Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 44: Wiliam Hope Hodgeson - Carnacki, der Geisterfinder (1913)
Teil 44:
Wiliam Hope Hodgson - Carnacki, der Geisterfinder
(1913)
I.
Ich bin mir nicht sicher, ob es mit gelingen wird, im Laufe der nächsten Monate und Jahre alle im Übersichts-Artikel 33 erwähnten Geisterjäger ausführlich vorzustellen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass einige von ihnen leicht zugänglich sind, andere Werke kaum übersetzt wurden oder einfach schwer aufzutreiben sind. Ich strebe es an, aber selbst Klassiker wie Carnacki sind nicht immer leicht zu bekommen. Die einzige deutsche Übersetzung ist hoffnungslos vergriffen, und selbst das immer wieder aufgelegte englische wunderschöne postgelbe Taschenbuch bei Wordsworth (2006) ist über amazon nicht bestellbar. Ich habe es in bei fnac im Colombo-Center in Lissabon ergattert. Wer mal da ist (man sollte sich das größte Einkaufszentrum Europas, das Colombo-Center, aus Kuriositätsgründen sowieso ansehen): fnac, eigentlich ein Elektronik-Geschäft wie bei uns Saturn, hat dort eine exzellente englische Buchabteilung mit vielen schönen unheimlichen Büchern.
Immerhin - die englische Ebook-Ausgabe ist natürlich über amazon und diverse andere Seiten verfügbar.
Eigentlich möchte ich in meiner Porträtierung von Detektiven im Holmes-Gefolge sogar noch so manchen schrägen Vogel hinzuaddieren, der zwar keine Geister gejagt hat, aber doch aus dem Rahmen des Üblichen fällt – erwähnt habe ich letztens schon Craig Kennedy, den wissenschaftlichen Detektiv, aber da gibt es auch noch den Ahnherrn Peter Lundts, den blinden Max Carrados, und, leider mit nur wenig Storys, den kiffenden Prinzen Zaleski, der seine Fälle stoned löst (nicht von 1970, sondern zu ersten Kifferwelle entstanden, 1895). Und, auch sie wurde schon erwähnt, die bezaubernde Madame Storey, die kettenrauchende New Yorker Schönheit aus den 20ern. Einiges davon kommt auch noch, auch wenn es den Rahmen der „phantastischen Literatur“ etwas sprengt. Doch wie schon mal ausgeführt, rechne ich Hero-Literatur durchaus zur Phantastik, da die Helden oft comichaft überzeichnet sind und überlebensgroße Attribute ihr eigen nennen.
II.
Bei Carnacki müssen wir uns keine Sorgen bei der Zuordnung machen – hier geht es eindeutig um Übersinnliches, wie der Titel „Der Geisterfinder“ schon verrät. Mit dem kiffenden Prinzen hat Carnacki gemein, dass es nur sehr wenige Geschichten gibt. Zum Kanon gehören nur 6, insgesamt entstanden 9. Hätte Hodgson bei längerer Lebenserwartung diese Reihe fortgesetzt? Darüber läßt sich spekulieren – manche sagen, dass dies durchaus im Bereich des Möglichen liegt, wäre er nicht 1918 bei Ypern gefallen, doch dagegen spricht, dass er das Thema vermutlich ausgereizt hatte, da er schon lange vor dem Tod keine Carnacki-Geschichten mehr schrieb. Andrerseits: Wie oft hat Conan Doyle geschworen, nie wieder eine Holmes-Story zu veröffentlichen...
Die Holmes-Imitatoren nahmen ganz unterschiedliche Askpekte der großen Vorbild-Storys auf. Vielen gefiel die Grundsituation, dass ein schrulliger genialer Experte von hilflosen Klienten um Rat gefragt wird. Auch Hodgson greift diese Idee auf. Carnacki ist Kriminologe und Spuk-Fachmann. Ihn ruft man, wenn nichts andres mehr hilft. Seine These: In 99 von 100 Fällen erweisen sich die angeblichen Spuks als böse Fakes, um jemandem zu schaden. Nur jeder 100. Fall ist eine echte Spuk-Affäre, doch die hat es in sich.
Der Rahmen ist immer derselbe: Carnacki ruft in längeren Abständen seine Freunde zusammen. Unter ihnen auch den Ich-Erzähler. Beim üppigen Abendessen darf nicht über Geister geredet werden. Doch danach versammeln sich alle um den Kamin, und Carnacki erzählt sein neuestes Abenteuer. Oder auch ein altes.
Die These, dass viele Geistererscheinungen Betrug sind, ermöglicht Hodgson einen Spannungsaufbau, auf den viele unserer Heftroman-Autoren bei ihren Geisterjägern verzichtet haben – schade. Wir wissen bei Carnacki bis fast zum Ende nicht genau, ob sich alles als Betrug herausstellt oder als echte übersinnliche Bedrohung. (Bei Sinclair weiß man es schon, wenn man aufs Titelbild schaut.) Dass beide Möglichkeiten vorhanden sind, entzaubert die Geschichten nicht, sondern macht sie doppelt spannend. Und erstaunlicherweise sind oft die am unheimlichsten, in denen am Ende alles auffliegt. Es gibt sogar Mischformen – zu ihnen gehört die berühmteste Erzählung des Zyklus, „Das unsichtbare Pferd“, in der der Drahtzieher, der die alte Legende von einem mordenden unsichtbaren Monsterpferd wieder „aufwärmt“, schließlich vom „echten“ Pferd getötet wird.
Die neun Geschichten erschienen zunächst in Zeitschriften, vor allem in „The Idler“. 1913 fasste Hodgson 6 von ihnen zusammen im eigenständigen Band „Carnacki the Ghostfinder“. Ähnlich wie sein amerikanischer Schriftstellerkollege Reeve, der Erfinder von Science-Detective Craig Kennedy, war der Brite Hodgson fasziniert von der Moderne und den neuen Erfindungen, die in den Jahren 1910-18 das Licht der Welt erblickten. Verglichen den tumben Kreuzen und Ringen der deutschen Geisterjäger der 70er wirkt Carnacki geradezu poppig. Er besitzt ein elektrisches Pentagramm, Sensoren und Mikrofone, und, mein Lieblings-Gerät, eine Licht-Abwehr-Orgel, eine Art leuchtenden magischen Schutzkreis, dessen Farbskala man – ensprechend der Art der Dämonen - mit Hilfe eines Keybords verändern kann (Angeblich werden laut Carnacki die meisten Dämonen von Grün und Blau abgestoßen.) Und natürlich dürfen Fotoapparate nicht fehlen... Ein Mann also auf dem höchsten Stand der damaligen Technik.
Immer wieder begibt sich Carnacki in Lebensgefahr, und die Spukerscheinungen, die ihn bedrohen, sind herrlich durchgeknallt. Da wäre ein spukender Dolch, der Leute überfällt (spukt er von allein, oder führt ihn die Hand eines Dämons?) und ein pfeifendes Zimmer (ein ganzer Raum hat sich unter dem Einfluß des Bösen im Laufe der Jahrhunderte in einen riesigen Mund verwandelt).
Wie Horror-Experte David Stuart Davies scharfsinnig feststellt, ist Hodgson immer ein Meister des Crescendos. Seine Spukerscheinungen haben zu Beginn oft etwas Lächerliches. Der Leser schmunzelt unwillkürlich, wenn er mit Carnacki zum erstenmal vom Problem der Klienten hört. Ein Zimmer, das pfeift, ein Haus, in dem nachts dauernd Türen schlagen? Also bitte! Doch mit Fortschreiten der Geschichte wird die Bedrohung immer düsterer, glaubwürdiger und bösartiger, und auch heute noch, in Zeiten, wo wir einiges an Horror in den Medien gewöhnt sind, zerren die Storys an den Nerven.
Wieviel mehr stöhnten erst die Zeitgenossen beim Lesen! Tatsächlich erreichten die Zeitschrift „The Idler“ Beschwerden von Lesern, die unter Angstattacken und Schlaflosigkeit litten. Natürlich nutzte die Zeitschrift das gnadenlos aus: Sie „warnte" nun ausdrücklich bei neuen Hodgson-Stories vor diesen Effekten. Mit Augenzwinkern:
„Unser Werbefachmann ist erst wieder nach zwei Tagen ins Bett gegangen, nachdem er die ersten Seiten des „Unsichtbaren Pferds“ gelesen hatte, ein Korrekturleser hat seine Kündigung eingereicht, und...am schlimmsten...unsere cleverste Bürohilfskraft hat...Aber dies ist nicht der Ort, um Mitleid zu erbetteln...“
Die Leseranzahl dürfte sich nach solchen geschickten Werbeaktionen vermutlich verdoppelt haben. Die Anzahl der Beschwerden auch.
III.
Drei Geschichten nahm Hodgson nicht in die Sammlung mit auf. Eine vollständige Ausgabe erschien erst 1947 im legendären amerikanischen Arkham-House-Verlag, in dem auch Lovecrafts gesammelte Werke erschienen. Liest man diese drei angefügten Stories, versteht man gut, warum sie Hodgson nicht im Kanon haben wollte.
Eine, „The Find“ ist im Grunde ein Fremdkörper. Cranacki wird zu einem Buchfälschungsfall gerufen - eine eher trockene Angelegenheit, mit cleverem Ende zwar, aber ohne jede geisterhafte Komponente.
Die andern beiden sind bemerkenswert – sie fallen jedoch völlig aus dem Rahmen. Sie sind keine guten Geschichten im Sinne des Entertainments, ja sie sind sogar ausgesprochen zäh, und doch gehören sie zu den persönlichsten des Autors.
Beiden ist eine gewisse psychodelische, ja surreale Qualität gemein. Die eine (The haunted Jarvee) spielt auf einem verfluchten Schiff. Der alte Frachter wird regelmäßig von seltsamen „Schatten“ heimgesucht, die das Schiff wie schwarze Nebel einhüllen. Diese Schatten nähern sich dem Schiff bei Sonnenuntergang und sind schon von weitem durchs Fernglas zu erkennen – von allen Seiten schweben sie – gleichsam wie Gespensterhaie – auf das Schiff zu. Einmal eingehüllt, sterben immer einige Matrosen bei Unfällen. Das Schiff wird dann von seltsamen Stürmen heimgesucht, die erst am Morgengrauen abflauen. Carnackis Versuch, das Schiff mit seinen Appaturen zu „reinigen“, scheitert, der Frachter wird schwer beschädigt, und Carnacki entkommt dem Tod nur um Haaresbreite.
Hinter der recht handlungsarmen Geschichte, die die Beschreibung der Schatten weit auswalzt, verbirgt sich Hodgsons patholgischer Meeres-Haß. Einst ähnlich wie Robert Kraft von zu Hause weggelaufen, fuhr er als Matrose zur See. Doch obwohl er vermutlich weiniger Traumatisches erlebte wie sein deutscher Schriftstellerkollege, hinterließ das bei Hodgson eine ans Groteske grenzende Abscheu vor dem Maritimen, die er immer wieder versucht hat, in unheimlichen See-Geschichten zu verarbeiten. (Vier davon wurden übrigens auch auf deutsch präsentiert: Stimme in der Nacht, suhrkamp Phantastische Bibliothek 340)
Sicher ist „The haunted jarvee“ eine literarisch beeindruckende Studie, doch entbehrt sie den Schwung und die erzählerische Kurzweiligkeit der Kanon-Geschichten.
Das gilt in noch größerem Maße für die merkwürdigste und längste Carnacki-Geschichte „The Hog“ (Das Schwein). Hodgson litt an einer Schweinephobie. Sie kommt auch in Hodgsons berühmtesten Werk zum Ausdruck, dem Horror-Roman „Das Haus an der Grenze“, in dem schweinsköpfige Dämonen einer fremden Dimension eine zentrale Rolle spielen. Wer eine Phobie besitzt und ein eloquenter Schriftsteller ist, sollte eigentlich in der Lage sein, seine Ängste so darzustellen, dass sie sich auf den Leser auch dann übertragen, wenn er nicht an ihr leidet. Ein berühmtes gelungenes Beispiel ist die Spinnenphobie von M. R. James. Auch Leuten, die Spinnen eher gelassen gegenübertreten, dürften seine stets haarigen, huschenden, dürrdrahtigen Monster, die durch seine verstörenden Stories geistern, auf die Nerven fallen.
Was Hodgson bei seiner Meeresphobie fast immer faszinierend meistert, bleibt beim Darstellen seiner Schweineängste doch immer auf der Schwelle zum Lächerlichen – zumindest in The Hog. Vielleicht liegt es am nicht ganz so klassischen Angstobjekt. Ein gigantischer außerdimenensionaler Dämon in Gestalt eines riesigen Schweinekopfes, der sich bei einer schiefgegangenen Beschwörung in Carnackis Arbeitszimmer durch ein Dimensionsloch schiebt – das ist grandios und albern zugleich. Verstärkt wird der Eindruck des Grotesken noch dadurch, dass der Mann, dem der Detektiv zu helfen versucht, ein Typ , der von Schweinealpträumen heimgesucht wird, während der Austreibung selbst anfängt wie ein Schwein zu grunzen und zu quieken.
Überschattet wird die Story durch schier endlose technische und spiritistische Ausführungen zur Bändigung von Schweinemonstern. Sehr seltsam, das alles, aber, wie kaum anders zu erwarten – H.P. Lovecraft war begeistert. Denn hier entwickelt Hodgson zum erstenmal ausführlich seine Theorie von den Alten Göttern, unendlich bösen Wesenheiten, die er „The Outer Monstrosities“ nennt, eine Idee, wenn nicht sogar DIE Idee, die bei Lovecraft auf fruchtbaren Boden fiel. Wenngleich die Alten Götter bei Lovecraft keine Schweineschnauzen haben. Gott – oder Cthuluh – segne ihn dafür.
Einzelne Geschichten der Zyklus erschienen übrigens auch in Anthologien auf deutsch. „The horse of the invisible“ etwa wurde im 2. Band der Athologie „Die Rivalen des Sherlock Holmes“ (Fischer TB, 1974), unter dem Titel „Das Geisterpferd“ abgedruckt.
[Anmerkung: bei der Planung des Artikels vor einigen Wochen gab es die klassische gelbe Ausgabe nicht bei amazon – inzwischen ist sie, wie viele andere Horror-Klassiker des Verlages Wordsworth, auch bei uns bestellbar – zu den bei diesem Verlag wirklich unschlagbaren Preisen, besonders wenn man bedenkt, wie teuer englische Bücher für gewöhnlich sind. Alle Ausgaben dieser verdienstvollen Edition mit tollen Einführungen finden sich hier: http://www.wordsworth-editions.com/collection/mystery-&-supernatural ]
Nächste Folgen:
Jaques Offenbach - Ritter Blaubart (1866) (12. Dezember)
Kommentare
Auch wenn ich das Grundgerüst der Carnacki-Geschichten sehr mag - die Club-Erzählung - finde ich sie heute eher interessant als wirklich lesenswert. Da liegen mir andere seiner Werke immer noch näher.
Die Auflösung als Fake finde ich aber heute genauso indiskutabel wie "alles war nur ein Traum". Im Zeitalter des Spiritismus war das durchaus legitim und eine Überraschung, doch heute komme ich mir als Leser davon eigentlich nur noch verarscht vor. Vielleicht liegt es ja auch an der Indoktrination moderner Genreforschung, nicht umsonst nennt man in Amerika und auch England solche Fake-Endings ja heute gern Scooby Doo-Enden. Die ganze Zeit sieht der Zuschauer diese putzigen Monster, und am Ende ist es immer ein Typ mit einer Maske und einem hirnrissigen Plan. Halt wie bei den mittlerweile paar hundert Cartoon-Folgen.
Was die Wordsworth-Ausgaben angeht, gebe ich dir 100% recht. Die sind toll und sehr preiswert. Bei welchem Verlag bekam man schon die gesammelten Geschichten von Aleister Crowley für ein paar Euro?
Ist natürlich auch eine Kostenfrage, und ein schier unglaublich günstiges Lesevergnügen sind die Bände immer noch. Sogar für "Brocken" für Rymers 'Varney' oder 'Irish Ghost Stories' habe ich nur € 3,99 bezahlt - was in etwa dem Materialwert entsprechen dürfte...
freeread.com.au/@RGLibrary/ArthurLeoZagat/Horror/LairOfTheSnakeGirl.html
Es gibt aber auch andere gute Beispiele - Hodgson etwa macht das sehr gut. Auch der Twist im Baskerville-Hund gefällt mir. Kommt vermutlich immer drauf an, wies gemacht ist
Dann fehlte nur noch der restliche (komplette) Hodgson auf der Grundlage der Night Shade Books-Ausgabe. Spätestens dann werde ich mit einer Handvoll Geld vor der Festa-Verlagstüre stehen.
Immerhin widmet sich der Verlag ja auch M. R. James.