Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Nunnehi und die Mythen der Cherokee
Nunnehi und die Mythen der Cherokee
: Wie alle spirituellen Themen, ist die Geschichte der Nunnehi – ich nehme jetzt mal die einfachere Schreibweise – ungemein komplex und nicht mit wenigen Worten zu beschreiben. Derartige Legenden sind tief im kollektiven Kulturverständnis eines Volkes verankert und eigentlich nur wirklich verständlich und durchschaubar, wenn man damit aufwächst. Die Nunnehi gehören zu den Grundlagen der Cherokee-Mythologie, zu ihren existenziellen Mythen, die fundamentalen Einfluß auf Leben und Struktur der Cherokee hatten.
Bei den Nunnehi handelt es sich um ein unsterbliches Volk von übernatürlichen Menschenwesen. Sie sind weder Geister noch Götter, sondern eine besondere Art Lebewesen, die sowohl unsichtbar existieren können, denen man aber auch physisch begegnen kann. Sie können direkt in das Leben der Menschen eingreifen.
Es gibt auch in unseren europäischen Sagen solche Wesen. Auf meiner Insel Föhr z.B. sind es die „Otterbantjes“, Zwergwesen, die irgendwo unter der Erde hausen und den Menschen helfen oder schaden können, je nachdem, wie das Verhältnis zu ihnen ist.
Der Glaube, daß solche „Zwischenwesen“, unsterbliche Gestalten, die zwischen der irdischen und der himmlischen Existenz vermitteln können, existieren, gibt es bei allen Indianervölkern Nordamerikas, aber sie gehören auch zur Folklore fast aller anderen Völker der Welt.
Die Nunnehi lebten in unterirdischen Siedlungen in den Appalachen, einer Gebirgskette im alten Heimatland der Cherokee. Sie wurden durch Höhleneingänge in den Bergen betreten. Den Legenden der Cherokee zufolge, fungierten die Nunnehi als Wächter des Volkes. Sie warnten vor Gefahren und standen den Menschen im Kampf um ihre Sicherheit bei. Angeblich warnten die Nunnehi die Cherokee auch vor der drohenden Vertreibung aus ihrer Heimat. Einige Boten der Nunnehi kamen zu den Dörfern der Cherokee und forderten sie auf, ihnen zu folgen. Nicht alle nahmen diesen Rat an, aber einige Familien wurden von den Nunnehi zu einem geheimen Eingang in die Berge geführt. Hier traten sie in eine Welt ein, die von paradiesischer Schönheit war und waren sicher.
Jene aber, die den Nunnehi nicht in den Höhleneingang folgen wollten – und das war die Mehrheit der Cherokee – wurden 1838 aus ihrer Heimat vertrieben, mussten den „Weg der Tränen“ gehen und wurden im heutigen Oklahoma angesiedelt.
Der Stammestradition zufolge stammen die Cherokee, die noch heute im alten Heimatgebiet in den Appalachen leben von denen ab, die damals von den Nunnehi gerettet wurden.
Es gibt zahlreiche Geschichten der Cherokee, wie und wann die Nunnehi ihnen geholfen hatten. Im Amerikanischen Bürgerkrieg, als die Cherokee sich auf die Seite der Südstaatenkonföderation gestellt hatten, verhinderten die Nunnehi die Vernichtung der Stadt Franklin in North Carolina, einer alten Cherokeek-Siedlung, durch die Unionsarmee.
Die Ansiedlung des Hauptteils der Cherokee in Oklahoma war zunächst eine kulturelle Katastrophe, weil die neue Heimat für den Stamm fremd und feindselig war, es keinen geographischen Bezug zu ihren Göttern gab und sie die Gräber ihrer Vorfahren zurücklassen mussten. Auch die Nunnehi waren zurückgeblieben.
Allerdings gibt es noch immer den festen Glauben an diese unsterblichen Wesen und ihre segensreiche Rolle in der Geschichte des Volkes, und jene Cherokee, die heute noch im Carolina-Gebiet leben, berichten von Begegnungen mit Nunnehi, die den Cherokee nach wie vor wohlgesonnen sind. Die traditionellen Sagen und Geschichten der Cherokee beziehen sich vielfach auf die „Unsterblichen“.
Wer sich intensiver damit beschäftigen will, findet als nach wie vor beste Quelle das Buch „Myths of the Cherokee“ von James Mooney, einem der besten frühen amerikanischen Völkerkundler. (Die Ausgabe in meiner Bibliothek ist von 1995.)