Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 48: Arthur B. Reeve: Die stumme Kugel (1910)
Teil 48:
Arthur B. Reeve: Die stumme Kugel
(1910)
I
Seit Jahren stelle ich im RBB fast wöchentlich Neuaufnahmen mit Opern, Operetten oder Komponisten vor, die kaum einer kennt. Und ich hab mich inzwischen an die hochgezogenen Brauen gewöhnt und freue mich, dass sie mich überhaupt machen lassen.
Genauso freue ich mich, dass Horst von Allwörden mich hier vierzehntägig das spielen läßt, was Robert Bloch mal einen „literarischen Ghoul“ nannte – jemanden, der mit Vergnügen Storyleichen aus alten Archiven ausgräbt und behauptet, sie wären noch taufrisch und bedürften nur einer leichten Auffrischung durch Werbung.
Ein Rundfunk-Kollege meinte mal, man könnte all meine Präsentationen mit einem Satz zusammenfassen: Nicht bedeutend - aber schön, dass wirs überhaupt haben.
Heute weiche ich zu meiner eigenen Überraschung doch von dieser Formel ab und sage ganz offen – vergessen Sie's. Und das bei einem Thema, das sich erstmal höchst spannend anläßt.
II
Durchblättert man die Hefte des SF-Magazins „Amazing Stories“ in ihren Dämmertagen, als das (alte) Blatt schon mit einem Bein im Grab stand, nämlich in den frühen Sechzigern, stößt man schnell auf eine interessante Serie. Es handelt sich dabei um Reprints klassicher SF-Geschichten, doch die werden nicht, wie einige Jahre später, dem Leser einfach unkommentiert vor die Augen geklatscht, sondern sorgfältig ausgewählt von einem der besten Kenner der SF: Sam Moskowitz. Viel spannender als der Abdruck dieser Abenteuer sind die wundervoll kenntnisreichen Essays von Moskowitz, die diesen Reprints vorangehen.
In einem solchen Vorwort zu einer Story erwähnte Moskowitz einen Detektiv, der sofort meine Aufmerksamkeit fesselte: Craig Kennedy. Er gilt – sieh mal an, nie gehört – doch tatsächlich als amerikanischer Sherlock Holmes.
Mußte ich mir natürlich sofort besorgen.
Vieles ähnelt tatsächlich dem Set des berühmten Briten in der Bakerstreet. Auch Kennedy ist ein Alleswisser, ein deduktives Genie, auch er haust relativ zurückgezogen – in diesem Fall in New York – und auch er hat einen Sidekick a la Watson, Walter Jameson. Doch nun kommen einige Neuerungen hinzu, die erst einmal wirklich bemerkenswert klingen und es um 1910, als die ersten Geschichten in der Zeitschrift „Cosmopolitan“ erschienen (jaja, die gabs damals schon!) auch waren. Kennedy ist nämlich kein Wald - und Wiesendetektiv, sondern ein waschechter Professor der Chemie mit eigenem Labor und außerdem großartigen Kenntnissen in Sachen Psychoanalyse, Hypnose, Elektrizität, Physik, Astronomie, Medizin und so weiter. Und Jameson, der bewundernde Ich-Erzähler ist kein Mediziner (das ist Kennedy ja schon selbst), sondern ein Reporter.
Der Autor der Geschichten war Arthur B. Reeve, ein typischer New Yorker Journalist, graduiert in Princeton; Jameson ist also genau so ein Alter Ego, wie Dr. Watson das Alter Ego des Mediziners Conan Doyle war. Reeves Craig Kennedy machte den Autor landesweit berühmt. Und wirklich konnte Reeve ein Leben lang (bis 1936) vom Ruf dieser Figur zehren, die er immer und immer wieder auftreten ließ, in Stories, Romanen, Radioshows – obwohl man doch ab 1918 einen gewissen Abstieg in der Reputation bemerken kann.
Die Kennedy-Stories erscheinen dann nicht mehr in edlen Hochglanzblättern wie der Cosmopolitan, sondern in den grellen Pulps wie dem Detective Story Magazine. Sogar in der legendären düsteren Weird-Tales-Zeitschrift taucht er auf.
Obwohl Kennedy noch bis in die Dreißiger durch die Medien geistert, gehören heute nur die ersten 82 Stories zum Kanon der klassischen Detektiv-Literatur, die bis 1918 in der Cosmopolitan erschienen. (Übrigens war das damals noch eine reine Storyzeitschrift für die High Society, eine sogenannte "Slick", wie die Amerikaner solche Hochglanzblätter flapsig nannten). Und das hat nichts mit der Schnöseligkeit der Kritiker zu tun, sondern mit der typischen Anmutung dieser 82 Geschichten.
Denn Reeve hat sich dafür etwas besonderes einfallen lassen – er hat immer wieder versucht, die großen wissenschaftlichen Themen der Ära aus Fachzeitschriften aufzuschnappen und sie durch Professor Kennedy wie bei einer Freakshow dem staunenden Publikum zu präsentieren. Also trug er bald den schönen Beinamen „The scientific Detective“. Er gilt damit als Urahne der SF-Serienhelden. In jeder Geschichte zieht Craig Kennedy am Ende vor staunendem Publikum eine neue sensationelle Erfindung oder Erkenntnis aus dem Hut, mit der er den Mörder oder Dieb überführt.
Als die Serie 1910 begann, war sie sofort ein Riesenerfolg. Noch im selben Jahr brachte Reeve die ersten 12 Geschichten im Sammelband „The silent bullet“ (Die stumme Kugel) heraus. Und hier zeigt sich bei der heutigen Lektüre im Keim schon ein Dilemma des frühen „realistischen“ SF-Zweiges. Die Erzählungen werten einfach das aus, was an wissenschaftlichen Erkenntnissen in Ansätzen schon da ist, drehen die Schaube um eins, zwei Windungen weiter – und das wars. Den Zeitgenossen hat das gereicht. Heute kommt dem Leser das dann doch etwas verstaubt vor.
Damals hatten nur wenige Leser von neuen Erfindungen und Entdeckungen wie Bluttests, Lügendetektoren oder Curare-Gift gehört – auch aus wenig bekannten „unheimlichen Phänomenen“ wie spontaner Selbstverbrennung konnte man noch Kapital schlagen. (In der gleichnamigen Erzählung „Spontaneous Combustion“ wird denn auch ausgiebig aus den einschlägigen Yellow-Press-Quellen zitiert.) Was damals frappierte, hat heute kaum noch eine schockierende oder sensationelle Wirkung, von wenigen Ausnahmen abgesehen. So bleibt gleich die erste Titel-Erzählung „The silent bullet“ die bemerkenswerteste und auch eine derjenigen, die immer wieder – unter verschiedenen Titeln – in diversen Anthologien auftauchen. Sie amüsiert heute nicht deshalb so sehr, weil Reeve/Kennedy den Zuhörern und Lesern die erstaunliche Erfindung eines Schalldämpfers enthüllt, der Schüsse nahezu lautlos machen kann (echt wahr! Soll es geben!) , sondern wegen der lustigen Erfindung von Sesseln mit drucksensiblen Armlehnen, in denen alle Verdächtigen Platz genommen haben. Die Druckstärke der gepressten Armlehnen wird von einer Maschine im Nebenraum gemessen, und so kann der Täter überführt werden, weil er beim Vortrag Kennedys seine Griffel am verzweifeltsten in das Polster presst. Sehr hübsche Idee.
Aber das wars dann leider auch. Man spürt aus heutiger Sicht, wie sich schon hier, um 1910/11, die ersten Risse in der SF-Gemeinde auftun, die schließlich 1938 mit der Neugründung der beiden rivalsierdenen Magazine Amazing/Astounding Stories im offenen Bruch zwischen den Lagern münden werde. 1912 erscheint Edgar Rice Burroughs „Under the moons of mars“ - und macht endlich den Weg frei für die nicht-wissenschaftliche, fantasylastige SF. Legionen von Autoren werden Burroughs folgen, von den Hardlinern als Dissidenten verflucht. Ironischerweise ist die durchgeknallte Burroughs-Story (später auch als "Eine Mars-Prinzessin" in Buch-Form) heute wesentlich lesbarer und frischer als die etwa zur selben Zeit entstandenen Kennedy-Geschichten, grade WEIL sie nicht versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse der Zeit einzubeziehen.
Was viele der fanatischen High-SF-Kämpfer nicht bedachten: Die versuchte Anbindung an möglichst realistische Zukunfts- und Technikszenarien setzte diese Literatur (die sich immer für die gewichtigere & seriösere hielt) viel ärger den Abnutzungerscheinungen der Zeit aus als die frei strömende Phatasieliteratur des anderen Lagers, dem es schnurzegal war, wie man fliegt, schießt oder Nachrichten versendet.
Unsere märchenverliebte Phantasie läßt sich einen Drachenritt zum Mond wohl eher gefallen als einen Raketenritt zum Sirius mit einer überholten Technik, die auf dem Wissen der 1950er Jahre beruht.
III.
Aber Moment – allein die Gegenstände des Erzählers entscheiden ja noch nicht über Lesbarkeit oder Langweile. Es kommt ja auch immer auf WIE, den Gestus des Erzählens an. Ein Großteil der Faszination etwa der Heftserie "Ren Dhark" ist nicht so sehr Brandts technischen Details als seiner spannenden Erzählweise und seinen schrillen Ideen geschuldet. Und auch ein Detektiv-Professor oder Professor-Detektiv mit verrückten Apparaturen und ausgeklügelten Mörderüberführungstechniken könnte heute noch Spaß machen. Wenn man ihn denn witzig und mit schönen Details schilderte. Und genau da liegt das Problem.
Die Geschichten entbehren komplett des Charmes der britischen Vorlage. Das Schöne an Holmes ist ja, dass er überhaupt kein typischer Held ist. Er ist ein Sonderling mit zwar phantastischen Fähigkeiten, aber auch schrecklichen Schrullen, er liest öde Bücher über Tabaksorten, spielt mäßig Geige, meidet Frauen unter 30 wie der Teufel das Weihwasser und ist zuweilen ein Junkee. Außerdem deutet Doyle/Watson an, dass der Meister durchaus nicht jeden Fall gelöst hat. Kurz: Superhin mit Marotten, Grenzen und Fehlern.
Das Unsympathische an den amerikanischen Detektiven ist – wie auch hier – ihre komplette Makellosigkeit und Allwissenheit. (The Spider ist die erfrischende Ausnahme, der Arme kriegt so oft eins über die Rübe oder irrt sich so fundamental, dass es einem mitunter fast schon wieder leid tut...)
Craig Kennedy bleibt erschreckend blass. Außer seinem Fanatismus und seiner Beschlagenheit in wissenschaftlichen Dingen wird ihm keine echte Charaktereigenschaft zugebilligt. Noch unsympathischer an ihm ist, dass er sich nie groß ins Geschehen einmischt, sondern alle Fälle distanziert und akademisch deduzierend löst – zuweilen borgt er sich Agenten einer Detektivagentur, um seinen Verdächtigen festnehmen zu lassen. Er selbst macht sich nie die hände schmutzig. Wie oft dagegen haben sich Holmes und Watson selbst in Lebensgefahr begeben!
Später verzichtet Reeve aufs wissenschaftliche Beiwerk und wird etwas handfester , aber das geschieht dann zu einem Zeitpunkt, als es schon hunderte andere Serienhelden auf dem Markt gibt. Letztendlich war die wissenschaftlich/technische Seite seiner frühen Storys sein Markenzeichen – und ohne dieses Markenzeichen wurde Kennedy beliebig, verwechselbar, einer von vielen.
Obwohl eher ein schwacher Vorläufer eigentlicher SF-Literatur, wurden einige der frühen Craig-Kennedy-Geschichten auch ins Deutsche übersetzt. Sie finden sich verstreut in Anthologien, meist über Holmes-Rivalen und/oder viktoriansichen Krimi-Helden, es gibt aber auch einige schmale Erzähl-Bändchen.
Erwähnung finden sollte noch eine Kuriosität: Der einflußreichste SF-Verleger der amerikanischen Literaturgeschichte, Hugo Gernsback, war so fasziniert von Reeves frühen Geschichten und seinem Einfall, SF mit dem Krimi zu verbinden, dass er auf die Idee kam, ein spezielles Magazin mit SF-Krimi-Stories zu gründen. „Amazing Detective Tales“ erschien erstmals im Januar 1930 und war ein wichtiges Comeback der frühen Craig-Kennedy-Stories, die hier z.T. wieder aufgelegt wurden. Das Magazin war wenig erfolgreich und ging bereits 1931 nach 15 Ausgaben ein. Die Ausgaben sind heute sehr gesucht und komplett äußerst schwer zu finden.
Auch der deutsche Pabel-Verlag griff die Idee der SF-Krimis in den 1950er Jahren noch einmal auf und brachte seine Heft-Reihe „Utopia Kriminal“ heraus – auch das eine recht kurzlebige Angelegenheit. Craig Kennedy war nicht unter den ausgewählten SF-Krimis. Vielleicht muß man sagen: Glücklicherweise. Obwohl Reeve dieses Misch-Genre erfand – immerhin das bleibt sein Verdienst.
Herbert Benson: Raumpatrouille E6 kriegt ihren Mann (1938) (20. Februar) H. G. Wells – Der Krieg der Welten (1898) (6. März)
Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray (1890) (20. März)
Arthur William Bernal: Vampires on the moon (1934) (3. April)
Shadows, Spiders & Avengers: Hero-Pulps! Eine Übersicht 1931-49 (17. April)
Kommentare
Wissenschaftliche Neuerungen als Teil populärer Kultur, das ist immer wieder faszinierend zu lesen. Obwohl das heute ja noch immer so ist. Man denke an DNS-Tests. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass viele Leser von Dracula die geschilderte Bluttransfusion als Spinnerei abtaten.
ja, die Hard -SF, auch im Krimi-Milieu hat es dann schwer, unsterblich zu bleiben, wenn sie sich zu sehr an bereits existierenden, technischen Begriffen festhält...das kann dann schnell retro werden...altbacken und/oder langweilig...
OT: die RBB-Kolumne erinnert mich an Renee Zucker, die auch immer im Radio (welcher Sender weiß ich jetzt nicht) Bücher bespricht, die sonst keiner zu lesen schien/scheint...