Kurt Luifs Werkausgabe - 1. Teil - Menschheit in Ketten
Menschheit in Ketten
Ich lag in der Dunkelheit meines Wohnwagens und starrte zur Decke. Ich lauschte den Geräuschen, die um mich waren, hörte das heisere Gebrüll der durch den Lärm der Menge nervös gewordenen Tiere, vernahm die fluchenden Stimmen der Arbeiter.
Langsam entspannte ich mich.
Vor meinem Auftritt mußte ich mich immer konzentrieren. Eine falsche Bewegung, und mein Leben wäre bedroht, ein Augenblick der Unachtsamkeit, und die Bestien würden sich auf mich stürzen.
Ich tastete nach den Zigaretten auf meinem Nachtkästchen, fand die Packung und fischte mir einen der überlangen Glimmstengel hervor. Ich richtete mich halb auf, als ich die Streichhölzer nicht gleich fand. In der Dunkelheit des Raumes sah ich auf der Nachtkästchenplatte einen Zettel liegen, der sich weiß aus der Schwärze hervorhob. Die Zigarette warf ich achtlos auf das Bett und setzte mich auf. Dann drehte ich das Licht an.
Der Zettel hatte vorher nicht dagelegen. Und es war auch niemand in meinen Wagen gekommen.
Ich hielt den Zettel zwischen den Fingern, zuckte die Achseln und begann zu lesen:
„Bryce Bennett! Es droht Ihnen Gefahr. Nehmen Sie eine Waffe bei Ihrem Auftritt mit! Beachten Sie die Warnung! Es ist kein schlechter Scherz! Sie sind in großer Gefahr!“
Der Zettel war auf der Rückseite leer. Gedankenversunken griff ich nach der Zigarette und zündete sie an.
Es war mir unerklärlich, wie der Zettel hergekommen war.
Ich hatte gute Lust, meinen Auftritt heute abzusagen. Es war nicht das erste Mal, daß ich so eine Warnung bekommen hatte.
Vor einer Woche trat ein mir vollkommen unbekannter Mann auf mich zu und sagte, ich solle am Donnerstag um 15 Uhr nicht in das Haus Nummer in der Half Street gehen. Ich hatte ursprünglich die Absicht gehabt, dorthin zu gehen. Es war gut, daß ich nicht hinging, da das Haus zum vorausgesagten Zeitpunkt einstürzte.
Ich blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zu meinem Auftritt. Aus dem Zelt kam schallendes Gelächter, vermischt mit dem Geräusch von aneinanderschlagenden Metallgittern. Sie richteten die Laufkäfige für meinen Auftritt her.
Ich schlüpfte in eine rotschillernde hautenge Hose und schnallte mir meinen breiten dunkelbraunen Ledergürtel um. Dann zog ich mir kniehohe schwarze Stiefel an.
Meine schulterlangen Haare band ich mir im Nacken mit einem schmalen roten Band zusammen. Danach rieb ich meinen Oberkörper mit Fett ein und legte mir eine schwere goldene Halskette um.
Aus dem Waffenschrank wählte ich nach kurzem Überlegen einen schmalen Dolch aus. Ich steckte ihn in den Schaft meines rechten Stiefels. Außerdem nahm ich die Elektropeitsche und einen goldschillernden Dreizack.
Und wieder verfluchte ich die Herrschaft der blauhäutigen Sirianer und die Verordnung, die Erdenbürger das Tragen von Nadelpistolen oder Blastern verbot. Die Waffen, die ich bei mir hatte, boten nur einen höchst unzureichenden Schutz gegen die Bestien, denen ich in wenigen Minuten gegenübertreten würde.
Noch einmal las ich den Zettel.
Ich hatte gar kein gutes Gefühl. Nicht, daß ich sehr ängstlich wäre, aber die schlecht verheilten Narben auf meiner Brust zeugten von Schlägen der Bestien.
Das rote Licht über meinem Bett leuchtete auf. Es war das Zeichen für meinen Auftritt.
Die Laufkäfige, die von den Wagen der Tiere zur Manege führten, standen. Der gehörnte Säbeltiger mit dem furchterregenden Schädel, lief, unruhig wie immer, in seinem Käfig herum. Er drehte sich mir zu, richtete sich schauderhaft knurrend auf und schlug mit seinen riesigen Tatzen gegen die Käfigstangen.
Er ist zu unruhig, dachte ich. Bald muß ich ihn weggeben. Er ist zu gefährlich.
„Hast du Angst, Bryce?“ fragte mich der gnomenhafte Whity und starrte den Dreispitz an.
Ich zuckte die Achseln.
„Heute habe ich kein gutes Gefühl.“
„Sag doch einfach deine Nummer ab.“
„Daran hatte ich auch schon gedacht. Aber heute ist der sirianitche Gesandte da. Ich muß die Schau auf jeden Fall abziehen.“
Er grinste mir zu und streckte mir die Hand entgegen. Den Mittelfinger hatte er über den Zeigefinger gekreuzt. Ich gab das Zeichen zurück.
Die Clowns kamen aus der Manege, und die Arbeiter richteten den Käfig auf. Es war ein sehr stabiler Käfig. Die Stäbe ragten über vier Meter in die Höhe, und von der Kuppel des Zeltes hing ein schweres Eisennetz. Sie befestigten es an den Gitterstäben.
Ich zündete mir noch eine Zigarette an. Die Arbeiter waren fertig, der Käfig stand. Langsam verloschen die Lichter im Zelt.
Das heisere Gemurmel der Menge schlug mir entgegen. Ich versuchte, meine Unruhe abzuschütteln, doch es gelang mir nicht. Mit jeder Minute wurde ich unruhiger.
„Vergiß nicht, dich vor der Loge zu verbeugen“, raunte mir Douglas Disch, der Zirkusdirektor, zu.
„Ich vergesse es nicht.“
Leise Musik klang auf. Ich schlug den Vorhang zurück und trat in die Manege. Rotes Licht fiel auf mich. Donnernder Applaus brandete mir entgegen. Ich verbeugte mich kurz und schritt die Manege entlang, bis ich zur Loge kam. Dort blieb ich stehen und verbeugte mich wieder. Das Licht eines matten blauen Scheinwerfers fiel auf den Botschafter. Er saß in einer weißen Galauniform da, umgeben von seinem Gefolge, und nickte mir reichlich blasiert zu.
Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, den Dreizack in seine Richtung zuschleudern. Ich verwarf aber diesen unsinnigen Gedanken sofort.
Ein Arbeiter öffnete den Käfig, und ich trat in die Manege ein. Der gelbe Sand knirschte unter meinen Füßen. Ich rammte den Dreispitz in den Boden und blickte mich um.
Die Wippe, die Setzstücke, das Piedestal, die Springreifen, alles lag oder stand an seinem gewohnten Platz. Alles schien so, wie es hunderte Male vorher gewesen war.
„Euer Wohlgeboren, edle Damen und Herren, Terraner und Terranerinnen, die Zirkusdirektion ersucht Sie, bei der folgenden Darbietung um absolute Ruhe. Die nun folgenden Tiere sind die gefährlichsten Bestien des bekannten Universums. Ich darf Sie nochmals bitten, absolute Ruhe zu bewahren, sonst gefährden Sie das Leben von Mr. Bennett.“
Wie oft hatte ich diese Worte schon gehört? Zu oft. Meine Nervosität wuchs. Der Laufgang öffnete sich, und ein bösartiges Knurren zeigte an, daß sich der Säbeltiger näherte. Das Knurren wurde immer lauter; ich konnte die Spannung des Publikums beinahe körperlich spüren. Mein Oberkörper glänzte vom Fett und vorn Schweiß.
Ein dunkelroter, dreieckiger Schädel mit fürchterlichen Zähnen kam in den hellblauen Kegel des Scheinwerfers. Der Säbeltiger riß sein gewaltiges Maul auf und schritt knurrend in die Manege. Er blieb einen Augenblick stehen und erhob sich auf seine gewaltigen Hinterpranken. Er schlug mit einer seiner roten Tatzen in meine Richtung. Ich holte mit der Peitsche zum Schlag aus, und er wich fauchend zurück. Mit gesenktem Schädel schlich er schnaubend zu seinem Setzstück, schnüffelte kurz daran, um sich mit einer trägen Bewegung hinaufzubegeben. Er ließ sich auf seine Hinterbeine nieder und knurrte mir drohend zu.
Als nächstes kam der schwarze Panther. Er war noch das harmloseste der vier Tiere. Er zog seine Lefzen zurück, als er mich sah, brummte unwillig und sprang mit einem eleganten Satz auf das hohe Piedestal. Er mußte sich festkrallen, sonst wäre er heruntergefallen. Der Säbeltiger traf Anstalten, von seinem Setzstück herunterzugleiten und sich dem Panther zu nähern. Ein Schlag mit der elektrischen Peitsche ließ ihn aber auf seinem Platz verharren.
Die Menge scharrte unruhig auf ihren Sitzen herum. Und immer reagiert das Publikum gleich.
Der Panther duckte sich, als wolle er jeden Augenblick den Säbeltiger anspringen. Ich schlug mit der Peitsche gegen sein Piedestal, und nun fauchte er mich an.
Der zweiköpfige Löwe trat in die Manege. Er schritt bedächtig einher, als sei er von sich und seiner Wirkung. überzeugt. Die beiden Köpfe drehten sich in meine Richtung. Die Gelassenheit des Tieres täuschte mich nicht einen Augenblick. Der Löwe war eines der heimtückischsten Ungeheuer. Kaum drehte man ihm den Rücken zu, versuchte er, einen anzuspringen. Ich verstärkte die Stromzufuhr in meiner Peitsche und schlug leicht gegen die Flanke des Untiers. Mit einem erschreckten Fauchen sprang er auf seinen Platz und knurrte die übrigen Tiere an. Dann begann er, sich gemütlich die getroffene Stelle zu schlecken.
Ein Entsetzensschrei klang durch das Publikum, als der arkturische Zwergdrache auftauchte. Seine blaugrün schillernde Schuppenhaut glänzte im Scheinwerferlicht. Die vier schmalen Beine konnten kaum die Last seines Körpers tragen. Er spreizte sofort seine Flügel und flog auf den Pfahl, der sich vier Meter über dem Boden befand. Sein abstoßend, häßlicher dreieckiger Schlangenkopf mit der gespaltenen Zunge zuckte hin und her. Er saß mit allen Beinen festgekrallt und schlug mit seinen breiten, halb durchsichtigen Flügeln aufgeregt um sich.
Ich schaltete die Stromzufuhr meiner Peitsche aus und ließ die dünne Schnur durch die Luft schnalzen. Der Panther sprang von einem Piedestal zum anderen.
Ich ging den Rundkäfig entlang und veranlaßte den Säbeltiger, von seinem Setzstück herunterzuspringen. Bösartig fauchend schritt er in die Mitte der Manege. Dabei drehte er den Kopf in meine Richtung und musterte mich heimtückisch. Er legte sich nieder. Ich forderte durch einige heftige Schläge den zweiköpfigen Löwen auf, auch von seinem Podium zu gleiten und sich neben den Tiger zu legen. Die beiden richteten sich halb auf, und ich konnte sie nur mit großer Anstrengung zurückhalten, sich gegenseitig zu zerfleischen.
Der Panther kam ohne besondere Aufforderung. Er war das gutmütigste und am leichtesten zu dressierende Tier.
Anschließend bemühte ich mich, den Zwergdrachen von seinem luftigen Platz herunterzubringen. Doch das Untier hatte nicht die geringste Lust zu kommen.
Plötzlich stürzte sich der Säbeltiger mit lautem Gebrüll auf den Löwen. Ich wich zum Gitter zurück.
Der angekündigte Vorfall war eingetreten.
Und nun stand ich da, hatte nur meine armseligen Waffen bei mir, und in der Manege war der Teufel los.
Im Rücken des Tigers steckte ein langer Pfeil, der sich ziemlich tief in das Fleisch des Tieres eingegraben hatte.
Sand wurde in die Höhe geschleudert, die Tiere brüllten heiser auf. Es war ein Chaos, die Ungeheuer gebärdeten sich wie verrückt.
Lautes Geschrei klang aus dem Publikum.
Aus den Wunden des Tigers floß Blut und vermengte sich mit dem Sand der Manege. Er richtete sich auf und versetzte mit seinen gewaltigen Tatzen dem Löwen schwerste Verletzungen.
Der Panther wurde durch den Blutgeruch aufgepeitscht und stürzte sich ebenfalls auf den Säbeltiger.
Die drei Tiere bildeten einen brüllenden, wüst um sich herumschlagenden Haufen.
Mir war der Weg zum Ausgang durch die kämpfenden Tiere versperrt.
Nun griff auch der Zwergdrache in den Kampf ein. Er krallte seine Beine in den Rücken des Löwen und verbiß sich...
Sand wurde mir ins Gesicht geschleudert, und er verklebte meine Augen. Ich sah kaum etwas.
Der Löwe schüttelte den Drachen ab. Er richtete sich auf und erblickte mich. Ich drückte mich enger gegen die Gitterstäbe und versuchte, mir den Sand aus den Augen zu reiben.
Rasch riß ich den Dreizack aus dem Boden. Die Peitsche warf ich achtlos fort.
Der Löwe sprang auf mich zu.
Ich stützte den Dreizack mit dem Ende des Stiels auf den Boden und stemmte mich dagegen. Der Löwe sprang genau in die drei Zacken. Mit einem lauten Brüllen sank er zu Boden.
Das Zirkuszelt erstrahlte in vollster Beleuchtung. Anfangs hatte das Zirkuspersonal versucht, die Tiere durch eine intensive Bestrahlung mit den Scheinwerfern zurückzudrängen. Doch es war vergebens gewesen.
Der Löwe war tot, und der Panther lag nicht weit von meinem Standort, auch tot.
Ich stand da, vollkommen unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Jeden Abend war ich mit diesen Tieren aufgetreten. Immer war es gutgegangen, aber heute...
Ich drehte mich dem Publikum zu und sah in entsetzte Gesichter. Der sirianische Gesandte hatte sich interessiert vorgebeugt und betrachtete meinen Kampf mit den Tieren gespannt.
„Holt einen Polizisten“, schrie ich der Menge zu.
Ich schien auf taube Ohren zu stoßen.
Der Lärm war so groß, daß sie mich nicht verstehen konnten. Verängstigte Menschen sprangen von ihren Sitzen auf und versuchten, das Zirkuszelt zu verlassen.
Ich glitt die Gitterstäbe entlang, immer darauf bedacht, nicht in den wütenden Kampf zwischen dem Säbeltiger und dem Drachen verwickelt zu werden. Ich mußte versuchen, vor Ende des Kampfes das rettende Freie zu erreichen, sonst würde sich wahrscheinlich der Überlebende auf mich werfen.
Ich schwitzte. Meine Haare waren verklebt, und der Schweiß rann mir in Strömen über den Körper.
Der Säbeltiger hatte sich mit seinen gewaltigen Zähnen in einen Flügel des Zwergdrachens verbissen. Der Drache versuchte vergeblich, sich zu befreien.
Dreißig Meter trennten mich bis zum rettenden Ausgang. In der linken Hand hielt ich den Dreizack und in der rechten den schmalen Dolch.
Mit einem gewaltigen Schlag zerschmetterte der Tiger den Schädel des Drachens.
Ich war noch fünf Meter vom rettenden Ausgang entfernt.
Die Flügel des Drachens zuckten noch ein wenig, dann blieb er leblos liegen.
Plötzlich erblickte mich der Tiger.
Mit einem unwilligen Brummen ließ er vom Drachen ab und richtete sich auf.
Meine letzte Chance hatte ich vertan.
Ich mußte mich zum Kampf stellen.
Der Tiger blutete aus unzähligen Wunden. Langsam duckte er sich, und seine Augen funkelten mich böse an. Dann stieß er den Kopf in die Höhe, und bedächtig setzte er sich in meine Richtung in Bewegung.
Warum kommt denn nicht endlich ein Polizist, dachte ich.
Der Lärm um mich herum versank.
Mein Körper spannte sich an. Ich stand mit weitgespreizten Beinen da, den Oberkörper leicht vorgebeugt.
Die rotunterlaufenen Augen des Tigers starrten mich an. Sein gewaltiger Schwanz peitschte den Boden. Sandfontänen stiegen auf. Er duckte sich wieder und setzte zum Sprung an.
Dann sprang er.
Mit einem gewaltigen Satz brachte ich mich aus der Reichweite seiner Tatzen. Ich warf den Dreizack nach ihm. Er bohrte sich tief in den schillernden Körper des Untiers. Mit einem gereizten Knurren drehte er sich um.
Sein eigener Blutgeruch verwirrte ihn. Der Schmerz peitschte ihn zu hemmungsloser Raserei auf. Er schüttelte den gewaltigen Körper, doch der Dreizack hatte sich zu tief in seinen Leib gebohrt.
Seine Bewegungen wurden langsamer. Die vorangegangenen Kämpfe hatten ihn sichtlich geschwächt. Aber seine Kampfeswut war nicht gebrochen.
Er sprang wieder, und ich wich aus. Dabei stolperte ich über eine Laufkugel und fiel zu Boden. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch es gelang mir nicht.
Das ist das Ende, dachte ich.
Der Tiger kam langsam auf mich zu. Wie eine Katze glitt er dahin.
Den Dolch hielt ich an der Spitze und wartete auf den günstigsten Augenblick.
Jetzt wurde mir die Stille bewußt, die im Zelt herrschte. Nur das heisere Schnauben des Tieres war zu. vernehmen.
Der Tiger riß das Maul weit auf. Ich warf den Dolch mit aller Kraft in den Rachen des Tieres. Es war ein guter Wurf. Mit einem Röcheln brach der Tiger zusammen.
Einige Sekunden blieb ich liegen. Dann wischte ich mir den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Zitternd vor Anspannung, richtete ich mich auf und blickte auf die Verwüstung in der Manege. Die vier Tiere lagen verendet im Sand, neben ihnen die zerbrochenen und umgestoßenen Setzstücke, die Wippen und die Reifen.
Müde und erschüttert strebte ich mit kleinen Schritten dem Ausgang zu.
Jetzt wurde mir wieder das laute Gebrüll der Zuschauer bewußt. Ich hakte die Käfigtür auf und trat auf die Bande.
Der Direktor stürzte mit schreckensbleichem Gesicht auf mich zu.
„Gott sei Dank, dir ist nichts geschehen!“
Ich blickte ihn böse an.
„Wo waren die Polizisten?“ fragte ich Douglas.
Schweiß glänzte auf seinem feisten Gesicht. Er gab mir keine Antwort. Ich wandte den Kopf zur Ehrenloge. Dort saß er. Der Gesandte des Sirius. Sein kugelrunder kahler Schädel mit den hervorstehenden Stielaugen blickte in meine Richtung. Er konnte seine Befriedigung über das erlebte Schauspiel nur sehr schwer verbergen. Er ließ sich sogar herbei, mir jovial zuzuwinken, und zähneknirschend mußte ich mich verbeugen. Der Haß schlug über mir wie eine rote Woge zusammen.
„Wo waren die Polizisten?“ schrie ich den Direktor an und packte ihn beim Hemdkragen. Ich schüttelte ihn gründlich durch und blickte in seine angstvoll geweiteten Augen.
„So antworte doch endlich, wo waren die Polizisten?“
„Befehl vom Gesandten“, keuchte er. „Laß mich los.“
Ich stieß ihn gegen das Gitter, und er fiel zu Boden.
„Befehl vom Gesandten“, schrie ich und ging auf die Loge zu. Zwei kräftige Arbeiter packten mich bei den Armen.
„Es hat keinen Sinn, Bryce.“
Ich versuchte, mich loszureißen, doch sie hielten mich fest.
„Laßt mich los. Loslassen!“ brüllte ich.
Ich rang verbissen mit ihnen, aber es gelang mir nicht, mich zu befreien. Einem versetzte ich einen Tritt, doch er ließ deshalb auch nicht los. Dann kam ein dritter Arbeiter hinzu. Plötzlich bekam ich einen Schlag gegen das Kinn und wurde bewußtlos.
+ + +
Ich erwachte in meinem Wohnwagen. Langsam richtete ich mich auf, fuhr mit der Hand über mein schmerzendes Kinn.
Der Direktor saß neben meinem Bett.
„Gehe nicht gleich wieder auf mich los. Laß mich erst einmal sprechen.“
Ich lehnte mich zurück und musterte den kleinen, dicken Mann eingehend. Seine Hände zitterten. Sein breites Gesicht war schweißbedeckt, und die kleinen schwarzen Augen blickten gehetzt.
„Rede“, knurrte ich. Mein Kinn schmerzte, und eine nie gefühlte Müdigkeit durchzog meinen Körper.
Er begann zu sprechen, und seine Worte schienen aus unendlicher Ferne zu mir zu dringen. Es dauerte einige Zeit, bis ich meine Schwäche abschütteln konnte.
„... einer aus der Gefolgschaft des Gesandten schoß mit einem Blasrohr einen Pfeil auf den Säbeltiger ab. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber einer der Arbeiter. Als der Tumult im Käfig ausbrach, gab ich sofort Alarm. Zwei Polizisten rannten herbei. Doch einer der Gefolgsleute des Gesandten befahl ihnen, nicht einzugreifen. Ich war machtlos. Wir dürfen ja keine Nadelstrahler führen. Wir sind eine unterdrückte, gedemütigte Rasse, wir sind vollkommen macht...“
„Ja, ich weiß es“, unterbrach ich ihn. „Es ist mir seit meiner Geburt ständig gesagt worden. Wir sind eine besiegte Rasse. Geknechtet und ohne Rechte.“
Ich schwieg und schloß die Augen.
„Ich konnte nichts dagegen unternehmen“, beschwörte mich Douglas Disch. „Sie wollten ihren Spaß haben. Was zählt denen schon ein Menschenleben? Gar nichts.“
„Ach, hör doch endlich auf mit dem Gejammer“, fuhr ich ihn an.
Langsam öffnete ich meine Augen und blickte ihn an.
„Es ist geschehen, und es hat keinen Sinn, darüber wie ein altes Waschweib zu schluchzen. Aber dafür werden sie noch einmal bezahlen. Sie werden die Rechnung präsentiert bekommen. Ich bedaure es nur, daß ihr mich zurückgehalten habt.“
„Aber es war doch die einzige Möglichkeit. Sie hätten dich wie einen tollen Hund niedergeschossen. Du wärst vollkommen sinnlos gestorben.“
Er hatte recht, und ich wußte es auch. Aber ich war schon immer ein leicht aufbrausender Mensch gewesen. Und in diesem Fall war es auch nur zu verständlich, daß mir die Nerven durchgingen.
Träge erhob ich mich.
„Ist die Vorstellung noch weitergegangen?“ fragte ich Douglas.
„Nein, wir haben sie abgebrochen.“
„War auch besser. Und der Gesandte - ist auch er gegangen?“
„Ja. Er und sein Gefolge hatten sich prächtig unterhalten.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte ich grimmig. Auf meine Kosten. Aber einmal wird der Tag kommen...“
Mir fiel die Warnung ein, doch der Zettel war nirgends zu sehen.
„Hast du auf meinem Nachtkästchen ein Blatt Papier gesehen?“
„Nein.“
Ohne die Warnung wäre ich sicherlich nicht mehr am Leben, da ich normalerweise immer unbewaffnet in den Käfig gehe.
Es wurde an die Tür geklopft.
„Ja, herein“, rief ich.
Es war Whity, der Zwerg.
„Guten Abend“, grüßte er.
Ich nickte ihm zu.
„Du hast mit deinem Gefühl recht gehabt“, stellte er fest.
„Was für ein Gefühl?“ fragte der Direktor.
„Bryce hatte kein gutes Gefühl heute, und deshalb hat er auch Waffen in den Käfig mitgenommen.“
„So, und wieso hattest du ein ungutes Gefühl?“
Ich zuckte die Achseln.
„Unbestimmt. Kann es nicht richtig ausdrücken. Nenn es eine Vorahnung.“
Douglas blickte mich nachdenklich an.
„Du hast Glück gehabt, Bryce.“
„Ja, großes Glück, Whity.“
„Was wirst du jetzt machen - ohne Tiere?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber beim Zirkus bleibe ich nicht mehr.“
„Aber Bryce, du warst unsere Zugnummer. Das kannst du mir doch nicht antun“, stöhnte der Direktor.
„Was soll ich denn tun? Meine Tiere sind tot. Ich bekomme auf gar keinen Fall Ersatz für sie. Ich habe kein Geld, um mir neue zu kaufen. Und wenn ich auch das Geld dazu hätte, bekäme ich kaum Tiere dieser Art auf der Erde zu kaufen. Oder soll ich vielleicht eine Pferdedressur machen oder mit Hündchen auftreten?“
Ich reckte mein Kinn angriffslustig in die Richtung des Direktors.
„Ein Panther ist sicherlich aufzutreiben. Ein doppelköpfiger Löwe auch“, mischte sich Whity ein.
„Aber einen Säbeltiger oder einen Zwergdrachen bekomme ich auf keinen Fall. Und dann bleibt nichts mehr von meiner Nummer übrig. Außerdem habe ich keine Lust mehr, Monate, wenn nicht Jahre, Tiere zu dressieren. Ich mache Schluß mit dem Zirkus. Meinen Wagen werde ich verkaufen.“
„Schlaf mal erst darüber.“
Douglas stand auf und nickte mir zu. Dann ging er.
Whity setzte sich auf einen Sessel und musterte mich aufmerksam.
„Ich sehe es dir an, daß du entschlossen bist, den Zirkus aufzugeben. Ich bedaure es. Ich war ein guter Freund deines Vaters. Ihr habt euch zwar nicht besonders verstanden. Du gingst deine eigenen Wege, aber trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, hielt dein Vater viel von dir. Und er bat, ich solle mich ein wenig um dich kümmern. Aber jetzt gehst du weg. - Du wirst mir sehr fehlen, Bryce.“
Er blickte mich ernst an. Sein faltiges Gesicht sah müde aus. Dunkle Ringe lagen unter den Augen, seine Nase sprang aus diesem eingetrockneten Gesicht scharf hervor.
„Du wirst mir auch abgehen, Whity. Aber es ist sinnlos für mich, hier weiterzumachen. Ich übernahm die Tiere, als mein Vater starb. Aber die Arbeit als Dompteur liegt mir nicht besonders.“
Whity nickte zustimmend. „Ich weiß es. Aber was willst du jetzt wirklich tun?“
„Wahrscheinlich werde ich wieder Berufsboxer. Da verdient man recht gut. Mir stehen ja nicht viele Möglichkeiten offen.“
„Ja“, meinte er und nickte sinnend mit seinem für seine Größe unverhältnismäßig großen Kopf. „Es wird sicherlich das beste für dich sein. Laß dich aber auf keine krummen Sachen ein, Bryce. Schlucke deinen Ärger hinunter. Es ist besser für dich.“
Ich ballte die Hände zu Fäusten.
„Kann schon sein. Aber ich mache da nicht mehr mit. Ich werde der Untergrundbewegung beitreten. Ich muß. Verstehst du, ich muß ganz einfach.“
Ich sah den Kummer in seinen Augen.
„Laß die Finger lieber davon. Du wirst unterliegen. Es ist sinnlos, Bryce. Die Sirianer sind zu stark, und wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen.“
„Unsinn. Wenn sich nur genügend Leute zusammenfinden, dann könnten wir schon etwas unternehmen. Es muß möglich sein. Es gelang in der Vergangenheit, und es muß auch heute gelingen. Diktatoren wurden immer gestürzt...“
„Und immer kamen neue, immer wieder. Laß doch alles beim alten, versuche aus dem Wenigen das Beste herauszuholen.“
Ich schüttelte den Kopf. Wieder spürte ich das Haßgefühl beinahe körperlich.
„Es ist zuviel geschehen. Man kann sich eine Zeitlang zurückhalten, aber nicht immer und immer wieder. Meinen Vater haben die Sirianer auf dem Gewissen, und mich haben sie bei jeder Gelegenheit gedemütigt. Der heutige Abend hat das Faß zum überlaufen gebracht.“
„Ich schwieg und starrte zu Boden.
„Haß ist nicht gut. Haß ist nie gut gewesen. Haß lähmt das Gehirn. Er verleitet zu Handlungen, die man später bereut. Haß ist ein schlechter Wegbegleiter. Ich würde es lieber sehen, wenn du einen anderen Begleiter gewählt hättest; Bryce.“
,Du magst recht haben. Aber es ist mir gleichgültig, ob ich siege oder untergehe. Ich habe endgültig genug davon. Und ich wehre mich.“
Whity blickte mich traurig an.
„Ich sehe ganz deutlich vor mir, wo es dich hinführen wird.“
„Wohin?“ fragte ich ihn.
,Am Ende deines Weges steht der Tod, oder deine Erinnerungen werden gelöscht, und du erkennst mich nicht mehr:“
„Du siehst viel zu schwarz, Whity.“ Er lächelte schwach. „Du bist zu jung, mich zu verstehen.
Würdest du mit mehr Überlegung an die Sache herangehen, würde ich ja dazu sagen. Aber dein Haß legt sich wie ein lähmendes Gewicht auf dein Gehirn, und du kannst nicht mehr klar denken. Und in so einer Situation ist es wichtig, den klaren Verstand zu behalten und sich nicht nur von Haßgefühlen treiben zu lassen.“
„Es nützt nichts, du kannst mich nicht umstimmen. Ich will meinen eigenen Weg gehen.“
Ich stand auf, goß aus dem hohen Krug Wasser in das Waschbecken und begann, den Schweiß Und das Fett von meinem Gesicht und, meinem Öberkörper zu waschen. Ich trocknete mich ab, während Whity mich schweigend betrachtete.
„Ich bleibe noch einige Tage“, begann ich, „bis ich den Wagen verkauft habe und ein passendes Quartier in der Stadt finde. Wir können ein andermal darüber sprechen.“
Er stand auf, und ich klopfte ihm auf die Schulter.
„Viel Glück“, sagte er zum Abschied. Er blickte mich noch einmal an. Dann verließ er den Wohnwagen.
Ich schlüpfte in eine rotschillernde Jacke und zog den Reißverschluß zu. Ich steckte einen schmalen Dolch in meine Stiefel und gürtete mir ein breites Schwert um. Ich verlöschte das Licht und trat aus dem Wagen.
In den Wohnwagen brannte Licht. Einige Männer saßen auf den Stufen, plauderten und rauchten. Ich vermied es, mit irgendjemanden zusammenzukommen. Ich haßte die teilnahmsvollen Gesichter, die gutgemeinten Ratschläge und die vielen Fragen.
Langsam ging ich an den leeren Käfigen meiner getöteten Tiere vorbei, und etwas Unbestimmtes war in mir. Ich blieb stehen. Plötzlich fühlte ich eine nie gekannte Wehmut. Der Geruch der Bestien hing noch in der Luft. Vor wenigen Stunden war ich hier vorbeigekommen, und der Säbeltiger hatte mich wütend angeknurrt. Nie mehr würde ich dieses vertraute, heisere Gebrüll hören. Nie mehr.
Ich ging rascher, schritt am dunklen Zirkuszelt vorbei und strebte dem Ausgang zu.
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Es war eine warme, sternenklare Nacht. Der Himmel spannte sich dunkelbau über die Stadt. Keine Wolken waren zu sehen.
Ich durchschritt das Eingangstor, nickte dem Wachtposten zu und bog in eine schmale Gasse ein.
Hie und da brannte noch eine der wenigen intakt gebliebenen Straßenlaternen: Aber der Vollmond spendete genügend Licht.
Niemand ging zu dieser späten Stunde auf der Straße. Meine Schritte hallten- gespenstisch durch die Gasse. Ich kam an verwitterten, schmutzigen Häusern vorbei. Unrat lag im Rinnstein, und ein fürchterlicher Geruch hing in der Luft.
Kyntasia, eine Stadt, die dem Untergang geweiht war. Eine Stadt, die früher mächtig und groß und imposant gewesen war, jetzt aber einem sterbenden Riesen glich.
Nur wenige Fenster waren erleuchtet. Hinter den Mauern dieser schäbigen Häuser vegitieren sie dahin, werden gezeugt, geboren und sterben. Alles spielt sich hinter diesen alten Mauern ab, hinter diesen verfallenden Wänden. Da leben sie ein Leben, das man kaum mehr als Leben bezeichnen kann. Da hungern und fluchen, da arbeiten und stehlen sie, da lieben und hassen sie einander und dämmern ihrem Tod entgegen und haben ein nutzloses, demütigendes Leben hinter sich gebracht.
Ein abgemagerter Köter lief auf mich zu. Leise winselnd blieb er einige Meter vor mir stehen, und seine Augen leuchteten im Dunkeln.
Als ich näher kam, sträubte sich sein Fell, und er kläffte mich man. Der Geruch, der meinen Kleidern anhaftete und von scheußlichen Bestien erzählte, behagte dem halb verhungerten Tier nicht. Ich schlug mit dem Schwert gegen meinen Schenkel, und das laute Geräusch erschreckte den Hund. Mit eingezogenem Schwanz rannte er vor mir her, um bald darauf in einer stillen Seitengasse zu verschwinden.
Früher soll es hier Autobusse, Untergrundbahnen und Hubschrauberstationen gegeben haben. So wurde mir erzählt.
Jetzt künden nur noch verrostete Schienen und halb eingefallene U-Bahnschächte, in denen sich allerlei Gesindel herumtreibt, von der vergangenen Herrlichkeit.
Keine Kneipe hatte hier mehr geöffnet, alle Läden waren versperrt.
Ängstlich und verschüchtert suchte die Bevölkerung bei Einbruch der Dunkelheit Schutz hinter den morschen Wänden der Häuser.
Schließlich wurden die Straßen breiter und die Beleuchtung etwas besser. Einmal fuhr ein schwarzer Streifenwagen der Polizei an mir vorbei.
Ich wandte mich einem Viertel zu, wo es keine Straßenbeleuchtung gab und wo noch Kneipen offen hatten. Ich kam an einigen ziemlich ungemütlich aussehenden Zeitgenossen vorbei. Finstere, halb verhungerte Typen, die nur auf eine Gelegenheit warteten, um irgendeinen verspäteten, harmlosen Passanten auszurauben.
Ein böse blickender Mann, in einem zerlumpten Gewand, versperrte mir den Weg. In seiner Hand funkelte ein gebogener Dolch.
„Stehenbleiben“, knurrte er.
Ich blieb stehen und verschränkte die Hände über der Brust.
„Was soll der faule Zauber?“ fragte ich ihn.
„Die Zeiten ändern sich, Bryce“, meinte er und grinste. Dabei entblößte er seinen zahnlosen Mund.
„Hör auf mit dem Blödsinn, Damon, Laß mich durch.“
Er schüttelte den Kopf.
„Das geht nicht mehr so einfach. Du betrittst Sperrgebiet. Hier kommt man nur mit Erlaubnis von Lester durch. Ich muß dich erst melden.“
„Aber ich will ja zu Lester.“
„Was willst du von ihm?“
„Das werde ich dir nicht auf die Nase binden.“
Ich ging an ihm vorbei, und er faßte mich bei einem Arm.
„Ich habe dir gesagt, du mußt angemeldet werden.“
Ich drehte mich um und grinste ihn an. Dann packte ich seine Hand, und mit einer einzigen Bewegung riß ich ihn in die Höhe, verdrehte seinen Arm und gab ihm einen Schlag in den Nacken. Lautlos brach er zusammen.
Ich ging weiter.
Aus einem der dunklen Haustore löste sich ein Schatten, der rasch die Gasse entlanglief und bald darauf verschwand. Ich lächelte vor mich hin. Lester würde bald Bescheid wissen, daß ich gekommen war.
Niemand war zu sehen, doch ich wußte, daß mich einige Augenpaare verfolgten, jede Bewegung und jeden meiner Schritte überwachten. Je weiter ich die Gasse hinunterging, um so lauter wurde der Lärm, der aus einer Kneipe kam. Die Tür stand offen, und der Geruch von verschüttetem Wein und Bier, der Geruch von Speisen, von Rauch und nach Menschen schlug mir entgegen.
In der Tür blieb ich stehen und blickte über die Menschenmenge. Dichte Rauchschwaden hüllten den Raum ein. An rohgezimmerten Tischen saßen grimmig blickende Männer und aufdringlich geschminkte Mädchen.
Sie schrien durcheinander, tranken und rauchten. Niemand schien mich zu beachten. Langsam stieg ich die Stufen hinunter, die ins Lokal führten.
Ohne Eile schritt ich durch die Tischreihen, manch bekanntes Gesicht sah ich. Da saß Buddy, ein blödgeschlagener Boxer, gegen den ich meinen ersten Profikampf bestritten hatte.
Gleich neben ihm saß „Der Flüsterer“. Ein kleines, unscheinbares Männchen. Er sprach nur sehr selten und leise, aber wenn er sprach, dann gleich mit seinem Messer.
Da waren sie alle versammelt, die Getreuen von Lester. Und ich hatte auch einmal dazu gehört. Die meisten der Anwesenden kannte ich.
Schließlich hatte ich die Theke erreicht. Ich setzte mich auf einen der hohen Barhocker. Ich stützte mich auf die Platte und musterte die unendlich lange und dürre Figur hinter der Theke. Der Keeper schien durch mich hindurchzusehen.
„He, du!“ rief ich ihn an. Doch er reagierte nicht.
Ich glitt von meinem Stuhl und ging die Theke entlang. Am Ende angekommen, ging ich hinter sie, langte nach einem Glas und schenkte mir aus einer großen Flasche Wein ein. Nachher kehrte ich auf meinen Platz zurück und begann langsam zu trinken. Das dürre Gestell hatte nicht einmal mit den Wimpern gezuckt.
Ein spärlich bekleidetes Mädchen löste sich aus dem Hintergrund des Lokals und kam auf mich zu. Ihr Haar trug sie schulterlang und lose. Ihr Gesicht war zu aufdringlich geschminkt und ihre Figur für meinen Geschmack zu üppig.
Sie blieb vor mir stehen.
„Du bist Bryce Bennett“, stellte sie fest, und ich nickte.
„Lester will dich sprechen.“
„Gut. Was bin ich für den Wein schuldig?“ fragte ich den Dürren, doch er reagierte auch jetzt nicht. Achselzuckend folgte ich dem Mädchen. Sie ging rasch. Das Mädchen schlug einen grauen Vorhang zur Seite, und wir traten in einen unbeleuchteten Gang. Vor einer Tür blieb sie dann stehen. Sie klopfte leicht gegen die Türfüllung, worauf die Tür geöffnet wurde. Grelles Licht drang heraus, und ich schloß geblendet die Augen.
Endlich gewöhnten sich meine Augen an das grelle Licht, und ich folgte dem Mädchen. Sie trat zur Seite und gab mir dadurch den Blick auf Lester frei, der hinter einem wuchtigen Schreibtisch saß und in verschiedenen Papieren blätterte.
Ich ging auf ihn zu. Als ich mich bis auf drei Meter seinem Schreibtisch genähert hatte, blickte er auf. Seine fahlgelben Augen musterten mich durchdringend. Sein Gesicht glich einer Totenmaske. Kein Muskel bewegte sich in den leichenblassen Zügen.
„Setz dich, Bryce“, sagte er.
Ich ließ mich in einen breiten, bequemen Sessel fallen und blickte mich kurz um. Der Raum war nicht groß und einfach eingerichtet. Eine breite Couch, einige Sessel, zwei Wandschränke, sonst gab es nichts.
„Geht“, sagte er zu dem Mädchen und dem Mann, der die Tür geöffnet hatte. Sie verließen das Zimmer.
„Du bist also zurückgekommen“, stellte er fest.
„Ja.“
„Ich wußte, daß du eines Tages zurückkommen wirst. Aber ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll. Die Zeiten haben sich geändert.“
„Ich habe es gemerkt“, lächelte ich.
„Ich liebe deine eigenartigen Scherze nicht, Bryce. Ich hatte sie nie besonders geschätzt. Es hat sich bei mir in dieser Weise nichts geändert. Warum bist du gekommen?“
Ich zuckte die Achseln.
„Ich will wieder boxen. Du hast früher für mich Verwendung gehabt, da dachte ich, ich probiere es zuerst bei dir.“
„Hm, na gut. Aber wie gesagt, es ist jetzt ein wenig anders als früher. Mit dem Boxen dürfte es wohl nichts mehr sein. Ich habe zu viele Boxer.“
Er schwieg und zündete sich eine aufdringliche Zigarette an.
„Zwei Jahre habe ich dich nicht mehr gesehen, Bryce. Zwei lange Jahre, und du kommst herein und tust so, als hätte ich nur auf dich gewartet. Meine Interessen haben sich gewandelt. Ich habe mich auf andere Gebiete verlegt.“
Ich zündete mir ebenfalls eine Zigarette an.
„Man hört so verschiedenes, Lester. Aber es ist nicht gut, wenn man in dieser Beziehung etwas von dir hört. Die Wände haben Ohren, und falls an den Gerüchten etwas Wahres dran ist, dann erfahren es auch bald die Sirianer.“
Er nickte.
„Ich weiß. Aber die Gerüchte stimmen. Es hat sich leider nicht vermeiden lassen, daß etwas durchsickerte. Und ich nehme an, du bist nicht nur wegen des Boxens zu mir gekommen?“
„Richtig. Ich will mich dir anschließen.“
Lester zog gedankenverloren an seiner Zigarette. Er starrte einige Sekunden die Tischplatte an, dann hob er den Blick und begann mich zu mustern.
„Ist dir auch klar, in was du dich da einläßt?“
„Ich kann es mir vorstellen“, antwortete ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Das glaubst du vielleicht. Aber du hast bisher nur Gerüchte gehört. Ich glaube kaum, daß du genau über uns Bescheid weißt.“
„Ich habe einiges gehört, aber Genaues weiß ich natürlich nicht. Mir ist nur bekannt, daß du dich entschlossen hast, den Kampf gegen die Sirianer aufzunehmen.“
„Stimmt. Unsere Pläne sind sehr weit vorangeschritten, und ich weiß nicht, ob ich dich noch einbauen kann. Ich habe genügend Leute.“
„Also heißt es, daß du für mich keine Verwendung hast?“ fragte ich und erhob mich.
„Setz dich“, knurrte er.
Ich tat, wie mir geheißen wurde.
„Hast du Verwendung für mich? Ja oder nein. Du kennst mich lange genug, Lester. Ich liebe dieses Versteckspiel nicht. Ich will eine klare Antwort. Deine Mätzchen kannst du dir bei mir sparen. Hast du mich verstanden?“
Er lief rot an und ballte seine Hände. Mit einer entschlossenen Bewegung drückte er die Zigarette in einem großen Kristallaschenbecher aus.
Er stand auf und blieb vor mir stehen.
„Du bist ein schwieriger Fall für mich, Bryce. Du warst schon immer ein schwer zu durchschauender Mann. Warum kommst du erst jetzt zu mir?“
„Ich hatte genug vom Boxen und von deinen Freunden, diesen Verbrechern. Aber ich habe mich in der Zwischenzeit geändert. Vielleicht hast du etwas über die Vorgänge heute im Zirkus gehört.“
Er nickte.
„Dann kannst du sicherlich meine Gründe verstehen. Ich hegte nie sehr freundschaftliche Gefühle für unsere Unterdrücker. Nach den heutigen Ereignissen habe ich mehr als genug von ihnen. Und da ich hörte, daß du dich gegen die Sirianer erheben willst, habe ich mich entschlossen, bei dir mitzumachen.“
Lester nahm wieder seine Wanderung im Zimmer auf. Er verschränkte die Hände am Rücken. Ich beobachtete ihn genau. Er war in den vergangenen zwei Jahren sichtlich gealtert. Seine Schultern hingen herunter, und sein Gang war der eines alten, verbrauchten Mannes.
„Deine Worte haben etwas für sich, Bryce, aber wie gesagt, unsere Pläne sind abgeschlossen. Ich weiß nicht, wie ich dich am besten in unsere Organisation einbauen soll.“
„Ich muß nicht um jeden Preis aufgenommen werden. Ich habe aber ein persönliches Interesse, mich möglichst bald im Kampf gegen die Sirianer zu betätigen.“
Er setzte sich auf seinen Schreibtisch.
„Ich verstehe dich. Wir haben genügend Männer und auch genügend Waffen. Wir werden in drei Tagen losschlagen.“
Plötzlich heulte eine Sirene, und ein rotes Licht leuchtete auf. Lester sprang mit einem gewaltigen Satz vom Schreibtisch und eilte zur Wand, wo das rote Licht blinkte. Er schlug auf eine Taste, und die Sirene hörte zu heulen auf. Das rote Licht erlosch. Die Wand glitt zurück und gab einen Fernsehapparat frei. Ein Mann mit einem Vollmondgesicht erschien auf dem Bildschirm.
„Lester, wir sind verraten worden“, schrie der Mann, und sein Gesicht verzerrte sich. „Wagen der Polizei und der sirianischen Streitkräfte sind im Vormarsch auf das Hauptquartier.“
„Sofort Maßnahme Nummer drei ergreifen“, keuchte Lester.
„Verstanden, Maßnahme Nummer drei ergreifen.“
Der Bildschirm erlosch. Lester drehte sich um.
Er starrte mich kalt an.
„Du gemeines Aas, du hast uns verraten, Bryce, du...“
Ich sprang auf.
„Rede keinen Unsinn. Ich bin hier, um dich zu unterstützen. Was hätte es für einen Sinn, zu dir zu kommen, wenn ich dich verraten hätte. Da hätte ich mich doch wohl kaum sehen lassen, oder?“
Er starrte mich an. Dann nickte er langsam.
„Du hast recht. Es wäre Blödsinn.“
Er drückte auf einen Knopf, und der Bildschirm leuchtete auf. Ein Mann mit einer Glatze und eingeschlagener Nase erschien.
„Carman, was für Maßnahmen hast du ergriffen?“ fragte ihn Lester.
„Wir haben den Straßenzug Nummer 24 in die Luft gesprengt. Sie können da kaum durchkommen. Was sollen wir weiter tun?“
Lester überlegte kurz.
„Wir setzen unseren Plan ganz einfach schon heute in die Tat um. Sammle deine Männer und marschiert auf den Palast zu. Gib alle vorhandenen Blaster aus. Ich folge dir dann später mit meinen Leuten nach.“
„Verstanden.“ Wieder erlosch der Bildschirm.
Weitere Berichte kamen herein. Schließlich stellte sich heraus, daß das ganze Stadtviertel von Polizisten umstellt war.
Lesters Männer hatten ganze Straßenzüge zerstört, um die Sirianer aufzuhalten. Aber über kurz oder lang würden sie doch durchkommen.
Schweiß stand auf Lesters Stirn, als er sich mir zuwandte.
„Gehen wir, Bryce. Hier bleibt uns nichts mehr zu tun übrig.“
Er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht.
Er eilte an mir vorbei.
„Folge mir, Bryce.“
Das Lokal war leer. Umgeworfene Tische und Stühle versperrten uns den Weg. Lester sprang über die Hindernisse. Ich folgte ihm.
Je näher wir dem Ausgang kamen, um so lauter wurde der Lärm. Heisere Männerstimmen schrien Befehle. Eine Explosion erschütterte den Boden.
Endlich waren wir auf der Straße.
Es war dunkel. Keine Lampe brannte. Nach einer Seite hin wurde die Straße von einem Trümmerberg versperrt. Ziegelsteine vermischt mit Hausrat türmten sich gut zehn Meter in die Höhe.
„Da kommen die Sirianer nicht so schnell durch“, schnaufte Lester.
„Derek, komm einen Augenblick zu mir her“, schrie er. Ein breitschultriger Mann mit dichtem schwarzem Haar und fülligem Bauch kam auf uns zu.
„Du bleibst mit deinen Männern einstweilen hier und versuchst, die Sirianer so lange wie möglich zurückzuhalten. Sollte es ihnen aber gelingen, über die Barrikade zu kommen, dann ziehe dich zurück. Verstanden?“
„Jawohl“, knurrte der Mann.
Wir eilten weiter. Ich folgte Lester wie ein braves Schoßhündchen.
Plötzlich hörten wir Motorengeräusch. Es wurde zunehmend lauter. Dann fiel ein breiter Lichtstrahl vom Himmel, und das Motorengeräusch war über uns.
Der Hubschrauber kam näher.
„Verdammt“, schimpfte Lester. „Wir müssen verschwinden. Gegen einen Hubschrauber haben wir keine Chance. Derek, folge mir mit deinen Männern.“
Der starke Scheinwerferstrahl des Hubschraubers fiel auf den. Berg von Steinen und Hausrat, dann wanderte er auf uns zu.
Lester keuchte.
„Rascher, wir müssen rascher laufen, sonst erwischen sie uns.“
Wir bogen in eine schmale Gasse ein. Der Lichtstrahl des Hubschraubers konnte uns hier nicht mehr erreichen.
„Wir haben es geschafft. Gott sei Dank“, murmelte Lester vor sich hin.
Derek und seine Männer blieben schweratmend neben uns stehen.
Lester stieß ein morsches Tor auf.
„Hat jemand Fackeln mitgenommen?“ fragte er.
Einige Männer traten vor und lösten, von ihren Gürteln die Fackeln. Wir entzündeten einige und folgten Lester. Das Tor kreischte. Wir traten in den Hausflur.
Im Schein der stinkenden und rauchenden Fackeln suchten wir unseren Weg.
„Hier haben wir einen alten Geheimgang entdeckt“, raunte mir Lester zu.
Vorbei an glitschigen Wänden stiegen wir eine schmale Treppe hinunter. Das Atmen der Männer und das Geklirr der Waffen waren die einzigen Geräusche. Ich hielt mich dicht an Lester, und hinter mir keuchte Derek.
Schließlich kamen wir in einen niederen Gang. Ich mußte mich bücken. Dann und wann erklang ein leiser Fluch, wenn sich einer der Männer den Fuß an einem herumliegenden Stein stieß.
„Meine anderen Männer streben auf verschiedenen Wegen dem Palast zu. Wir haben noch eine Chance, den Palast einzunehmen. Da sie fast alle Polizisten hier eingesetzt haben, dürfte uns die Einnahme des Palastes nicht sonderlich schwerfallen.“
Dann schwieg Lester. Nach einigen Minuten verbreiterte sich der Gang, und wir stiegen eine Treppe empor. Danach ging es durch eine schmale Gasse, die in einen Platz einmündete. Wir verlöschten die Fackeln und schlichen langsam durch die Dunkelheit.
„Stehenbleiben!“ erklang plötzlich eine befehlsgewohnte Stimme.
Lester zuckte zusammen und blieb stehen.
„Werft die Waffen zu Boden und ergebt euch. Ihr seid umstellt. Jeder Fluchtversuch ist zwecklos. Werft die Waffen weg.“
Nichts war zu sehen.
Ich dachte nicht daran, meine Waffe abzulegen. Ich riß mein Schwert aus der Scheide, und die anderen folgten meinem Beispiel.
Ein auf einem Haus montierter Scheinwerfer strahlte plötzlich auf. Mit einem raschen Satz war ich aus seinem Licht. Lester sprang mir nach.
Geduckt rannte ich auf die Wand zu, die im Schatten lag. Einige der Männer versuchten, uns zu folgen. Ein leises Singen lag in der Luft. Neben dem grellen Licht der Scheinwerfer glitten gebündelte blaue Energiestrahlen durch die Dunkelheit.
Männer schrien.
Ich drehte mich nicht um.
„Rasch, Bryce, wir müssen uns durchkämpfen...“
In der rechten Hand hielt ich mein Schwert und in der Linken mein Wurfmesser.
Eng an die Wand gepreßt, bewegten wir uns langsam fort. Niemand konnte uns sehen.
Wieder stieß Lester eine Tür auf, und bedauerlicherweise quietschte auch sie. Feste Schritte kamen näher.
„Halt!“
Der Schein einer Taschenlampe fiel auf Lester. Ich hob die Hand, und mein Messer flog auf den Schein zu. Ein gurgelndes Geräusch war zu hören, die Taschenlampe fiel zu Boden. Sie rollte auf mich zu. Rasch riß ich sie an mich und schaltete sie aus.
„Gib mir die Lampe“, befahl Lester, und ich reichte sie ihm. Er konnte sie besser brauchen. und ich benötigte Lester, denn ich hatte keine Ahnung, wie man aus dieser Falle herauskommen könnte.
„Es ist zu ärgerlich, daß wir keinen Blaster haben“, bemerkte ich.
„Ich hatte keinen bei mir, da ich nicht an so eine Aktion gedacht habe. Aber jetzt ist alles verloren. Sie haben meine Männer gefangengenommen. Wir können nur noch unsere eigene Haut retten. Sollten wir in die Hände der Sirianer fallen, dann ist dir wohl klar, was uns erwartet.“
„Ja, das ist mir klar. Was sollen wir tun?“ fragte ich ihn.
„Wir müssen uns verstecken. Das ist unsere einzige Chance. Wenn wir weitergehen, fallen wir ihnen sicher in die Hände.“
Er blieb kurz stehen und ließ den Schein der Lampe über die Wände gleiten.
„Rasch, Lester. Ich höre sie kommen.“
„Aufs Dach. Das ist unsere einzige Rettung.”
Wir eilten den Hausflur entlang und rannten die Stufen empor. Dann blieben wir kurz stehen. Von unten hörten wir Stimmen. Doch bald war es wieder still. Geräuschlos stiegen wir die Stufen weiter empor. Bald hatten wir den Dachboden erreicht. Wir öffneten die Tür langsam und geräuschlos.
Allerlei altes Gerümpel, Kästen und Truhen standen am Boden umher. Ich trat zu einer der schmalen Dachluken und blickte hinaus.
Blaue Blasterstrahlen durchzuckten die Nacht. Das grelle Licht unzähliger Scheinwerfer erhellte die Straßen. Von weit her klang das Geräusch einer Explosion.
„Wir können hier nicht ewig bleiben, Lester. Über kurz oder lang werden sie die Häuser durchsuchen. Wir müssen hier heraus.“
Lester trat zu mir. Er rauchte nervös eine Zigarette. Ich setzte mich auf einen alten Stuhl und starrte vor mich hin.
„Nun, was sollen wir unternehmen, Lester?“
Er schwieg verbissen.
Wir hörten Stimmen, ganz in der Nähe.
„Ich bleibe hier auf keinen Fall. Ich verschwinde, Lester.“
Ich stand auf und blickte noch einmal aus dem Fenster. Die Scheiben waren geborsten, ein leerer Rahmen hing in der Verankerung. Ich steckte den Kopf aus der Öffnung. Nebenan befand sich ein Haus mit einem Flachdach. Dieses Haus war zwar zweistöckig, aber ich könnte es erreichen.
„Ich versuche, über die Dächer zu entkommen, kommst du mit?“
„Nein, ich bleibe hier.“
„Aber das ist doch Unsinn. Hier erwischen sie dich auf jeden Fall.“
„Es hat keinen Sinn mehr für mich, Bryce. Alles ist verloren. Unser Aufstand wurde niedergeschlagen, bevor er noch begonnen hatte. Vielleicht hat ein anderer mehr Glück. Ich habe verspielt. Es ist aus. Ich werde mich stellen.“
„Rede doch keinen Unsinn. Du kannst es noch einmal versuchen, du kannst...“
„Nichts kann ich. Das trifft auf dich zu. Die Sirianer haben keine Ahnung, daß du mitgemacht hast. Aber ich bin zu bekannt. Sie werden mich jagen. Ohne Gnade. Und dazu habe ich keine Lust. Und sie werden mich auch fangen. Also stelle ich mich lieber gleich.“
Ich zündete mir eine Zigarette an.
„Ich kann dich nicht zwingen, mit mir zu kommen. Es wäre aber besser für dich, Lester. Vorher hast du mir gerade gesagt, ob ich weiß, was uns erwartet, wenn sie uns fangen. Der Tod wartet auf uns. Ich will nicht sterben. Komm mit. Versuche es wenigstens. Ergeben kannst du dich noch immer.“
„Nein, ich bleibe.“
Ich zuckte die Achseln.
„Gut, dann bleibe. Viel Glück, Lester.“
Ich gab ihm die Hand.
„Ich kann nicht mitkommen“, flüsterte er leise. „Hier, nimm die Lampe, vielleicht kannst du sie gebrauchen.“
Wortlos steckte ich die Lampe in meinen Gürtel und riß den Rahmen aus der Öffnung. Ich stützte mich auf und zog meine Beine nach.
„Viel Glück, Bryce“, murmelte Lester noch einmal, dann verschwand sein Gesicht in der Dunkelheit.
Die Straße unter mir lag im Dunkel. Kein Sirianer war zu sehen. Langsam schritt ich das Dach entlang. Die Dachziegel ächzten unter meinen Schritten. Mit der linken Hand hielt ich mich am Dachfirst fest. Ich mußte aufpassen, daß sich in der Dunkelheit nicht ein Ziegel löste. Das Geräusch des herabfallenden Ziegels hätte mich sicher verraten.
Schließlich erreichte ich das Nebenhaus. Ich hielt mich am Dachvorsprung fest und zog mich langsam mit einem Klimmzug in die Höhe. Das Dach war leer und verlassen. Rasch glitt ich auf das Dach und robbte über die glatte Fläche.
Ich blickte auf die andere Straßenseite. Diese war ebenfalls leer. Von weit her hörte ich wieder eine Explosion.
Ich hielt mich am Dachvorsprung fest und ließ meinen Körper herunterbaumeln. Ich stieß mich mit den Beinen von der Hauswand ab und sprang auf die Straße. Federnd ging ich in die Knie und ließ mich zur Seite rollen, um den Aufsprung zu mildern. Mein Schwert verursachte ein lautes, klirrendes Geräusch.
Geduckt lief ich die Hausmauer entlang.
Noch immer zeigte sich niemand. Die Fenster blieben dunkel. Lautlos wie eine. Katze schlich ich den Bürgersteig entlang. Die Straße lag vollkommen leer vor mir. Ich begann zu laufen.
Bei einer Kreuzung blieb ich stehen. Vorsichtig schielte ich um die Ecke. Auch hier war niemand zu sehen. Ich überquerte die Kreuzung mit einigen raschen Sprüngen. Als ich an einem Haustor vorbeilief, sah ich eine Bewegung. Ich schlug blitzschnell einen Haken und versteckte mich hinter einem umgestürzten Obstkarren.
Der Mond spendete nur schwaches Licht. Mein Herz schlug so laut, daß ich glaubte, es müsse meterweit zu hören sein. Ich stützte mich mit meinen Händen auf und zog mein rechtes Bein an. Einige Sekunden verhielt ich in dieser kraftraubenden Stellung. Nichts war zu hören.
Blitzschnell stieß ich mich ab und rannte auf das nächste Haustor zu.
Ein zuckendes blaues Licht raste auf mich zu. Es verfehlte mich um wenige Zentimeter. Ich preßte mich schwer atmend an ein hölzernes Tor und zog mein Schwert aus der Scheide.
Schwere Schritte näherten sich.
Ich drückte die Türklinke herunter. Das Tor gab nach. Ich wollte mich umdrehen, da bekam ich einen Schlag auf den Hinterkopf.
+ + +
Als ich erwachte, hatte ich rasende Kopfschmerzen. Leicht fluchend, richtete ich mich auf. Mein Kopf schien zu zerspringen.
Die Zelle, in der ich mich befand, war vielleicht zweimal zwei Meter groß. Glatte, fugenlose Wände, weiß gestrichen. Ich saß auf einer HoIzpritsche. Kein Kissen, keine Decke, nichts.
Von der Decke fiel mattes gelbes Licht auf mich.
Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar. Eine Beule zierte meinen Hinterkopf, und ich spürte verkrustetes Blut.
Meine Uhr hatte man mir abgenommen. Meine breite Halskette auch, mit der sich so viele Erinnerungen verknüpften.
Sie hatten mir nur meine Kleidung gelassen. Und das war nicht viel.
Die Zelle hatte keine Tür.
Ich stand auf und ging einmal im Kreis. Dabei musterte ich die Wände genau. Keine Öffnung, ja, kein einziger Spalt war zu sehen. Fugenlos und undurchdringlich standen die Wände vor mir.
„Bryce Bennett, ziehen Sie Ihre Jacke an!“ befahl eine unpersönlich klingende Stimme, die irgendwo von der Decke zu kommen schien.
Ich streifte die Jacke über, zog den Reißverschluß zu und setzte mich auf die Pritsche.
Whity hatte mich gewarnt, doch ich hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte recht gehabt. Aber jetzt kam meine Reue und Einsicht zu spät.
„Bryce Bennett, Sie werden in wenigen Minuten abgeholt“, ließ sich wieder die unpersönliche Stimme vernehmen.
Ich stand auf und dehnte meinen Körper.
Eine Wand glitt zurück.
Zwei schwarzgekleidete Polizisten mit unbeweglichen Gesichtern erwarteten mich. Ich trat auf sie zu. Einer der Polizisten ging vor mir, der andere folgte mir. Wir schritten durch einen schmalen Gang.
„Wo führt ihr mich hin?“ fragte ich.
Sie schwiegen.
Mehr oder weniger hatte ich mich damit abgefunden, daß mein Leben verwirkt war. Aber im Unterbewußtsein hoffte ich doch auf einen Ausweg.
Komisch, dachte ich, wenn die Situation noch so aussichtslos ist, der Mensch hofft immer, daß es sich zum Guten wendet.
Eine Tür öffnete sich automatisch, und wir traten in den Gerichtssaal. Es war nur ein kleiner Raum. Hinter einem Pult aus rotem Kunststoff saß der sirianische Vorsitzende. Er war wie alle Sirianer nur 1,60 Meter groß. Auf dem kahlen Schädel trug er eine merkwürdig geformte dunkelrote Kopfbedeckung. Sie ähnelte einem Zylinder. Die Sirianer hatten eine große Ähnlichkeit mit uns Terranern. Nur ihre Hautfarbe und die überlangen schmalen Finger waren auffällige Unterscheidungsmerkmale. Der Vorsitzende blickte mich gelangweilt an.
Zur Rechten des Sirianers saß der Robotstaatsanwalt, der die Form eines Terraners hatte.
Die Polizisten führten mich auf ein kreisförmiges Podium. Dann traten sie zurück. Plötzlich bildete sich rund um mich ein grüner Schutzschirm, der wohl weniger zu meinen Schutz bestimmt war. Er sollte mich gefangen halten, und diesen Zweck erfüllte er mehr als gut. Es gab für mich nicht die geringste Möglichkeit, den Schutzschirm zu durchbrechen.
„Wir eröffnen die Verhandlung des Volkes von Terra gegen den Bürger Bryce Bennett“, begann der Staatsanwalt.
Die Polizisten hatten den Raum verlassen. Nur der sirianische Vorsitzende und der Staatsanwalt blieben.
Es würde eine kurze Verhandlung sein. Und ich mußte das Urteil akzeptieren, da ein Einspruch unmöglich war.
„Ich wünsche einen Verteidiger“, knurrte ich unwillig.“
„Abgelehnt“, bemerkte der Vorsitzende. „Angeklagter, Sie sprechen nur, wenn Sie gefragt werden.“
Ich ballte die Hände zu Fäusten.
„Bryce Bennett, Sie werden angeklagt, an einem Aufstand gegen die Regierung teilgenommen zu haben. Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ fragte der Roboter.
Ich räusperte mich. „Unsinn, ich habe an keinem Aufstand teilgenommen. Ich war spazierengegangen und wurde plötzlich niedergeschlagen. Von einem Aufstand ist mir nichts bekannt.“
Der Vorsitzende lachte höhnisch.
„Wir haben hier fünf Aussagen“, fuhr der Staatsanwalt fort, „die bestätigen, daß Sie an dem Aufstand teilgenommen haben. Aus unseren Unterlagen geht eindeutig hervor, daß Sie sich gestern abend zu Lester, dem Anführer des Aufstandes, begaben. Sie wurden in die Organisation aufgenommen. Und wir haben die Aussage von Lester. Haben Sie noch etwas zu sagen, Angeklagter?“
Ich zuckte die Schultern. Was sollte ich dazu sagen? Jedes Wort war verschwendet.
„Nein“ sagte ich unwillig.
Der Vorsitzende drückte auf einen Knopf.
„Bryce Bennett, vernehmen Sie den Spruch des Gerichts“, erklang eine unpersönlich klingende Stimme von der Decke des Saales.
„Ihre Schuld ist eindeutig erwiesen. Sie werden zum Tod verurteilt. Gegen dieses Urteil steht Ihnen keine Berufungsmöglichkeit zu. Das Urteil wird sofort vollstreckt.“
Einen Augenblick herrschte Stille.
Der Sirianer drückte einen anderen Knopf. Die Plattform, auf der ich mich befand, begann sich zu senken. Langsam sank ich immer tiefer. Der Gerichtssaal verschwand, und schließlich blieb die Plattform stehen.
Ich befand mich in einem riesigen Raum. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Die Wände des Raumes waren mit gigantischen Schaltanlagen und Bildschirmen bedeckt. Auf einem der Bildschirme erschien ein merkwürdig geformtes grünes Muster. Die Maschinen und Apparate erwachten mit leichtem Brummen zum Leben. Auf einer Skala begann eine Nadel wie verrückt zu tanzen.
Eine Tür öffnete sich, und ein Roboter trat ein. Er kam auf mich zu.
Das Maschinenwesen trat zu einer Schalttafel und verstellte einige Hebel. Die grünen Muster auf dem Bildschirm erloschen.
Plötzlich war es still im Saal.
Der Roboter drehte einen Steuerschalter. Ein Leuchtmelder zuckte rot auf. Schlangenlinien erschienen am Bildschirm.
Der Schutzschirm um mich zog sich zusammen.
Er umgab mich wie eine zweite Haut.
Der Roboter drehte sich mir zu.
„Wollen Sie noch eine Zigarette rauchen, mein Herr?“ fragte er mich.
„Ja, gern“, krächzte ich.
Der Energieschirm lockerte sich ein wenig. Er glitt zurück und umspannte nur noch meine Beine und meinen Unterleib.
Eine Öffnung in der Brust des Roboters tat sich auf, und eine brennende Zigarette erschien. Ich griff danach und machte einen tiefen Zug.
Der Roboter blieb weiter vor mir stehen.
Langsam rauchte ich. So langsam hatte ich noch nie in meinem Leben eine Zigarette geraucht. Sie schmeckte mir nicht. Ich rauchte nur weiter, um mein Leben um einige Augenblicke zu verlängern.
Eine Zigarette hat leider nur eine bestimmte Länge, und früher oder späte kommt der Zeitpunkt, wo man einfach nicht mehr weiterrauchen kann.
Ich versuchte zu überlegen. Doch ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Verschiedene Episoden kamen mir in den Sinn. Doch sie verschwanden bald wieder.
Ich konnte mich auf nichts konzentrieren.
Schließlich warf ich den Zigarettenstummel auf den Boden.
Der Roboter wandte sich ab und veränderte einige Schalter in ihren Stellungen.
Der Energieschirm legte sich wieder um mich.
Er wechselte in rascher Folge seine Farbe. Zuerst war er grün, dann rot, dann blau und schließlich wieder grün.
Ein rasender Schmerz zog durch meinen Körper, und irgendwann kam der Tod...
+ + +
Zuerst war der Schmerz da.
Ich war anscheinend in einer Welt angekommen, in welcher der Schmerz das herrschende Gefühl war.
Meinen Körper fühlte ich nicht, ich sah nichts, ich hörte nichts, ich roch nichts, nur der Schmerz war da.
Von ferne schien ich Stimmen zu vernehmen, konnte aber keine Worte verstehen. Die Stimmen klangen wie das weit entfernte Gemurmel eines Baches, der sein Wasser über einen mit großen Steinen bedeckten Grund führt.
Dann fiel ich zurück in die Schwärze, die mich umgab. Der Schmerz verblaßte. Ich dämmerte weiter, bis etwas Helles mich zu erreichen schien. Das Geflüster wurde lauter, und dann war nichts mehr da. Keine Dunkelheit, keine Helligkeit, keine Geräusche, keine Schmerzen. Nichts.
Ich erwachte.
Ich wurde mir meines Körpers bewußt.
„Wo bin ich?“ fragte ich.
Meine Stimme klang fremdartig.
Es roch nach verbranntem Fett und Kohl.
Mein Gaumen fühlte sich trocken an, und meine Zunge lag wie ein Fremdkörper in meinem Mund.
Ich sah nichts. Anscheinend hatte ich eine Binde über den Augen.
„Wo bin ich?“ fragte ich nochmals mit meiner krächzenden Stimme.
Ich spürte etwas Sanftes an meiner Brust; es war weich und nachgiebig. Dann wurde es härter. Ein kurzer Schmerz, dann Kälte. Die Weichheit versiegte, und eine schaurige Kälte hüllte mich ein.
Ich sank zurück in die Dunkelheit.
Und wieder war das Nichts um mich. Später schlug ich die Augen auf. Ein Mädchen mit blondem Haar, das wie ein Heiligenschein um ihren Kopf lag, blickte mich an.
Ich räusperte mich,
„Wer bist du?“ fragte ich neugierig.
„Man nennt mich Su.“ Ihre Stimme klang freundlich.
Ich schloß meine Augen wieder. Das Licht, das aus einem kleinen Fenster drang, bereitete mir Unbehagen.
„Das Licht“, stöhnte ich.
Ich hörte ihre Schritte, und nach kurzer Zeit spürte ich, wie die Heiligkeit verblaßte und einem angenehmen Dämmerlicht Platz machte. Ich schlug die Augen auf und sah, daß sie eine bunte Decke vor das Fenster gehängt hatte.
„Wo bin ich?“
„Du bist in Sicherheit.“
„In Sicherheit?“
Sie gab mir keine Antwort.
„Hast du Hunger?“ fragte sie mich.
„Nein.“
„Du mußt aber etwas essen, du warst lange krank.“
„Krank?“
„Ja, beinahe einen Monat bist du hier gelegen. Du hast dich von einer Seite auf die andere geworfen. Ein Fieberschauer hat den anderen gejagt, und du hast phantasiert.“
Langsam erinnerte ich mich wieder. Der Aufstand, meine Gefangennahme, das Gericht, das Urteil, die letzte Zigarette, der Energieschirm, die wechselnden Farben, der Schmerz, der Tod.
„Ich müßte doch tot sein. Wieso lebe ich noch? Und wie bin ich hierhergekommen?“
„Ich darf dir keine Auskunft geben. Du wirst alles rechtzeitig genug erfahren.“
Ich starrte sie an.
Sie war vielleicht zwanzig Jahre alt. Ziemlich groß für ein Mädchen und gut gerundet. Sie trug eine kurze weiße Tunika. Das Mädchen schöpfte aus einem großen grünen Tonkrug Wasser in einen Holzbecher. Dann gab sie ein gelbes Pulver hinein und verrührte es. Sie setzte sich auf mein Bett und reichte mir den Becher.
„Trinke!“ befahl sie mir.
„Was ist das?“
Mißtrauisch betrachtete ich die gelbe Flüssigkeit.
„Eine Arznei. Sie wird dir guttun.“
Zögernd griff ich nach dem Becher. Meine Hand zitterte. Kraftlos ließ ich sie zurückfallen, Ich hatte noch nicht Gewalt über meine Gliedmaßen. Ich fühlte mich müde und schwach.
Sie führte das Gefäß an meinen Mund, und ich schluckte die wohlschmeckende Flüssigkeit in kleinen Zügen. Ich lehnte mich zurück und musterte wieder das Mädchen.
Ihre Haut war glatt und milchfarben. Die Augen standen leicht schräg und wurden von langen dunklen Wimpern beschattet. Ihre Augen waren merkwürdig geformt, sie erinnerten mich an Katzenaugen, und sie strahlten eine Ruhe und Gelassenheit aus, die normalerweise einem jungen Mädchen nicht eigen ist.
„Su!“
„Ja?“
„Lebst du hier allein?“
„Nein, mein Vater ist noch da. Aber ich habe dich gepflegt.“
„Danke, wann kommt dein Vater?“
„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wird er gegen Abend kommen. Er wird dir deine Fragen beantworten.“
Ich schloß die Augen. Die Arznei hatte mich schläfrig gemacht. Ich schlief ein.
+ + +
Als ich erwachte, war es dunkel im Zimmer. Ich richtete mich auf und blickte mich um. Der Raum war nicht groß. Die Wände bestanden aus grob verputzten Tonziegeln. Ein Tisch mit dem großen, grünen Krug darauf, einige Becher, eine grobgezimmerte Bank und zwei primitive Stühle.
„Su“, rief ich.
Ein grauer Vorhang wurde zur Seite geschoben, und das Mädchen trat ein. „Ja, was ist?“
„Ist dein Vater schon gekommen?“
„Er war hier, ging aber wieder. Er kommt in einer Stunde zurück.“
Ich konnte sie nur undeutlich in der Dunkelheit ausnehmen.
„Kann ich bitte etwas zu essen haben?“
„Gerne, ich bringe dir sofort etwas.“
Sie ging, und ich starrte gegen das kleine Viereck des Fensters. Es war eine wolkenlose Nacht, und ich konnte das millionenfache Gefunkel der Sterne sehen.
Wieso lebe ich, fragte ich mich. Ich grübelte darüber nach, konnte aber keine Antwort finden. Ich versuchte, meine Arme zu bewegen. Sie zitterten noch ein wenig, doch ich konnte mich aufstützen. Ich versuchte mich aufzurichten, fühlte mich aber noch zu schwach dazu.
Der Duft gebratenen Fleisches drang in den Raum. Dieser Geruch machte mich hungrig, und ich konnte es kaum erwarten, etwas in meinen Magen zu bekommen.
Endlich kam Su mit einem Tablett, auf dem einige dampfende Fleischstücke und Bratkartoffeln lagen. Sie setzte sich auf einen Stuhl ganz in meiner Nähe.
„Warum zündest du kein Licht an?“ fragte ich sie.
„Oh, entschuldige. Ich habe es ganz vergessen.“
Sie holte eine Kerze und entzündete sie.
„Verwendest du nie Licht?“
„O doch. Warum fragst du?“
Der Geruch des Fleisches überwältigte mich beinahe, doch ich bezähmte meine Gier.
„Warum ich fragte? Der Kerze ist ganz neu. Und in den Kerzenhaltern sind keine.“
Ich beobachtete sie. Das Mädchen blickte verlegen zu Boden und wußte keine Antwort.
„Warum antwortest du nicht?“
„In diesem Raum halten wir uns nie auf, deshalb haben wir auch keine Beleuchtung hier.“
„Du hast mich aber einen Monat lang gepflegt. Du wirst sicherlich auch in der Nacht dagesessen haben, du hast kein Licht benötigt - du siehst also im Dunkeln.“
Sie schwieg.
„Antworte.“
„Ja, ich sehe im Dunkeln.“
Ich lehnte mich zufrieden zurück. Meine Vermutung war richtig gewesen.
Sie begann, das Fleisch in Stücke zu schneiden und mich zu füttern.
„Iß nicht so hastig“, rügte sie mich.
Ich bemühte mich, meine Gier zu bezähmen. Als ich fertig war, trug sie das leere Tablett hinaus und kern nach kurzer Zeit mit einem Glas Rotwein zurück.
„Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Mensch“, bemerkte ich.
Sie hatte auch eine Schachtel Zigaretten mitgebracht, und ich zündete mir eine an. Der Rauch reizte mich zum Husten, und ich drückte die Zigarette nach einigen Zügen aus.
„Du kommst von DRÜBEN“, stellte ich fest.
Sie nickte.
„Wie lange bist du schon hier?“
„Ein Jahr.“
„Du bist nicht bei der Polizei registriert?“
„Nein, ich bin nicht gemeldet.“
„Ich habe gleich vermutet, daß du nicht aus der Stadt bist, deine Gesichtsfarbe und deine Augen haben es mich vermuten lassen.“
Sie stand auf und verließ den Raum.
„Su, komm her, ich muß mit dir sprechen.“
Sie drehte sich nicht um, sondern ging unbeirrt weiter.
„Su“, rief ich ihr bittend nach.
Sie war eine der ANDEREN. Ich hatte gehört, daß es ANDERE gab, doch nie hatte ich jemanden von DRÜBEN gesehen. Als die Sirianer die Erde eroberten, hatten sie einige Atombomben abgeworfen. Halb Nordamerika und Teile von Europa waren durch einen Atombrand zerstört worden.
Und sie kam aus diesem Gebiet. Ein Gebiet, das niemand betrat.
„Su“, rief ich wieder. Doch sie antwortete nicht.
Ich wollte ihr so viele Fragen stellen. Ich wollte wissen, wie es DRÜBEN aussah. Aber das Mädchen kam nicht.
Ich hatte mir immer die Leute von DRÜBEN als furchterregende Monster vorgestellt.
Sie hatte die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, ihre Haut war unnatürlich weiß, und ihre Augen unterschieden sie von normalen Menschen.
Aber vielleicht hatte sie noch andere Fähigkeiten?
Ich schlug die Decke zurück, die meinen Körper bedeckte.
Gedankenverloren starrte ich meine Brust an, dann schüttelte ich ungläubig den Kopf. Das war doch nicht möglich.
Früher hatte ich einige Narben auf der Brust gehabt, jetzt war die Haut glatt, und von den Narben war nichts mehr zu sehen.
Meine Hände fuhren zum Gesicht.
Überrascht zog ich sie zurück.
Unzählige Pockennarben hatten mein Gesicht verunstaltet, aber jetzt war auch hier die Haut glatt und straff.
Mein Gesicht war vorher abstoßend häßlich gewesen. Die Nase zweimal gebrochen, die von unzähligen Boxkämpfen aufgeschlagenen und schlecht verheilten Augenbrauen. Doch von all dem war nichts mehr zu bemerken.
Bestürzung packte mich.
Was war mit meinem Körper geschehen?“
Mühsam erhob ich mich von meiner Liegestatt. Meine Arme zitterten. Ich biß die Zähne zusammen, als mich ein Schwächeanfall auf das Bett zurücksinken ließ.
Meinen Körper stützte ich auf den Sessel, den sie neben meinem Bett stehen gelassen hatte. Ich schob den Sessel vor mir her.
Ich kam nur langsam vorwärts. Fieberschauer durchrannen meinen Körper. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, sammelte sich in meinen Augenbrauen und tropfte in die Augen.
Mein eiserner Wille trieb mich weiter. Ich tat nur kleine Schritte.
Vor dem Spiegel, der sich über dem Tisch befand, blieb ich stehen.
Langsam hob ich den Kopf und blickte mein Spiegelbild an.
Das Gesicht eines Fremden starrte mich an.
„Su, Su!“ schrie ich voller Verzweiflung.
Sie schlug den Vorhang zurück und blieb überrascht stehen.
Ich wandte mich ihr zu.
„Wer bin ich! Wer bin ich, Su?“ stöhnte ich.
Sie faßte sich und trat auf mich zu. „Komm, halte dich an mir fest.“
„Wer bin ich? Wer?“ stammelte ich wie ein Irrer.
Ich klammerte mich an sie. Su zerrte mich zum Bett. Erschöpft sank ich zurück.
Ich hatte immer blonde Haare gehabt, jetzt waren sie pechschwarz. Meine Augen waren braun gewesen, jetzt schimmerten sie dunkelblau. Die Nase war verbogen und zerschlagen gewesen, jetzt war sie gerade und wohlgeformt. Nur die Form meines Gesichtes, die Form meines Mundes hatte eine Ähnlichkeit mit meinem früheren Aussehen.
Die Form meines Körpers, meine Größe und Stärke schienen ebenfalls gleichgeblieben zu sein. Nur die Narben und Tätowierungen, die meinen Körper und die Beine bedeckt hatten, waren verschwunden.
„Wie habt ihr das gemacht? Warum habt ihr meinen alten Körper geraubt?“
„Wir haben ihn dir nicht geraubt, wir haben ihn nur verändert“, ertönte es von der Tür her.
Ich starrte auf den zartgliedrigen Mann mit der bleichen Totenhaut und den kurzgeschnittenen grauen Haaren. Er trug einen blauen Überrock, der mit unerklärlichen goldenen Zeichen bestickt war.
„Wer bist du?“ fragte ich.
„Ich bin Sus Vater, du kannst mich Larris nennen.“
Der Alte kam näher.
Seine Augen hatten die gleiche graue Farbe, die auch die Augen seiner Tochter hatten. Sie schienen ein eigenes Leben in diesem Gesicht zu leben. In ihnen war gleichzeitig so viel Traurigkeit und Lebenserfahrung, so viel Güte und gleichzeitig so viel Haß, daß ich erschrocken zurückfuhr.
,,Larris, kannst du mir Auskunft geben, was mit mir geschah. Warum ich noch lebe, weshalb ich mich hier befinde und was mit meinem Körper geschehen ist?“
„Du bist gerettet worden, doch fast wäre es zu spät gewesen. Dein Körper war verwüstet. Wir mußten dich heilen, aber auch gleichzeitig deinen Körper verändern. Es ist dein alter Körper, nur in einem neuen Gewand. Die Äußerlichkeiten, die dich sofort als Bryce Bennett erkennen hätten lassen, mußten verschwinden. Deshalb ist dein Körper jetzt anders. Hier bei uns bist du, damit sich dein Körper erholen kann. Genügt dir diese Auskunft?“
„Nein, ganz und gar nicht.“
Ich schloß für einen Augenblick die Augen, dann blickte ich den Alten an. „Wer hat mich gerettet?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du lügst“, stellte ich fest.
„Ich weiß es wirklich nicht. Ich bekam nur den Auftrag, hierherzuziehen, dich zu pflegen und wenn du gesund bist...“
„Was ist dann?“
„Ich soll dir Instruktionen geben.“
„So, dann gib sie mir.“
„Erst, wenn du gesund bist!“
„Ich bin gesund.“
„Nein, du bist noch zu schwach.“
„Nun gut, lassen wir es einstweilen. Wer gab dir den Auftrag, mich zu pflegen?“
„Meine Tochter hat dir unklugerweise verraten, daß wir von DRÜBEN kommen. Leider darf ich dir nichts sagen.“
„Erzähle mir etwas von DRÜBEN.“
„Ich darf dir darüber keine Informationen geben.“
„Du darfst mir darüber keine Informationen geben“, äffte ich den Alten nach. „Ja, zum Teufel, Ihr habt mich vor dem Tod gerettet, so sag mir doch endlich, warum Ihr mich nicht sterben habt lassen. Sag mir, warum ich nach lebe.“
Larris zuckte die Achseln.
„Du wirst alles noch rechtzeitig erfahren. Schlafe jetzt.“
„Ich kann nicht schlafen. Ich will wissen, warum ich da bin.“
Larris und Su erhoben sich und verließen das Zimmer. Ich schlug mit den Händen vor Wut auf die Bettdecke. Langsam löste sich die Spannung. Ich dachte lange über das Gehörte nach.
Ich wälzte mich unruhig von einer Seite auf die andere. Endlich schlief ich ein.
+ + +
Die nächsten Tage unterschieden sich nicht viel von den vorhergegangenen. Ich schlief lange und sehr oft, aß viel und versuchte, aus Larris und Su etwas herauszubekommen. Doch sie schwiegen beharrlich. Bald gab ich es auf, sie auszufragen.
Manchmal stand ich für einige Minuten auf, versuchte ein wenig zu gehen. Nach einigen Tagen war es so weit, daß ich längere Zeit im Haus umhergehen konnte.
Nach einer Woche hatte ich meine frühere Elastizität zurückgewonnen. Mein Körper war stark, die Muskeln geschmeidig.
Ich wollte endlich wissen, welche Aufgabe ich zu erfüllen hatte.
Das Haus lag weitab von jeder Zivilisation auf der Spitze einer Anhöhe. Wie schon so oft vorher, saß ich auf der Bank neben der Eingangstür. Ich lauschte den Melodien, die der Wind sang. Ich sog den Geruch der weichen, fruchtbaren Erde ein und blickte über das weite Tal.
Der Alte setzte sich neben mich.
„Nun ist der Zeitpunkt gekommen. Du sollst erfahren, was du zu tun hast“
Ich schwieg.
„Du bist bestimmt worden, die Erde von der sirianischen Herrschaft zu befreien.“
„Was soll ich?“ fragte ich überrascht.
„Du hast schon richtig gehört.“
„Aber wie soll ich das bewerkstelligen?“
„Laß mich reden. Du wirst nach Kyntasia gehen. Du bekommst Geld und Ausrüstung von mir. In der Stadt bist du allein auf dich gestellt.“
„Aber das ist doch Wahnsinn. Ich kann mich doch nicht allein gegen die Sirianer erheben. Das wäre ja Selbstmord.“
„Natürlich wäre dies Selbstmord. Selbstverständlich werden wir dir helfen. Du wirst überall Zeichen von uns finden. Wir unterstützen dich im Kampf gegen die Sirianer.“
„Wie wird diese Hilfe aussehen?“
„Gehe in die Stadt, und du wirst sehen.“
„Ich bin aber kein Selbstmörder. Und was du von mir verlangst, das grenzt an Selbstmord.“
„Wir haben dich einmal gerettet. Glaubst du nicht, daß es uns nicht auch noch einmal gelingen kann?“
Ich nickte überlegend.
„Erzähle mir mehr über eure Hilfe, Larris.“
Er schwieg.
„Es ist besser für dich, wenn du möglichst wenig weißt. Glaube mir, es ist alles bestens vorbereitet. Du kannst ohne Angst nach Kyntasia gehen. Du wirst uns nicht sehen, aber wir sind bei dir.“
Ich hatte mich getäuscht, als ich annahm, daß ich nähere Auskünfte erhalten würde. Sie hatten mir nur einen Auftrag gegeben, der eigentlich kein Auftrag war.
Larris gab mir eine dunkle Jacke, eine lange enge Hose, weiche Schuhe, ein kurzes Schwert und einen Sack mit Nahrung und Geld.
„Jetzt hast du alles, was du benötigst. Folge dem ausgetretenen Pfad, bis du zu einer Landstraße kommst. Dann halte dich an die Markierungen.“
„Wo soll ich in Kyntasia Quartier beziehen?“
„Wo du willst, wir werden dich finden.“
„Was soll ich in Kyntasia unternehmen?“ fragte ich Larris.
Er lächelte mir zu.
„Nichts. Gar nichts. Du sollst nur nicht zu sehr auffallen.“
Ich schüttelte den Kopf.
Dieser ganze Auftrag kam mir unsinnig vor. Da sollte ich einfach in die Hauptstadt gehen, irgendwo Quartier beziehen und nichts tun. Was hatte das für einen Sinn?
Ich verabschiedete mich von Su und Larris, legte mir die Tasche über die Schulter und ging den ausgetretenen Weg den Hügel hinunter.
Nach einigen Schritten drehte ich mich um.
„Wie viele Tagesmärsche sind es bis zur Hauptstadt?“ fragte ich Larris.
„Vierzehn Tagesmärsche!“
Erstaunt sah ich den Alten an, schüttelte den Kopf und setzte meinen Marsch fort.
+ + +
In Kyntasia war ich verurteilt worden. Wie hatten sie mich hierher bringen können?
Die Reise nach Kyntasia war nicht sehr beschwerlich. Ich hatte Glück und traf einen Bauern, der noch ein Auto sein eigen nannte. Es war ein klappriger, abgefahrener Karren, doch er fuhr, und ich stellte keine hohen Ansprüche.
Autos zu bekommen bot ja keine großen Schwierigkeiten, aber Treibstoff bekam man kaum.
Man ging zu Fuß oder fuhr mit knarrenden Fuhrwerken, die von mürrisch brüllenden Ochsen oder Eseln gezogen wurden.
Schließlich langte ich in Kyntasia an.
Die Stadt war im Halbkreis von Bergen umgeben. Sie war noch immer eine Stadt der Wunder. Auf der einen Seite standen noch einige Wolkenkratzer, und auf der anderen befanden sich kleine Lehmhütten. Eine Stadt der Kontraste.. Kyntasia war mir so vertraut wie meine eigene Hosentasche.
Kyntasia, die Hauptstadt der Erde.
Ich blieb stehen und betrachtete sie wie ein Fremder. Es war eine immer mehr zerfallende Stadt, verfault, alt und schäbig. Eine Stadt, die sich mir erbarmungslos, elendiglich und häßlich darbot.
Knytasia, eine Stadt, die dem Untergang geweiht war.
Langsam schritt ich durch die Straßen und Gassen. Kilometerweit erstreckten sich baufällige Steingebäude, schmierige Lehmhütten. Ein Elendsviertel schloß an das andere an. Fauliger Geruch erfüllte die Luft.
Männer und Frauen kamen mir entgegen. Ihre Gesichter bleich und stumpf. Gebeugt und müde gingen sie einher.
Die untergehende Sonne vergoldete im sterbenden Glanz ihrer Strahlen die Dächer der Häuser. Die Scheiben schienen aus Silber zu bestehen. Minutenlang schien die Stadt etwas von ihrer einstigen Schönheit wiederzugewinnen.
Aber nur für Minuten.
Vom Westen trieb der Wind dunkle Wolken über den Himmel.
Es wird Regen geben, dachte ich.
Die Sonne war untergegangen, und die riesigen, drohenden Wolken hatten die Stadt überzogen.
Das Zentrum von Kyntasia war noch weit entfernt.
Langsam verschwanden die Elendsviertel.
Ich ging rascher.
Die Menschen flüchteten vor dem kommenden Regen in ihre Behausungen. Die Straßen und Gassen leerten sich.
Rasch bog ich in eine schmale Seitengasse ein. Ich hatte eine der halbverfallenen U-Bahnstationen erreicht.
Ich stieg die Stufen hinunter. Dämmerlicht herrschte in der Halle unten. Modergeruch schlug mir entgegen. Schuttberge versperrten mir den Weg. Die Decke war halb eingestürzt. Fahrkartenautomaten standen nutzlos umher. Ich ging weiter.
Ich war in das Labyrinth der U bahnschächte eingedrungen. Hier gab es Hunderte von Gängen und Stationen, die für jeden Uneingeweihten den Tod bedeutet hätten.
Doch ich kannte sie gut - diese Gänge. Hier unten hatte ich meinen ersten Kampf auf Leben und Tod mit einem Straßenräuber bestanden.
Es war dunkel hier.
Durch die Öffnungen und Ritzen an der Decke konnte kein Licht dringen, da der Himmel bewölkt war.
Behutsam tastete ich mich vorwärts. Ich bemühte mich, jedes Geräusch zu vermeiden. Ich hörte das Rascheln des Regens. Das Wasser rann durch die unzähligen feinen Lücken in der Decke, tropfte die Wände hinunter und floß den Boden entlang.
Es war keine besonders gute Idee gewesen, hier herunterzukommen. Bald mußte ich aus den Gängen verschwinden, denn das Wasser würde sich sammeln, die Schächte überschwemmen, und alles, was sich in ihnen befand, mit sich reißen.
Sicherheitshalber zog ich mein Kurzschwert.
Bei einer größeren Öffnung in der Decke blieb ich stehen. Im Schein eines Blitzes konnte ich einen Aufgang erkennen. Ich schritt darauf zu und hastete die Stufen hinauf.
Durch das Prasseln der aufklatschenden Regentropfen hörte ich ein Geräusch. Es war der unverkennbare Laut eines aus der Scheide gezogenen Schwertes.
Ich blieb stehen.
Eng preßte ich mich an die glitschige Mauer. Meine Muskeln spannten sich. Ich hielt den Atem an und versuchte, das Dunkel des Ganges zu durchdringen. Vor mir hörte ich jemanden leise atmen.
Tricks gab es hier unten nicht.
Es gab nur eines für mich: warten. Darauf zu warten, daß der Gegner die Nerven verlor.
Das Wasser gurgelte gierig. Es rann die Stufen herunter und floß über meine Füße. Ich verharrte lange, an die Wand gepreßt.
Der Regen hatte sich verstärkt. Ich tastete mich behutsam den mit Schutt gefüllten Gang hinunter. Das Wasser umspülte mich bis zu den Hüften.
Ein Blitz erhellte für Sekunden den Stiegenaufgang. Schemenhaft sah ich kurz einen Mann dort stehen.
Ich huschte die Stufen empor.
Wieder erhellte ein Blitzstrahl den Gang und die Stufen. Ich sprang auf den Mann zu und schlug mit dem Schwert nach ihm.
Ich hörte das häßliche Geräusch eines zersplitternden Schulterknochens.
Die dunklen Wolken hatten sich verzogen, und es war ein wenig heller geworden. Der Regen hatte nachgelassen. Im trüben Licht konnte ich die Umrisse des Angreifers erkennen. Ich schlug noch einmal mit dem Schwert zu.
Anscheinend hatte ich gut getroffen, denn die schemenhafte Figur fiel mit einem lauten Aufschrei in den gierig gurgelnden Fluß, der sich gebildet hatte.
Vorsichtig schlich ich die Stufen hinauf.
Als ich das Geräusch hörte, war es zu spät.
Das Netz fiel über mich. Ich war hoffnungslos darin verstrickt. Sofort verhielt ich mich ruhig, denn mit jeder Bewegung würde es sich nur fester zusammenziehen.
„Wir haben ihn!“ hörte ich jemanden rufen.
Ich hätte mich vor Wut ohrfeigen können. Früher hatte es viele Einzelgänger unter den Verbrechern gegeben. Aber diese Zeiten waren nun endgültig vorüber. Ich hätte daran denken können, daß es jetzt nur noch Verbrecherbanden gibt.
Das Netz wurde mit einem gewaltigen Ruck fester zusammengezogen. Auf dem glitschigen Stufen verlor ich das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
Ich war gefangen, und es gab für mich im Augenblick kein Entrinnen. Das Netz war engmaschig und preßte sich um meinen Körper. Ich hatte zu wenig Bewegungsfreiheit, um mit kräftigen Schwertschlägen den dicken Metalldraht des Geflechtes zu durchhauen.
Fackeln wurden entzündet. In deren Schein konnte ich fünf verwegene Gestalten ausnehmen.
„Ja, es ist der Schwarzhaarige“, freute sich einer.
„Zieht das Netz noch fester zusammen!“ befahl ein anderer.
Sie zogen es so fest zusammen, daß ich mich kaum bewegen konnte. Ich musterte die fünf Gestalten, doch keiner von ihnen war mir bekannt.
Zwei Männer schleiften mich die Stufen hinauf. Meine Jacke wurde dabei zerrissen, meine Hose beschmutzt und Hände und Gesicht aufgescheuert.
Die Reise ging weiter. Sie zerrten mich einen schmalen Gang entlang, und ich stieß mir mein Gesicht an den Steinen blutig.
Durch das Netz hindurch banden sie mir die Arme und Beine.
Dann warfen sie mich in einen Raum. Ich plumpste zu Boden wie ein mit Kehle gefüllter Sack.
Die Tür wurde hinter mir geschlossen, ich war allein in der Dunkelheit. Allein mit meinen bitteren Gedanken.
Ich hörte die fünf Männer sprechen.
„Wir nehmen ihm seinen Geldbeutel weg, und dann ab in den Kyrno“, hörte ich einen mit einer Fistelstimme sagen.
Das waren ja heitere Aussichten, stellte ich fest. Der Kyrno ist der breite, reißende Fluß, der Kyntasia in zwei annähernd gleiche Hälften teilt.
„Blödsinn“, grölte ein anderer mit tiefer Stimme. „Ich bin mehr für prompte Methoden. Carlos, du wirst ihn töten. Dann befreien wir ihn aus dem Netz, nehmen sein Geld und lassen ihn liegen, wo er ist.“
„Ja, so machen wir es.“
Ich hörte ihre Schritte.
Einmal war ich vom Tod gerettet worden, einmal war mir geholfen worden, aber jetzt war die Situation hoffnungslos. Ich hatte Angst, ganz fürchterliche Angst.
Tränen stiegen mir in die Augen. Tränen der Wut über meinen Leicht
sinn. Kaum war ich dem Leben wiedergegeben, sollte ich durch die Hand eines Straßenräubers sterben. Ich spannte meine Muskeln bis zum Zerreißen an, doch die Fesseln hielten.
Die Schritte der Männer verstummten. Sie lachten. Ich hörte gurgelnde Geräusche, dann Schmatzen.
Verzweifelt versuchte ich mich zu befreien. Ich wälzte mich auf die Seite. Doch meine Bemühungen waren vergebens. Schweiß stand mir auf der Stirn. Die Fesseln gruben sich immer tiefer in meine Handgelenke.
Plötzlich wurde es hell im Raum. Ich drehte mich um, soweit mir dies möglich war.
„Du bist zu unvorsichtig!“ sagte Su.
Ich starrte sie wie ein Wunder an.
Ihr Körper schien von selbst zu leuchten. Ihre Haare fielen lose auf ihre Schultern, und sie trug ein kostbares dunkelblaues Gewand.
Su beugte sich zu mir herunter, löste die Fesseln und öffnete das Netz.
„Wie bist du hergekommen? Wie hast du wissen können, daß ich in Gefahr bin? Wie...“
„Ich habe keine Zeit für deine Fragen. Sei in Zukunft vorsichtiger. Vielleicht kommen wir einmal endgültig zu spät.“
Sie lächelte mir zu.
Dann verblaßte sie langsam, und schließlich war sie verschwunden.
Ich massierte meine Hand- und Fußgelenke. Dann machte ich einige Lockerungsübungen.
Ich leimte mich an die Wand und überlegte.
Es war unglaublich. Welche Mittel und Möglichkeiten mußten den Menschen von DRÜBEN zur Verfügung stehen?
Su war plötzlich erschienen. Sie war in diesen verschlossenen Raum eingedrungen. Ihr Körper hatte geleuchtet.
Niemals hatte ich von solchen Fähigkeiten gehört.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf und faßte das Schwert fester. Im Augenblick gab es für mich wichtigere Dinge, als an Su und die Menschen von DRÜBEN mit ihren Fähigkeiten nachzudenken.
Vor der Tür verstummten die Geräusche. Dann begann einer zu lachen, und die anderen stimmten in sein Gelächter ein.
Ich biß die Zähne zusammen. Die Kerle sollten etwas erleben.
Das Geräusch einer zersplitterten Flasche war zu hören. Das Stimmengewirr kam näher.
Schritte näherten sich der Tür. Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Die Tür wurde aufgerissen, und einer der Kerle stieg behäbig, seinen dicken Bauch stützend, die Stufen hinunter. In der einen Hand hielt er eine stark qualmende Fackel, in der anderen, die er gegen den Bauch preßte, ein ziemlich bedrohlich aussehendes Messer. Langsam stolzierte er dorthin, wo das Netz lag.
Ich wartete, bis noch zwei Verbrecher sich im Raum befanden. Dann handelte ich.
Dem Dicken schlug ich mit dem flachen Schwert gegen den Schädel. Er brach, ohne einen Laut von sich zu geben, zusammen. Ein unendlich langes und dürres Gestell, das man mit reger Phantasie noch als Mensch betrachten konnte, schlug ich mit einem Faustschlag nieder.
Einem unterdurchschnittlich klein geratenen Männchen versetzte ich einen heftigen Tritt ins verlängerte Rückgrat. Das Kerlchen sprang vor Schmerz im Raum umher. Eine trockene linke Gerade brachte es zum Schweigen.
Ich sprang die Stufen empor.
Die letzten zwei Mörder mußtet Zwillinge sein; sie trugen das gleiche schäbige Gewand, die gleichen verfilzten Schnurrbärte und hatten die gleichen überrascht blickenden Augen.
Aus dem Handgelenk schmetterte ich beiden mit der Flachseite des Schwertes gegen die Schläfen. Ihre Augen wurden glasig. Sie purzelten die Stufen hinunter und blieben am Boden liegen.
Einen Augenblick blieb ich stehen.
Da lagen sie. Die Fackel war am Verlöschen. Ich grinste vor mich hin und verriegelte die Tür.
Rasch schritt ich durch die Gänge und trat beim nächsten Ausgang auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Die Stadt roch sauber und frisch.
Meine Schritte hallten durch die vereinsamten Gassen. Zu dieser Nachtzeit wagte sich niemand, außer den organisierten Verbrecherbanden, auf die Straße.
Nach wenigen Minuten hatte ich das Hotel erreicht.
Es war eine schäbige Bude.
Ein verwittertes, uraltes Schild besagte, daß es sich um ein „Herbergsunternehmen“, handelte. Ein Name stand auch dabei, kaum zu lesen.
„Zur schweigenden Fee“, war der hochtrabende Name.
Ich stieß die Tür auf.
Sie kreischte wie alle Türen in Kyntasia.
Der Portier, der gleichzeitig der Besitzer, der Koch und das Stubenmädchen war, befand sich in einem ziemlich ramponiert wirkenden Empfangsraum. Er lehnte hinter einem schmutzigen Pult. Seine Hände hatte er über dem Bauch verschränkt, ein recht ansehnliches Bäuchlein, das im krassen Kontrast zur Länge seiner Glieder und deren eigenwilliger Dünnheit stand. Die Augen hatte jenes bemerkenswerte Wesen menschlicher Gattung geschlossen, den Mund hatte es offen, entblößte somit eine Reihe graufarbener Zähne.
Aus den Lauten, die aus diesem Mund drangen, durfte auch der unbefangenste und ahnungsloseste Beobachter schließen, daß der Portierkochstubenmädchenhotelier schlief.
Ich räusperte mich einmal, dann noch einmal. Der Dünne schlief weiter. Schließlich wurde mir die Angelegenheit zu langweilig, und ich gab dem Kerl einen Stoß. Er zuckte zusammen.
Der Mund schloß sich. Es war für mich eine wahre Wohltat, den Anblick der häßlichen Zähne zu missen.
„Wer wagt es, mich zu nächtlicher Stunde zu belästigen?“ fragte er mit heiserer Stimme.
Ich gab ihm keine Antwort, still grinste ich vor mich hin.
Seit meiner frühesten Kindheit kannte ich Charlie, wie jenes Unikum hieß, und daher war mir auch seine sehr merkwürdig anmutende Sprechweise nicht fremd.
Ein Augenlid wurde unwillig in die Höhe gehoben. Ein trübes, grün-rot schillerndes Auge wurde sichtbar. Charlie musterte mich unwillig. Das Auge schloß sich wieder.
Charlie gähnte ausgiebig.
„Kann er bezahlen?“ fragte er lauernd.
„Ja.“
Charlie gähnte noch einmal.
„Es ist natürlich teuer, das muß er wissen.“
„Was ist teuer?“ fragte ich.
„Weil er mich aus meinen Träumen gerissen hat, das ist natürlich sehr teuer, wolle er dies bezahlen?“
„Ja“, knurrte ich.
Charlie hob und senkte die Schultern, und ein mißbilligender Ausdruck erschien auf seinem feisten Gesicht.
„Es komme ihn aber sehr teuer...“
Jetzt hatte ich endgültig genug von diesem unsinnigen Gerede. Ich zog mein Schwert und schlug es heftig gegen das Pult.
Der Dünne sprang entsetzt auf.
„Wenn ich jetzt nicht bald ein Zimmer bekomme, Kerl, dann kommt es dich teuer zu stehen.“
Charlie verbeugte sich, und ein ängstlicher Ausdruck war in seine Augen getreten. Ich bezahlte das Zimmer eine Woche im Voraus.
Meine Unterkunft für die nächsten Tage war nicht das, was man gemeinhin als sehr ansprechend bezeichnete.
Ein uraltes wackeliges Eisenbett, mit zerschlissenem und verwaschenem Bettzeug, ein Nachtkästchen, ein muffiger Schrank, ein Waschtisch, ein verbogener Tisch und ein Sessel.
Ich ließ mir das Essen auf mein Zimmer bringen.
Von den Leuten, die sich in diesem Hotel einquartierten, wurde auch nicht verlangt, daß die Räume annehmbar und wohnlich waren, denn neunundneunzig Prozent der Besucher blieben nur so lange, wie es ihnen die „Dame“ gestattete, in deren Begleitung sie sich befanden.
Ich hatte also nichts anderes erwartet.
Nachdem ich die Tür versperrt hatte, ging ich zu Bett.
+ + +
Die nächsten Tage hielt ich mich meistens im Hotel auf. Ich lauschte den Geräuschen, die das Gebäude erfüllten. Tagsüber herrschte hier viel Betrieb. Nur in der Nacht wurde es still.
Ich sah zum Fenster hinaus, blickte auf das bunte Leben, das unten herrschte, sah die Kinder, die im Schmutz der Gasse spielten, und erinnerte mich an meine Jugend.
Einmal war ich auch so ein braungebrannter Bengel gewesen, hatte gerauft, hatte die Mädchen geärgert, die in engen, geschlitzten Röcken in der Umgehung des Hotels standen, sich gegenseitig giftige Blicke zuwarfen und jeden vorübergehenden Mann eindringlich auf ihre nicht versteckten Reize aufmerksam machten.
Dann war ich älter geworden, und die Mädchen hatten mich geärgert. Sie hatten sich über mich lustig gemacht, über meinen dürren Körper.
Doch es kam bald der Zeitpunkt, wo sie nicht mehr über mich lachten, und das Hotel war zu meiner zweiten Heimat geworden.
Ich wurde ein wenig melancholisch, als ich so an meine Jugend dachte. Ich legte mich aufs Bett, und Erinnerungen wurden wach.
Charlie brachte mir das Essen aufs Zimmer. Ich setzte mich an den Tisch und begann zu essen. Plötzlich lag neben meinem Teller ein Zettel.
Ich griff danach und las:
„Komme morgen um 14.35 Uhr zum Haus Nummer 36 in der ClaytonStraße.“
Endlich hatte ich eine Nachricht erhalten.
Der Zettel begann in meiner Hand zu flimmern. Plötzlich war er verschwunden. Er hatte sich vor meinen Augen aufgelöst.
Langsam aß ich weiter.
Morgen sollte ich in die Clayton Straße gehen, aber was ich dort tun sollte, das wußte ich nicht.
+ + +
In meinem Zimmer wurde es langsam dunkel. Unruhig ging ich auf und ab. Schließlich hielt ich es nicht mehr länger im Hotel aus.
Ich trat auf die Straße und schlenderte ziellos durch die Gassen. Nur wenige Fußgänger kamen mir entgegen.
Unbewußt hatte ich die Richtung zum Zirkus eingeschlagen. Jede Gasse war mir in dieser Gegend. vertraut, jedes Lokal, und viele der hier wohnenden Menschen kannte ich sehr gut.
Doch niemand erkannte mich.
Nach einigen Minuten hatte ich den Platz erreicht, wo der Zirkus stand.
Überrascht blieb ich stehen. Das Zirkuszelt lag dunkel vor mir. Kein Laut war zu hören. Rasch ging ich weiter.
Über dem Portal, neben der Kasse, hing ein großes Schild:
GESCHLOSSEN
Einige Sekunden blieb ich verwirrt stehen, dann ging ich langsam um den Platz herum. Die Wohnwagen standen noch da. In einigen brannte Licht. Niemand saß auf den Stufen der Wagen.
Der Zirkus lag wie ausgestorben vor mir.
Was war geschehen?
Ein Arbeiter trat durch den Eingang auf die Straße. Ich eilte auf ihn zu.
Er trat einen Schritt zurück und blickte mich ängstlich an.
„Guten Abend“, begrüßte ich ihn.
„Was wollen Sie von mir?“ fragte er und trat unruhig von einem Bein auf das andere.
„Nur eine Auskunft“, beruhigte ich ihn.
Sein Gesicht entspannte sich.
„Ja?“ fragte er und kam näher.
„Seit wann ist der Zirkus gesperrt?“
Er zuckte die Achseln.
„Seit ungefähr sechs Wochen.“
„Und warum wurde er gesperrt?“ fragte ich weiter.
Nochmaliges Achselzucken war die Antwort
„Nun, warum?” fragte ich noch einmal.
Er blickte mich wieder ängstlich an. „Die Sirianer haben es veranlaßt“, raunte er mir leise zu.
„Aber warum...“
„Ich weiß nicht mehr“, antwortete er kurz. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich.
„Danke für die Auskunft“, meinte ich und wandte mich ab.
Der Arbeiter hatte mich nicht erkannt. Keiner meiner Bekannten und Freunde würde mich erkennen.
Ich bog in eine schmale Gasse. ein. Hier befanden sich einige kleine Bars, eine neben der anderen. Vor einem der Lokale blieb ich stehen.
Hier hatte sich früher das Zirkusvolk getroffen; Artisten, Clowns, Arbeiter. Hier waren sie vor und nach der Vorstellung zusammengekommen.
Kein Gelächter drang auf die Straße, nur manchmal das Klirren von Gläsern und stark gedämpftes Gemurmel vieler Stimmen.
Und ich hatte auch einmal zum Zirkusvolk gehört, es schien endlos lange her zu sein, dabei waren kaum sechs Wochen vergangen.
Auf der Türschwelle blieb ich stehen. Das Innere funkelte mir wie ein Edelstein entgegen, blinzelnd schritt ich die Stufen hinunter. Ich konnte nur verschwommene Umrisse ausnehmen.
Endlich gewöhnten sich meine Augen an das Licht. Das Lokal war voll wie immer. Aber nichts von der früheren Ausgelassenheit war zu bemerken, die Männer an den Tischen starrten mich finster an. Das Stimmengemurmel verstummte jäh.
Ich war ein Fremder für sie.
„Guten Abend“, sagte ich laut. „Bitte, lassen Sie sich nicht stören.“
Einige starrten mich weiter an, doch die meisten nahmen ihre Unterhaltung wieder auf.
Mit kurzen Schritten strebte ich einem Tisch zu. Ich hatte Whity und Douglas Disch, den Zirkusdirektor, entdeckt.
„Darf ich hier Platz nehmen?“ fragte ich mit verstellter Stimme den Direktor.
„Bitte“, knurrte er und blickte mich lauernd an.
Ich setzte mich neben Whity. Dieser hatte nicht einmal aufgeblickt.
Ein Kellner brachte mir ein Glas roten Weines.
„Warum herrscht hier eine solche Begräbnisstimmung?“ wandte ich mich an. Whity.
Der Zwerg hob den Kopf und blickte mich an. Er musterte mich aufmerksam, dann schüttelte er den Kopf. Für einen Augenblick war ein kurzes Aufblitzen des Erkennens in seinen Augen gewesen, doch jetzt war es erloschen.
„Es geht uns nicht gut, Fremder“, murmelte er. „Wir sind vom Zirkus. Und die Sirianer, diese Hun...“
Erschrocken hörte er zu sprechen auf.
Ich grinste.
„Und die Sirianer, diese Hunde...“, setzte ich seine begonnene Rede fort. „Was ist mit den Sirianern?“
Whity räusperte sich.
„Sie haben den Zirkus geschlossen!“ stellte er fest.
„Und warum, wenn ich fragen darf?“
„Einer von uns, ein gewisser Bryce Bennett, war am Aufstand gegen die Sirianer beteiligt. Deshalb sperrten die Sirianer den Zirkus. Und das alles verdanken wir Lester...“
Ich zuckte überrascht zusammen. Doch in Sekundenbruchteilen hatte ich meine Gesichtszüge wieder in der Gewalt.
„Lester, wer ist Lester?“ fragte ich.
„Sie kommen wohl von auswärts, Fremder?“
,Ja, ich war lange Zeit nicht hier.“
Whity nickte.
Ich hob mein Glas an die Lippen und trank. Der Wein rann wie Öl meine Kehle hinunter.
„Vor sechs Wochen gab es einen Aufstand gegen die Sirianer. Lester war der Anführer. Doch der Aufstand schlug fehl. Sie nahmen Lester gefangen. Und jetzt ist er einer der ihren.“
Verbittert schwieg der Zwerg.
„Lester verriet alle“, fing er nach einiger Zeit zu erzählen an. „Niemanden verschwieg er. Und alle am Aufstand Beteiligten wurden gefangengenommen. Alle. Und die Sirianer griffen richtig durch. Sie verboten alle Vergnügungen. Sogar die Lokale mußten zusperren. Jetzt haben sie wenigstens die Lokale wieder öffnen lassen. Es war eine harte Zeit. Und alles verdanken wir nur Lester, diesem Verräter.“
„Und was geschah mit diesem Bryce...“
„Er war mein Freund“, sagte Whity. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Ich fühlte eine seltsame Beklommenheit. Wie gern hätte ich Whity gesagt: Hier, schau mich genau an, ich lebe! Bryce Bennett ist nicht tot.
Aber ich schwieg.
„Er war ein guter Mann, dieser Bryce Bennett“, ließ sich der Direktor vernehmen. „Der beste Dompteur, den ich je kannte. Sie hätten ihn einmal in der Manege sehen sollen, der ist mit den gefährlichsten Bestien wie mit kleinen Hauskätzchen umgesprungen.“
„Ich hatte ihn gewarnt“, schaltete sich wieder Whity ein. „Doch er war zu eigensinnig. Bryce wußte ja immer alles besser. Und jetzt ist er tot.“
Ich bestellte noch Wein und lud Whity und den Direktor dazu ein.
Schweigend tranken wir.
„Wann wird der „Zirkus wieder eröffnet“, fragte ich.
Der Direktor schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung. Ich sprach diese Woche beim Stadtrat vor, erhielt aber keinen Bescheid. Es kann noch Wochen dauern.”
„Was werden Sie in der Zwischenzeit unternehmen? Sie müssen doch von etwas leben!“
Achselzucken war die Antwort.
„Es bleibt uns nichts anderes übrig als zu warten. Überall herrscht Arbeitslosigkeit in Kyntasia.“
Einige der Männer brachen auf. Das Lokal leerte sich immer mehr. Man unterhielt sich nur leise. Kein Lachen war zu hören.
Die bedrückte Stimmung griff auch auf mich über.
Schweigend tranken wir.
Es gab nichts mehr zu reden. Alles war gesagt worden. Und die Hoffnungslosigkeit war übriggeblieben. Das Zirkusvolk war auf die Gnade der Sirianer angewiesen.
In rief den Kellner und zahlte.
„Vielen Dank für die Einladung“, bedankte sich Whity.
Während ich aufstand, stieß ich absichtlich mein Glas um. Der Wein rann über den Tisch. Der Kellner brachte ein Tuch, und Whity begann den Tisch abzuwischen. Er war damit so beschäftigt, daß ich ihm unbemerkt meinen Geldbeutel zustecken konnte. Er hatte es nicht gemerkt.
„Schade, um den guten Wein“, bemerkte ich.
Lange schüttelte ich die Hand von Whity. Dann drückte ich die Hand des Direktors.
„Alles Gute“, wünschte ich den beiden. •
Langsam schritt ich auf den Ausgang zu.
Zu gern hätte ich das überraschte Gesicht von Whity gesehen, wenn er das Geld entdeckte. Er würde einige Zeit davon leben können.
Ich trat ins Freie und ließ die bedrückte Stimmung hinter mir. Aber ganz konnte ich sie doch nicht abschütteln.
Immer wieder mußte ich daran denken, daß ich eigentlich Schuld daran war, daß der Zirkus zugesperrt wurde.
+ + +
Kurz nach 14 Uhr setzte ich mich in ein kleines Restaurant in der Clayton-Straße. Es war eine gute Gegend, in der ich mich befand. Die Häuser sahen freundlicher und weniger verfallen aus.
Ich bestellte mir ein Schinkenbrot und eine Flasche Bier.
Von meinem Platz aus hatte ich einen guten Überblick über die Straße. Ich behielt das Haus Nummer 36 im Auge.
Es war warm, sehr warm sogar. Ich hatte meine Jacke halb aufgeknöpft und schwitzte. Aber ich schwitzte nicht nur wegen der Hitze. Meine Erregung wuchs von Minute zu Minute.
Nervös kaute ich an meinem Schinkenbrot herum.
Die Zeit verrann endlos langsam. Diesen Eindruck gewann ich zumindest.
Es herrschte wenig Verkehr auf der Straße. Selten sah ich ein Auto, einige Pferdefuhrwerke klapperten an mir vorbei.
Ich bezahlte und verließ das Lokal. Es war kurz vor dem angegebenen Zeitpunkt.
Es war genau 14.35 Uhr, als ich beim Haus Nummer 36 ankam.
Ich lehnte mich gegen die Hausmauer und zündete mir umständlich eine Zigarette an.
Vor dem Haus stand ein Streifenwagen der Polizei.
Ein Buckliger schob einen Karren mit Apfelsinen vor sich her, warf dem Polizisten, der hinter dem Lenkrad des Wagens saß, einen verschlagenen Blick zu und ging, leise vor sich hin murmelnd, weiter.
Der Polizist öffnete die Tür des Streifenwagens und stieg aus.
Ein Haustor wurde geöffnet und zwei Polizisten führten ein blondhaariges Mädchen heraus. Es war Su. Sie trug eine lange dunkelblaue Hose und eine Bluse der gleichen Farbe.
Sie drehte den Kopf und sah mich an.
Die Polizisten kamen an mir vorbei.
„Befreie mich, Bryce!“ rief mir das Mädchen zu.
Ohne zu denken, versetzte ich dem einen Polizisten einen Schlag in den Nacken. Er brach lautlos zusammen. Den anderen Polizisten erledigte ich mit einem gewaltigen Kinnhaken.
Anschließend raste ich auf den Polizisten beim Wagen zu. Er hatte seinen Blaster halb aus der Halfter gezogen. Ich packte die Hand mit der Waffe, mit der freien Hand schlug ich dem Polizisten heftig gegen den Kehlkopf. Lautlos brach auch er zusammen.
Der ganze Kampf hatte nur wenige Sekunden gedauert.
„Was jetzt?“ fragte ich Su.
„Kannst du Auto fahren?“ fragte sie mich.
Ich nickte.
„Dann nichts wie fort.“
Ich rutschte hinters Lenkrad. Su setzte sich neben mich. Ich startete den Wagen und fuhr los.
„Wohin?“
„Fahr noch ein Stück, dann müssen wir zu Fuß weiter.“
Ich raste die Clayton-Straße hinunter und bog dann in eine schmale Seitengasse ein. Ich bremste, und wir stiegen aus.
Wir durchquerten ein Durchhaus, gingen dann über eine Brücke.
„Was hast du in diesem Haus gemacht?“ fragte ich Su und musterte sie. Das Mädchen hatte ihre langen blonden Haare kunstvoll aufgesteckt. Die Bluse schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre vollen Brüste. Sie sah jung und verführerisch aus.
„Später. Ich erzähle es dir später. Laß mich erst einmal zu Atem kommen.“
Sie keuchte noch vorn Laufen. Nach einiger Zeit hob und senkte sich ihre Brust wieder im normalen Rhythmus ihrer Atemzüge.
„Wohin gehen wir eigentlich?“ fragte ich sie.
„In dein Hotel.“
„Gut, und was machen wir dort?“
„Wir warten!“
„Worauf?“
„Daß uns die Polizei findet“, meinte sie und sah mich lächelnd an. Überrascht blieb ich stehen.
„Aber das ist doch völliger Unsinn. Erst befreie ich dich, und dann sollen wir uns gefangennehmen lassen? Das ist doch verrückt.“
„Ach, es ist zu umständlich; dir alles zu erklären. Deine Fragen werden bald beantwortet“
Im Augenblick gab ich mich mit dieser halben Erklärung zufrieden. Aber in mir brannte Ungeduld. Ich wollte Klarheit. Ich wollte endlich wissen, welche Rolle ich in diesem Spiel zu spielen hatte.
Schweigend gingen wir zum Hotel.
Charlie wunderte sich nicht, daß ich ein Mädchen mitbrachte. Er war ja derartiges von seinen anderen Gästen gewöhnt.
Su blickte sich im Zimmer um.
„Behaglich wohnst du ja gerade nicht“, stellte sie sachlich fest.
„Sind wir hierhergekommen, um über die Annehmlichkeiten moderner Wohnkultur zu sprechen?“ fauchte ich sie ungeduldig an.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, aber wir müssen warten.“ Unruhig ging ich im Zimmer auf und ab.
„Du hast mich aus den Händen der Straßenräuber im U-Bahnschacht befreit. Da bist du plötzlich aufgetaucht. Ich verstehe nicht, wieso du dich nicht selbst befreien konntest. Die Polizisten waren doch sicherlich keine Gefahr für dich, warum also brauchtest du mich dazu?“
Sie blickte mich ungehalten an.
„Ich habe dir versprochen, daß deine Fragen beantwortet werden.“
„Aber wir warten jetzt auf die Polizei, die uns gefangennehmen soll, stimmt das?“
Sie lächelte.
„Ja und nein. Später warten wir auf die Polizei. Jetzt warte ich auf den Kontakt mit ihm.“
„Wer ist ihm?“
„Holly Chandler, aber jetzt sei, um Himmels willen, endlich still.“
Spielerisch hielt ich ein Trinkgefäß in der Hand. Wütend schmetterte ich es auf den Boden.
„Jetzt habe ich es endgültig satt. Ich werde wie ein kleiner dummer Junge behandelt. Gib mir endlich vernünftige Antworten.“
Ich trat auf sie zu und packte sie bei den Handgelenken.
„Laß mich los“, stöhnte sie.
„Ich lasse dich erst los, wenn ich eine vernünftige, klare Antwort erhalten habe, sprich!“
„Oh, der Kontakt, endlich.“
„Ich will eine klare Antwort, laß mich in Ruhe mit deinem Kontakt und...“
Sie blickte mir in die Augen. Ihre Augen waren wütend gewesen, doch jetzt leuchteten sie sanft. Plötzlich schien ein elektrischer Funken von ihr auf mich überzuspringen. Ich zuckte zusammen. Su schien in blaues Licht gehüllt zu sein.
Das Bett wurde durchsichtig, der Waschtisch löste sich auf, die Wände glitten zurück, grelles Licht stach mir in die Augen. Mein Körper wurde schwerelos. Dunkelheit hüllte mich ein. Mein Körper löste sich auf. Meine Arme und Beine trennten sich von meinem Körper. Die Augen lösten sich aus den Höhlen, die Zunge trieb davon, mein Gehirn schien in einer Flüssigkeit zu schwimmen.
Fürchterliche Schmerzen durchrasten meinen Körper.
Endlich verlor sich der Schmerz, die Dunkelheit wich zurück und machte Dämmerlicht Platz.
Wir fanden uns in einem kleinen Zimmer mit kahlen Wänden wieder.
Ich hielt noch immer Sus Hände gepackt.
Als ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, fragte ich das Mädchen:
„Wo sind wir?“
Sie lächelte wieder.
„DRÜBEN!“
„Aber wie ist das möglich?“
„Teleportation.“
Ich hatte von Teleportation schon gehört. Jetzt verstand ich auch ihr plötzliches Auftauchen bei den Gangstern, verstand, wie es ihnen möglich gewesen war, mich aus Kyntasia zu befreien und in die entlegene Hütte zu bringen. Und da Su diese Fähigkeit beherrschte, verstand ich nicht, weshalb sie auf meine Hilfe angewiesen war.
Su schritt auf eine Wand zu. Diese klappte geräuschlos nach oben und gab einen breiten, langen Korridor frei.
„Komm, gehen wir.“
Die Wände leuchteten in allen Farben des Spektrums. Sie veränderten langsam ihre Form und Farbe. Der Fußboden war mit einer weichen Masse belegt, die bei jedem meiner Schritte nachgab, und mir das Gefühl verlieh, auf einem weichen Teppich zu gehen. Der Gang verengte sich, schließlich erreichten wir eine mit verschiedenen Hölzern eingelegte Tür. Sie schwang auf, als wie uns ihr näherten. Dahinter lag ein riesiger Raum. Der Raum hatte die Form eines gleichschenkeligen Dreiecks, die Wände und der Boden glühten dunkelblau, und in der Mitte des Saales stand eine fünf Meter hohe Pyramide.
Plötzlich klaffte in der glatten Fläche der Pyramide ein Spalt.
Zögernd schritt ich weiter.
Der Raum vermittelte mir den Eindruck des Unwirklichen. Das Blut rann schneller durch meine Adern, und mein Herz schlug wie rasend.
Eine Öffnung bildete sich in der Pyramide. Su trat ein. Ich folgte ihr. Drinnen herrschte eine Dunkelheit, wie sie nicht einmal die dunkelste Nacht zu erzeugen imstande war.
Die Öffnung schloß sich hinter uns. Langsam wurde es hell.
Ein Mann saß auf einem breiten Sessel.
Der Mann stand auf.
Er war an die zwei Meter groß, mit mächtigen Schultern und muskulösen Armen.
Seine Haare waren kurz geschnitten und weiß. Sie lagen wie eine Kappe um seinen schmalen Kopf. Blaue Augen blitzten mich an.
„Mein Name ist Holly Chandler.“ Er trat auf mich zu und schüttelte mir die Hand.
Aus dem Nichts erschienen plötzlich zwei Stühle.
„Nehmen Sie bitte Platz“, forderte er uns mit seiner wohlklingenden Stimme auf.
Ich setzte mich.
„Sie haben sicherlich viele Fragen an mich zu richten.“ Er lächelte mir zu.
„Das kann man wohl sagen“, stellte ich fest.
„Beginnen Sie zu fragen“, lud er mich ein.
„Wer sind Sie?“
Sein Gesicht wurde ernst.
„Ich bin nach dem Atomkrieg hierhergekommen. Ich rüttelte die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit, ich versuchte zu helfen, wo es mir möglich war. Ich riß die Menschen hier aus dem Sumpf des Vergessenen und der Verzweiflung. Ich half mit, aus den Trümmern wieder eine Zivilisation entstehen zu lassen. Jetzt ist alles hier geordnet, und wir können darangehen, der ganzen Menschheit zu helfen.“
Er schwieg.
„Alles recht schön und gut. Aber wer sind Sie wirklich? Von. wo kommen Sie her?“
„Darüber darf ich nicht sprechen. Noch nicht. Erst wenn ich mein Ziel erreicht habe.“
„Und welches Ziel haben Sie?“
„Die Menschheit von der Diktatur der Sirianer zu befreien. Das ist mein Ziel, und es soll das Ziel aller Menschen sein“, sagte Holly Chandler leise.
„Gut, aber wie wollt ihr das erreichen? Und welche Rolle soll ich in diesem Stück spielen?“
Er schwieg kurze Zeit und starrte mich an.
„Auf dir ruhen unsere ganzen Hoffnungen. Du bist ausersehen, der Befreier der Menschheit zu sein.“
Ich lachte höhnisch auf.
Er blickte mich mißbilligend an, und mein Lachen verstummte.
„Ich, gerade ich, soll der Befreier der Menschheit sein, darüber kann ich nur lachen. Ich habe nichts gelernt, ich besitze keine EPS-Fähigkeiten wie Su, ich bin ein Niemand.“
„Es verläuft alles nach Plan, und du hast die wichtigste Rolle übernommen, Du bist der Hauptdarsteller in diesem Schauspiel.“
Aufmerksam betrachtete ich ihn.
Er sah höchstens wie dreißig Jahre alt aus. Doch seinen Worten nach hatte er sich kurz nach dem Atomkrieg hier eingefunden. Und der Krieg war vor mehr als vierzig Jahren zu Ende gegangen.
„Es verläuft alles nach einem genauen Plan, Bryce Bennett, Sie sind ein wichtiges Rad in diesem Plan.
Ohne Sie und Su ist der Plan nutzlos.“
Mir fiel auf, daß er wieder Sie zu mir sagte.
„Dann sagen Sie mir doch endlich, was es für ein Plan ist. Ich wurde getötet und wieder zum Leben erweckt, aber warum?“
„In Ihnen schlummern Fähigkeiten, von denen Sie sich keinen Begriff machen. Doch es bedurfte eines auslösenden Faktors. Der fand sich durch Ihren Tod. Jetzt kann ich die Fähigkeiten leichter bei Ihnen erwecken.“
„Um welche Fähigkeiten handelt es sich?“ fragte ich neugierig und beugte mich vor.
„Verschiedene. Telepathie, Telekinese, Teleportation, Levitation, Reisen durch die Zeit etc. Das alles können Sie lernen, und wir werden Ihnen verschiedenes beibringen.“
Überrascht schwieg ich.
„Aber ich hätte doch einige davon selbst bemerken müssen, oder nicht?“ Er schüttelte den Kopf.
„Nein; nicht unbedingt. In fast jedem Menschen steckt eine dieser Fähigkeiten. Nur durch einen Zufall erkennt es der eine oder andere. Aber bei Ihnen finden sich fast alle ESP-Fähigkeiten, die es überhaupt gibt. Hier gibt es einige Menschen, die verschiedene EPS-Fähigkeiten anwenden können, aber meistens nur bis zu einem bestimmten Grad. Und ohne diese Fähigkeiten können wir uns nicht gegen die Sirianer erheben. Ich wartete lange, bis ich dich und Su gefunden hatte. Auf euch beide ist der ganze Plan aufgebaut.“
Langsam drehte ich den Kopf zu Su. Sie blickte mich ernst an.
„Dein Körper ist voller Geheimnisse. Es bedarf nur eines ausgeprägten Trainings, und diese Fähigkeiten stehen dir zur Verfügung. Wir werden dir Zeit geben, um diese Fähigkeiten zu erwecken und sie zu vervollkommnen. Su wird dich bei diesem Vorhaben unterstützen.“
„Es wird doch sicherlich längere Zeit in Anspruch nehmen, bis ich meine Fähigkeiten erworben habe?“
„Ja, einige Zeit wird es sicherlich dauern.“
„Su erwähnte, daß wir uns von den Polizisten im Hotel fangen lassen sollten. Wenn wir längere Zeit fort sind, wird dies unmöglich.“
Er lächelte.
„Mach dir keine Gedanken darüber. Das Problem ist schon gelöst. Lerne deine Fähigkeiten gebrauchen, das ist das Wichtigste.“
Er nickte mir zu, und es wurde wieder dunkel im Raum. Die Öffnung tat sich erneut auf, und Su und ich traten hinaus in die Halle.
Ich schüttelte meine Befangenheit ab und starrte Su an. Schweigend durchquerten wir den Raum, schritten durch einige Gänge, und schließlich waren wir im Freien angelangt.
So hatte ich mir das DRÜBEN nicht vorgestellt. Es war eine herrliche Welt. Wir standen am Gipfel eines Hügels, hinter uns lag das Gebäude, in dem sich Holly Chandler befand. Unter uns lagen verschiedene einstöckige kleine Häuser. Dazwischen konnte ich Wälder, Wiesen, Felder und Seen ausnehmen.
Ein sanfter Wind strich durch mein Haar.
„Ich hatte geglaubt, hier sei alles verwüstet. Und nun finde ich hier eine blühende Welt. Wie ist das nur möglich?“
Das verdanken wir nur Holly Chandler. Es war eine verwüstete Welt. Doch im Lauf der Jahre verheilten die Wunden, die die Atombomben der Erde zugefügt hatten. Holly Chandler pflegte die Menschen. Teilweise gab es und gibt es noch furchterregende Ungeheuer, die nichts mehr mit Menschen gemeinsam haben.“
„Aber man sieht doch, wenn man dieses Gebiet von außen betrachtet, nur eine verwüstete Welt. Wie ist das möglich?“
„Holly Chandler errichtete eine Barriere. Ich kann dir nicht genau erklären, wie es funktioniert, aber ähnlich wie bei einer Filmvorführung Über unsere Welt ist eine Art Kuppel gestülpt, auf die wird eine grauenvoll verwüstete Landschaft projiziert.“
Ich nickte verstehend.
Wir gingen einen schmalen, gewundenen Weg hinunter, der uns zum Dorf brachte.
Die Menschen waren anders als in Kyntasia. Sie gingen frei umher. Niemand ängstigte sich, keiner mußte hungern.
Ich wurde freundlich gemustert. Niemand stellte mir Fragen oder belästigte mich.
Braungebrannte Kinder spielten auf einem dafür bestimmten Platz. Es waren gesunde Kinder, wohlgenährt, nichts ging ihnen ab. Es wäre schön, wenn es der ganzen Menschen so ginge. Keine Not, keine Sorgen, Freiheit.
Für dieses Ziel lohnte es sich zu kämpfen, die Menschheit aus ihrem Schattendasein ins Licht zu führen.
„Wohin gehen wir, Su?“
„Wir sind sofort da. Siehst du das weiße Haus am Ende der Gasse? Dort werden wir wohnen.“
Es war ein kleines einstöckiges Haus mit einem großen Garten rundherum.
+ + +
Su ließ mich nicht zur Ruhe kommen.
Die ersten Tage saß ich vor einem Tisch und mühte mich ab, allein mit geistigen Kräften eine Kugel zum Rollen zu bringen. Am ersten Tag bewegte sie sich nicht. Schweiß rann mir von der Stirn, ich bekam Kopfschmerzen. In den Nächten träumte ich von riesigen Kugeln, die auf mich zurollten. Sie kamen immer näher. Und ich konnte ihnen nicht entfliehen. Die Kugeln überrollten mich, und ich erwachte schreiend.
Am nächsten Tag setzte sich Su zu mir, hielt meine Hand und half mir. Ich fühlte ihre warme Hand und konzentrierte mich auf die bunte Kugel. Alles schien um mich herum zu versinken. Es existierte nur noch die Rundung der Kugel, und diese Kugel mußte ich bewegen. Plötzlich spürte ich den Druck von Sus Gedanken in meinem Gehirn. Ein heißer Schauer durchraste meinen Körper. Die Kugel schien zu wachsen, da - fast unmerklich begann sie zu wackeln, und schließlich rührte sie sich ein wenig.
„Sie hat sich bewegt, hast du es gesehen, Su, sie hat sich gerührt.“
Meine Hände zitterten von der Anstrengung. Ich fühlte mich leer und ausgebrannt.
„Ja, ich habe es gesehen. Ruhe dich ein wenig aus. Später machen wir weiter.“
Und es ging wieder weiter. Tag für Tag saß ich vor dem Tisch, hielt Sus Hand und starrte die Kugel an.
Nach einigen Tagen konnte ich die Kugel quer über den Tisch jagen.
Schließlich nahm Su mir die Kugel weg. Sie gab mir Eisenstäbe. Ich mußte sie aufschichten, bestimmte Muster und Formen aus ihnen bilden. Es wurden immer mehr Eisenstäbe, und die Aufgaben wurden täglich schwieriger.
Eines Tages gingen wir ins Freie.
Eine Stunde lang spielte ich mit einem fünfhundert Kilo schweren Stein. Ich ließ ihn durch die Luft segeln, einen Berg hinaufrollen. Er bereitete mir keinerlei Schwierigkeiten mehr, und es war keine Anstrengung, eher ein spielerisches Vergnügen.
Ich freute mich wie ein kleines Kind, daß ich die Fähigkeit der Telekinese beherrschte.
Doch Su ließ mich nicht zur Ruhe kommen.
Levitation war unser nächster Programmpunkt.
Diese Fähigkeit erlernte ich in wenigen Stunden. Es war ein herrliches Gefühl, frei in der Luft herumzuschweben. Ich fühlte mich wie ein Vogel. Ich erhob mich hoch in die Luft. Langsam zog ich über der kleinen Ansiedlung meine Kreise.
Su folgte mir.
Erst als es zu dämmern begann, kehrten wir zurück in unser Haus.
In den letzten Tagen war meine Fähigkeit, sich mit Su auf gedanklicher Basis zu unterhalten, immer mehr gestiegen.
Anfangs hatte ich ihre Gedanken nur sehr schwer ausnehmen können. Ich hatte nur einzelne Wörter oder Wortfetzen und unzusammenhängende Sätze verstanden. Doch jetzt konnte ich mich bereits mit ihr tadellos auf telepathischem Weg unterhalten.
Es war eine herrliche Zeit. Und Su war eine gute Lehrmeisterin. Tagsüber lernte ich, und abends saßen wir mit den Einwohnern zusammen, wobei ich ihre Welt näher kennenlernte.
Man lebte hier einfach großartig. Keiner hatte Sorgen, die Menschen waren immer fröhlich und glücklich. Aber auch die schönste Zeit hat einmal ihr Ende...
+ + +
Dann kam der Tag, an dem wir zu Holly Chandler gingen.
Wir betraten wieder die Pyramide, und Holly Chandler saß uns gegenüber.
„Du hast viel gelernt, Bryce Bennett. Sehr viel sogar. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann.“
„Wie geht es jetzt weiter“, erkundigte ich mich neugierig.
„Ihr kehrt ins Hotel zurück. Die Polizisten werden euch gefangennehmen. Ihr werdet dann in ein Gefängnis innerhalb des Palastes gebracht. Dort seid ihr auf euch selbst angewiesen. Ich kann euch nicht mehr helfen.“
„Wie ist es möglich, daß wir wieder zum gleichen Zeitpunkt zurückkehren. Wir sind doch über vier Wochen hier gewesen.“
Holly lächelte.
„Das ist sehr einfach. Es ist eine Art von Zeitreise. Ihr kommt zum gleichen Zeitpunkt zurück, an dem ihr weggegangen seid. Die Zeit ist zu beherrschen, genauso wie der Tod. Ich weiß nicht, was euch im Palast erwartet, es kann vollkommen ungefährlich sein, aber genauso kann es euren Tod bedeuten. Ihr müßt auf jeden Fall in die Transmitterstation kommen. Die weiteren Anweisungen habe ich bereits Su gegeben. Sie wird sie an dich weiterleiten, Bryce. Ich habe erfahren, daß der Krieg gegen Terra und die uns angeschlossenen Planeten nicht von den Sirianern ausgegangen ist. Aber wer dahintersteckt... Ich kann es nur vermuten, aber ich weiß nichts Genaues. Ich wünsche euch beiden viel Glück.“
Er stand auf und schüttelte uns die Hände.
Su streckte mir die Hände entgegen. Ich ergriff sie.
Die Pyramide begann zu flimmern, dann wurde sie durchsichtig. Dunkelheit hüllte mich ein. Mein Körper löste sich auf. Die Gedanken verblaßten, und ich schien im Nichts zu hängen.
Plötzlich waren wir wieder in meinem Hotelzimmer. Langsam ließ ich Sus Hände frei. Ich schaute auf meine Uhr. Wir waren nur einige Sekunden lang weg gewesen. Aber tatsächlich waren über vier Wochen verstrichen.
Ich setzte mich aufs Bett.
„Wie lange wird es dauern, bis sie uns gefunden haben?“
Sie zuckte die Achseln.
„Nicht lange, wir haben eine zu deutliche Spur hinterlassen. In wenigen Minuten werden die Polizisten kommen.“
„Warum warst du in diesem Gebäude, wo dich die Polizisten abholten?“
„Ich lebe schon seit einem Jahr in Kyntasia. Die Polizei hatte erfahren, daß ich einen Anschlag auf den Gesandten beabsichtigte. Wir haben diese Anzeige selbst erstattet. Da wir wußten, was geschehen würde, haben wir dich hinbestellt. Jetzt suchen die Polizisten nicht nur mich, sondern auch dich. Und das war ja der Zweck der ganzen Angelegenheit.“
Ich nickte.
Ein wenig war ich nervös. Ich zündete mir eine Zigarette an und begann, hastig zu rauchen. Su schien so etwas wie Nervosität nicht zu kennen. Sie saß ruhig beim Fenster und starrte auf die Straße hinunter.
In ihren Gedanken war keinerlei Aufregung zu spüren.
„Du hast keine Angst“, stellte ich fest.
Sie drehte sich mir zu und stand auf.
„Warum sollte ich Angst haben?“ fragte sie mich und starrte mich dabei .überrascht an.
„Du könntest getötet werden!“
„Ja, das wäre eine Möglichkeit. Aber der Tod birgt für mich keine Schrecken.“
„Willst du denn sterben?“'
,Nein, natürlich nicht. Aber ist der Tod etwas Schreckliches? Weißt du, was nach dem Tod kommt?“
„Nein, ich habe keine Ahnung.“
„Ich weiß, was mich erwartet, wenn mein Körper stirbt.“
„Was erwartet dich da?“
„Du wirst es noch erfahren. Der Tod birgt für mich und auch für dich keine Schrecken. Der Tod ist so wie die Zeit zu beherrschen. Holly Chandler beherrscht die Zeit und den Tod. Und du wirst es sicherlich auch einmal können.“
„Kannst du mir nicht mehr darüber erzählen, Su?“
Sie schüttelte den Kopf.
‚Nicht jetzt - später einmal.“
Wir schwiegen. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende.
Unten fuhr ein Wagen vor. Ich konzentrierte mich auf das Geräusch und vernahm die Gedanken einiger Polizisten.
„Sie kommen“, stellte ich fest.
Su nickte.
„Sollen wir Widerstand leisten?“
„Nein, wir wollen kein Risiko eingehen. Stellen wir uns schlafend, sie werden leise zur Tür kommen und sie aufsprengen.“
Sie kam zu mir aufs Bett. Wir legten uns nieder. Ich spürte die Weichheit ihres Körpers. Sie hatte ihren Kopf an meine Schulter gelegt. Ihre Lippen waren weich und nachgiebig unter den meinen. Heftig löste sie ihre Lippen.
„Jetzt ist kaum der richtige Zeitpunkt dafür“, wies sie mich zurecht.
Ich spürte die Gedanken der näher kommenden Polizisten. Sie stiegen die Treppe herauf. Vor der Tür verweilten sie einen Augenblick. Einer zerschoß das Schloß der Tür. Vier Polizisten drangen ins Zimmer.
„Aufstehen!“ befahl einer.
Gehorsam standen wir auf.
„Hände in die Höhe!“
Die Gesichter der Polizisten glichen unbeteiligten Masken. In ihren Händen hielten sie große Blaster. Diese waren auf höchste Feuerkraft eingestellt.
Sie musterten uns aufmerksam. Sie sprachen kein Wort. Ihre Augen schienen Glaskugeln zu sein. Kein Funken Leben wohnte in diesen Augen, sie waren tot und kalt.
Sie sollten uns nicht töten, sie sollten uns nur gefangennehmen. Sonst fand ich nichts in ihren Gehirnen. Sie waren leer und tot wie ihre Augen. Außer unserer Personenbeschreibung und dem Auftrag existierte für die vier Polizisten nichts.
Bedächtig hob ich meine Hände und legte sie auf den Nacken.
Einer der Schwarzgekleideten deutete mit seiner freien Hand auf die Tür.
Ich blickte kurz Su an. Ihr Gesicht war eine glatte weiße Fläche.
„Geh vor“, spürte ich ihre Gedanken.
Mit kleinen Schritten ging ich auf die Tür zu. So folgte mir. Ein Polizist stieg vor mir die Stufen hinunter.
Nur das Geräusch unserer Schritte war zu hören. Die Treppe knarrte.
Wie kamen an Charlie vorbei, der totenbleich und zitternd hinter seinem Pult saß. Seine Augen waren weit aufgerissen. Nackte Angst starrte mir entgegen.
Wir stiegen in einen Streifenwagen ein.
+ + +
Die Zelle, in der ich mich befand, bestand aus glatten, farblosen Wänden. Ich saß auf einer Pritsche und starrte die Wand an.
Vielleicht ist es dieselbe Zelle, in der ich mich damals vor meiner Gerichtsverhandlung befunden hatte, dachte ich.
Wieder hatten sie mir alles genommen, nur meine Kleider und Schuhe blieben mir.
Doch die Lage, in der ich mich jetzt befand, war grundverschieden von der damaligen.
Jetzt saß ich da und wartete darauf, daß ich eine Gelegenheit finden würde, um zum Transmitter zu kommen.
Ich versuchte, Kontakt mit Su zu bekommen, und nach einiger Zeit gelang es mir.
„Sollen wir gleich jetzt ausbrechen?“ fragte ich sie auf gedanklichem Weg.
„Nein, warten wir noch ab.“
„Sie haben eine Gedankensperre über einen Teil des Palastes gelegt. Dort müssen wir hin. Da steht sicher der Transmitter.“
„Ja, du hast recht. Ich habe auch den Eingang gefunden. Doch warten wir lieber noch einige Zeit ab. Wenn sie dich zuerst holen, dann befreie dich. In folge dir dann nach.“
Wieder war ich mit meinen Gedanken allein.
Ich legte mich auf die Pritsche. Sie war hart, doch es machte mir nichts aus. Ich entspannte mich und konzentrierte mich auf meine Aufgabe, die vor mir lag.
Eine Wand glitt zurück.
Zwei Polizisten erwarteten mich. Es war wie damals.
Lächelnd erhob ich mich. Ein Polizist ging vor mir, einer hinter mir.
Sie führten mich durch einen langen Gang. Dann ging es einige Stufen hinunter, und wir betraten einen riesigen Raum.
Die Wände waren mit Schalttafeln bedeckt.
„Setz dich!“ befahl mir einer der Polizisten. Ich setzte mich nieder. Aus den Lehnen des Stuhls glitten Eisenbänder, die meinen Körper umgaben. Die Polizisten verschwanden. Nach einiger Zeit kam ein Sirianer auf mich zu. Er blickte mich nur flüchtig an.
Der Sirianer setzte mir eine metallene Kappe auf, von der verschiedenfarbige Drähte wegführten. Ich spürte einen leichten Druck gegen die Stirn, sonst nichts.
Vor der Untersuchung hatte ich keine Angst. Die Maschine war mir hoffnungslos unterlegen. Sie würde keinen meiner Gedanken empfangen können, da ich meine Gedanken völlig blockieren konnte.
„Warum wollten Sie den Gesandten ermorden?“ fragte mich der Sirianer.
Ich antwortete nicht.
Die Maschinenanlage begann leicht zu summen. Dann leuchtete ein rotes Licht an der gegenüberliegenden Wand auf.
Der Sirianer blickte mich überrascht an. Er eilte auf die Wand zu, drückte einen Knopf. Das rote Licht erlosch, und eine kalte, unpersönliche Automatenstimme ertönte.
„Ich kann keine Gedankenströme aufnehmen. Ein Block, der um sein Gehirn liegt, verhindert mein Eindringen.“
„Aber das ist doch nicht möglich“, schrie der Sirianer und musterte mich mißtrauisch.
„Ich wiederhole“, plärrte die Automatenstimme wieder los. „Ich kann in das Gehirn des Gefangenen nicht eindringen, daher auch nicht seine Persönlichkeit feststellen und seine Pläne erfassen.“
Der Blauhäutige drückte auf einen anderen Knopf. Einige Lampen begannen zu glühen, Er kam wieder auf mich zu.
„Wer bist du?“ fragte er kalt.
Ich gab wieder keine Antwort.
„Ich schlage jetzt los“, spürte ich Sus Gedanken.
Der Sirianer riß ungläubig die Augen auf. Die Bänder, die mich halten sollten, glitten zurück. Die Haube auf meinem Kopf hob sich und flog in eine Ecke.
Ich sprang auf und schritt auf den Sirianer zu.
Das laute Geklingel einer Alarmanlage ließ den Sirianer zusammenzucken. Er hatte seine Überraschung überwunden und versuchte, die Schalttafel zu erreichen.
Er tat nur zwei Schritte.
Er drehte sich um, ein verständnisloser Laut drang über seine Lippen, dann brach er ohnmächtig zusammen.
Vor der Schaltanlage blieb ich stehen. Wahllos drehte ich einige Schalter, drückte einige Knöpfe, bewegte einen Hebel.
Dann wartete ich.
Ich betrachtete das unruhige Flackern der Lampen. Farbenmuster erschienen auf einigen Bildschirmen.
Die gigantische Anlage war gestört. Zerstören konnte ich sie in der kurzen Zeit, die mir blieb, nicht. Deshalb verließ ich den Raum.
Um meinen Körper errichtete ich einen Schutzschirm, der mich unempfindlich gegen Blasterstrahlen machte.
Als ich die Tür öffnete, erwarteten mich ungefähr zehn Polizisten.
Sie schossen augenblicklich.
Die Strahlen umzuckten meinen Körper, prallten wirkungslos ab, sammelten sich und rasten nutzlos in den Boden. Der Bodenbelag warf sich unter der Hitze.
Die Polizisten fielen der Reihe nach ohnmächtig um.
Ein heftiger Druck mit reiner Gedankenkraft gegen eine bestimmte Stelle des Gehirns ausgeübt, hatte ihnen augenblicklich die Sinne geraubt.
Ich stellte Kontakt mit Su her.
Endlich erhaschte ich ihre Gedanken. Ich konzentrierte mich auf sie. Plötzlich schien mein Körper zu flimmern. Dann löste sich mein Körper auf. Ich materialisierte neben Su.
„Ich bekomme die Tür nicht allein auf, hilf mir.“
Mit meiner ganzen Kraft konzentrierte ich mich auf den Schließmechanismus der Tür. Endlich, fast unwillig, glitt die Tür auf.
Wir traten ein.
Ein Sog schien uns zu erfassen. Wir wurden wie Blätter in einem Orkan herumgewirbelt.
„Wir müssen diesen Sog abschalten, sonst werden wir gegen die Wände geschleudert“, schrie mir Su zu.
Ich blickte mich um.
Der Raum war riesig. Wir rasten auf eine Wand zu. Wir befanden uns im Herzen der sirianischen Station. Verschiedene Transmitter nahmen die eine Seite der Wand ein. Hier führten die Wege zu allen bewohnten Planeten des Reiches.
Endlich fand ich den Apparat, der den Sog entfacht hatte. Ein einfacher Schutz, für den Fall, daß es doch Unbefugten gelang, hier einzudringen. Ich drückte auf geistigem Weg einen Schalter, und wir schwebten langsam zu Boden.
„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, keuchte ich schwer atmend. „Es wurde Alarm gegeben. In wenigen Augenblicken dürfte Verstärkung vom Siriussystem eintreffen. Was sollen wir jetzt tun?“ fragte ich Su.
Sie trat zu einem Schaltpult und drückte einen Knopf. Dann drehte sie einen Schalter, ließ ihn einrasten, und auf einer großen Leuchttafel erschien ein Name: VICTORY.
„Das ist unser Bestimmungsplanet.“
„Aber das ist doch ein Planet mit einer sehr eigenwilligen. und merkwürdigen Gesellschaftsform“, gab ich zu bedenken.
Su nickte.
„Du hast recht. Aber wir sollen uns nach Victory begeben. Die näheren Informationen gebe ich dir später.“
Das Mädchen drückte mit rasender Geschwindigkeit verschiedene Knöpfe. Einer der Transmitter erwachte zum Leben. Zwischen zwei grauen Säulen begann es plötzlich giftgrün zu flimmern.
„Komm“, riet Su und lächelte mir aufmunternd zu. Noch nie hatte ich einen Transmitter benutzt. Zögernd folgte ich Su.
Su löste sich vor meinen Augen auf. Sie wurde zu einem schillernden Etwas.
„Sobald wir auftauchen, lege einen Schutzschirm um deinen Körper. Sie werden uns sicherlich in der Empfangsstation erwarten.“'
Dann war sie verschwunden.
Zwischen besiedelten Planeten wurde als Transportmittel der Transmitter gewählt. Und von dieser Station aus führten zu allen bewohnten Planeten Transmitter.
Sobald ein Planet von Raumschiffen erkundet und als bewohnbar eingestuft wurde, errichtete man eine Transmitterstation.
Wenn man durch die giftgrün schillernde Öffnung verschwand, löste sich der Körper auf. Er zerfällt hierbei in einzelne Atome, die in rasender Geschwindigkeit der Empfangsstation entgegengeschleudert werden. Dort angekommen, vollzieht sich der Vorgang der Integration.
Ich trat in den Transmitter. Ich spürte nichts.
Sekundenbruchteile später tauchte ich in einem Raum auf, ähnlich dem, aus dem ich eben verschwunden war.
Drei Sirianer in gold- und grünbestickten Uniformen standen mit entsicherten Blastergewehren vor dem Ausgang des Transmitters. Als wir heraustraten, spuckten die Waffen blaurote Flammen. Wirkungslos prallten sie von unseren Schutzschirmen ab. Sekunden später sanken die drei Männer bewußtlos zu Boden.
Su blickte sich kurz um. Dann ging sie zielstrebig auf einen Schaltkasten zu, drückte auf einen Knopf und unterbrach so die Energiezufuhr zu sämtlichen im Raum befindlichen Transmittern.
„Das gibt uns einen gewissen Vorsprung.“
„Ich weiß etwas Besseres“ grinste ich. „Man entferne ganz einfach einige Schaltelemente – so - und jetzt...“
Wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich einer der Schaltkästen. Platten und Schrauben lösten sich, dann flogen einige Schaltelemente hervor, die durch eine kurze Anstrengung von mir total verbogen und unbrauchbar gemacht wurden. Ich öffnete noch einige Transmitter und setzte sie durch diese einfache Methode für einige Stunden außer Betrieb.
Grinsend trat ich auf Su zu.
„So, wie geht es jetzt weiter“, meinte ich vergnügt.
„Du kommst mir im Augenblick wie ein Lausbub vor“, stellte sie lächelnd fest.
„Ich stelle mir eben vor, was für dumme Gesichter die in den anderen Transmitterstationen machen werden, die Verbindung ist von allen Seiten unterbrochen. Die ganze Anlage ist aus dem Gleichgewicht gebracht. Das wird ein Theater geben. Schade, daß ich es nicht miterleben kann.“
Su ging voran. Vor der Tür blieb ich stehen. Ich konzentrierte mich kurz, die Tür glitt auf, und wir traten in einen breiten, ganz in Silber gehaltenen Gang.
„Niemand ist auf unser Auftauchen gefaßt. Nur die Bedienungsmannschaft des Transmitters hat den Auftrag bekommen, uns festzuhalten. Aber bald wird Verstärkung eintreffen. Wohin sollen wir uns wenden?“
„Wir sollen uns bei Cochon melden. Er ist einer der Leiter der hiesigen Untergrundbewegung.“
„Ich habe nicht gewußt, daß sich auf Victory eine Untergrundbewegung befindet“, meinte ich. „Aber warum auch nicht? Warum haben wir uns fangen lassen? Wir hätten doch sicherlich auch auf normalem Weg eindringen können, oder?“
„Ja, wahrscheinlieh. Aber wir wußten nicht genau, ob sich nicht etwas anderes hinter dieser Sperre befindet. Es war eine Fehlkalkulation - in deinen Augen. Aber es hat alles seinen bestimmten Zweck. Du wirst es später noch erfahren.“
Wir schwebten den Gang in unheimlichem Tempo entlang. Niemand kam uns entgegen.
„Sollen wir dieses Gebäude durch den normalen Ausgang verlassen, oder sollen wir uns auf etwas unauffälligere Weise entfernen?“
„Das kommt ganz auf die Situation an“, antwortete Su. „Wir wissen nichts über dieses Gebäude. Vielleicht ist es nur Sirianern gestattet, hier zu gehen.“
Ich spürte die Gedanken eines Menschen. Eines Einwohners von Victory. Ich drang kurz in die Gedanken des Menschen ein und stellte eine Frage:
„Ist es auffallend, wenn Menschen hier umhergehen? Sind Ausweise notwendig?“
„Nein“, antwortete mir der Mann.
Ich befahl dem Mann, meine Frage zu vergessen. Wir schwebten weiter.
„Unsere Kleidung wird uns verraten“, dachte Su.
„Du hast recht.“ Ich blieb stehen. Ich ergriff noch einmal Besitz von den Gedanken des Mannes.
„Wo befindet sich dieses Gebäude?“
„Im Zentrum der Innenstadt“, kam die Antwort.
„Ist es weit bis zur Altstadt“, mischte sich Su ein.
„Ungefähr fünf Kilometer.“
„Hat dieses Gebäude noch andere Ausgänge als den Haupteingang?“
„Mir ist kein anderer bekannt.“
Ich wandte mich Su zu.
„Wir könnten die Wachen hypnotisieren. Aber wir haben keine Ahnung, wie viele Leute sich auf der Straße befinden. Unter Umständen können wir nicht alle Leute hypnotisieren. Wir müssen alles vermeiden, was Aufsehen erregen könnte. Und die Zeit drängt.“
Ich überlegte kurz und hatte die Lösung. Ich teleportierte mich zu der Stelle hin, wo sich der Mann befand. Dabei schickte ich einen Gedanken an Su:
„Schau, ob du ein weibliches Wesen hier im Gebäude findest. Dann tausche mit ihr Kleider. Ich melde mich in wenigen Augenblicken wieder.“
Der Mann hatte annähernd meine Größe. Seine Kleidung mutete mich fremdartig an.
Er trug einen eigenartig, geformten Bart. Am Kinn spitz zulaufend, und die Haare reichten bis zur halben Backe. Seinen Anzug hatte ich nur auf alten Bildern gesehen. Der Mann trug ein weißes Hemd, und um den Hals ein komisch zusammengeknotetes Ding.
„Ziehen Sie sich aus!“ befahl ich ihm.
Das Hemd war viel zu eng für meine breiten Schultern.
„Was ist das?“ fragte ich den Mann.
„Es ist eine Krawatte“, sagte er. Eigenartig berührt, blickte ich das fremdartige Kleidungsstück an.
„Binden Sie es mir bitte um.“
Er tat es. Die Jacke legte sich unangenehm eng an meinen Oberkörper. Die Hose war zu kurz, und die Schuhe drückten. Ich fühlte mich höchst unbehaglich in diesen Kleidungsstücken.
Ich entleerte die Taschen der Jacke und der Hose, warf die Schlüssel, das Geld, die Brieftasche und die Zigaretten dem Mann zu.
Dann befahl ich ihm, die Vorgänge zu vergessen.
„Ich habe eine Frau gefunden“, spürte ich die Gedanken von Su. „Ihre Kleidung ist sehr eigenartig. Ich komme nicht richtig damit zurecht.“
„Mir ist es genauso gegangen“, lachte ich. „Ich gehe jetzt auf den Ausgang zu.“
„Ich komme sofort nach“, meinte Su.
Langsam ging ich den Gang entlang. Ich kam an einigen Menschen und Sirianern vorbei. Sie beachteten mied kaum. Nur eine Frau schien über meinen Anblick belustigt zu sein.
Die ungewohnte Kleidung, die abgetretenen und viel zu engen Schuhe, das alles rief in mir ein Gefühl des Unbehagens hervor.
Beim Eingang erblickte ich Su, und mein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
Sie sah zu komisch aus.
Su trug ein eigenartig geformtes Ding auf dem Kopf, es war spitz zulaufend, schwarz-rot, mit einer langen grünen Feder verziert. Es saß schief auf ihrem Kopf und wackelte bei jedem ihrer Schritte. An ihren Ohren baumelten zwei goldene Ringe. Ihre Lippen waren orangefarben bemalt. Ihre Augenbrauen schwarz geschminkt.
Sie trug einen dunkelblauen Pullover, darüber eine graue Jacke. Zwischen ihren Brüsten lag eine breite goldene Kette. Ein enger Rock zwängte ihre Rundungen taillenabwärts ein. Ihre Füße steckten in Schuhen mit hohen Absätzen.
Dauernd überknöchelte sie sich in dem ungewohnten Schuhwerk, und der enge Rock behinderte sie beim Gehen.
Ich spürte ihre verzweifelten Gedanken:
„Lange halte ich es nicht mehr aus. Der Rock - und diese Schuhe. Es ist zum Verrücktwerden. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man so ein unbequemes Zeug tragen kann.“
„Du schaust zum Schreien aus, Su“, stellte ich fest.
„Du schaust auch wie eine Witzfigur aus“, fauchte sie mich an.
Still vor mich hin schmunzelnd, schritt ich, gefolgt von Su, an den Wachen vorüber.
Wir traten auf eine breite Straße. Ohrenbetäubender Lärm schlug uns entgegen. Hupende Autos, kreischende Straßenbahnen, dazu das Gehaste von unzähligen Menschen.
„Entsetzlich“, stöhnte Su und preßte ihre Hände auf die Ohren.
„Das ist doch nicht möglich“, stammelte ich.
„Leider doch. Die Bewohner von Victory sind eine sehr eigenartige Menschenrasse. Hier herrscht eine Zivilisation, wie sie vor Hunderten von Jahren auf der Erde existierte.
„Dann steht uns ja allerhand' bevor“, stellte ich trocken fest.
„Es ist für uns sehr ungewohnt, aber wir werden uns rasch daran gewöhnen.“
„Warum sind wir gerade hierher gelotst worden?“
„Was weißt du über das zwanzigste Jahrhundert, Bryce?“
„Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß Geschichte nie meine Stärke war. Außerdem lernt man in der Schule kaum etwas darüber. Es sind immerhin schon über siebenhundert Jahre vergangen.“
„Später werde ich dir genauere Informationen geben. Die Menschen sind nicht nur so gekleidet wie im zwanzigsten Jahrhundert, sie denken und handeln zum Großteil so, wie die Menschen der damaligen Zeit gehandelt haben. Verschiedene Sitten und Gebräuche des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wurden übernommen. Die Menschen hatten sich hier im zweiundzwanzigsten Jahrhundert angesiedelt und weigerten sich, ihr Regierungssystem, ihre Gebräuche und Sitten sowie ihre Ansichten zu ändern. Und das kann heute die Menschheit retten.“
Ich verstand zwar nicht, was diese Menschen so Besonderes an sich hatten, außer daß sie sehr laut sprachen, daß ihre Fahrzeuge einen fürchterlichen Lärm verursachten und daß sich die Luft schwer atmen ließ.
Su hatte sich bereits an ihre Schuhe gewöhnt. Sie beobachtete aufmerksam den Gang anderer Frauen. Bald wackelte sie mit elegantem Hüftschwung durch die Straßen.
Die Straßen waren breit, vollgestopft mit Autos der verschiedensten Größen und Farben. Hohe Häuser ragten vor uns auf. Wir kamen an großzügig angelegten Parks, riesigen Geschäftslokalen und Kinos vorbei. Die Menschen waren ähnlich wie wir gekleidet. Ich konnte mir vorstellen, wie wir in unserer eigenen Kleidung hier gewirkt hätten. Die Richtung, in die wir gehen mußten, hatten wir dem ahnungslosen Gehirn eines Fußgängers entnommen.
„Wie heißt diese- Stadt?“ fragte ich Su.
„Sie wird New Paris genannt.“
„Paris. Diesen Namen habe ich doch schon einmal gehört. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wann.“
„Paris war in der griechischen Sage der Sohn des Königs Priamos. Außerdem wurde eine Stadt in einem Land, ich glaube es war Frankreich, so genannt.“
„Ach ja, jetzt kann ich mich erinnern. Sie wurde doch die Stadt der Sünde genannt und vor langer Zeit total zerstört.“
„Ja, stimmt. Ihre Städte haben alle die Namen von früheren Städten der Erde.“
Die Straßen wurden schmäler. Unrat lag auf den Bürgersteigen, Frauen mit aufgedunsenen Gesichtern und fetten Leibern kamen uns entgegen.
„Wir sollen in der rue de la remission einen Mann namens Cochon treffen. Er wird uns nähere Anweisungen geben.“
Wir kamen durch immer schmutzigere Gassen.
Die Straßennamen waren für mich unverständlich. Ich fühlte mich hier höchst unbehaglich. Ich war das Leben auf der Erde gewöhnt. Hier ging es offensichtlich den Menschen viel besser als bei uns auf der Erde. Bis jetzt hatte ich noch keinen einzigen Sirianer gesehen.
Auf der Erde war alles verboten, hier alles erlaubt. Diesen Eindruck gewann ich zumindest. Dieser Planet war anscheinend kampflos in die Hände der Sirianer gefallen. Die Erde hatte sich heftig gewehrt. Sie war zur Hälfte total verwüstet worden, die Menschen geknechtet, zu besseren Sklaven degradiert. Alle alten Gebäude und Sitten wurden verboten.
Was ich nicht verstand, war das vollkommene Fehlen der Sirianer. Auf der Erde sah man viele der sirianischen Polizeifahrzeuge und immer schwer bewaffnete Polizisten. Aber hier? Nichts war davon zu bemerken. Es gab Polizisten, aber es handelte sich dabei durchwegs um Einheimische.
Die Menschen machten einen irgendwie gelösten Eindruck. Sie hasteten zwar herum, doch sie gingen aufrecht und blickten jedem ins Auge. Nicht so auf der Erde. Dort herrschte die Angst zu jeder Stunde des Tages.
Hier saßen viele Leute in den unzähligen Gaststätten, die Geschäfte waren mit Menschen überfüllt.
Su merkte meine Überraschung.
„Bald werden wir mehr wissen“, spürte ich ihre Gedanken.
Ich nickte.
„Gleich um die Ecke ist die rue de la remission. Cochon wird uns Auskunft geben können.“
Das Haus mit der Nummer 17 unterschied sich nicht wesentlich von den anderen Häusern dieser Gasse. Es war zweistöckig, der Verputz bröckelte herunter und ließ hellrote Ziegelsteine sehen. Die Fensterstöcke und Scheiben starrten vor Schmutz.
Die Eingangstür, dunkelgrau gestrichen, knarrte, als ich sie aufstieß. Ein Geruch von Kohl, verbrannter Wäsche und Toilettenanlagen schlug uns entgegen.
Vor dem Stiegenaufgang blieben wir stehen.
„Er ist im zweiten Stock. Tür Nummer 8“, sagte Su.
Wir stiegen die wackeligen Stufen hinauf. Vor einer dunkelbraun gestrichenen Tür blieben wir schließlich stehen. Minuisier stand auf einem Glasschild.
Es befand sich keine Glocke an der Tür. Ich klopfte fest gegen die Türfüllung.
„Ich komme. Einen Augenblick bitte“, hörten wir eine tiefe Stimme.
Schritte kamen näher, die Tür wurde aufgerissen, und ein breitschultriger Mann, bekleidet mit einem roten Flanellhemd, blickte uns an. Er trug eine schwarze abgewetzte Hose, seine Füße steckten in Sandalen.
„Wir suchen Herrn Cochon, sind wir hier richtig?“ fragte ich den Mann.
Der Breitschultrige grinste uns an.
„Ja, Sie sind hier richtig. Kommen Sie bitte herein.“
Das Vorzimmer paßte gar nicht in dieses alte Haus und zu diesem Mann. Es war sehr geschmackvoll eingerichtet. Ein breites Fenster gab den Blick auf einen großen Garten frei. An den Wänden hingen alte Gemälde.
„Bitte, folgen Sie mir.“
Er sieht wie ein Schwein aus, dachte ich. Er geht und bewegt sich wie ein Schwein. Sein breites Gesicht, mit der rüsselartigen Nase, den kleinen Augen und der grunzenden Stimme, alles erinnerte mich sehr an ein Schwein.
Das Wohnzimmer war groß. Es standen einige Sessel umher, daneben ein niederer Tisch. Auf diesem stand eine Flasche mit einer roten Flüssigkeit. An den Wänden hingen große schöne Gemälde. Zwei Schränke aus gemasertem Holz, ein Musikschrank, ein Fernsehapparat.
Wir schritten über einen weichen grünen Teppich.
„Bitte, nehmen Sie Platz“, grunzte Cochon.
Wir versanken in den sich unserer Körperform anpassenden Stühlen...
„Herr Cochon...“
Der Angesprochene lachte dröhnend auf.
„Warum lachen Sie?“ fragte ich ihn verwundert.
„Sie haben mich Herr Cochon genannt.“
„Was ist daran so lustig?“
Er zuckte die Achseln.
„Für Sie nicht, aber für mich. Wissen Sie, was Cochon in Ihrer Sprache bedeutet?“
„Keine Ahnung.“
„Schwein. Es ist ein Schimpfwort, deshalb ist das ‚Herr' etwas fehl am Platz...“
„Entschuldigen, Sie, aber ich wußte ...“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich sehe wie ein Schwein aus. Deshalb nennen mich alle meine Bekannten nur Cochon. Das Herr lassen Sie in Zukunft also weg, ja?“
„Wie Sie wollen.“
„Sie werden sicherlich hungrig sein, stimmt das?“
Ich nickte.
Cochon drückte auf einen Knopf in der Tischplatte; ein Mikrophon erschien, und er grunzte etwas in einer fremden Sprache hinein.
„In wenigen Minuten kommt das Essen. Sie werden sicherlich viele Fragen an mich haben. Aber warten wir lieber damit, bis Sie gesättigt sind, ja?“
Die Tür öffnete sich, und ein junges, verschreckt blickendes Mädchen erschien. Sie trug ein riesiges Tablett. Sie stellte es ab.
„Bitte greifen Sie zu“, forderte uns Cochon auf.
Überrascht starrte ich das Tablett an.
Neben zwei Bestecken und zwei kleinen Tellern, einigen Gläsern und Flaschen, befand sich ein riesiger Teller, auf dem Speisen lagen, die ich bislang noch nie gesehen hatte.
„Ich weiß, die Speisen muten Sie fremdartig an. Sie können aber ruhig zugreifen, es wird Ihnen sicherlich schmecken.“
Wir griffen zu, und es schmeckte uns. Käse, Fleisch, verschiedene Sorten Wurst, Kaviar, merkwürdig geformtes Gemüse, Fisch und Eier.
Schweigend aßen wir.
Cochon hatte sich zurückgelehnt und beobachtete uns aufmerksam.
Soviel hatte ich schon lange nicht mehr gegessen.
Das Mädchen erschien wieder. Sie räumte das Geschirr weg.
Entspannt lehnte ich mich zurück.
„Zigarette?“ fragte uns der Rosagesichtige.
„Ja, sehr gern.“
Er reichte mir die Zigarettenpackung herüber, und ich bediente mich.
„Sie können vollkommen ungeniert sprechen. Man kann uns nicht abhören. Zumindest nicht mit den Mitteln, über welche die Sirianer verfügen.“
„Warum sind wir gerade nach Victory gekommen?“ fragte ich neugierig.
„Es wäre natürlich sehr einfach, wenn Sie meine Gedanken lesen könnten, aber leider ist dies nicht möglich...“
„Ich versuchte es, doch ich erhaschte nicht einen einzigen Gedankensplitter.“
Cochon grinste mich an.
„Meine Fähigkeit ist ganz nützlich. Man kann meine Gedanken nicht lesen. Da die Sirianer über Apparate verfügen, mit denen man Gedanken lesen kann, ist es für mich natürlich sehr nützlich, daß sie bei mir versagen müssen.“
Er beugte sich vor und drückte seine Zigarette aus.
„Warum wurde unser Planet ausgewählt? Sehr einfach zu beantworten. Da wir der einzige Planet sind, der sich einen Teil seiner Unabhängigkeit bewahrt hat. Wir haben die beste Untergrundbewegung. Tadellos geschult, gut ausgerüstet“
„Warum haben Sie dann noch nicht zugeschlagen?“ fragte Su.
Cochon drehte sich ihr zu.
„Wir haben auf Sie gewartet. Ohne zwei gut ausgebildete Mutanten ist es für uns unmöglich, loszuschlagen. Jetzt sind Sie da, und wir schlagen zu. Morgen.“
„Warum so rasch? Wir sind doch kaum da.“
„Ganz einfach. Sie sind nicht mit unseren Gebräuchen vertraut, sonst wüßten Sie Bescheid. Morgen ist der Tag der ‚Geschäftsübernahme'. Zu diesem Zeitpunkt fallen bewaffnete Männer nicht auf.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Was ist eine Geschäftsübernahme?“
Cochon grinste wieder.
Dann seufzte er.
„Ich erzähle Ihnen ganz kurz, was auf unserem netten Planeten vorgeht.“
Er beugte sich vor und trank sein Glas leer.
„Im einundzwanzigsten Jahrhundert wurde auf der Erde der Krieg abgeschafft. Die Methode war sehr einfach. Gib jedem Menschen die Chance, die er verdient. Und es wurde damit die perfekte Methode gefunden. Aber davon werden Sie garantiert nie etwas gehört haben. Später ging man auf der Erde von dieser Methode ab, aber wir hielten sie bei. Bei uns wird alles vom Staat gelenkt. Jedes Kind wird nach der Geburt in ein Säuglingsheim gebracht. Jedes Kind hat die gleichen Möglichkeiten und Chancen. Es kommt dann in einen Kindergarten, dann in die Schule. Jedes Kind wird nach seinen Fähigkeiten eingestuft und erhält die entsprechende Ausbildung. Es gibt einfach keine Bevorzugung. Alles wird von einer gigantischen Computeranlage durchgeführt. Mit achtzehn Jahren wird der Zögling entlassen. Er tritt in einen Betrieb ein. Er kann natürlich immer in der niedrigsten Klasse verbleiben. Doch die meisten jungen Menschen wollen eine bessere Position erreichen. Jeder kann sich weiterbilden. Besteht er die Prüfung und wird ihm bescheinigt, daß er fähig ist, einen Posten der nächsthöheren Klasse auszufüllen, dann kann er seinen Anspruch auf diesen Posten geltend machen. Er erhält eine Jagdgenehmigung. Mit dieser Jagdgenehmigung...“
„Was ist eine Jagdgenehmigung“, unterbrach ich Cochon.
„Mit einer Jagdgenehmigung kann er Jagd auf seinen Vorgesetzten machen. Sollte es ihm gelingen, seinen Vorgesetzten zu töten, dann erhält er dessen Posten, und sein früherer Vorgesetzter wird um eine Klasse tiefer gesetzt...“
„Aber das ist doch nicht möglich. Wenn er tot ist, kann er doch nicht...“
„Ach ja, San-Roboter gibt es auf der Erde nicht mehr.“
Er zündete sich umständlich eine Zigarette an.
„Morgen ist Jagdtag. Da werden unzählige San-Roboter eingesetzt. Es ist möglich, einen Menschen bis zu drei Stunden nach seinem Tod zum Leben wiederzuerwecken...“
„Aber das gibt es doch nicht. Das ist unmöglich“, stellte ich fest.
Su drehte sich mir zu.
„Du warst auch tot, Bryce. Und doch lebst du.“
„Stimmt“, gab ich widerwillig zu.
„Ist jemand getötet worden, so kümmern sich sofort San-Roboter um diese Person. Es gibt also keine wirklichen Toten mehr. Alles ist perfekt geregelt. Man muß sich nicht an einer Jagd beteiligen. Aber es gibt keine Möglichkeit, sich vom Gejagdwerden auszuschließen. Außer es meldet sich niemand, der Ansprüche stellt.“
„Und wie ist es mit Politikern und Künstlern?“
„Für diese gibt es eine Sonderregelung. Diese Personen haben andere Möglichkeiten. Aber es würde jetzt viel zu weit gehen, wenn ich Ihnen alles ganz genau erkläre. Sie können zu einem anderen Zeitpunkt alles nachlesen.“
Ich starrte vor mich hin. Eine sehr eigenwillige Gesellschaftsordnung. Aber nicht ohne Vorteile.
„Sicherlich werden Sie sich gewundert haben, weshalb wir soviel Freiheit haben. Dies liegt nur an unserem System. Unsere San-Roboter wachen darüber, daß niemand zu Schaden kommt. Und nicht nur am Jagdtag. Sollten wir Sirianer töten, würden sie von den San-Robotern sofort zum Leben erweckt werden. Uns sind die Hände gebunden. Das wissen die Sirianer ganz genau. Ihre wichtigste Aufgabe wird es morgen sein, die Zentrale der San-Roboter zu vernichten. Dann können wir gegen die Sirianer losschlagen. Morgen fallen bewaffnete Männer und Frauen nicht auf. Das ist üblich, da ja Jagdtag ist.“
„Und was geschieht, nachdem die San-Station erobert wurde?“ fragte ich.
„Dann müssen wir uns der Transmitterstationen bemächtigen. Anschließend werden wir versuchen, auf den Heimatplaneten der Sirianer zu gelangen.“
„Hm, aber warum brauchen Sie uns? Die San-Station können Sie doch sicherlich allein erobern, oder?“
Cochon zuckte die Achseln.
„Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Und wir wollen uns auf kein Risiko einlassen. Sollte unser Aufstand morgen mißlingen, dann würde es kaum einen zweiten geben. Das ist sicher. Hier auf Victory wird es sicher klappen, aber im Sirius...“
Er schwieg und blickte uns ernst an.
„Also ist die ganze Sache etwas wackelig!“
„Ja und nein. Es ist ziemlich schwierig. Wir wissen kaum etwas vom Sirius. Es befindet sich kein Mensch auf diesem Planeten. Wir wissen nur, wo sich das Hauptquartier befindet. Aber was uns dort erwartet? - Ich weiß es nicht. Niemand von uns weiß es. Der Erfolg hängt von Ihnen ab. Wir können Sie nur unterstützen. Die Hauptarbeit haben Sie zu leisten. Auf Ihren Schultern liegt die ganze Hoffnung der Menschheit. Von Ihnen wird es abhängen, ob wir einen endgültigen Sieg erringen, oder ob wir uns nur blutige Köpfe holen.“
Ich lehnte mich nachdenklich vor. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schlug damit leicht auf den Tisch. Dann hob ich den Blick und sah Cochon an.
„Sie haben uns keine leichte Aufgabe zugeteilt. Wir sind die Hoffnung der Menschheit. Das klingt so pathetisch. Kitschig würde ich sagen.“
„Sie haben vollkommen recht. Es klingt kitschig. Aber trotzdem ist es die Wahrheit.“
Er stand auf.
„Vor allem müssen wir Ihnen vorerst einmal vernünftige Kleider besorgen. In diesem Aufzug können Sie nicht herumgehen. Bitte, folgen Sie mir.“
Wir erhoben uns aus unseren Sesseln und folgten Cochon. Er trat auf einen Schrank zu, drückte einen Knopf, und die Schranktüren öffneten sich. Im Kasteninneren befand sich ein kleiner Aufzug.
„Wohin führen Sie uns?“ erkundigte sich Su.
„In unser Hauptquartier. Diesen Aufzug haben wir eigentlich nur als Notausgang vorgesehen. Vorsicht hat aber noch nie geschadet.“
Mit ruckenden Bewegungen glitt der Aufzug in die Tiefe. Wir standen eng aneinandergepreßt auf der schmalen Platte.
„Unsere Organisation ist ein ordnungsgemäß angemeldeter Sport- und Übungsverein. Wir bilden hier unsere Mitglieder für den Kampftag aus. Das Pech der Sirianer ist es nur, daß unsere Mitglieder ausnahmslos auch Mitglieder der Untergrundbewegung sind. Üblicherweise findet einmal in der Woche eine Razzia der sirianischen Polizei statt. Sie überprüfen die Bücher und schauen sich den Übungsbetrieb an. Das ist bei uns so Vorschrift. Aber die überprüfenden Beamten nehmen es da nicht so genau. Die ganze Razzia dauert in der Regel kaum fünf Minuten.“
Der Aufzug blieb stehen. Die Türen glitten automatisch zurück. Vor uns lag ein schmaler Gang. Eine Lampe spendete nur schwaches Licht. Die Wände waren aus roten, groben Ziegeln geformt, glitschig und feucht.
„Wir haben einen längeren Fußmarsch vor uns. Aber so, wie Sie beide aussehen, ist es besser, wir gehen hier unten statt oben auf der Straße. Sie schauen ja wirklich verwunderlich aus.“
Su blieb stehen und zog ihre Schuhe aus.
„Ich gehe lieber barfuß. An jeder Ferse habe ich bereits eine Blase bekommen. Daß es überhaupt so unbequeme Schuhe gibt“, stöhnte sie auf.
Der Gang verlief in einem spitzen Winkel nach rechts. Er war schmal und niedrig gebaut. Cochon ging als erster. Su klammerte sich an mir fest. Ich mußte gebückt gehen, sonst hätte ich mir ständig den Kopf angeschlagen. Es war kühl hier unten, Schweigend gingen wir weiter. Unsere Schritte hallten merkwürdig hohl in diesem - schmalen Gang.
„Bald haben wir es geschafft. Es dauert nicht mehr lange“, ließ sich Cochon vernehmen.
Nach ungefähr zwanzig Minuten Marsch verbreitete sich der Gang und endete in einem hellerleuchteten, dreieckigen Raum.
„So, da wären wir. Die Stufen hinauf, und wir sind am Ziel angelangt.“
Wie stiegen die feuchten Stufen hinauf. Das Holz knirschte unter unserem Gewicht.
Cochon klopfte in einem bestimmten Rhythmus an der Tür. Schritte näherten sich. Von der anderen Seite her wurde einmal kurz gegen die Holzfüllung der Tür geschlagen. Cochon klopfte zurück. Diesmal in einem anderen Rhythmus.
Endlich wurde die Tür geöffnet, und ein verhutzeltes Männchen starrte uns an.
„Das ist Sam“, grunzte das Schwein.
„Sehr erfreut, wirklich sehr erfreut, so eine hübsche junge Dame bei uns begrüßen zu dürfen.“
Er verbeugte sich wieder.
Dann gab er mir die Hand. Er drückte die meine mit einer Kraft, die ich dem kleinen Kerl nie zugetraut hätte.
„Das ist Bryce“, stellte mich nun Cochon vor.
„Ich bin sehr glücklich, daß ich Sie nun endlich kennenlerne.“
Ich nickte ihm kurz zu. Sam drehte sich um und ging voraus.
Wir boten einen ziemlich komischen Anblick. Voran das kleine Männchen, dahinter Su mit den Schuhen in der Hand, dann folgte ich mit meinen für mich ein wenig zu klein geratenen Kleidern, hinter mir schnaufte der schweinsgesichtige Cochon.
Doch wir erregten kein Aufsehen.
Die Halle, die wir eben durchquerten, war leer. Es handelte sich um eine riesige Turnhalle. An der einen Wand befanden sich ungefähr zwanzig Kletterstangen. Ein Reck gleich daneben. Verschiedene andere Sportgeräte standen ebenfalls im Raum. Wir kamen an einem Pferd vorbei, dann an einer Weitsprunghocke.
„Wir haben hier vier Turnsäle, vier Boxringe, verschiedene Schießstände usw.“
„Wie viele Mitglieder haben Sie, Sam?“ fragte ich ihn.
„An die fünfhundert. Alles brave Kämpfer, die nur auf ihren Einsatz warten.“
Er kicherte leise vor sich hin.
„Vorerst werden wir Ihnen Turnkleidung geben. Später besorge ich Ihnen noch andere Kleidung.“
Sam führte Su und mich zu den Umkleidekabinen. Er brachte mir eine blaue Turnhose und eine Jacke der gleichen Farbe. Dazu legte er weiche Leinenschuhe mit einer dicken Gummisohle.
Ich zog mich um und verließ die Kabine.
„So, nun warten wir nur noch auf Su“, meinte Sam. „Dann werde ich Ihnen einige Instruktionen geben. Es ist nämlich möglich, daß uns die Polizei heute ihren routinemäßigen Besuch abstattet. Da ist es natürlich gut, wenn Sie wissen, wie Sie sich zu verhalten haben.“
Ich nickte.
Eine Tür öffnete sich, und Su trat hervor.
Sie trug ebenfalls einen blauen Turnanzug, der sich um ihre reizvollen Formen schmiegte.
Sie spürte meine Gedanken und wurde rot. Sie blickte mich mißbilligend an.
„Deine Gedanken gefallen mir gar nicht, Bryce“, rügte sie mich auf telepathischem Weg.
„Aber mir gefallen sie“, strahlte ich zurück und grinste sie an. Sie wurde noch mehr rot.
Sam blickte Su an. Seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, daß er sich sehr wunderte, warum Su rot geworden war.
„Gehen wir in mein Büro“, forderte er uns auf.
Wir folgten ihm.
Das Büro war schlicht eingerichtet. Er bot uns Getränke und Zigaretten an.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz.“
Wir setzten uns nebeneinander auf eine breite Couch.
»Sollte uns die Polizei wirklich heute besuchen kommen, dann brechen Sie nicht in Panik aus. Lassen Sie sich nicht zu unbesonnenen Handlungen hinreißen. Wir haben Sie schon vor einiger Zeit in unsere Mitgliederkartei aufgenommen und auch die entsprechenden Ausweise vorbereitet. Hier sind sie.“
Er griff in eine Lade und holte zwei graue Ausweise hervor.
„Sie sind Herr und Frau Powers. Ihre Vornamen sind gleichgeblieben. Alle näheren Daten ersehen Sie aus den Ausweispapieren. Bitte, prägen Sie sich die Angaben genau ein.“
Er reichte uns die Papiere. Ich tat, als würde ich den Text aufmerksam studieren, dabei tauschte ich Gedanken mit Su aus.
„Nun, mein geliebtes Weib, du wirst mir doch nicht verbieten wollen, daß ich dich anschaue und dabei an bestimmte Dinge denke...“
„Hör sofort auf“, unterbrach sie mich zornig. „Jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, um zu scherzen. Das kannst du ein andermal machen.“
Na ja, so sind die Frauen. Aber natürlich hatte sie recht. Ich studierte die Daten aufmerksam, dann steckte ich den Ausweis in meine Brusttasche.
„Sagen Sie mir nur eines, Sam. Seit wann wissen Sie von unserer Ankunft?“
Er lächelte still vor sich hin.
„Seit einem halben Jahr!“
„Das gibt es doch nicht! Da habe ich ja selbst noch nichts davon gewußt. Das ist unmöglich.“
„Der Tag, an dem wir zuschlagen sollen, wurde schon .vor einem Jahr bestimmt. Aber Ihren Namen erfuhr ich erst vor einem halben Jahr.“
Ich lehnte mich zurück und überlegte. Es überstieg mein Vorstellungsvermögen. Vor einigen Wochen hatte ich noch gar nicht gewußt, daß ich mich gegen die Sirianer erheben würde. Und vor einem Jahr war schon festgelegt worden, daß jemand heute kommen sollte. Und vor einem halben Jahr wußte Sam bereits, daß ich und Su kommen würden.
Ich blickte Su fragend an.
Doch sie lächelte mir nur spöttisch zu.
„Ja, zum Teufel noch einmal, will mir denn niemand sagen, was hier gespielt wird. Wie passe ich da in dieses Bild hinein?“
„Du wirst noch alles rechtzeitig erfahren, Bryce.“
„Ach was, damit vertröstet ihr mich immer wieder. Ich komme mir wie ein kleiner Junge vor. Warum sagt ihr mir nicht endlich die Wahrheit?“
Su schüttelte den Kopf.
„Je weniger du weißt, desto besser ist es. Glaube mir, Bryce. Du spielst eine entscheidende Rolle. Du stellst den auslösenden Faktor dar. Deine Rolle ist schon lange vorbereitet, und alles hat seinen Zweck. Alles hat seinen Sinn gehabt, auch dein Tod und deine Heilung. Aber das wirst du erst später erfahren.“
Ich schwieg.
„Sollte die Polizei wirklich kommen”, fuhr Sam fort, wird sie routinemäßig unsere Bücher kontrollieren und einige Mitglieder überprüfen. Sonst geschieht praktisch nichts. Aber natürlich ist es möglich, daß durch Ihr Verschwinden heute verstärkte Kontrollen durchgeführt werden. Es dürfte das beste sein, wenn Sie sich immer in meiner oder in der Nähe von Cochon aufhalten. Ach nein, Cochon scheidet aus. Dessen Gedanken können Sie ja nicht lesen. Also bleiben Sie in meiner Nähe. Sollte eine Befragung oder Überprüfung stattfinden, dann denke ich die Antworten, und ihr braucht sie nur nachzusagen. Okay?“ fragte er uns.
Wir nickten.
Die Tür öffnete sich, und Cochon trat ein. Er trug einige Pakete unter dem Arm.
„Da bin ich wieder“, grinste er. „Ich habe verschiedene Kleidungsstücke mitgebracht. Hoffentlich habe ich die richtigen Größen erwischt. Wenn nicht, dann werden wir die Sachen ändern lassen.“
Er öffnete die Pakete, und ich blickte die Kleidungsstücke skeptisch an.
„Hoffentlich haben Sie uns Kleidung gebracht, in der man sich bequem bewegen kann.“
„Keine Sorge“, lachte er. „Sie werden mit mir zufrieden sein. Aber einstweilen bleiben Sie in Ihren derzeitigen Anzügen.“
Ich zündete mir eine Zigarette an.
„So, nun kommen wir auf den morgigen Tag zurück. Um acht Uhr ist der offizielle Beginn der Jagd. Zu diesem Zeitpunkt werden wir Sie beide zum San-Zentrum bringen. Sie müssen die Station außer Gefecht setzen. Wir werden in der Zwischenzeit auch nicht untätig sein. Wir müssen so viele Sirianer wie möglich gefangennehmen. Vor allem darf es keinem Sirianer gelingen, durch die Transmitterstationen zu entfliehen.“
„Ich finde es besser“, schaltete ich mich ein, „wenn ich die Sanitätszentrale einzunehmen versuche und Su sich auf die Transmitterstationen konzentriert. Es soll doch möglichst nichts von einem Aufstand auf dem Sirius bekanntwerden, oder?“
„Ja, das ist schon richtig. Aber unter Umständen ist es nur zu zweit möglich, das San-Zentrum einzunehmen.“
„Schon möglich. Aber wie viele Transmitter gibt es auf Victory?“
„Fünf.“
„Aber wir sind doch nur zu zweit. Wir können auf gar keinen Fall alle fünf Transrnitterstationen einnehmen. Und sicherlich gibt es auch mehrere San-Zentralen.“
„Ja, es gibt Hunderte San-Stationen. Aber hier haben wir das absolute Zentrum. Von hier aus kann man alle San-Stationen lahmlegen. Deshalb ist es für uns besonders wichtig, daß diese Hauptstation ausgeschaltet ist. Die Transmitter können wir auch selbstständig einnehmen. Das ist alles genau geplant. Sobald die San-Roboter ausgeschaltet sind, geht schlagartig der Angriff auf die Transmitter los. Die Sirianer werden überrascht. Und es dürfte nicht so schwer sein, nachher auch Transmitterstationen auf anderen Planeten einzunehmen. Aber darum geht es gar nicht. Unsere Aufgabe liegt vor allem darin, die Stationen auf unserem Planeten zu erobern und alle Verbindungen zu den anderen Planeten - mit Ausnahme vom Siriussystem - zu unterbrechen. Damit unterbinden wir eventuellen Nachschub von anderen Planeten. Unsere vordringlichste Aufgabe liegt darin, die Sirianer auf ihrem eigenen Planeten zu schlagen. Und Sie sind unsere ganze Hoffnung.“
„Gut“, sagte ich und nickte. „Ich verstehe ungefähr Ihren Plan. Es dürfte, da haben Sie sicherlich recht, besser sein, wenn Su und ich uns gemeinsam auf die San-Zentrale konzentrieren.“
„So. Nun werde ich Ihnen kurz über die Befestigungen der Station erzählen...“
Kurz war es nicht. Sam redete über eine Stunde lang. Dazu legte er uns Karten und Fotos vor. Und dann gingen wir das Ganze noch einmal von vorn durch. Ich prägte mir jede Einzelheit ein.
„Was machen wir nun?“ fragte ich und lehnte mich entspannt zurück. Cochon grinste mich an.
„Sie nehmen an, daß wir alles erledigt haben?“
„Ja, was gibt es noch?“
Sein Lächeln vertiefte sich.
„Jetzt nehmen wir durch, was Sie anschließend auf dem zweiten Planeten des Sirius durchzuführen haben.“
Ich stöhnte gequält auf.
Und jetzt begann Cochon zu sprechen. Und wieder wurden uns Fotos und Karten vorgelegt. Mir wurde leicht schwach in den Knien.
„Und das alles sollen wir durchführen?“ fragte ich ihn abschließend. Er grinste wieder.
„Hört sich nicht leicht an, was?“ knurrte er.
„Das kann man wohl sagen. Wir sollen in den Palast eindringen. Auf das kommt Ihr Plan heraus. Aber was uns dort drinnen erwartet, darüber können Sie uns leider keine Auskunft geben. Können Sie sich auch nicht einmal vorstellen, was uns dort erwartet?“
Er zuckte die Achseln.
„Nein, leider nicht. Wir wissen nur, daß sich dort das Zentrum und die Macht der Sirianer befindet. Von dort kommen alle Befehle, und alle Fäden laufen dort zusammen. Wir haben natürlich versucht, dort jemanden einzuschmuggeln, doch es ist uns immer wieder mißlungen. Sie sind, sobald Sie in den Palast eindringen, auf sich allein gestellt, und wir können nur hoffen, daß Sie Erfolg haben.“
„Ihre Hoffnung wird uns sicherlich weiterhelfen“, bemerkte ich höhnisch.
Su blickte mich mißbilligend an.
„So, nun wiederhole ich noch einmal...“
„Um Himmels willen, Cochon, muß es sein? Mir raucht schon der Kopf.“
Doch er blieb unerbittlich.
Nachher blieb ich vollkommen erschöpft in meinem Sitz hängen.
„Ich lasse Ihnen sofort etwas zu essen bringen“, ließ sich Sam vernehmen, der schweigend dagesessen und Cochons Rede gelauscht hatte.
Heißhungrig schlang ich das Essen hinunter.
Kaum waren Su und ich fertig, als Cochon hereinstürzte.
„Raus mit euch. Eine Razzia wird in wenigen Minuten beginnen. Sam, komm auch mit.“
Wir eilten Cochon nach.
„Bleibt immer in Sams Nähe“, befahl uns Cochon.
Sie führten uns in einen großen Saal, in dem an die fünfzig Frauen und Männer mit Pfeil und Bogen nach Scheiben schossen.
Sam drückte Su und mir einen Bogen in die Hand. Dann reichte er uns einige Pfeile.
„Ruhig bleiben, nicht nervös werden“, versuchte er uns zu beruhigen. Ich grinste ihn an.
„Der einzige, der hier nervös ist, das sind Sie“, stellte ich fest.
Sam grinste zurück.
Ich kam mir ziemlich komisch mit dem Bogen vor. Noch nie in meinem Leben hatte ich so ein Ding in der Hand gehabt.
„Erklären Sie mir bitte, wie dieses Ding genau funktioniert“, bat ich Sam. Er führte es uns vor.
Die Tür wurde geöffnet, und zwei Sirianer traten ein. Niemand nahm von ihnen Notiz, wie ich aus den Augenwinkeln sah.
Ich durchforschte die Gedanken der Sirianer. Es handelte sich nicht um eine Routinebefragung. Sie hatten Auftrag, nach Su und mir zu suchen. Aber die Beschreibung, die sie von uns hatten, traf auf ein Dutzend der Anwesenden zu.
„Aufhören!“ schrie einer der sirianischen Zwerge.
Alle blieben stehen und drehten sich nach dem Sirianer um.
„Stellt euch alle dort an die Wand. Die Gesichter zu mir her. Und niemand spricht ein Wort.“
Gehorsam traten wir an die Wand.
Sam stellte sich zwischen Su und mich. Noch zwei Sirianer traten ein.
„Ausweiskontrolle!“ brüllte einer.
Jeder fummelte an seinen Tasche herum und brachte den Ausweis zum Vorschein. Von jeder Seite kamen zwei Beamte die Reihe entlang. Sie kontrollierten genau die Ausweise. Schließlich war die Kontrolle fast vorüber.
Der Beamte war bei mir angelangt. Er nahm meinen Ausweis und prüfte ihn genau. Dann blickte er mich forschend an. Er gab mir den Ausweis zurück und überprüfte Sam.
Endlich war die Kontrolle vorüber.
„Weitermachen“, rief der sirianische Offizier und verließ den Raum, gefolgt von seinen Untergebenen.
„Ist ja ganz einfach gegangen“, freute sich Sam. „Es wich zwar von den üblichen Besuchen etwas ab, aber...“
„Sie suchten uns“, stellte Su fest.
„Ach so, das erklärt natürlich alles. Aber sie stellen sich reichlich ungeschickt bei dieser Suche an. Sie können sich doch denken, daß Sie mit Ausweisen ausgestattet wurden...“
„Nein, das glaube ich eigentlich nicht“, unterbrach ich Sam. „Sie können nicht ahnen, daß wir einen Plan verfolgen. Sie werden annehmen, wir seien zufälligerweise nach Victory geflohen.“
„Gehen wir“, forderte Sam uns schließlich auf.
In Cochons Wohnung probierten wir unsere neuen Kleider. Sie paßten ausgezeichnet.
+ + +
Erfrischt und ausgeruht erwachte ich am nächsten Tag. Ich drehte und wendete mich noch einige Male im Bett, bevor ich schließlich aufstand.
Ich versuchte, nicht an den vor mir liegenden Tag zu denken. Doch immer wieder irrten meine Gedanken ab, während ich mich wusch und ankleidete.
Würden wir es schaffen?
Ich zuckte die Achseln. Nachdenken nützt nur sehr wenig, aber trotzdem überlegt man immer wieder hin und her. Was wäre, wenn...“
Cochon erschien, mit einem bunten Schlafrock bekleidet, in meinem Zimmer.
„Ich wollte Sie gerade wecken, Bryce, aber wie ich sehe, haben Sie anscheinend einen eingebauten Wecker.“
Ich grinste.
„Wann gibt es Frühstück?“ fragte ich.
„Sie haben wohl immer Hunger, wie?“ knurrte er.
„Nein, das eigentlich nicht. Aber ich bezweifle, daß ich heute viel zum Essen kommen werde. Und deshalb will ich jetzt ein ordentliches Frühstück. Nicht nur eine Tasse Kaffee und ein paar verhungerte Brötchen.“
„In zehn Minuten ist das Frühstück fertig.“
„Gut.“
Ich ging im Zimmer auf und ab. Mit meinen Tieren hatte es begonnen. Dann die Untergrundbewegung. Meine Verurteilung. Der Tod. Die Pflege durch Su. Die Gefangennahme in Kyntasia. Meine EPS-Fähigkeiten. Und nun Victory und die Hoffnung, daß wir siegen würden.
„Frühstück“, hörte ich die laute Stimme Cochons.
Der Tisch bog sich unter der Last der Schüsseln und Teller. Ich setzte mich. Schließlich tauchte auch Su auf.
Sie hatte ihr langes blondes Haar aufgesteckt. Ihr Gesicht sah jung und frisch aus. Sie lächelte mir zu. Sie trug eine hautenge blaue Bluse und enganliegende blaue Hosen, dazu flache blaue Turnschuhe.
„Guten Morgen“, begrüßte ich sie. Sie gab mir den Gruß zurück. Dann schwiegen wir. Wir waren vollauf beschäftigt, die Schüsseln zu leeren. Obzwar ich mich ziemlich anstrengte, gelang es mir nicht, die ungeheuerlichen Mengen an Köstlichkeiten zu verzehren.
„Ist alles klar?“ fragte uns Cochon.
Wir nickten.
„Gut, dann brechen wir jetzt auf. Es ist kurz nach sieben Uhr, da sind wir um halb acht Uhr beim San-Zentrum. Wir schlagen sofort los, wenn wir dort ankommen.“
Ich spürte, wie meine Spannung stetig wuchs. Su blieb ruhig. Bei ihr war nicht das geringste Anzeichen von Nervosität zu bemerken. Ich beneidete sie darum.
Die Straßen waren leer. Wie stiegen in ein ziemlich langes und breites Auto. Cochon klemmte sich hinters Lenkrad.
„Normalerweise herrscht um diese Zeit ein fürchterliches Gedränge auf den Straßen. Aber am Tag der Jagd geht man nicht vor acht Uhr auf die Straße. Meistens erst viel später. Aber heute werden wir eine fröhliche Jagd nach den Sirianern abhalten.“
Er kniff den Mund zusammen und fuhr los.
Es war nur das gleichmäßige Geräusch des Motors zu hören und das Singen der Reifen auf dem Asphalt. Vereinzelt patrouillierten Polizisten der sirianischen Besatzungsmacht auf den Straßen. Sie musterten uns eingehend, doch wir gaben ihnen keinen Grund, uns aufzuhalten.
Unwahrscheinlich viele San-Roboter standen an den Ecken herum. Sie waren ganz weiß angestrichen, nur am Rücken und auf der Brust trugen sie große rote Kreuze.
Cochon beschleunigte das Tempo.
Ich versuchte, mich mit Su auf gedanklichem Weg zu unterhalten, doch sie hatte keine Lust zu einer Diskussion.
So brütete ich still vor mich hin. Und je näher wir unserem Ziel kamen, um so nervöser wurde ich. Meine Handflächen wurden feucht, und ich hielt es kaum im Auto aus. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz hin und her.
„Nervös, Bryce?“ brach schließlich Cochon die Stille.
„Ja“, gab ich gepreßt zu.
Su starrte mich aus halbgeschlossenen Augen an. Dann griff sie langsam nach meinen Händen.
„Bleib ruhig, Bryce, es wird alles gutgehen“, spürte ich ihre Gedanken. Durch die Berührung mit ihren Händen schien ihre Ruhe und Gelassenheit auf mich überzuströmen.
„Wir sind gleich da“, ließ sich wieder Cochon vernehmen.
Er brachte den Wagen zum Stillstand.
„Das große Gebäude vor uns, das ist die Zentrale.“
Wir stiegen aus.
Vor dem Gebäude standen zwei sirianische Posten. Zwei weitere Polizisten gingen langsam auf und ab.
„Ich übernehme die Posten bei der Tür, übernimm du die beiden anderen“, spürte ich Sus Gedanken.
Langsam gingen wir auf das Gebäude zu. Wir schwiegen. Einer der herumgehenden Polizisten blieb stehen und schaute uns entgegen.
„Stehenbleiben!“ befahl er.
Wir gehorchten.
„Jetzt!“ kam der Gedanke von Su.
Und ich handelte. Blitzschnell erledigte ich den einen Posten, der, ohne einen Laut von sich zu geben, zu Boden stürzte. Der zweite versuchte, die Waffe in Anschlag zu bringen, da stürzte er lautlos um. Cochon stand neben mir. Sein Gesicht war verzerrt.
Su hatte die beiden Wachtposten bei der Tür ebenfalls kampfunfähig gemacht.
„Rasch“, keuchte Cochon und rannte voran. Ich holte ihn bald ein und setzte mich an die Spitze. Hinter mir hörte ich Cochons lautes Atmen. Su hatte die Nachhut übernommen.
Ich konzentrierte mich auf die nächste Umgebung, währenddessen Su das Gebäude mit ihren Gedanken durchforschte.
„Bleibt stehen“, sagte sie schließlich.
„Aber wir müssen...“, fing Cochon zu sprechen an.
„Es hat keinen Sinn, wenn wir weiterlaufen. Wann kommen Ihre Leute, Cochon?“
Er blickte auf die Uhr.
„Sie müssen jetzt schon postiert sein. Ich habe...“
„Gehen Sie hinaus, und bringen Sie Ihre Männer mit. Sie sollen den Eingang bewachen und niemanden hereinlassen. Außerdem sollen sie sich der Waffen der Sirianer bemächtigen. Verstanden?“
Cochon nickte und rannte davon.
„Hast du etwas feststellen können?“ fragte ich Su.
„Ja, das Zentrum wird von zehn Sirianern bewacht. Hier sind überall Warnanlagen eingebaut. Wir werden uns am zweckmäßigsten in die Zentrale teleportieren.“
„Gut, aber da muß ich mir zuerst einen passenden Posten suchen, damit ich mich mittels seines Gesichtskreises orientieren kann.“
„Keine Zeit. Konzentriere dich durch mich. Wir müssen sofort zuschlagen. Richte zur Sicherheit gleich nach unserem Auftauchen ein Sicherheitsschild um uns beide auf. Ich beginne dann sofort, die Posten außer Gefecht zu setzen.“
Ich nahm ihre Hände, und unsere Gehirne schienen zu einem zu verschmelzen. Dann das übliche Ziehen in der Wirbelsäule - und wir tauchten in der Zentrale auf. Blitzschnell aktivierte ich einen Schutzschirm um uns beide.
Die Wachtposten waren aufgesprungen, einer eröffnete das Feuer auf uns. Wirkungslos prallten die Flammen vom Schutzschirm ab. Su hatte mittlerweile schon drei Posten erledigt.
Einer versuchte, auf einen Warnknopf zu drücken, doch es gelang mir glücklicherweise, ihn vorher unschädlich zu machen.
Es dauerte kaum eine Minute, bis alle zehn Posten bewußtlos am Boden lagen.
„Hole rasch Cochon her, oder noch besser, er soll den Techniker mitbringen, der sich bei der Anlage auskennt.“
Es war kurz vor acht Uhr.
Ich sprang zum Eingang des Gebäudes zurück. Ein übereifriger Mann schoß auf mich, doch sicherheitshalber hatte ich meinen Schutzschirm errichtet.
„Sofort mit dem Schießen aufhören“, brüllte Cochon. „Mann, sind Sie wahnsinnig?“
Der Mann, der auf mich geschossen hatte, erbleichte.
„Wo ist der Techniker?“ fragte ich Cochon.
„Malpardon!“ schrie Cochon.
Ein langer, hagerer Mann kam auf uns zu.
„Ja?“ fragte er und musterte mich aufmerksam.
„Haben Sie hier noch etwas zu erledigen?“ wandte ich mich an Cochon. „Nein, alles fertig.“
„Dann kommen Sie auch mit. Geben Sie mir die Hand. Und Sie auch, Malpardon.“
Ich entmaterialisierte mit den beiden. Wir tauchten in der Station auf.
„Setzen Sie die Anlage außer Betrieb, Malpardon.“
Der Mann nickte.
Er blickte sich kurz um und begann seine Arbeit.
„Sollen wir noch warten?“ fragte Su.
„Vielleicht noch einige Minuten. Bis wir vollkommen sicher sein können, daß Malpardon die Anlage außer Betrieb setzen kann.“
Ich zündete mir eine Zigarette an. Die Einnahme der Station war ja ziemlich leicht gewesen.
„Hast du das ganze Gebäude durchforscht?“ fragte ich Su.
„Ja, außer uns befindet sich niemand mehr hier. Die Sirianer hatten nicht mit einem Überfall gerechnet.“
Die Alarmanlagen heulten los.
„Das sind Ihre Männer“, bemerkte Su zu Cochon. „Sie sind auf dem Weg zur Zentrale.“
„Schalten Sie die Alarmanlage ab, Malpardon.“
„Später“, keuchte dieser. „Zuerst muß ich die Roboter erledigen. Bin gleich fertig.“
Das Heulen der Sirene hielt unvermindert an. Su machte sich an der gigantischen Computeranlage zu schaffen, und plötzlich verstummten die Sirenen.
„Ich habe es geschafft“, strahlte Malpardon. „Die Roboter sind alle stillgelegt“
„Dann können wir ja verschwinden“, stellte ich fest.
„Ja, viel Glück“, wünschte uns Cochon.
„Holen Sie zur Sicherheit noch Verstärkung, Cochon, damit die Anlage nicht unter Umständen von den Sirianern zurückerobert wird.“
Er nickte.
Ich reichte Su meine rechte Hand.
Su blickte mich ernst an. Ich konzentrierte mich. Wieder der Schmerz im Rückgrat. Wir tauchten in der Transmitterstation auf, durch die wir auf Victory gekommen waren.
Die verstärkten Wachen waren wie bei unserem ersten Auftauchen kein Problem.
„Hole du einstweilen die Männer, ich unterbreche die Verbindungen mit Ausnahme der zum Sirius.“
Ich nickte und stürzte davon.
Vor dem Gebäude stand Sam mit seinen Männern.
„Es hat also geklappt“, stellte er fest.
„Ja, folgen Sie mir mit Ihren Männern.“
Er gab die entsprechenden Befehle.
„Haben Sie schon Berichte von anderen Städten bekommen?“ fragte ich ihn.
„Nein, noch nicht. Aber sie haben zum vorbestimmten Zeitpunkt angegriffen. Ich hoffe, es hat geklappt, sonst können wir nicht auf dem Sirius landen. Wir müssen alle Stationen besetzt haben.“
„Ich weiß“, sagte ich.
Su war inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden.
Die Männer sprachen leise miteinander. Sie waren alle in bequemer Turnkleidung, und jeder trug einen Blaster.
„Wie entwickelt sich die Situation auf Victory?“ fragte ich Sam.
„Sehr gut. Wir schlugen so überraschend zu, daß wir kaum Gegenwehr zu spüren bekamen. Wir haben fast alle Sirianer überwältigt. Hoffentlich klappt weiterhin alles so gut.“
„Wird schon schiefgehen.“
Ein Mann brachte eine Meldung.
„Zwei der Transmitterstationen haben wir eingenommen. Wir müssen aber noch auf die anderen zwei warten.“
Ich spürte, wie ich wieder nervös wurde. Rasch rauchte ich eine Zigarette. Die Einnahme der Stationen verzögerte sich.
„Wir können nicht mehr lange warten. Hoffentlich ist nichts schiefgegangen. Sam, versuchen Sie etwas Genaueres über die Situation zu erfahren.“
Er nickte und verließ den Raum.
„Es besteht noch kein Grund zur Aufregung, Bryce“, versuchte mich Su zu beruhigen.
Ich warf die Zigarette zu Boden und trat sie aus. Nervös wippte ich auf den Füllen vor und zurück.
„Sei ruhig!“ befahl Su. „Deine Nervosität steckt die Männer an. Bleibe ruhig und lächle.“
Ich rang mir ein Lächeln ab, aber sehr fröhlich wird es nicht gewirkt haben.
„Alles in Ordnung“, rief Sam von der Tür her. „Die letzten beiden Stationen sind auch in unserer Hand. Wir haben auf Victory gesiegt.“
„Gut, dann geht es los. Zwei Minuten, nachdem wir verschwunden sind, folgen Sie uns mit Ihren Männern.“ Sam nickte.
Su und ich traten durch das blauschillernde Energiefeld.
Wir tauchten in einer riesigen Halle auf.
Mindestens zwanzig Schaltpulte von gigantischen Ausmaßen befanden sich im Raum. Mattes gelbes Licht hüllte uns ein.
Ich kam mir winzig in dieser Halle vor. Die Einrichtung war in Weiß und Schwarz gehalten. Eine Warnanlage stieß schrille Laute aus. Automatisch schlossen sich die Eingänge der Halle.
Vor jedem Schaltpult saßen vier Techniker, die aufsprangen und in Deckung gingen.
Laute Befehle klangen aus einer Ecke des Saales, und vier Gruppen zu je zehn Mann in strahlensicheren Anzügen bewegten sich auf uns zu.
„Es sind zu viele“, keuchte ich und blickte mich um.
Su stand ruhig da und konzentrierte sich angestrengt. Ihr Gesicht sah bleich unter ihrem schillernden Schutzschirm aus.
„Es ist Mord, wenn wir unsere Leute hierherkommen lassen. Mit einer so großen Anzahl von Sirianern hatten wir nicht gerechnet.“
Sie lächelte.
„Was sollen wir tun?“ schrie ich sie an,
Die vier Gruppen näherten sich mit feuerbereiten Blastergewehren.
Jetzt befanden wir uns im Zentrum unserer Feinde, aber gegen diese Übermacht kamen auch wir nicht auf. Und ihre geballte Feuerkraft würde unsere Schutzschirme durchschlagen.
„Richte über uns einen gemeinsamen Schutzschirm auf!“ befahl mir Su. Ich tat es. Sie drehte sich noch immer lächelnd mir zu.
„Keine Angst, Bryce, wir schaffen es. Versuche deine Gedanken vollkommen auszuschalten und reiche mir beide Hände.“
Plötzlich schien mein Körper von innen nach außen zu erstrahlen. Mein ganzer Leib schien durchsichtig zu werden. Leichter Schmerz durchzog meine Glieder. Su erstrahlte leicht rot. Und über uns hing der grünschillernde Schutzschirm.
Die Männer hatten uns fast erreicht.
Ich versuchte, meine Gedanken so weit als möglich abzuschirmen. Unterbewußt nahm ich nur wahr, daß mein Körper nun vollkommen durchsichtig geworden war. Su leuchtete dunkelrot.
Blitze schienen von ihr auszugehen. Die vierzig Mann stürzten ohnmächtig um.
Der Schmerz in meinem Körper ließ nach, und meine Gestalt nahm wieder feste Formen an. Für einen Augenblick fühlte ich mich ziemlich schwach.
Hinter uns kamen Sam und seine Männer herein.
„Zieht die strahlensicheren Anzüge der Sirianer an!“ befahl Su. Die Männer gehorchten ihr.
„Aber wie war das möglich, Su“, keuchte ich.
„Du dientest mir als Energiequelle. Ich zapfte die Kraft von dir ab und warf sie geballt auf die Sirianer. Alle in diesem Raum befindlichen Männer sind auf Stunden hinaus kampfunfähig.“
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
„Ich bekomme die Tür nicht auf“, stellte ich fest. Su probierte ebenfalls. Doch es gelang weder ihr, noch mir, die Tür zu öffnen.
Wieder benützte sie mich als Energiequelle, und spielerisch leicht schien die Tür zurückzugleiten.
Der Gang, der sich dabei auftat, lag leer vor uns. Wir rannten ihn entlang. Die Wände schimmerten bläulich.
Wir waren wieder allein. Sam und seine Männer waren zurückgeblieben, um die Transmitterstation zu verteidigen und vor allem zu halten.
Nur wir beide gegen den ganzen Planeten.
Unsere Aufgabe lag darin, das Herz, die Zentrale des Planeten, zu erobern, und wir befanden uns in der Zentrale.
Wir eilten durch lange Gänge. Niemand begegnete uns, und wir konnten auch keine Gedanken empfangen. Das ganze Gebäude schien ausgestorben zu sein.
Leises Brummen von gigantischen Maschinen erfüllte den Gang. Der Boden schien leicht zu vibrieren.
„Wohin, Su? Die Gänge scheinen endlos zu sein. Nirgends ist ein Gedanke zu spüren.“
Sie schwieg, und wir rannten weiter.
Plötzlich stieß ich gegen eine unsichtbare Schutzmauer. Ich wich einen Schritt zurück und stieß gegen eine andere Schutzmauer.
„Wir sind gefangen“, stellte ich fest.
Die beiden Schutzmauern bewegten sich aufeinander zu, und in Sekundenschnelle spürte ich den Druck an meiner Brust und meinem Rücken.
Ich versuchte zu teleportieren, doch es gelang mir nicht. Su stand neben mir und preßte eine Hand leicht gegen die unsichtbare Wand.
Ich kam mir wie ein Werkstück vor, das jemand in einen Schraubstock gespannt hat.
Die Wände blieben plötzlich stehen.
Der Druck an meinem Körper blieb konstant.
In der Decke klaffte nun ein Loch. Eine unwiderstehliche Kraft riß uns in die Höhe. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, doch es war vergeblich. Um uns herum befand sich nichts.
Wir rasten immer schneller davon.
Dann verlangsamte sich die Geschwindigkeit, und wir befanden uns in einer violett schillernden Kugel. Ich versuchte zu entkommen, doch auch das war vergeblich. Su preßte sich an mich.
Ich konnte nicht mehr ihre Gedanken spüren, obwohl sie sich neben mir befand.
Die Kugel schwebte durch eine riesige, völlig leere Halle.
Eine runde Öffnung tat sich in einer Wand auf, und die Kugel glitt hindurch.
Der Raum, in dem wir uns nun befanden, war dunkel. Nichts war zu sehen.
Ein leises Lachen war zu hören. Es wurde lauter.
Ein Lachen, das mir bekannt vorkam.
Langsam wurde es hell im Raum.
Auf einem gigantischen Sessel saß eine Gestalt, die noch halb im Dunkel blieb.
Das Lachen wurde lauter.
Plötzlich fiel Licht auf die Gestalt. Ich schrie auf.
Das Lachen verstummte.
Der Mann stand auf.
Er war ungefähr zwei Meter groß, hatte mächtige Schultern und muskulöse Arme.
Sein Haar war kurz geschnitten und weiß. Es lag wie eine Kappe um seinen schmalen Kopf. Blaue Augen blitzten mich an.
„Holly Chandler“, schrie ich. „Was machen Sie hier?“
Wieder war das Lachen zu hören.
Verständnislos starrte ich ihn an.
Holly Chandler hatte mich vor dem Tod auf der Erde bewahrt, und jetzt saß er hier im Zentrum der Sirianer. Im Zentrum der Macht, die das Imperium der Terraner zerstört hatte und unbarmherzig die Erde und ihre Kolonien knechtete.
„Was machen Sie hier?“ schrie ich wieder.
Das Lachen verstummte.
„Ich bin der unbekannte Herrscher der Sirianer“, stellte er fest.
Ich war fassungslos.
Er blickte uns schweigend an.
Ich wandte meinen Kopf halb zu Su und sah ihr entsetztes Gesicht.
„Das kann doch nicht wahr sein“, stöhnte sie auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ich bekam weder mit Su noch mit Holly Chandler Gedankenverbindung.
„Euer Aufstand war sinnlos“, begann Holly Chandler zu sprechen. „Er war recht amüsant, aber nun ist er zu Ende. Zuerst werde ich euch ausschalten, und dann die Transmitterstationen zurückholen.“
Er schwieg wieder und lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück.
„Aber wozu, sagen Sie mir, wozu war das ganze notwendig? Wozu?“ flüsterte ich vor mich hin.
„Ich kann es nicht glauben“, stöhnte Su auf. „Es darf nicht wahr sein.“
„Ihr beide bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen. Ich habe euch zwar hier gefangen, aber ich kann euch nur sehr schwer beseitigen. Meine Kräfte reichen nicht aus, um euch in der Kugel zu vernichten. Und die euren sind zu armselig, um euch aus meiner Falle zu befreien.“
Er stand auf und trat auf uns zu. „Aber ich kann euch in der Kugel lassen, bis ihr verhungert seid.“
Er lächelte, und ich blickte in sein sympathisches, offenes Gesicht. Er lächelte uns freundlich an. Seine Augen blickten gütig.
Wie war das nur möglich? Auf der Erde hatte er mich ausgebildet, damit ich die Erde von der sirianischen Macht befreien konnte, und nun stellte sich heraus, daß er selbst der eigentliche Machthaber der Sirianer war.
Wieder lachte er.
„Ich lasse euch jetzt allein. Ich habe im Augenblick wichtigere Dinge zu erledigen.“
„Bleib stehen“, erklang eine Stimme. Überrascht hielt Holly Chandler in seiner Bewegung inne.
Plötzlich begann die Luft zu flimmern, und...
„Nein!“ schrie Su auf.
Der Mann, der neben Holly Chandler materialisierte, war ungefähr zwei Meter groß, hatte mächtige Schultern und muskulöse Arme.
Sein Haar war kurz geschnitten und weiß. Es lag wie eine Kappe um seinen schmalen Kopf. Blaue Augen blitzten Holly Chandler Nummer 1 an.
Entsetzt starrte ich die beiden an. Sie sahen sich ähnlich wie eineiige Zwillinge.
„Ich bin der richtige Holly Chandler“, ließ sich der Neuankömmling vernehmen. „Das ist Brett Talker“, er zeigte mit dem Finger auf den Mann, den wir ursprünglich für Holly Chandler gehalten hatten.
Brett Talker lächelte weiter.
„Du hast ausgespielt, mein Freund“, meinte Holly.
„Würden Sie uns erklären, was hier vor sich geht, Mr. Chandler?“ fragte ich.
Er lächelte uns zu.
„Sofort. Zuerst habe ich noch etwas Wichtiges zu tun.“
Su klammerte sich an mich. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Jetzt war auch sie am Ende ihrer Weisheit angelangt. Mir waren ja schon eine ganze Menge von Ereignissen vollkommen schleierhaft gewesen. Aber die Existenz von praktisch zwei gleichen Männern hatte mir den Rest gegeben - und ohne Zweifel auch Su.
Die beiden standen sich gegenüber und starrten einander an. Beide hatten das gleiche Lächeln auf dem Gesicht, und beide vollführten die gleichen Bewegungen.
Plötzlich fiel unser Gefängnis auseinander. Die Kugel verschwand, und ich spürte wieder Sus Gedanken.
„Helft mir“, schrie der richtige Holly Chandler.
Ich streckte rasch Su meine Hände entgegen. Sie ergriff sie, und plötzlich wurde mein Körper wieder durchsichtig, während der ihre glutrot wurde.
Mit einem lauten Schrei brach Brett Talker zusammen. '
Lächelnd kam Holly Chandler auf uns zu.
„Ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig.“
„Das kann man wohl sagen“, knurrte ich.
Su drängte sich an mich.
„Setzen wir uns lieber.“
Aus dem Nichts tauchten drei Stühle auf, und wir setzten uns.
„Jetzt ist alles erledigt. Die Herrschaft der Sirianer ist gebrochen, und meine Aufgabe ist beendet. Ich werde wieder verschwinden und vielleicht wieder einmal auftauchen.“
„Bitte, beginnen Sie mit dem Anfang. Oder beantworten Sie mir zuerst eine Frage. Wer war Brett Talker?“
Holly lehnte sich bequem zurück.
„Das ist eine lange Geschichte. Ich will Sie Ihnen in kurzen Worten erzählen._Als das terranische Imperium seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurden Brett Talker und ich und noch andere geschaffen. Talker und ich sind keine richtigen Menschen. Wir sind ein Mittelding sozusagen. Mein Körper ist der eines Roboters. Aber mein Gehirn ist das eines Menschen. Mein Gehirn kennt kein Alter. Es wurde in diese Hülle versetzt und genoß eine Schulung, die weit über hundert Jahre dauerte. Dann wurden meine Artgenossen und ich auf entfernte Planeten und Planetoiden gebracht. Wir wurden in Tiefschlaf versetzt und sollten ruhen, bis wir benötigt wurden. Ich ruhte Hunderte von Jahren. Auf der Erde und auf anderen Planeten wurden verschiedene Signalanlagen aufgestellt, die im Falle eines Krieges, einen meiner Kollegen oder mich wecken sollten. Durch den Atomkrieg wurde mein Signal zerstört, und ich erwachte zum Leben. Ich teleportierte mich auf die Erde und stellte die Verwüstungen fest. Da ich nicht persönlich eingreifen durfte - kein Mensch darf durch mich Schaden erleiden -, waren mir in gewisser Weise die Hände gebunden. Deshalb baute ich auf der vernichtenden Hälfte der Erde eine neue Zivilisation auf.“
Er schwieg und blickte mich an.
„Aber wie paßt Brett Talker in das Bild?“
Holly zuckte die Achseln.
„Ich stellte fest, daß er durch einen unglücklichen Zufall zum Leben erwachte. Die Sirianer griffen einen Planeten an, und ganz in der Nähe von Brett Talker fiel eine Atombombe. Diese Bombe löste die Signaleinrichtung von Brett aus, und er erwachte zum Leben. Ich finde nur eine Erklärung: Sein Gehirn hat durch das zerstörte Signal einen falschen Impuls bekommen, und er wurde zum Verbrecher. Vielleicht nicht einmal so sehr Verbrecher, sondern er stellte sich auf die Seite der Sirianer und verhalf ihnen zum Sieg über das terranische Imperium. Man wird wahrscheinlich nie genau feststellen können, was wirklich geschah, aber durch sein Eingreifen wurde der Ablauf der Geschehnisse beschleunigt. Mir waren ja die Hände gebunden. Ich konnte nicht auf den Sirius gelangen, da meine geistigen Kräfte nicht dazu ausreichten und mir ein direktes Eingreifen verboten war. Ich mußte auf Sie und Su zurückgreifen. Sie, Bryce, hatte ich zufällig entdeckt und festgestellt, welche Kräfte in Ihnen schlummerten; Kräfte, die nur geweckt zu werden brauchten. Aber Ihre Fähigkeiten konnten nur durch Ihren Tod geweckt werden. Und deshalb ließ ich Sie sterben.“
„Wie? Sie ließen mich sterben? Aber die Sirianer...“
„Ja. Doch ich gab den Anstoß. Ich mußte in Ihnen unbändigen Haß gegen die Sirianer entstehen lassen. Deshalb ließ ich auch auf Ihre Triere schießen und verhinderte, daß man Ihnen half.“
„Es waren nicht die Sirianer, die diesen Anschlag verübten?“
„Nein, das war ein Mann von mir. Dann traten Sie der Organisation bei. Das hatte ich vorausgesehen. Doch Sie mußten sterben, deshalb verriet ich den Aufstand.“
„Aber das kann doch nicht sein. Sie sagten doch eben, daß Sie keinen Menschen zu Schaden kommen lassen dürften...”
„Stimmt. Aber es kam auch niemand zu Schaden. Alle Beteiligten wurden gerettet. Um jedoch in der Geschichte fortzufahren - es verlief alles nach Plan. Sie wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Und ich entriß Sie den Sirianern, um Sie unkenntlich zu machen. Su pflegte Sie. Die Zeit wurde knapp. Ich ließ Sie nach Kyntasia gehen. Su stiftete mittlerweile Unruhe, dann wurde Su festgenommen. Sie befreiten Su, und ich holte Sie zu mir, um Ihre Fähigkeiten zu erwecken. Dann versetzte ich Sie in die Zeit zurück, aus der Sie gekommen waren, und die weitere Geschichte kennen Sie zur Genüge.“
Ich nickte.
Jetzt wird mir alles klar. Aber warum haben Sie mich nicht gleich über alles informiert?“
Holly Chandler lächelte.
„Hätte ich Ihnen verraten, daß ich hinter dem ganzen stecke, hätten Sie sich wahrscheinlich gegen mich gewandt oder mir nicht geglaubt. Aber Sie waren mir viel wichtiger, als Sie annahmen; denn ohne Sie und Ihre unwahrscheinliche geistige Energie hätten wir nie hier eindringen können. Und diese Transmitterstation mußte erobert werden, da ich sonst nie Brett Talker hätte erledigen können.“
Jetzt erkannte ich die Zusammenhänge. Ich hatte mich ziemlich tölpelhaft benommen. Aber das war auch kein Wunder. Wie hätte ich auch ahnen können...
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“ fragte ich Holly Chandler.
„Sehr einfach. Die Sirianer sind geschlagen. Sie müssen ein Friedensangebot akzeptieren, ob sie wollen oder nicht. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Und dann liegt eine große Aufgabe vor Ihnen.“
„Vor uns?“ fragte Su neugierig.
„Ja, vor euch. Seht euch doch nur die Erde an. Da gibt es so viel zu tun, so viel aufzubauen. Es wird Jahre dauern, bis die Erde wieder zu dem geworden ist, was sie einmal war. Und in euren Händen wird der größte Teil der Arbeit liegen.“
„Und was wird aus Ihnen, HoIly?“ fragte Su.
Er lächelte.
„Ich trage das Wissen der ganzen Menschheit in mir. Und mit diesem Wissen werden wir den Aufbau bewerkstelligen.“
„Und nachher?“
„Nachher werde ich wieder dorthin zurückkehren, von wo ich gekommen bin, um hoffentlich nicht zu bald wiederkommen zu müssen.“
Er stand auf und verließ den Raum.
Su wandte sich mir zu, und ich sah sie an. Plötzlich wurde sie rot, und ich grinste vor mich hin.
Jetzt würde ich wieder meine Gedanken im Zaum halten müssen, da sie die meinen ja wieder lesen konnte.
„Pfui!“ sagte sie nur.
Und als ich sie in die Arme nahm und küßte, sagte sie gar nichts mehr.
E N D E
© by Kurt Luif 1967 + 2017
Kommentare
Aber: Wenn nun schon einige Romane von ihm gescannt vorliegen - warum veröffentlicht Ihr sie nicht als E-Books in einer ZS-Kurt Luif-Edition?