Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Ein perfekter Roman: »Die Nachtwächter« von Terry Pratchett

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneEin perfekter Roman
»Die Nachtwächter« von Terry Pratchett

Warum Terry Pratchetts Werk vom Feuilleton immer etwas abschätzig, ja, geringschätzig behandelt wurde und wird - liegt wohl zum einen Teil daran, dass das Feuilleton immer noch ein Problem damit hat, vergnügliche Unterhaltung als ernstzunehmend einzustufen.

Zum anderen Teil ist Pratchetts Werk Fantasy und Fantasy hat mit den ernsten Themen des Feuilletons ja nichts zu tun.

Erbauen oder gar geistliche Werte vermitteln, dass - so offenbar immer noch die Haltung der Kritiker - können nur Werke, die man mindestens zweimal gelesen haben muss, um sie zu verstehen. Dabei ist Pratchett nicht nur ein kompetenter Autor, sondern kann auch Werte vermitteln. Kann man sich am Roman Die Nachtwächter anschauen.

Die Handlung kurz skizziert: Mumm wird auf der Jagd nach einem Psychopathen in die Vergangenheit geschleudert. Zusammen mit dem Psychopathen landet er ausgerechnet in der Zeit, in der er als junger Bursche die erste Woche seines Dienstes in der Nachtwache antritt. Und das ist ausgerechnet die Zeit, in der die Revolution in der Luft liegt. Nicht nur das: Statt des eigentliche Seargants damals, muss Vimes in die Rolle des Anführers schlüpfen und gleichzeitig Jagd auf den Psychopathen machen - oder zumindest ein Auge auf ihn haben, während er versucht die Geschichte in die Bahnen zu lenken, die er kennt. Sonst gibt es nämlich eventuell gar keine Zukunft mehr …

Auf den ersten Seiten des Romans erleben wir, wie die Vimes sich langweilt - der Straßenpolizist ist auf einmal Verwaltungsbeamter und muss sich um Dinge kümmern, die ihn gar nicht so berühren. Er sehnt sich nach der guten alten Zeit zurück, in der alles einfacher war. Oder jedenfalls glaubt er das. Wir kennen das alle, die Nostalgie taucht alles in goldene Farben und alles war früher immer besser. Zudem lernen wir auf den ersten Seiten auch, dass ein bestimmter Gedenktag naht. Noch wissen wir nicht genau, was das für ein Tag ist oder für wen dieser Tag gedacht ist. Das erfahren wir erst später. Selbst als Mitglieder der Wache auf dem Friedhof auftauchen, wird nicht ganz klar, was genau verhandelt wird. Ausser, dass der Zombie Reg Schuh wie jedes Jahr sich in sein eigenes Grab begeben wird. Aus Respekt und Sympathie.

Das nostalgische Verlangen, das Mumm beseelt, ist ein Thema, das den ganzen Roman durchzieht. Das kann man auch als Leser*in recht gut verfolgen, weil Mumm in der Vergangenheit immer wieder die Zeit, in der sich momentan befindet mit der vergleicht, aus der er kommt. Schließlich weiß er einigermaßen, was wann passieren wird und er wäre natürlich nicht Mumm, wenn er da nicht auch einige Dinge ändern würde. Die Frage, ob die Nostalgie uns nicht trügt, stellt sich hier natürlich. Ebenso aber auch: Inwieweit ist das Verhalten ausschlaggebend für den Ausgang des eigenen Lebens? Kehrer, der Mönch aus dem Orden der Geschichtsmönche, stößt das Thema bei Vimes durchaus an. „Jetzt momentan ist da draußen ein Vimes, der Dinge lernt. Und er lernt sie von den Leuten, die momentan in der Wache sind. Und er lernt schnelll.“ Für Mumm war der echte Keel ein Vorbild: Er lehrte ihn, stets den Kopf frei zu haben von Leuten, die dumm, gierig oder machthungrig waren. Wenn Vimes also nicht die Rolle von Keel schlüpft, dann wird es die Zukunft, aus der er kommt nicht mehr geben. Somit auch nicht die Heirat mit Sibyl, die zum Beginn des Romans in Wehen liegt. Womit das Thema Zukunft in doppelter Hinsicht aufscheint.

Etwas subtiler ist die Sache mit dem Zigarren-Etui, das Mumm zu seiner Hochzeit von Sybil geschenkt bekommen hat. Dieses wird zu Beginn des Romans schon erwähnt und wenn man etwas aufmerksam ist, dann wird man merken: Pratchett nimmt das Etui als Stellvertreter, als Symbol dafür, dass Mumm eine Zukunft hat. Denn an dem Punkt, an dem Mumm zweifelt, an dem ihm alles entgleitet - an dem Punkt taucht das Etui dank der Hilfe des Kehrers wieder auf und verankert ihn. Bis zu diesem Punkt wird man als Leser*in allerdings auch vermehrt darauf aufmerksam gemacht, dass Mumm dieses Etui definitiv fehlt. Etwa, wenn er denkt, dass sich die Zigaretten in der Papierpackung doch sehr merkwürdig anfühlen. Immer mal wieder greift er gedankenverloren nach diesem Etui und stellt fest, dass es nicht da ist. Wenn im ersten Akt ein Gewehr auftaucht, dann muss man im letzten Akt das Gewehr auch abgeschossen haben. So ähnlich hat es Tschechow mal formuliert und Pratchett hält sich sehr genau daran. Übrigens nicht nur mit dem Etui.

Zu Beginn des Roman sinnieren die Wachleute über Keel und über das, was er damals getan hat: Er war mit Dibblers erster Kunde, er hat Colon zum Sergeant befördert, er hat Nobby Nobbs einen Löffel überlassen. Das sind alles Dinge, die wir als Leser*in zu Beginn des Romans einfach als Anekdoten hinnehmen. Wir erwarten nicht unbedingt, dass diese Geschehnisse später im Roman auch wirklich passieren … aber tatsächlich passiert das. Pratchett erfüllt seine selbsterzählende Prophezeiung: Wir erleben, wie Vimes Dibbler begegnet - und diese Treffen ist gleichzeitig nicht nur einfach eine Begegegnung, sondern diese Begegnung führt zu etwas. In dem Fall zur Entdeckung des Passworts für eine Verschwörung, von der Mumm gelesen hat. Keel hat diese nicht gestoppt, Mumm wird dies aber tun. Gleichzeitig legt er sich dann nochmal mit dem Psychopathen Carcer an. Der Konflikt zwischen den Beiden vertieft sich also.

Wer näher hinschaut, der wird genau das bemerken: Der Roman ist höchst ökonomisch aufgebaut. Alles ist zielgerichtet, alles hat seinen Sinn. Selbst, wenn es Momente des Aufatmens gibt - wenn Mumm glücklich im Regen am Brunnen steht und seine Erinnerungen passieren lässt - sind diese nicht nur Atempause für den Leser*in, man erfährt auch immer noch etwas über die Figur oder den Charakter an sich. Der Optimismus von Reg Schuh, der an eine neue Welt glaubt, wird ihn wenige Tage nach seinem Tod als Zombie auferstehen lassen. Der junge Lord Vetinari hat jetzt schon die kühle Gelassenheit gegenüber seiner Umwelt - allerdings sehen wir auch, dass er seiner Tante gegenüber vollständig ergeben ist. Jede Begegnung, jedes Gespräch, jeder Monolog baut entweder auf Etwas auf oder bereitet Etwas vor. Daher klappt man zum Schluss das Buch auch so befriedigt zu: Weil alles innerhalb einen Platz hatte und auch das Ende befriedigt.

Man wirft Pratchett gerne vor, dass seine Charakteren - die Haupt-Charaktere - kaum eine Entwicklung innerhalb des Romans erleben. Oma Wetterwachs bleibt Oma Wetterwachs. Nanny Ogg bleibt Nanny Ogg und Mumm bleibt Mumm. Wer die Gesamtheit der Romane im Blick hat, wird wissen, dass das nicht unbedingt stimmt, sondern dass die Charaktere sich über die Romane hinaus schon entwickeln. Es sind aber, so wird argumentiert, meistens nur die Nebencharaktere, die wirklich eine Entwicklung erfahren. Auch für die Nachtwache scheint das der Fall zu sein, wobei in diesem Roman eigentlich keine richtigen Nebencharaktere vorkommen - es sind ja Charaktere, die wir schon kennen, die eingeführt sind. Bis auf Doktor Rasen oder Vetinaris Tante. Allerdings erlebt Mumm durchaus eine Entwicklung: Erstens - die Vergangenheit ist nicht so glorreich, wie wir sie machen. Zukünftig wird er sich also seufzend in seine Stellung begeben und den Papierkram erledigen. Vielleicht nicht unbedingt so oft, aber öfter als zuvor. Zweitens - Mumm hat eine moralische Mitte, einen Kompass, den er im Laufe des Romans noch verfeinert. Am Ende des Roman könnte er Carcer ohne Weiteres mit allen unfairen Mitteln schlagen, ja, sogar ihn hier und jetzt töten. Dadurch aber würde er sich seiner dunkleren Seite ergeben und gleichzeitig würde er die Maschinerie der Gerechtigkeit nicht nur in Frage stellen. Er würde sie verleugnen. Carcer soll einen fairen Prozess erhalten. Die ungerechte Vergangenheit aus der Mumm gerade kommt hätte dies kaum getan, Mumm selbst würde sich auf die ungerechte Seite stellen. Daher und weil damit auch gleichzeitig eine gerechte Zukunft für den jungen Sam gesichert ist: Carcer muss an die Maschinerie der Gerechtigkeit übergeben werden. Wenn dies nämlich nicht möglich ist, wenn dies nicht geschieht, dann gibt es keine Zukunft mehr, in der Mumm leben könnte.

Was wäre, wenn … Was wäre, wenn wir andere Entscheidungen getroffen hätten, als wir sie getan haben? Wären wir eine andere Person? Sicherlich würde unsere Welt anders aussehen, wären wir an anderen Stellen und hätten andere Bekannte als jetzt. Mumm zeigt uns: Wir sind am Ende was wir sind. Wir sind Menschen, die nicht wissen können, ob eine Entscheidung gut oder schlecht ist. Deswegen aber gar keine zu treffen ist auch keine Option. Und ja im Nachhinein gesehen ist man immer klüger. Aber jede Entscheidung, die man jetzt trifft, ist richtig. Weil wir schließlich nicht das Wissen aus der Vergangenheit verfügen. Au8er, wir schlittern durch das Dach der Bibliothek der Unsichtbaren Universität. Mit Donner und Blitz.

Kommentare  

#1 matthias 2020-12-11 19:57
Heißt das Buch nicht "Die Nachtwächter"?
Bin kein Fan von TP bzw. humorvoller Fantasy, aber irgendwie habe ich das Teil mal in der Hand gehabt.
#2 matthias 2020-12-12 13:17
Danke für die Änderung

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles