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Frühjahrsputz: Retcons in Comics

Frühjahrsputz: Retcons in Comics

In regelmäßigen Abständen befreien sich Superhelden vom dramaturgischen Ballast der vergangenen Jahre, um neuen Lesern einen Einstieg zu ermöglichen und neuen Autoren eine modernere Version eines Helden erzählen zu lassen. Langzeitleser sollen weiterhin an die Serien gebunden sein und daher werden mit Handlungskniffs, den sogenannten Retcons, die Serienhandlung auf ihre Ursprünge zurückgesetzt.

Einige der bekanntesten Superhelden bestehen seit mehreren Jahrzehnten ihre Abenteuer in ihren Comicserien. Berühmte Ikonen, wie Batman oder Superman, erreichen im nächsten Jahrzehnt sogar ihr 100-jähriges Bestehen.

Schon früh begannen die ersten Generationen an Autoren den Serien ihrer Helden eine innere Kontinuität zu verleihen. Zu Beginn erleben die kostümierten Protagonisten noch Einzelabenteuer, die in der Regel mit einem Sieg über die Bösewichter enden. Crossover mit anderen Serien bilden die Ausnahme und die Mega-Crossover, die sich über ein komplettes Comicuniversum erstrecken, sind noch in weiter Ferne. Aber bereits in diesen frühen Ausgaben beginnt sich eine Serienkontinuität zu entwickeln. Einige der Schurken werden bei den Lesern populär und so treten sie in regelmäßigen Abständen gegen die Helden an. Oftmals wird Bezug auf die Ereignisse vergangener Ausgaben genommen und der Autor ist gezwungen, dem Handlungsverlauf eine innere Logik zu geben. Widersprüche werden von den Lesern gnadenlos aufgedeckt, die die Storys und die Charaktere so manches Mal besser kennen als die Autoren selbst, die nur einen begrenzten Zeitraum für eine Serie tätig sind.

Der Grad der Komplexität erreicht bei einigen Figuren ein ungeahntes Ausmaß. Die Leser wollen nicht nur sehen, wie der Schurke die nächste Bank überfällt und vom Helden daran gehindert wird. Sie wollen eine Entwicklung der Charaktere sehen und eine Handlung lesen, die einer inneren Logik folgt und auf vergangenen Ereignissen aufbaut. Stan Lee sagte einmal, dass es vergleichsweise einfach sei, einen Superhelden zu entwickeln. Sehr viel schwieriger sei die Erschaffung eines guten Schurken. Der Held kann nur glänzen, wenn er gegen einen vielschichtigen und faszinierenden Schurken bestehen kann; und dazu benötigt er eine weitschweifige Hintergrundgeschichte mit einem ausgefeilten Origin.
Origins sind Geschichten, in denen der Held oder der Schurke in einer Herkunftsgeschichte an ihre Kräfte gelangen.

Batman verfügt über die wahrscheinlich legendärste Gegnerschaft, die im Superheldenbereich zu finden sind. Der Joker oder der Pinguin dürften wohl auch Personen bekannt sein, die mit Comics wenig zu tun haben. Die Charakterprofile werden von den Autoren über die Jahre hinweg immer weiter ausgebaut und erreichen ein hohes Maß an Komplexität. Um einige Charaktere wird ein Kosmos an Nebenfiguren aufgebaut, der bei einigen Lesern sogar mehr Interesse hervorruft, als die Aktivitäten des maskierten Superhelden selbst. In den 70er Jahren lag das Interesse der Leser eher daran, was im privaten Leben von Peter Parker geschieht, als am nächsten Kampf von Spider-Man mit dem grünen Kobold. So enthalten nicht wenige Superhelden einen ordentlichen Anteil Soap Opera, der das Beziehungsgeflecht der Charaktere immer weiter miteinander verstrickt.

Zur Entflechtung dieser Beziehungsgefüge setzen die Verlage Retcons ein. Retcons sind Eingriffe in die laufende Handlung, um zurückliegenden Ereignissen eine andere Bedeutung zu geben oder sie sogar ganz zu löschen. Die meisten Retcons setzen nicht gleich die komplette Serienkontinuität außer Kraft. Sie stützen sich auf einen Teilbereich der Handlung und deuten gegenwärtige Ereignisse um. So kann es geschehen, dass ein bis dahin unbekanntes Familienmitglied in die Handlung eingewoben wird, um vergangene Ereignisse in einem anderen Licht dastehen zu lassen. In den Jahren 1987 – 1992 erschien die „Dämon-Trilogie, in deren Verlauf Batman eine Liaison mit Talia, der Tochter seines Gegners Ra`s al Ghul, beginnt. Im Jahr 2007 greift Erfolgsautor Grant Morrison die Ereignisse auf und führt Damian in die Serie ein. Der Junge ist der Sohn von Batman und Talia, der während der Ereignisse der Dämon-Trilogie gezeugt wurde. Mit diesem Retcon setzt Morrison die Dämon-Trilogie nicht außer Kraft, sondern erweitert sie Jahre später um eine weitere Komponente, um die Geschichte um Batman und Talia weiter erzählen zu können.

Mit jedem Autorenwechsel nimmt die Fülle an Informationen durch die eingestreuten Retcons zu. Prequelserien und Oneshots erzählen außerdem Ereignisse aus den Anfangsjahren, oder zurückliegende Ereignisse einer Figur, und erweitern das Charakterprofil der handelnden Akteure um weitere Nuancen. Irgendwann erreichen Serien ein Ausmaß an Komplexität, das die Autoren und selbst eingefleischte Fans nicht mehr überblicken können. Wer den Verlauf der Beziehung zwischen Peter Parker und Norman Osborn der letzten Jahrzehnte widerspruchsfrei referieren kann, hat wahrlich einen Orden verdient; und wahrscheinlich ist das gar nicht möglich. Die Autoren und Herausgeber gelangen an einen Punkt, an dem sie das Durcheinander nur noch durch einen großen Knall beenden können. Der Held stirbt, es kommt zu Dimensionsverschiebungen oder Planeten werden hin und her gerückt. Mancher Retcon wirkt wie an den Haaren herbeigezogen und Leser und Autoren wischen mit zugedrückten Augen durch die Seiten, um das Greul hinter sich zu bringen. In den 2000er Jahren bringt Autor Kevin Smith den einige Zeit zuvor verschiedenen Green Arrow in der Storyline „Quiver„ zurück. Green Arrow war in einer Explosion verstorben und wurde durch diese pulverisiert. Die Asche des grünen Bogenschützen überdauert in Supermans Kostüm und aus dieser kann der Held nun wiederbelebt werden. Im Fandom entstehen lustige Diskussionen um Supermans persönlicher Hygiene. Die Asche überdauerte zwei Jahre in seinem Kostüm und anscheinend wird er es in dieser Zeit nicht gereinigt haben. Hanebüchene Retcons wie diese, lassen die Charaktere in ihrer Kontinuität mit den Jahren immer unglaubwürdiger werden und so manch Leser verliert das Interesse an seiner alten Lieblingsserie.

Alle Superhelden bewegen sich nicht nur in ihren Serien, sondern im Kosmos des jeweiligen Verlages. Daher kommt es bei den eingestreuten Retcons nicht selten zu Widersprüchen, wenn die Helden Gastauftritte absolvieren oder in Crossovern aufeinandertreffen. Die Charaktere von DC Comics haben in den 80er Jahren ein derart komplexes Geschehen erreicht, dass die Widersprüche nicht mehr übersehbar, geschweige denn erklärbar sind. Viele Retcons und die Verflechtungen mit unterschiedlichen Dimensionen, in denen auf Earth 1, Earth 2 usw. unterschiedliche Ausprägungen der Charaktere aufeinandertreffen, führen zu einem einzigartigen Wirrwarr. DC wagt den Schritt und verpasst nicht nur einer einzigen Serie einen Retcon, sondern gleich dem ganzen DC Universe. 1986 erscheint die Maxiserie „Crisis on infinite Earth“, die sich über sämtliche DC-Serien hinweg zieht und das komplette DCU in einen Kanon setzt. Bei vielen Fans entsteht Verärgerung, dass die alten Geschichten ihrer Lieblingshelden ungültig sind und natürlich sind auch nicht alle Widersprüche aufgelöst.
In der Folgezeit entstehen wieder Beziehungsgeflechte, die wiederum durch neue Retcons erweitert oder außer Kraft gesetzt werden. Diese großen Veränderungen sind kein Alleinstellungsmerkmal von DC Comics. Der große Konkurrent Marvel geht auf ähnlicher Weise vor und verpasst seinen Helden regelmäßige Frischzellenkuren. In den folgenden Jahren erscheinen bei allen großen Verlagen, in immer kürzeren Abständen Mega-Crossover, die die Serienkontinuitäten immer wieder auf null setzen. Helden sterben und kommen wieder zurück.

Die Comicverlage haben es in den 2000ern geschafft, ihre Universen in die Kinos zu transportieren. Mit Avengers 4 hat Comicgigant Marvel seinen vorläufigen Zenit erreicht. Thanos hat Dimensionen verschoben und am Ende des Films sind einige Helden tot oder haben ihre Heldenrollen abgegeben. Damit folgen sie der Analogie von Comicserien. In den nächsten Kinofilmen und Serien auf Disney+ erleben nun unbekanntere Helden aus der zweiten und dritten Reihe ihre Abenteuer und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis der Zuschauer nach den alten, klassischen Helden verlangt.

DC haben mit Regisseur Zack Snyder versucht, eine ernsthafte Version von Superhelden in die Kinos zu bringen, was beim Zuschauer nicht das erhoffte Interesse hervorruft. Dem letzten Flash-Film liegt die Storyline „Flashpoint“ zugrunde, in der der Rote Blitz an der Zeit herummanipuliert und im Comic die Serienkontinuität wieder auf null setzt. Es ist zu vermuten, dass das DC-Filmuniversum nun den gleichen Weg geht. Aber auch das Marvel Cinematic Universe ist in dieser Richtung nicht untätig. In den aktuellen Filmen und Serien wird das Mehrdimensionenkonzept eingeführt, dass sogar lange zurückliegende Filme in das Kinouniversum einbindet. Im letzten Spider-Man-Film, ließen sich Spinnen aus drei Filmreihen beobachten. Es scheint ebenfalls nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Zuschauer die Übersicht über die Filme verliert und in einem Mega-Crossover alles auf null gesetzt wird. Dann wird der Zuschauer wieder einen Captain America und einen Iron Man erleben und ihre Abenteuer werden für eine neue Generation von vorn erzählt.

Ein Retcon ist ein Anzeichen für eine Tatsache: Die Geschichte des Helden ist für die gegenwärtige Generation auserzählt. Die Autoren wissen nicht mehr, was sie mit der Figur anstellen sollen. Viele Leser und Zuschauer reagieren mit Verärgerung über diese Entwicklungen und wenden sich ab. Allerdings liegt darin auch die Chance, dass der Charakter als Produkt überlebt. Die regelmäßigen Frischzellenkuren ermöglichen eine Angleichung eines Helden an moderne Lesens- oder Sehgewohnheiten. Einige Serienfiguren erreichen in der nächsten Zeit ein Alter im dreistelligen Bereich und haben in der Zeit ihres Bestehens einiges an Änderungen und Anpassungen erfahren müssen. Darin liegt wahrscheinlich auch der Schlüssel, dass jede Generation mit diesen Figuren aufwächst. Marvel und DC haben das Unglaubliche geschafft, was nur wenigen Unternehmen gelingt. Sie konnten ihre Produkte in ein anderes Medium hieven und so deren Fortbestand sichern. Fast 100 Jahre konnten die Charaktere auf dieser Weise bisher in Printprodukten überleben. Vielleicht gelingt im Kino und auf den Streamingkanälen ähnliches.

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