch führte ich mir eins zu Gemüte, schließlich war ich jerzt volljährig. Ich konnte im doppelten Sinne nun lesen, was ich wollte – als entlassener DDR-Bürger und als Erwachsener. Kinderbücher standen da nicht grade ganz oben auf der Wunschliste. Ich glaube, mein erstes Dahl-Kinderbuch war „Hexen hexen“. Und ich mußte erstaunt und begeistert feststellen, dass der Kinderbuchautor und der Horrorautor gar nicht weit auseinanderlagen.

Roald Dahl - The Complete Short StoriesCharlie Higson drückt diese Lese-Erfahrung in seiner Einleitung zur britischen Gesamtedition von Dahls Erzählungen (Wann kriegen wir die endlich auf deutsch, Rowohlt???) so aus:

Da waren zwei Dahls im Bewußtsein des Publikums. Der eine Dahl, der mit den „Unerwartbaren Geschichten“, schrieb ziemlich düstere, schwarzhumorige Erwachsenenstories mit bösen Pointen.
Der andere (…) schrieb ziemlich düstere, schwarzhumorige Kinderbücher.

Noch in den 1990ern waren beide Dahls sehr populär. Heute hat sich die Wahrnehmung etwas verschoben, zugunsten des Kinderbuchautors. Obwohl Dahls Kurzgeschichten die Horror-Szene revolutionierten und ein Element einführten, das bisher nur selten so offen in ihr gezeigt wurde: die Schadenfreude, sind es die Kinderbücher, die bis heute überlebt haben. Das hat sicher auch mit den Verfilmungen zu tun. Zwar wurden auch zahlreiche Kurzfilme nach seinen Stories gedreht, einige sogar vom Altmeister Alfred Hitchcock höchstselbst. Doch die Verfilmungen von „Matilda“, „Der fantastische Mr. Fox“, „Charlie und die Schokoladenfabrik“ oder neuerdings „The BFG“ waren und sind wesentlich populärer.

Hinzu kommt, dass Matilda das Kinderbuch war, das J.K. Rowling nachhaltig zu Harry Potter inspiriert hat – es geht um ein Mädchen bei extrem spießigen Eltern, das entdeckt, dass es Zauberkräfte besitzt. 

Doch sicher gibt es einen weiteren Grund, weshalb Dahls Kinderbücher so berühmt sind – sie haben die Szene noch weit mehr revolutioniert als die Horror-Stories.

Ein aufrührerisches Element seiner Kinderbücher war die Wiedereinführung Grimmscher Tendenzen in die Kinderliteratur. Hatte die Grimmsche Märchenwelt noch jede Menge schockierende Szenen bereitgehalten, wurde die Kinderliteratur im späteren 19. Jahrhundert immer moralischer und auch konservativer – um im abscheulichen Höhepunkt des „Pinocchio“ zu gipfeln, in der Urform ein „Meisterwerk“ des Konformismus und der schwarzen Pädagogik.
 
Große frühe Kinderbuch-Autoren des 20. Jahrhunderts versuchten dann völlig zu recht, wieder emanzipatorische Züge ins Kinderbuch zu bringen (Kästner, Lindgren).

James and the Giant PeachDahl ging es um etwas anderes. Er wollte weder Realist noch Phantast sein, sondern in erster Linie den schönen Schauder, das Grotesk-Märchenhafte mit all seinen grellen Farben zurück in die Kinderliteratur bringen, vorbei an allen übervorsichtigen Tugendwächtern.

„James und der Riesenpfirsich“ war das erste erfolgreiche Kinderbuch Dahls. Es nimmt sich mit seinen (im Deutschen) 125 großgedruckten Seiten plus Illustrationen  sehr bescheiden aus, verglichen mit späteren Würfen.

Dahls Karriere als Kinderbuchutor kam nur stockend in Fahrt. Sein erster Versuch war ein Fiasko. 1943 entwarf er ein Filmszenario im Auftrag von Disney - „The Gremlins“ - es geht um Monster, die Flugzeuge der British Airforce angreifen, um sich für ihre zerstörten Waldgebiete zu rächen. (Dahl selbst war ein erfahrener Kampfpilot.) Das Filmprojekt platzte, das daraus resultierende kleine Kinderbuch war kein großer Hit. Fast 20 Jahre sollten bis zum nächsten Projekt vergehen.

Doch auch „James und der Rieesnpfirsich“ ist – trotz des anhaltender Popularität – für mich kein ganz so beeindruckendes Buch wie die meisten späteren Kinderbücher. 

Obwohl hier noch stark der Einfluß der Nonsens-Literatur eines Lewis Carroll zu spüren ist, hat er aber schon alle Ingredenzien der späteren Bücher wie in einem Brühwürfel zusammengepresst.

James Trotters  Eltern werden schon auf Seite Zwei von einem Rhinozeros aufgefressen, das aus dem Londoner Zoo entwichen ist. Er muss nun bei zwei schrecklichen sadistischen Tanten leben, und erleidet dort Qualen, gegen die sich Harry Potters Unannehmlichkeiten bei seinen Muggel-Verwandten wie ein fröhlicher Ferienaufenthalt ausnehmen.

Eines Tages besucht ihn ein mitleidiger Zauberer. Er schenkt ihm eine Tüte mit einer grünen körnigen Substanz – eine Art Zauberpulver zum Einnehmen. Schon bei der Beschreibung des Rezepts geht dem Horror-Autor die Phantasie durch:

„Eintausend schleimige Krokodilzungen, zwanzig Tage und Nächte im Schädel einer toten Hexe gekocht, zusammen mit den Augäpfeln einer Eidechse! Dann die Finger eines jungen Affen, einen Schweinemagen, den Schnabel eines grünen Papageis, den Saft eines Stachelschweines und drei Löffel Zucker dazugeben und eine Woche lang langsam ziehen lassen. Den Rest macht der Vollmond“. 

James and the Giant PeachNun passiert das Merkwürdige, oder wie Dahl sagen würde, das Unerwartbare – das so sorgfältig geplante Schema „Zauberer erlöst kleinen Jungen aus dem Elend“ geht völlig schief, weil James die Tüte fallen läßt. (Der Magier ist längst verschwunden.) Die grüne Substanz sickert ins Erdreich des Gartens. Ein riesiger Pfirsich wächst, der bald vom Baum fällt und die beiden Tanten brutal überrollt und zu Tode quetscht.

Im Pfirsich selbst sind einige Tiere aufgrund des fehlgeiteten Zauberpulvers zur Menschengröße mutiert, die für gewöhnlich eher für eklige Assozationen verantwortlich sind – unter andrem ein Tausendfüßler, ein Regenwurm und eine Spinne (engl. Miss Spider). Mit dabei ist auch ein riesiger Marienkäfer, (in der deutschen Übersetzung Marie Käfer; im Englischen ist das lustiger, the Ladybug wird zu Lady Bug), und ein Grashüpfer. Mit dieser seltsamen Crew rollt James fort im Pfirsich, fliegt sogar übers Meer mit ihm und erlebt verschiedene Abenteuer, bis der Pfirsich in New York landet. Das weitere Geschehen ist kein streng komponiertes Buch, sondern eher ein lockeres Road-Movie des Absurden.

James freundet sich mit diesen eher scheußlichen Geschöpfen an, rettet sogar dem arroganten Tausendfüßler das Leben.

Auffallend ist am Buch die Lust an makabren Details, aber eben auch die Wendung makabrer Klischees ins Alberne.  Zunächst glaubt James, die widerlichen Kreaturen wollten ihn fressen, was die sehr amüsiert. Selbst die Spinne findet das komisch. Umgekehrt erzählt sie von grausamen Verfolgungen ihrer Verwandten durch die Menschen.

Dahl spielt mit Erwartungen und enttäuscht sie angenehm, baut aber auch manch düstere Gefahr auf. „Ab 5 Jahre“ lautet die Altersempfehlung bei Rowohlt – für manchen Fünfjährigen mag das schon ziemlich starker Tobak sein.

James und der RiesenpfirsichErwartungsgemäß wurde das Buch auch immer wieder seit dem Erscheinen angegriffen und auch – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts! - zensiert. Was nicht verhindern konnte, dass es zur Lieblingslektüre vieler Kinder gehörte und gehört – seit 50 Jahren. In den USA steht „James“ auf der Top List der 100 meistausgeliehenen Bücher in öffentlichen Bibliotheken. Und auch hier in Deutschland erfreut er sich großer Popularität.

Wichtiger ist sicher der Stellenwert des schmalen Bändchens als Ouvertüre – als Eröffnungstück einer neuen, modernen, frechen Kinderliteratur, der es darum geht, Kindern so viel Thrill und Spaß zu können wie nur möglich und die Aufnahmefähigkeit der Kleinen nicht zu unterschätzen – Dahl fegt endgültig die Verniedlichung, die Verharmlosung und spießige Bravheit aus der Kinder-Welt-Literatur, gibt ihr die Wildheit wieder, die sie seit den Tagen Grimms zuweilen verloren hatte oder die von der Schwarzen Pädagogik als Angstmacher mißbraucht wurde (Der Struwwelpeter). Insofern hat Charlie Higson völlig recht – die zwei Dahls sind eigentlich einer. Denn auch Erwachsene kommen bei Dahls Kinderbüchern immer voll auf ihre Kosten, was skurrile Einfälle und makabre Elemente angeht.

James und der Riesenpfirsich„James und der Riesenpfirsich“ gibt es auch als Animationsfilm und Musical. Das Buch wurde in England dreimal illustriert. Dahls Stamm-Illustrator Quentin Blake hat das Buch erst 1995 bebildert, die Erstausgabe erschien mit Zeichnungen von Emma Chicester Clark.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1968. Meine Ausgabe von 1987 enthält Illustrationen von Hansjörg Langenfass, die mir immer als sehr unsinnlich und uninteressant erschienen. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Dafür wurden die Nonense-Lieder, die immer mal wieder im Text auftauchen, sehr launig nachgedichtet von Inge M. Artl.

Inzwischen gibt es aber auch eine deutsche Version mit Blakes wunderschönen Bildern. 

Nächste Folgen:
Isaac Asimov - Ich, der Roboter (1950) (3. Oktober)
Meredith Nicolson - Das Haus der 1000 Kerzen (1906) (17. Oktober)
Reginald Scott & Norvell Page - The Spider - Wie alles begann. Hefte 1-4 (1933/34) (31. Oktober)

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Kommentare  

#1 Andreas Decker 2016-09-19 12:23
Schöner Artikel. Dahl kenne ich eigentlich nur aus Sekundärwerken als Vorlagenlieferant für die frühen Hitchcock-TV-Serien. Vielleicht doch mal reinsehen.

Schreib doch mal was über das von dir angesprochene Thema mit der "schwarzen Pädagogik" und "Pinocchio". Hatte ich noch so gehört. Klingt interessant.
#2 Matzekaether 2016-09-19 12:35
schöne Idee. Mach ich wirklich mal demnächst

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